Die Cholera-Waisen
Die Cholera-Waisen.
„Cholera-Waisen" – ein Wort von schrecklichem Klange! Noch vor wenigen Wochen kannte man es nirgends; ungeahnt rasch hat sich die Neubildung vollzogen. Blitzschnell flog sie hinaus aus Hamburgs Mauern, die Kunde von dem Unglück so vieler, und mit ihr jenes düstere Wort, das sich erst in der schwer betroffenen Hansestadt selbst und nach wenigen Tagen überall im Vaterland ein leidiges Bürgerrecht erwarb. Schon wurden mit der Bezeichnung „Für die Cholera-Waisen“ Gaben eingesandt von nah und fern; ein oder zwei Cholera-Waisen an Kindesstatt anzunehmen, dazu erboten sich kinderlose Ehepaare in verschiedenen deutschen Städten. Auch die „Gartenlaube“ will unter denen sein, die für die Cholera-Waisen Hamburgs eintreten und sammeln.
Als der Brief anlangte, in dem mir von der Redaktion die Aufgabe gestellt wurde, diese Sammlung einzuleiten durch eine Schilderung der Noth, die Hilfe fordere, da brauchte ich nur noch eine einzige Erkundigung einzuziehen, in allen anderen Punkten hatte ich in den entsetzlichen jüngsten vier Wochen selbst erlebt und selbst erfahren, was zu sagen war. Nur die Ziffer der schon vorhandenen Cholera-Waisen fehlte mir. Ich wandte mich an einen sicheren Gewährsmann.
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„Die Zahl kann natürlich nur ungefähr angegeben werden,“ meinte dieser, „schon deshalb, weil sich noch nicht von allen eingelieferten Kindern mit Gewißheit sagen läßt, ob sie wirklich Waisen sind. Täglich stellen sich Väter oder Mütter ein, die, aus dem Krankenhaus eben als genesen entlassen, nun mit Angst und Zittern ihre Kleinen suchen. Manche freilich suchen vergebens, sie finden nur die Gräber der Kinder auf dem Friedhof in Ohlsdorf draußen. Also erst im Laufe der Zeit läßt sich von der armen kleinen Gesellschaft feststellen, wer Ganzwaise und wer Halbwaise ist.“
„Aber eine annähernde Schätzung ist doch wohl möglich?“
„Nun ja – 623 Kinder sind uns von der Polizeibehörde abgenommen und einstweilen bei Privatleuten in Pflege gegeben, 250 sind im Waisenhaus und in der Schule in Uhlenhorst untergebracht worden; rechnet man dazu die Kinder im Barmbecker Asyl und die Neueingebrachten in der Uebergangsstation am Brookthorquai, so möchte alles in allem die Zahl der Cholera-Waisen auf rund tausend zu veranschlagen sein, ohne jede Uebertreibung. Und wohlgemerkt, das ist die jetzige Zahl; wer will wissen, wieviel noch hinzukommen!“
Tausend Cholera-Waisen – und diese Zahl wächst in der That noch von Tag zu Tag! Wahrlich, es hat einen furchtbaren Klang, das neue Wort, vor allem für die Hamburger selbst! Seit manchen Wochen mußten die Eltern dort jeden Morgen seiner eingedenk werden, wenn sie beim Frühstück einen Blick in die Zeitung warfen und die Familienanzeigen durchflogen … die nahmen dreimal, viermal soviel Raum ein wie zu gewöhnlichen Zeiten, obgleich die Verlobungen und die Hochzeiten so äußerst wenig Platz beanspruchten. Da theilten Verwandte im Namen von drei unmündigen Kindern mit, daß deren Eltern an einem und demselben Tage weggerafft worden seien, da kündigte eine Tochter an, daß ihrer verwitweten Mutter jetzt auch Bruder und Schwester ins Grab gefolgt seien und sie nun ganz allein stehe. Und seltsam – fast nie wurde die schreckliche Seuche als Todesursache angegeben, man scheute das Wort, nur von „kurzem schweren Leiden“ war die Rede; aber Zusätze wie „Bestattung von der Leichenhalle am Holstenthor aus“ oder „die Beerdigung hat bereits stattgefunden“ sprachen deutlich genug. Und gerade in diesen unscheinbaren Zusätzen lag oft noch eine besondere Verschärfung des Schmerzes der Hinterbliebenen. Im sorgfältigen Erweisen der letzten Liebespflicht, in der liebevollen Zurüstung der Bestattung liegt immerhin eine Art von Trost, von Beruhigung [722] Aber auch dieser blieb hier vielen versagt. Ich war Augenzeuge, wie hart es eine mir sehr nahestehende Familie empfand, daß der Leichnam des Vaters, kaum daß der Entschlafene den letzten Hauch gethan, sofort im zugelötheten Zinksarg hinausgeführt werden mußte nach der Friedhofskapelle.
Wenn man da nach dem Frühstück Abschied nimmt von den Lieben bis zum Nachmittag oder Abend, dann drängt sich immer wieder der herzbeklemmende Gedanke auf: werde ich euch auch wiedersehen? Gehören nicht auch meine Kinder morgen schon zu den Cholera-Waisen?
Freilich, gleich auf dem Wege zum gewohnten Tagewerk, tritt der Gedanke an das eigene Wohl und Wehe zurück vor dem allgemeinen Elend, das sich einem aufdrängt und die Betrachtungen in Anspruch nimmt. An allen Straßenecken, an den Häusern, Bäumen, Zäunen – überall mahnen die zu Tausenden angeklebten rothen und grünen Zettel, kein ungekochtes Wasser aus der Leitung zu trinken oder sonst irgendwie zu benutzen, kein rohes Obst zu essen. Alle Gossen, alle Haustreppen und Schwellen sind reichlich mit Karbolsäure besprengt, den scharfen Geruch spürt man auf Schritt und Tritt. Wagen mit gekochtem Wasser, das unentgeltlich abgegeben wird, fahren durch die Straßen, Volksküchen sind errichtet. Wer seinen Schritt zur Elbe lenkt, der kann dort die Staatsbarkasse beobachten, welcher die hygieinische Ueberwachung des Schiffsverkehrs obliegt. Mein täglicher Weg führt durch die Steinstraße, in gewöhnlicher Zeit eine der belebtesten Verkehrsadern der Altstadt und selbst in den schlimmsten Tagen, als täglich über tausend Erkrankungen und nahe an fünfhundert Todesfälle vorkamen, auf den ersten Blick immer noch von regem Treiben erfüllt. Aber bei näherer Beobachtung zeigte sich der Unterschied. Die Schulkinder mit dem Ränzel auf dem Rücken und der Frühstückskapsel an der Seite fehlten, alle Lehranstalten mußten ja geschlossen werden. Die lange Reihe der Fischfrauen am südlichen Bürgersteig war verschwunden; niemand hatte mehr ihre Ware begehrt. Der Obstverkauf auf der Straße war verboten worden, so hatten die Fruchthändler, die sonst hier umherzogen, anderen Erwerb suchen müssen – viele dieser armen Leute sind noch heute auf dieser Suche. Und müßig stehen die kleinen Lebensmittelhändler, die in Hamburg den Namen „Käsehöker“ führen, in der Ladenthür; vor ihren Hauptartikeln, Butter und Käse, warnt täglich aufs eindringlichste die „Cholera-Kommission“. Ich grüße einen mir bekannten Ladeninhaber: „Wie geht’s denn?“ Er antwortet, die Frage auf sein Geschäft beziehend, mit traurigem Kopfschütteln: „Verdient wird nichts. Von dem wenigen, das ich verkaufe, muß ich das meiste auch noch anschreiben. Noch eine Woche halte ich’s zur Noth aus. Dann – ja, was dann!“
Vor einem Hofe hält ein zweispänniger Wagen, mit Schmutz bespritzt. Ein Krankenwärter schließt eben dessen Thüre, schwingt sich auf den Bock, und in raschem Trabe rollt das Fuhrwerk dahin. Herzzerreißend tönt von oben her, aus dem Fenster einer niederen Dachwohnung, das Jammern und Schluchzen von Kinderstimmen – die unbarmherzige Seuche hat den armen Kleinen vor wenigen Stunden den Vater und nun die Mutter entrissen. Einige mitleidige Nachbarinnen gehen hinauf in die verödete Wohnung, um nach den Verwaisten zu sehen; die umherstehende Menge mit den ernsten blassen Gesichtern löst sich auf. „Heute schon der dritte Transport aus diesem Hofe!“ murmelt einer im Weggehen und schüttelt den Kopf.
Und so viele von den mir Begegnenden tragen schwarze Kleidung!
Da kommt ein Bekannter vom Hilfskomitee, ich begleite ihn ein Stück Weges. „Schon beinahe zwei Millionen Mark für die Nothleidenden gesammelt, wie das heutige Verzeichniß ausweist,“ bemerke ich, nachdem ich ihn begrüßt habe. „Das übersteigt alle Erwartungen.“
„Ein Tropfen auf einen heißen Stein,“ antwortet er sehr ernst. „Wenn die Seuche noch monatelang anhält, ist Hamburg ruiniert. Zu thun haben nur die Aerzte, die Apotheker und Droguisten, die Weinhändler und Spirituosenverkäufer, die Tischler, soweit sie Särge anfertigen, und die Leichenträger, auch die Zimmerleute beim Barackenbau. Fast das gesammte Kleinhandwerk feiert. Wer will sich neue Kleider oder Mobilien anschaffen, wenn er darauf gefaßt sein muß, morgen in einen jener Wagen zu wandern? Das Schlimmste aber ist und bleibt: unser Lebensnerv ist gelähmt! Ich fragte heute einen Schiffsmakler: ,Wie sieht es im Hafen aus?‘ Er erwiderte nur ein einziges Wort: ‚Tot!‘“
„Freilich – das ist das Hauptunglück, daß man an so vielen Orten in Deutschland und auswärts alles, was von Hamburg kommt, in Acht und Bann gethan hat, seien es auch die harmlosesten Gegenstände, die unschädlichsten Waren, die nach bestimmter amtlicher Versicherung der Reichsregierung nie und nimmermehr die Krankheit übertragen können. Ehe der furchtbare Bannkreis, [723] den die Choleraangst um uns gezogen hat, nicht gebrochen wird kann es nicht besser werden.“
„Noch brauchen wir nicht zu verzagen,“ fuhr mein Freund fort, „man wird sich in Deutschland erinnern, daß die Hamburger gute Deutsche sind. Begnügt man sich mit den wirklich gebotenen Vorsichtsmaßregeln, so wird nach und nach wieder neues Leben hier zu pulsieren beginnen. Und das ist eine Hilfe, so nothwendig wie irgend eine, die man uns bieten kann – möge sie bald kommen, sonst weiß ich nicht, wie wir die jetzigen Einbußen überwinden sollen; sonst ist die Franzosenzeit, ist der große Brand Hamburgs noch nichts gegenüber der Katastrophe der Cholera-Tage von 1892!“
Ich konnte nicht widersprechen. –
Am Abend desselben Tages führte mich meine Frau vor den großen Tisch der Wohnstube, der vollgepackt war mit Spielsachen der verschiedensten Art. „Das haben unsere Kleinen von ihren Sachen zusammengesucht und von den Nachbarskindern erbeten. Du kannst es gewiß morgen früh nach dem Brookthorquai schaffen lassen. Ich erzählte ihnen von den unglückliche Cholera- Waisen, und da haben sie in richtigem Mitgefühl gemeint, ein wenig Spielzeug würde die Verlassenen zerstreuen und aufheitern, ‚da brauchten sie doch nicht den ganzen Tag um ihre Eltern zu weinen.‘ Und Freund B.s größere Mädchen haben sich mit einigen Bekannten vereinigt, um Kinderkleider und Hemden für die Waisen zu nähen. Fehlt es doch, wie ich heute erfahren habe, den allermeisten derselben am Nöthigsten, denn ihr bißchen Zeug ist entweder durch unvernünftige Desinfektion verdorben oder, weil aus Lumpen und Fetzen bestehed, gleich kurzer Hand verbrannt worden. Der Staat allein kann da nicht helfen, selbst die Vorräthe des Waisenhauses reichen nicht aus. Also nicht wahr, Du läßt die Sachen hinbringen?“
„Nein, liebes Kind, ich gehe selbst hin. An Mitteln zur nachherigen Desinfektion wird es am Brookthorquai nicht fehlen. Sei unbesorgt, ich werde dabei nicht angesteckt. Man nimmt es jetzt nicht nur da, wo die unmittelbarste Gefahr vorliegt – in den Cholera-Baracken – sondern an allen bedrohteren Punkten mit der Desinfektion peinlich genau.“
Als ich am anderen Morgen, mit großen Paketen beladen, im Vorzimmer der Uebergangsstation stand – meine Kinder hatten sich’s nicht nehmen lassen, einige Bündel bis zur Thür zu schleppen – empfing mich ein freundlicher Herr, ein Lehrer, der auf die Frage, ob Spielzeug angenommen würde, erfreut antwortete: „Sehr willkommen!“ Gleich darauf stand ich zwischen einer gonzen Schar von Kleinen. Aber betrübt waren sie durchaus nicht, diese Elternlosen. Sie waren zu jung, um den erlittenen Verlust zu begreifen; so lachten und spielten sie ganz vergnügt zwischen den Betten des bescheidenen Gasthofes, in dem sie untergebracht waren. Als der Lehrer sagte: „Hier giebt’s Spielzeug!“, da erhob sich ein wahres Jubelgeschrei. Ganz verwundert sah mich ein kleines Mädchen an, als mir beim Austheilen trotz alles Strebens, mich zu beherrschen, die Thränen über die Wangen liefen. Sie flüsterte mir die Versicherung zu, gestern recht artig gewesen zu sein und es heute wieder sein zu wollen, immerzu, so lange, bis Papa und Mama aus dem Krankenhaus zurückkämen . . . Arme Kleine! Beim zweiten Besuch erfuhr ich, daß ihre Eltern längst im Grabe schlummerten, in dem großen Massengrabe in Ohlsdorf, wo allnächtlich bei Fackelschein so viele schlichte Särge beigesetzt werden, ohne Kranz, ohne Schild, nur mit einer blechernen Nummer versehen.
Aber wenn diese Armen auch für den Augenblick wohl aufgehoben und zufrieden sind in ihrem glücklichen Vergessen . . . wie soll es in Zukunft werden? Bald müssen sie ja doch zum Bewußtsein dessen kommen, was sie verloren haben – müssen wir da nicht dafür sorgen, daß sie dann zugleich das Bewußtsein hegen können: edle Menschen haben uns nicht verlassen in unserer Noth; haben wir die treuesten Herzen, die es auf Erden giebt, die Elternherzen, verloren, so durften wir andere dafür gewinnen, die mit hilfreicher Hand die härtesten Härten des Lebens uns erleichtern wollten und erleichtert haben! Wie solche Hilfe zu leisten sei, darüber sei es mir gestattet, eine kleine Notiz anzuführen, die ich eben in einem hiesigen Blatte finde. Sie lautet: „Eine große Zahl von Kindern ist durch die Cholera verwaist worden. Wenn auch für den Anfang für die Verpflegung und Unterhaltung der Kinder gesorgt worden ist, so ruht ihre Zukunft doch noch im Dunkeln. Manche finden eine freundliche Aufnahme bei kinderlosen Eheleuten und Witwen und sind nach Menschendenken wohl versorgt, viele andere aber müssen von den Behörden untergebracht werden, und wenn ihnen auch volle Liebe und Theilnahme entgegengebracht wird, so sind sie doch die ärmsten und beklagenswerthesten Opfer der durch die Cholera entstandenen Noth. Wenn sie konfirmiert worden sind und ein Geschäft erlernen sollen, stehen sie mittellos da. Ihnen durch die jetzt überall thätige Menschenliebe ein kleines Kapital zu verschaffen, damit sie später nicht durch zu große Armuth an ihrem Fortkommen gehindert werden, hat sich ein Komitee, bestehend aus den Herren Pastor Blümer und Pastor Schoost, Dr. O. Meier und Direktor K. Stalmann, gebildet. Dieses Komitee wird freiwillige Gaben von Fern und Nah annehmen, darüber Abrechnung geben und die Verwaltung der [724] Gaben in die Hand nehmen. Bis jetzt sind bei den genannten Herren bereits gegen 3000 Mark eingegangen.“
Dreitausend Mark – das wären drei Mark für jede Cholera-Waise, also noch herzlich wenig, namentlich da die Zahl der Cholera-Waisen leider jeden Tag wächst. Allein sicherlich wächst auch jeden Tag um ein Beträchtliches die Summe der für die Cholera-Waisen eingehenden Spenden.
Ich habe mich damit begnügt, die nackten schlichten Thatsachen vorzuführen – leicht ließen sich von den Stätten des Jammers schreckliche Einzelheiten erzählen. Aber ich denke, es bedarf nicht eines Appells an das Grausige, um die Herzen zu rühren und die Börsen zu öffnen. Tausend Cholera-Waisen – das sagt genug! Gustav Kopal. Hamburg.
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Wir haben den warmherzigen Worten des vorstehenden Berichtes und dem packenden dichterischen Aufruf, den wir gleichzeitig in dieser Nummer veröffentlichen, nur wenig hinzuzufügen. Das Unglück jener Cholera-Waisen ist groß, groß aber ist auch das deutsche Vaterland und groß, das hoffen und wissen wir, die Bereitwilligkeit, zu helfen. So richten wir denn an unsere Leser die herzliche dringende Bitte, ihre Gaben zu senden; jedes kleinste Scherflein in Gestalt einer Zwanzig- oder Zehn- oder Fünf-Pfennigmarke soll willkommen sein. Bald steht Weihnachten vor der Thür – schaffet jenen verlassenen Waisen ein fröhliches Weihnachtsfest, eine lichtere Zukunft im neuen Jahr! Das ist die
Ueberschrift, die wir der Sammlung für die Cholera-Waisen geben möchten, welche wir hiermit eröffnen. Sämmtliche Beiträge bitten wir zu richten an die Expedition der „Gartenlaube“ in Leipzig, Königsstraße 33. Die Redaktion.