Textdaten
>>>
Autor: Klaus Zehren
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Brüder
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–35, S. 449–456, 469–472, 485–488, 501–506, 518–523, 533–538, 549–554, 565–571, 581–586
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[449]

Die Brüder.

Roman von Klaus Zehren.

Es ist am Abend des achtzehnten August 1870. Glutrot im Dunste des Pulverdampfs und des durch Menschenfüße und Pferdehufe aufgewühlten Staubes ist die Sonne zur Rüste gegangen auch über diesem Tag, und die Dämmerung sinkt nun wie eine riesige alles verhüllende Totenhand auf die Wahlstatt herab. Von fernher, ersterbend, in Pausen schwächer und schwächer werdend, Gewehrfeuer, das dumpfe Dröhnen eines Kanonenschusses, welches in langsamen Schallwellen über die sanft geneigte Landschaft zu kriechen scheint. Rings am Horizont züngelnde Flammen, brennende Dörfer, aus kohlendem Gebälk aufsteigender schwarzer Rauch. Ein Stöhnen und Aechzen schwebt durch die Luft, der Sterbeseufzer Gefallener vermischt mit den wimmernden Klagelauten der Verwundeten. Biwakfeuer glimmen auf; hier und da tönt der Klang deutscher Soldatenlieder hinein in den Blutdunst, der von der Erde sich erhebt. Einzelne Schüsse knattern bald nahe, bald fern, Schüsse, mit denen die Verwundeten die Aufmerksamkeit der Krankenträger auf sich zu lenken suchen.

Ein einzelner Ordonnanzoffizier reitet langsam über das Schlachtfeld von St. Privat.

[450] „Hier waren sie, als ich den Bruder zuletzt sah,“ murmelt er, mit den Augen scharf die unregelmäßig verstreuten Leiber der Gefallenen musternd, während sein abgehetztes Pferd mit gesenktem langgestreckten Halse dahinschreitet; behutsam hebt das edle Tier die Füße über reglose Körper hinweg, windet sich hindurch, weicht schnaubend zurück vor einem Sterbenden zu seinen Füßen.

Hier war es, wo die preußischen Garden zum Sturm vorgingen auf St. Privat, todesmutig, unter brausendem Hurra heranbrandend in dem vernichtenden Gewehrfeuer, das ihnen aus jeder Hecke, hinter jeder Steinmauer des Dorfes hervor entgegenprasselte. Reihenweise hat sie der Tod niedergemäht.

Etwas abseits von einer solchen todesstarren Gruppe liegt lang hingestreckt am Boden die mächtige Gestalt eines Offiziers, das Antlitz, auf den verschränkten Armen ruhend, zur Erde gekehrt.

Langsam, den Kopf weit vorgebeugt, kommt der Reiter näher, und als sich ihm die Umrisse jenes Körpers aus dem Dämmerlicht loszulösen beginnen, zieht fahle Blässe über das Gesicht des Suchenden. „Bruder!“ stöhnt er und gleitet aus dem Sattel, an der Seite jenes Gefallenen niederknieend.

Sein Gaul senkt schnaufend die Nüstern zu einigen niedergetretenen Haferähren hinab, während die Hände seines Reiters den Körper des Hingestreckten betasten. „Bruno! Bruder!“ Er hält die eigenen Finger dicht vor die Augen, nach Spuren von Blut forschend.

Kein Laut, der dem Rufenden Antwort giebt. Oder doch? Ist es nicht, als ob ein Zittern durch den Körper da vor ihm gehe, als ob ein ersticktes Wimmern vernehmbar sei? „Bruno, wo bist Du verwundet? Kannst Du den Kopf nicht heben?“ Und wieder beginnt er mit den Händen zu tasten. Kein Tropfen Blut, nicht eine defekte Stelle in dem die breite Gestalt umschließenden blauen Waffenrock! Da – kein Zweifel! Ein krampfhaftes Zucken der Glieder ist fühlbar. Entschlossen hebt Hermann von Weßnitz das Haupt des Bruders empor, faßt ihn an den Schultern und schwerfällig dreht sich der Körper auf den Rücken.

„Was ist Dir, Bruder? So sieh mich doch an!“

Langsam öffnet Bruno die Augen, wie jemand, der sich fürchtet, durch das Sehen wieder die Außenwelt auf sich wirken zu lassen. Ein verstörtes ausdrucksloses Gesicht, zwei glanzlose stumpf starrende Augen! Aber das ist nicht der Blick eines schwer Verwundeten oder Sterbenden!

Die Brüder hängen mit ihren Blicken aneinander wie gebannt; der eine forschend, suchend, der andere mit einem Zucken in den Augenlidern, einem unruhigen Hin- und Herflackern. Dann schlägt Bruno beide Hände vor das Antlitz. „Was willst Du von mir? Geh, geh – laß die Hände weg! Fort von mir, sag’ ich! Doch nein, nein, bleib! Rasch einen Revolver! Ich verlor den meinen .... Was starrst Du mich an? So thu’ es doch! Schieß’ Deinem Bruder eine mitleidige Kugel vor die Stirne!“

Hermann prallt zurück. Seine Blicke irren entsetzt, verständnislos umher. Ist er wahnsinnig oder der Bruder? Eine unnennbare Vorstellung, eine unklare atemraubende Ahnung von etwas Schrecklichem, Undenkbarem zuckt ihm durchs Gehirn. Er stützt sich wie nach einem Halt suchend mit beiden Händen auf den Boden, seine Finger krampfen sich in das Erdreich.

Nun klingen wieder Worte an sein Ohr, abgerissen, stockend, hervorgestoßen aus einer ächzenden Menschenbrust. „So tritt mich doch mit den Füßen! Ein Weßnitz ein Feigling! Schlage mich, wenn Dir eine ehrliche Kngel zu gut dünkt! Ganz recht, Du willst nicht hersehen! Hier liegt Dein Bruder, Blut von Deinem Blut, haha – – pst! Ruhig! Duck’ Dich!“ Er versucht den Bruder zu sich herabzuzerren, während seine Augen mit dem Ausdruck eines geschlagenen Hundes den Gestalten zweier Krankenträger folgen, die in einiger Entfernung vorübergehen. „Daß sie uns hier nicht zusammen sehen! – O, im Anfang war das alles gar nichts! Man steckte so in der Masse drin, man hörte Kommandorufe und es ging vorwärts, man sah kaum rechts noch links. Aber dann ein Halt, weil wir nicht mehr vorwärts konnten, auch zu schießen vermochten wir nicht hinter dem Grabenwall. Nur die Verwundeten schrien. Jetzt wieder auf! Die Ersten, die heraussprangen, stürzten tot zurück. Wieder aus der Deckung! Reihenweise sanken sie zusammen. Den Vetter Ungern schossen sie durch den Kopf, er rollte wie ein Klotz mir vor die Füße und ich – nun ich stürzte über ihn weg – dort, dicht hinter mir, er liegt noch da. O, er kann wohl so ruhig daliegen! Ein ehrlicher Toter!“ Erschöpft hält der Sprecher inne und wischt mit dem Rücken der rechten Hand den Schweiß von der Stirne.

„Du hast irgendwo eine matte Kngel, einen Prellschuß bekommen,“ sagt Hermann von Weßnitz in einem Ton, als klammere er sich an diese Möglichkeit fest.

Der Bruder schüttelt den Kopf. „So glaubte ich selbst im Anfang! Ein dumpfes lähmendes Gefühl im Kopf, als hielten mich tausend Hände an den Kleidern auf dem Boden fest. Dann kam das zweite Bataillon dicht an uns vorbei. Irgend einer sagte ganz laut. ,Da liegt Weßnitz, armer Kerl!‘ O, hätte er wahr gesprochen! Kurz darauf betastete jemand meinen Körper. Eine Stimme schrie herüber. ,Nicht den! Dem ist nicht mehr zu helfen, hier, nehmt diesen Offizier!‘ Dann war ich wieder allein. Ich kannte jene Stimme, es war die unseres Bataillonsarztes.“

„Noch war es nicht zu spät –“

„So, glaubst Du? Sollte ich hinterherlaufen und schreien: mir fehlt nichts, gar nichts, ich habe nur einen kleinen Nervenschauer gehabt! So antworte doch! Hermann!“ schreit er auf, „sieh mich nicht so an! So nicht! Genau wie der Vater! Nur der graue Bart fehlt und die schneeweißen Haare! Ja, ja, es ist gut, daß sein Haar schon weiß ist! Ein Weßnitz ein Feigling in seines Königs Rock!“ In namenloser Scham wirft sich Bruno wieder herum und wühlt das Gesicht in die Erde.

Tiefe Stille, es ist fast Nacht geworden. Unheimlich dröhnt von St. Privat das Prasseln zusammenstürzender Häuser herüber.

Hermann ist aufgestanden. Die Arme über der Brust gekreuzt, blickt er unbeweglich zu dem Bruder hinab. Tiefe Falten legen sich ihm um Mund und Augen, Schmerz, Groll, Schamgefühl graben scharfe Linien in sein junges Gesicht, rascher und härter, als Jahre es könnten.

Da tönen Stimmen herüber zu den beiden. Scheu fahren sie zusammen.

„Hermann, wenn jemond uns hier so fände! Geh, geh! Wo ist Dein Revolver? Rasch, ich beschwöre Dich! Der Vater, die Kameraden . . .“

Eine Sekunde zögert Hermann, dann zerrt er den Revolver aus der Satteltasche und drückt ihn dem Bruder in die feuchtkalte erdige Rechte. „O Bruder!“ ruft er stöhnend.

„So – danke Dir! Leb’ wohl! Und grüß’ die Lore – und . . .“

Das andere hört Hermann nicht mehr, halb besinnungslos, kaum die Bügel berührend, schwingt er sich in den Sattel und giebt dem Pferde die Sporen, in aufgeschreckten Sprüngen stürmt es davon. Plötzach ein heftiger Ruck an den Zügeln – er hält. Ein entsetzlicher Gedanke hat ihn erfaßt und macht ihm das Blut in den Adern erstarren: „Warum hast Du die That nicht verhindert? Mörder! Brudermörder!“ Er reißt das Pferd herum und will zurück. Da – ein kurzer Knall aus jener Richtung. Der Reiter zuckt zusammen und fährt langsam mit der Hand unter die Helmblende. „Zu spät! Es ist geschehen! Leb’ wohl, Bruno!“ kommt es heiser von seinen Lippen.

Winkt dort nicht im Schein mehrerer brennender Laternen ein rotes Kreuz auf weißem Grunde? Mechanisch wendet er sein Pferd dorthin.

Eine Verbandstelle. Mehrere Aerzte sind an der Arbeit, den einen davon kennt er persönlich.

„Herr Stabsarzt! Bitte, dort, an jenem kleinen Strauch – er hebt sich gegen den Feuerschein ab – dort muß mein Bruder liegen. Ich habe keine Sekunde Zeit – Meldung an das Generalkommando –“

„Werde sogleich hinschicken, selbstverständlich! Eine tolle Wirtschaft, und nun die Nacht dazu. Sie schleppen alles heran, Tote und Sterbende, und die anderen, denen noch zu helfen wäre, bleiben liegen. He, Krankenträger! Dort drüben – sie sehen den Strauch – ein verwundeter Offizier!“

„Ich danke Ihnen,“ preßt Hermann hervor und reitet davon. –

In einem halbzerschossenen Hause findet er seinen General.

„Was ist aus Ihrem Bruder geworden, lieber Weßnitz?“ fragt ihn der Vorgesetzte, unter den buschigen Augenbrauen hervor seinen Ordonnanzoffizier anblickend.

„Ich habe ihn nicht gefunden“, antwortet Weßnitz und wendet sein Gesicht von dem dürftigen Lichtschein einer wackligen Stalllaterne weg, die fast das einzige Mobiliar dieses Quartiers ausmacht.

„Na, es wird nicht so schlimm sein! Verdammt! Nach diesem [451] Tag nichts als Wasser und das elende französische Weißbrod! Langen Sie zu, Weßnitz, in der Not frißt der Teufel Fliegen!“

„Ich danke gehorsamst, Herr General, ich kann nichk essen, ich habe nur den Wunsch, zu schlafen.“

„Glaub’s schon. Dort auf der Tenne hab’ ich Stroh zusammentragen lassen.“

Langsam geht Hermann hinaus. Der General blickt ihm sinnend nach. „Ein braver Kerl, nur zu still und zu bescheiden, um rasch seinen Weg zu machen.“

0000000000000000

Drei Tage später!

Hermann hatte seinen Bruder besucht im Feldlazarett.

„kann von Glück sagen, Ihr Bruder,“ hatte derselbe Stabsarzt gemeint, dessen Fürsorge Hermann am Abend des achtzehnten August angerufen hatte. „Einen Centimeter mehr links, dann war alles aus.“

Nachher war Hermann an Brunos Lager getreten. Sie sprachen nicht viel zusammen. Wie ein feindlicher Schatten stand die Erinnerung an jene Scene auf dem Schlachtfelde zwischen ihnen.

Ein kurzer flüchtiger Händedruck.

„Ich soll nach der Heimat gebracht werden – hast Du etwas zu bestellen? fragt Bruno mit matter Stimme.

„Nein, nichts!“

„Auch nicht Grüße an Vater und Mutter?“

„Ja so – gewiß!“

„Und an die Lore?“

„Auch an die natürlich!“

„Hermann!“ Es lag ein unsagbar trauriger hoffnungsloser Ton in der Stimme des Verwundeten, ein beinahe frauenhaft weiches Flehen.

„Leb’ wohl, Bruno! Gute Besserung!“ Das klang fast gerührt, war aber halb im Fortgehen gesagt. –

Am nächsten Abend lag Hermann von Weßnitz, in eine Pferdedecke gehüllt, am Biwakfeuer. Rings in der Runde im flackernden gespenstischen Schein der brennenden Holzscheite die schlafenden Gestalten der Kriegsgefährten, deren todmüde Glieder auf einigen Schütten Stroh ausgestreckt ruhten, hoch über ihm die Sterne in hellem Geflimmer. Er konnte die Augen nicht schließen, ein Gedanke hielt sie wach, ein unablässiges schmerzhaftes Grübeln, ein Wägen zwischen Herz, Verstand und deutscher Soldatenehre.

Zuerst hatte er eine unbändige Freude darüber empfunden, den Bruder noch lebend zu wissen, befreit zu sein von dem dumpfen bleiernen Gefühl, ihm selbst die tödliche Waffe in die Hand gedrückt zu haben. Aber eine kurze Freude war’s. Gleich nachher der häßliche quälende Gedanke. wie kommt’s, daß er nur verwundet ist? Kann das Zufall sein oder hat auch da noch seine Hand gezittert, aus Feigheit gezittert?

Er schauderte frierend zusammen und stieß mit dem Fuß einen Holzklotz tiefer in die Flammen. Gewaltsam suchte er sich seinen Grübeleien zu entreißen. Was wäre denn besser geworden, wenn die Kugel einen Centimeter weiter links gegangen wäre? Konnte der Tod des Bruders die Sache anders machen? Ja doch – das wäre Sühne gewesen mit dem Leben, das er zu lieb gehabt hatte. Sühne? Wofür denn Sühne? Für eine natürliche menschliche Schwäche? Für das Versagen der Nerven, für eines der mächtigsten Gefühle einer jungen Brust, für den Wunsch, das Leben zu retten ...... Und trotzdem –

Hermanns Blick haftete nachdenklich auf der Brust eines Husarenoffiziers ihm zur Seite, auf dem lichtblauen Tuch des Rockes bewegte sich mit dem Atmen des Schläfers ein schlichtes schwarzes Kreuz auf und nieder, regelmäßig, taktmäßig. Er konnte den Blick nicht davon trennen. Man hatte erzählt, die verwundeten Offiziere würden fast alle mit dem Eisernen Kreuz geschmückt werden, mit diesem Ehrenzeichen, das so schmucklos und stolz zugleich auf der Brust getragen wurde, mit dem der König die Besten zu ehren gedachte. Die Besten!

Er richtete sich auf und starrte glanzlosen Auges ins Feuer, aber die Stimme in ihm kam nicht zur Ruhe. Dann bist also du schuld, daß dein König dies Zeichen einem Unwürdigen an die Brust heftet! Und alle werden achtungsvoll das Kreuz betrachten, alle, alle! Der Vater und die Lore mit dem Goldhaar und den braunen großen Augen! Mit zitternden Fingern griff er sich an die Stirn. Würde Bruno es tragen können, dies Ehrenzeichen für seine Schande, ohne wahnsinnig zu werden? Würde es ihn nicht tausendmal überkommen: lieber erschossen, gesühnt, gebüßt, als mit dem elenden Bewußtsein, mit dem Ekel vor sich selbst, sich von anderen ehren lassen für das, was man nie gethan, nie hat vollbringen können?

Krachend schlug ein Scheit Holz um – eine Funkengarbe sprühte knisternd empor, den Sternen zu, die so geduldig und stetig aus weltentlegenen Fernen über der Erde flimmerten, über all den unruhigen armen Menschenkindern.

„Sie können wohl auch nicht schlafen, Weßnitz?“ sagte der Husarenoffizier und rutschte auf dem Stroh näher ans Fener. „Es wird verdammt kühl! Aber Sie sind ein junger Kerl und brauchen um nichts zu sorgen. Unsereinen plagt der Gedanke an die Frau, die man zurückließ, kaum ein Jahr nach der Hochzeit. Der Soldat sollte nicht heiraten.“

Hermann blickte fragend in das hübsche Gesicht seines kriegskameraden. „Treptow, ich habe nicht gewußt, daß Sie so weich sein können.“

„Pah,“ meinte dieser und biß die Spitze einer Cigarre ab, „weil ich immer lustig bin und kein Kopfhänger? Sehen Sie, Weßnitz, wenn man erst erfahren hat, was eine Frau bedeutet, so ein Menschenkind, das nur für uns lebt und atmet, na, Sie verstehen mich – und schließlich – wenn einen solch eine verdammte Kugel hinüberbefördert, das ist doch keine Kleinigkeit! Man ist so feftgehalten an der Erde, es fehlt einem ganz das Gefühl völliger Gleichgültigkeit, das Sie gewiß haben, wenn die Kugeln pfeifen.“

Weßnitz blickte antwortlos vor sich nieder.

„Freilich, Sie haben ja auch Eltern und Geschwister, aber das ist doch etwas anderes, und dann – ich muß jemand haben, dem ich es sage: mein Weib soll mir ein Kind schenken. Ich sage Ihnen, diese Angst ist schlimmer als in eine Batterie reiten! Man hat oft so verrückte Gedanken. Als ich mit der Schwadron am Achtzehnten die Batterie nahm – wir waren noch etwa zweihundert Schritt davon entfernt und in einem ganz anständigen Tempo, ich ritt den Vollblutfuchs und der Gaul lag in den Zügeln wie besessen – da fuhr es mir durch den Sinn: Donnerwetter, wenn gerade jetzt zu Hause ein kleiner Husar ankäme, und ich, der Vater, würde hier totgeschossen! Himmelelement – so soll der Junge wenigstens stolz sein, dachte ich, und ließ meinen Fuchs fliegen, ohne hinter mich zu sehen. Das war die Ursache, weshalb ich so weit vor der Schwadron hineinkam und den französischen Batteriechef herunterholte! Man kommt zu Ehren, man weiß nicht wie, aber gefreut hat es mich doch, und wenn kleine Hände einmal mit diesem Kreuz spielen, wenn es auch die eines Mädels sind – nun, dann werde ich an die Geschichte gern zurückdenken.“

Der Offizier schaute nachdenklich mit einem hoffnungsfrohen Blick in das Feuer. Hermann sah ihn von der Seite an. Wie schlicht der Mann das alles erzählt hatte! Unwillkürlich streckte er dem Kameraden die Hand hin. Dieser nickte ihm freundlich zu, dankbar, daß er jemand gefunden hatte, der mit ihm fühlte.

„Solch eine Frau hat eigentlich mehr Mut als wir. Sie weiß genau, daß ihr des Kindes Dasein vielleicht das Leben kostet, und lächelt doch bei dem Gedanken. Und schließlich, wenn sie stirbt, ihr Tod ist so ehrenvoll wie der unsere durch den Feind – gestorben für die Zukunft! Ja, ja, an solche Dinge denkt man nicht als Junggeselle! Na, es wird ja noch alles gut gehen! Was hilft das Grübeln!“ Er warf die Cigarre in die Holzglut. „Miserables Kraut!“ Sich von neuem in seine Decke wickelnd, schob er seinen Körper dicht ans Feuer, und nach wenigen Minuten ging das Kreuz auf blauem Tuch mit den Atemzügen des Schlafenden wieder regelmäßig auf und ab.

*  *  *

„Markenstein! Aussteigen! Zwei Minuten Aufenthalt!“ ertönte die Stimme des Schaffners.

„Verdammt langweilig! Ich muß hier eine Stunde auf meinen Zug warten,“ sagte ein Husarenoffizier zu einem Kameraden von der Infanterie, der neben ihm stand.

„Ja, wir haben das Warten satt bekommen in den letzten Monaten,“ meinte dieser und drückte dem Aussteigenden die Hand. „Leben Sie wohl, Treptow! Na, die Freude Ihrer Frau, wenn Sie ankommen, und noch dazu der Junge, den sie Ihnen entgegenbringt!“

Ueber das hübsche Gesicht des Husaren zog es wie heiter Sonnenschein. „Nun, Ihre Alten werden auch vergnügt sein, [454] beide Jungens wieder heil und gesund bei sich zu haben. Leben Sie wohl, Kamerad! Grüßen Sie Ihren Bruder, den lustigen Kerl!“

„Fertig!“ schrien die Schaffner und pfeifend, stöhnend setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Der im Wagen Zurückgebliebene wischte mit dem Fensterriemen die beschlagene Scheibe ab und blickte eine Weile nachdenklich hinaus in die Landschaft.

Heide, braune Heide, so weit das Auge reichte, darüber ein schmutzig grauer Himmel! Schnee und Regen, vor dem pfeifenden Novemberwind aus niedrigen Wolken über die Ebene jagend! Hier und da huschten kleine verkrüppelte Fichten vorüber, die Aeste nur nach einer Seite streckend, wie es der rauhe Nordwest ihnen geboten, seit sie den ersten Schößling auf sandigem Boden getrieben.

Hermann von Weßnitz kannte diese Gegend; er war ja darin aufgewachsen, und diese endlose Heide war ihm nicht weniger lieb wie dem Schweizer sein Hochgebirge. Alte Erinnerungen tauchten vor ihm auf. Wie oft er mit seinem jüngeren Bruder auf flinken kleinen Pferden die Einöde durchstreifte! Wie oft sie in heißen Sommertagen an der sanften Böschung eines Hügels im duftenden Heidekraut lagen! Ringsum summten die Bienen und die Grillen zirpten, während er stundenlang träumen konnte zu dem blauen Himmel hinauf. Bruno war anders. Der vermochte nicht so lange ruhig zu bleiben. Sein leichtes wildes Blut ging zu hastig; er fing Käfer und anderes Getier, neckte den Bruder mit Grashalmen oder trieb sonst allerhand Kurzweil.

Bruno war stets der lebhaftere der beiden Brüder gewesen. Ein schöner unbändiger Junge mit sehnigem Körper, stets begierig nach Neuem, nach Genußreichem, und dann wieder so bald satt und weiterdrängend zu anderem Zeitvertreib, während Hermann stets etwas Stilles, Zurückhaltendes in seinem Wesen hatte. Starrköpfig führte er aus, was er sich vornahm, schon als Kind ein Mensch, den Widerwärtigkeiten anzogen, um sie zu bekämpfen; dabei verschlossen, schwer zugänglich für Fremde. Vielleicht gerade wegen dieser Gegensätze hingen die Brüder so fest aneinander, obgleich der jüngere stets bevorzugt wurde, sogar vom eigenen Vater. Wie manches harte Wort hatte Hermann für die tollen Streiche seines Bruders hingenommen, um diesen vor einer Strafe zu bewahren! Und es freute ihn manchmal, daß man ihm solche Streiche zutrauen konnte.

Zwischen den beiden wuchs als treue Spielgefährtin, wenn auch an Jahren jünger, eine Kousine auf – die lustige Lore, ein früh verwaistes Kind, das von den Verwandten erzogen wurde.

Hermann lächelte leise vor sich hin. Wie sie mit den Knaben tobte in der Schulstube, in Scheune und Keller, im Wald und auf der weiten Heide! Und wie die Brüder sich überboten, der kleinen Prinzeß jeden Wunsch zu erfüllen! Wie ihr Goldhaar flatterte, wenn sie um den runden Rasenplatz vor dem Hause auf flüchtigen Füßen dahinflog!

Donnernd fuhr jetzt der Eisenbahnzug über eine kleine Brücke. Ein Flüßchen schlängelte sich zwischen Erlengebüsch und Wiesenstreifen durch die Ebene. Das Gesicht des einsamen Reisenden wurde ernst, während seine Augen den entschwindenden Schlangenlinien des Gewässers folgten. Langsam strich er mit der Rechten über die Augen, als wollte er eine Erinnerung fortwischen. Vor seinen Augen tauchte immer wieder das süße Mädchenantlitz auf – die Lore, wie er sie gekannt vor dem Krieg. Ein schwerer Abschied! Die Eltern waren mit der Pflegetochter in seine Garnison gekommen, um ihm Lebewohl zu sagen. Hermann freute sich auf den Krieg wie jeder junge Offizier. Gewiß war er bewegt, als er der Mutter Thränen auf seinem Gesicht fühlte, als sie ihn in die Arme schloß, aber erst, als er vor der Lore stand und ihr die Hand reichte, als diese kleine Hand zitternd in der seinen lag, als das Mädchen sich schluchzend an seine Brust warf und er seine Lippen leicht auf ihren goldigen Scheitel senkte, erst da wurde ihm das Herz schwer – und doch zugleich so hoffnungsfreudig. Blitzartig rang sich damals in ihm die Liebe zu diesem Mädchen empor, eine plötzliche klare Empfindung, daß er sie nicht nur als Schwester liebe.

„Behalte mich lieb, Lore!“

Sie lachte unter Thränen und nickte mit dem Kopf. „Natürlich, Hermann! Dem Bruno haben wir gestern Lebewohl gesagt. Er machte Witze, so daß wir lachen mußten trotz aller Angst!“

„Ja, Witze kann ich nicht machen, Lore,“ hatte er einfach erwidert und war aus dem Zimmer gestürmt, weil er fürchtete, daß ihm das Herz zu weich würde.

„Nätürlich, Hermann!“ Die Worte hatte er im Gedächtnis behalten, aber das war ihm entfallen, daß sie gleich darauf von Bruno gesprochen hatte.

Hermann konnte den Gedanken an jenen Abschied nicht loswerden. An keinem Abend hatte er seither die oft todmüden Glieder zur Ruhe gestreckt, ohne daß ihm Lores Antlitz vor der Seele geschwebt, ohne daß er ihren Namen geflüstert hätte. Wie oft am flackernden Biwakfeuer hatte er sich ausgemalt, wie herrlich, wie schön es sein müsse, wenn sie die Seine würde mit ihrem hellen fröhlichen Lachen, ihren blitzenden Augen!

Der Wind warf prasselnd Schnee und Regen gegen die Fenster des Wagens.

Wie würde das Wiedersehen sein mit Vater und Mutter und mit Lore? O, diese weichen Mädchenhaare wieder an seinem Halse zu fühlen! Und Bruno? Er zog fröstelnd den Mantel fester um den Körper. Das lastete auf ihm wie ein trüber Schatten, wie ein Alpdruck. Der arme, arme Bruder! Für eine Stunde, für eine Minute, da die Nerven ihren Dienst versagt hatten, ein Leben lang unglücklich sein müssen! Aber nie sollte Bruno wissen, daß er selbst noch an jenes Wiedersehen denke. Durch ein ganzes pflichtgetreues Leben ließ sich ja jene Schande sühnen, und er wollte dem guten sonst so kecken Kerl redlich dazu helfen. Merkwürdig, als Student brachte Bruno in jeden Ferien neue Schmisse mit nach Hause.

„Welch ein Unsinn!“ hatte Hermann ihn oft verspottet.

„Das stählt den Mut!“ pflegte dann Bruno zu sagen.

Du lieber Gott, in Binden und Bandagen verpackt, sich die Haut ritzen lassen und fest stehen im Kampfe mit Schwert und Blei – das sind verschiedene Dinge! –

Es war Hermann schwer geworden, damals nach dem Friedensschluß noch mit der Okkupationsarmee in Feindesland bleiben zu müssen, während die andern in die Heimat zogen. Aber das war ja nun auch vorüber!

Abgespannt von der langen Fahrt, lehnte er den Kopf an das Wagenpolster. Aus dem Halbschlaf fuhr er plötzlich auf. Ein Stoß und Ruck, der Zug hielt.

„Halingbrock!“ rief der Schaffner und riß die Thüre auf.

Schlaftrunken taumelte Hermann in die Höhe und raffte sein Gepäck zusammen. Der alte Diener seines Vaters stand auf dem Bahnsteig und grüßte leuchtenden Auges, in ehrerbietiger Haltung, den lackierten Hut in der Hand.

„Guten Tag, alter Jochen! Setzen Sie nur den Hut wieder auf, sonst erkälten Sie sich noch!“ Der Offizier streckte dem greisen Diener freundschaftlich die Hand entgegen, die dieser mit zitternden Fingern umschloß.

„Nee, die Freude!“ sagte er nur und griff nach dem Handgepäck. „Die Herrschaften wollten den Herrn Lieutenant lieber zu Hause erwarten,“ fügte er hinzu, eilig neben Hermann zum Wagen schreitend.

„Willkommen to Hus,“ grüßte der Kutscher und zügelte nur mühsam die beiden Braunen vor dem leichten Jagdwagen.

Wie das alles heimatlich anmutete! Alles unverändert! Dieselben Gesichter – dort, rechts am Bahnsteig noch derselbe alte knorrige Apfelbaum mit dem Nistkasten in dem kahlen Wipfel! Alles unverändert, und doch, wie war die Zeit mit eisernem Rad über das Geschick zweier Völker dahingerollt!

Es gehe alles gut, berichtete Jochen auf Hermanns Fragen, auch dem Herrn Bruder seit acht Tagen. Das letzte sagte der Diener mit abgewandtem Gesicht und stieß dabei den Kutscher mit dem Ellbogen in die Seite. Hermann bemerkte es nicht. Der Wagen bog in die lange gerade Allee zum Gutshof ein.

Der junge Offizier fühlte, wie ihm das Herz schlug. „Fahr’ zu!“ befahl er dem Kutscher.

Wiedersehen mit Eltern und Bruder und Lore! Schon von weitem winkten sie von der Sandsteintreppe herab, die zum alten schmucklosen viereckigen Gutsgebäude hinanführte. Dort standen sie – der Vater, dessen grauer Vollbart im Winde flatterte, die Mutter, in ein altmodisches Tuch gehüllt, und dahinter Bruno in Uniform mit der Lore. Ein letzter Gruß der Wintersonne flog blitzartig über die Erde und fing sich in des Mädchens rotblonden leuchtenden Locken.

Mit einem Satze sprang Hermann vom Wagen und warf sich in die zitternden treuen Mutterarme, an die breite Brust des Vaters. Dann streckte er die Hand den beiden anderen entgegen, [455] stumm, nur ein Zittern der Mundwinkel unter dem blonden Schnurrbart verriet seine innere Bewegung.

Lore, noch immer am Arm des Bruders, schmiegte sich fest an diesen an; das liebliche Gesicht wurde in raschem Wechsel rot und blaß. „Bruder! Lieber Hermann!“ rief sie endlich und riß sich von Bruno los, beide Hände dem Ankommenden entgegenstreckend. „Hier sind wir, der Bruno und ich! Schau’, so sehen zwei Verlobte aus!“ Sie sprudelte das fast atemlos heraus, lachend, schluchzend, in holder Verwirrung.

Hermann stand einen Augenblick wortlos, die beiden anstarrend. Langsam sank seine Rechte herab. Dann richtete er sich auf und reichte den Zweien mit einem Ruck die eiskalte Hand.

„Wie er erstaunt ist, ganz anders als sonst, und wie der Vollbart ihn alt macht!“ rief Lore.

Ein Versuch zum Lächeln irrte um seine Lippen. „Welches Glück!“ murmelte er hastig und ging den anderen voraus in das Wohnzimmer.

„Der Vater wollte durchaus, daß ich Uniform anlegte,“ flüsterte Bruno dem Bruder zu und hüstelte dabei.

„Ja, ja!“ Geistesabwesend starrte Hermann einen Augenblick in die Runde. Wie anders hatte er sich das alles gedacht, sich ausgemalt auf der langen Reise! Dann überkam ihn eine unnatürliche Lustigkeit; er begann beim Abendessen aus dem Feldzuge zu erzählen, alles hastig, ununterbrochen, als fürchtete er, daß ihm der Faden entfiele.

„Warum hast Du denn Dein Eisernes Kreuz nicht angelegt?“ fragte nach dem Essen der alte Weßnitz, sich Bruno zuwendend.

Ein hastiger qualvoller Blick, den vier Augen wechselten.

„O, ich vergaß es in der Eile, lieber Vater!“

„Wie kann ein Soldat ein solches Ehrenzeichen vergessen!“ meinte der Alte, das graue Haupt langsam hin und herbewegend. „Donnerwetter, ich bin stolz, daß wenigstens einer meiner Söhne es mit nach Hause gebracht hat.“

Die Augen des Vaters schweiften zu Hermann hinüber, über das schlichte dunkelblaue Uniformtuch, das die kraftvolle Gestalt seines Erstgeborenen umschloß.

„Man hat mit dem Eisernen Kreuz kolossal um sich geworfen,“ sagte Bruno leise und zerrte an den Fransen der Tischdecke.

„Nun ja! Aber ich denke, die Offiziere in den Stäben – Du warst doch während des ganzen Feldzuges Ordonnanzoffizier, Hermann!“

„Sie thaten alle ihre Pflicht,“ platzte Bruno heraus, in der Verwirrung das Taktloseste vorbringend.

Eine Sekunde herrschte Schweigen, eine verlegene abscheuliche Stille. Der Vater bemerkte, daß er durch seine Fragen vielleicht Hermann verletzt habe, ohne es zu wollen. „Es ist gut, daß Du wieder da bist, Hermann, und mit gesunden Knochen!“

Der Aelteste nickte ihm freundlich zu und versuchte zu lächeln, konnte es aber nicht, als sein Blick auf Bruno fiel.

Der Mutter Augen wanderten forschend vom einen zum andern. Lore, die nichts verstand, nichts verstehen konnte, wollte durchaus das Schweigen brechen.

„O,“ sagte sie und lehnte sich an Brunos Schulter, „ich weiß, wo es hingehört, das Eiserne Kreuz! Gerade hier über ein tapferes Herz!“ Und fast kindlich neigte sie den schlanken Körper und drückte die Wange liebkosend an die Brust ihres Verlobten.

Er ward bleich. In nervöser Hast drängte er sie mit beiden Händen zurück und sprang vom Stuhle auf.

„Laß das, Lore! Das ist – – es ist entsetzlich heiß hier! Ich will ein Glas Wasser bestellen.“ Rasch ging er hinaus.

„Er ist so merkwürdig heute,“ sagte Lore, tapfer eine Thräne hinunterschluckend, und stieß in der Verlegenheit eine Tasse vom Tisch herunter. Klirrend zerschellte diese auf dem Fußboden.

Als man sich zur Nachtruhe trennte, hielt die Mutter lange die Hand ihres Aeltesten zwischen den ihren.

„Deine Hand ist eisig. Hast Du Dich vielleicht erkältet?“

Er wandte den Blick ab.

„Sieh mich an, Hermann!“

Er that es, voll, groß, ruhig. Liebkosend streichelte sie seine Hand. „Bist mein guter starker Hermann,“ flüsterte sie leise. „Gute Nacht!“

Sorgenvoll begab sie sich zur Ruhe und lange noch lag sie grübelnd in den Kissen. Mutteraugen sehen scharf. Sie hatte die Wunde gefunden, die durch des Sohnes Herz ging, und wußte nun, weshalb sie sich über des Jüngsten Verlobung nicht recht von Herzen freuen konnte.

Langsam hatte Hermann sein Schlafzimmer aufgesucht, ein großes Gemach, einst das Spielzimmer der beiden Brüder und der Kousine. Gedankenlos begann er sich auszukleiden, zog gewohnheitsmäßig die Taschenuhr auf und schauderte fröstelnd zusammen bei dem klirrenden Geräusch, das die niedergleitende Uhrkette auf der Marmorplatte des Betttischchens machte.

Der Wind fuhr brausend durch die alten Eichen vor dem Hause. Er setzte sich auf den Bettrand und klappte langsam den Deckel eines kleinen Etuis auf und zu, das er seiner Reisetasche entnommen hatte und in dessen Innerem ein schlichter goldener Reif mit einem großen Türkis ruhte.

„Träumer!“ murmelte er leise.

Was hatte er sich eigentlich gedacht? Was berechtigte ihn, so fest daran zu glauben, daß er einst diesen Ring über Lores Finger streifen würde? Nichts, gar nichts in der Welt! Weshalb sollte die Lore denn den Bruder nicht lieben? Dem waren ja von jeher alle Menschen gut gewesen – und er selbst? Nun, er hatte den Bruder ja auch geliebt. Hatte! hatte! Also jetzt nicht mehr? Was konnte denn der Bruder dafür, daß ihm des Mädchens Herz zugefallen war? Wie konnte er, Hermann, über eine Liebe trauern, die ihm nie gehört, die ihm also auch niemand geraubt hatte!

Und doch schnürte es ihm die Brust zusammen, nicht anders, als wäre ihm das Mädchen als sein Eigentum entrissen worden. Wenn nun Bruno nicht nach Hause gekommen wäre? Wenn er bei St. Privat den Tod gefunden hätte? Er schauderte zusammen vor den häßlichen Gedanken, die sich ihm aufdrängten.

Wie schön sie war mit ihrer süßen Gestalt, wie die Augen noch größer, noch dunkler erschienen unter den feinen Brauen!

Er sprang auf, sein Blut kochte. Das Mädchen in seines Bruders Armen! Wird er sie glücklich machen, der … der Feigling! Wie konnte ein Mann, der nie einer war, die Lore glücklich machen!

Es klopfte jemand. Mit weit geöffneten Augen blickte Hermann auf. „Wer ist da?“

Langsam öffnete sich die Thür. Bruno! Die Haare unordentlich in die Stirn fallend, die Gesichtszüge schlaff und bleich, die großen braunen Augen fieberhaft glänzend, so stand er da.

„Hermann,“ sagte er leise und tastete mit der Hand an dem Hemdkragen, als sei ihm der zu eng. „Ich kann es nicht mehr ertragen – den Ekel vor mir selbst! Ich glaubte, es sei überwunden, aber nun ich Dich wiedersehe, quillt alles neu in mir auf, als sollte ich ersticken!“

Hermann sah den Bruder stumm an, dann senkte er den Blick. Gegenüber dieser Seelenqual schwand alles, was er selbst eben noch empfunden hatte. Sein Edelmut regte sich. Er faßte Bruno an beiden Händen und zog ihn auf einen Stuhl. „Du mußt es überwinden. Du mußt darüber hinweg, und wenn es noch so schwer ist. Das Leben liegt vor Dir und hat Arbeit für Dich. An die klammere Dich an! Mir ist es, als sei ich zehn Jahre älter als Du. Kopf hoch! Du konntest doch früher das Leben heiter nehmen.“

Bruno schüttelte den Kopf. „Du meinst, ich sollte durch Arbeit sühnen. Sühnen? Ein Ammenmärchen! Hast Du einen Zaubertrank gegen Flecken der Seele?“

„Ja; die Zeit und ein ehrliches festes Wollen! Und im übrigen –“

„Ja, im übrigen weiß ja kein Mensch davon,“ fiel Bruno ein und strich sich die wirren Haare aus der Stirn.

Hermann blickte grübelnd zu Boden. Das also war Brunos Trost! Wohl ihm! Von alledem, was er selbst durchgekämpft hatte damals am Lagerfeuer, empfand jener nichts!

„Und dann,“ sagte Bruno, während sein früheres lustiges Gesicht sich allmählich aus den trübseligen Falten herausarbeitete, „dann hab’ ich ja sie, die Lore, meine Braut!“

„Ja, die hast Du,“ murmelte Hermann und trat ans Fenster, in die Nacht spähend.

„Wie glücklich ich bin! Sie war zu reizend, zu süß an meinem Krankenlager! Sie hat mich so rührend gepflegt und unterhalten, Du weißt, sie kann sehr vergnüglich plaudern, Sie besitzt wirklich Geist. Als ich dann zum erstenmal im Zimmer umherging, vor vierzehn Tagen, nun, da kam das so ganz von selbst. Ich küßte ihr die Hand, sie verbat sich den Unsinn, und da küßte ich sie auf [456] den Mund. Es war prachtvoll, zu sehen, wie sie selbst erst jetzt bemerkte, daß sie mich lieb hätte. Sagtest Du etwas, Bruder?“

„Nein, nein, nur der Novemberwind braust in den Bäumen.“

„Ach ja, der Winter beginnt.“

„Ja, der Winter beginnt.“

„Es ist kalt hier,“ meinte Bruno und fröstelte zusammen. „Du solltest noch einige Scheite Holz auflegen, ich fühle mich doch noch etwas schwach. Sie sagten damals, ich hätte sehr viel Blut verloren.“

„Hast Du Deiner Braut etwas von der Sache gesagt?“ fragte Hermann und wandte dem Bruder sein ernstes festes Gesicht zu.

„Der Lore das sagen?“ klang es fast angstvoll zurück.

„Du würdest dann vielleicht Ruhe finden. Ein Weib, das liebt –“

„Aber sie würde mich –“ Er brach ab und sprang auf. „Doch wenn Du meinst – Du kennst ja die Lore! Gut, es soll sein, sie mag entscheiden! Obgleich – es ist eine mißliche Sache, sich selbst in den Schmutz zu ziehen – aber wenn Du mir rätst … “

„Ich rate es Dir. Gute Nacht, Bruno! Es ist Mitternacht vorüber!“

„Gute Nacht!“

Hermann folgte dem langsam Hinausgehenden mit den Blicken. Eine unbezähmbare Aufregung bemächtigte sich seiner. Sein Blick fiel auf das kleine Etui; hastig öffnete er es, nahm den Ring heraus und schleuderte ihn zu Boden. In Sprüngen rollte derselbe davon, drehte sich im Kreis und fiel klirrend auf die Eisenplatte vor dem Ofen. Hermann war ihm gefolgt; er setzte den Absatz darauf; knirschend splitterte der Stein ab. Aber der Reif ließ sich nicht zermalmen. Im Ofen war noch Feuer; rasch warf er den Ring auf eine Schaufel und legte sie auf die glühenden Kohlen. Das Gold begann zu schmelzen, es zitterte in der Schaufel – er stieß sie in die Asche.

„Vorbei!“

Mühsam richtete er sich auf und kleidete sich vollends aus. Dann, während er die Lampe auslöschte, murmelte er. „Narr, kindischer Narr, der ich bin!“

Im Hofe schlug ein Hund an, dann war es ganz still; auch der Sturm draußen schien schwächer zu werden. Ob er es der Lore sagen wird? – –

[469] Nach wenigen Tagen reiste Hermann wieder in seine Garnison zurück, früher als er verpflichtet gewesen wäre. Er hielt es daheim nicht länger aus, das ging über seine Kräfte. Auch wollte er Bruno Platz machen, der sichtlich unter seiner Anwesenheit litt.

Mit Lore hatte er kurz vorher noch ein Gespräch über Bruno.

„Sieh, Hermann, ich weiß, daß er leichtsinnig war, vielleicht auch ein wenig charakterschwach, aber ich glaube, ein Mann, der dem Tod ins Antlitz geschaut hat, der muß doch gefestigt sein und ernster werden. Nicht wahr?“ Hermann hatte nur mit dem Kopfe dazu genickt.

„Ich will ihn ja so lieb haben,“ hatte sie ihren Gedankengang fortgesetzt und dann zu lachen begonnen. „Wie dumm man sich das stets ausmalt, verlobt zu sein und einen Mann zu lieben! Als ich jünger war, dachte ich immer, ein Mann müsse so sein wie Du: ruhig, ernst, eine feste Stütze für ein Mädchen, und dabei so großmütig, so freundlich, selbst wenn man etwas Dummes sagt oder thut. Und man müsse riesigen Respekt vor einem solchen Gatten haben! Weißt Du noch, damals, die Geschichte mit dem wütenden Stier?“

Hermann winkte abwehrend mit der Hand.

„O, ich weiß es noch genau, der junge Jagdhund war daran schuld, der das Tier reizte. Ich sehe noch den mächtigen Bullen herankommen. Bruno und ich liefen schreiend davon, nur Du bliebst stehen, nahmst die Jagdflinte von der Schulter und schossest dem Stier auf zehn Schritt die Ladung vor die Stirn, ihm beide Augen blendend. So wurden wir gerettet! Wie alt warst Du damals, Hermann?“

„Ungefähr fünfzehn Jahre.“

„Richtig, Ihr wart noch auf dem Gymnasium. Ich habe so oft daran zurückgedacht, immer mit dem Gedanken, daß mein einstiger Mann solch ein furchtloser kaltblütiger Recke sein müßte. Mädchenträume!“ Sie schüttelte leise den Kopf.

„Ich wollte zuerst auch fortlaufen,“ sagte Hermann. „Aber dann sah ich in weitem Umkreise keinen Graben, keine Hecke, keinen Baum, der uns schützen konnte.“

[470] „Und nun ist das ganz anders gekommen,“ fuhr Lore fort. „Zuweilen wünsche ich, daß Bruno ruhiger, ernster wäre, aber er ist jetzt noch nervös von seiner Verwundung. Gestern legte er seinen Kopf in meinen Schoß und redete allerlei wunderbare Sachen: er sei meiner Liebe nicht wert, sei ein Schwächling, ich müsse Nachsicht mit ihm haben und ihm beistehen, ein starker Mann zu werden. Ich lachte ihn aus. Dann sah ich, daß er Thränen in den Augen hatte, und er schante mich so flehend an, daß ich selbst etwas die Fassung verlor. ‚Würdest Du mich auch lieben, wenn ich irgend etwas thäte, was gemein wäre, Lore?‘ rief er plötzlich. ‚Das ist unmöglich!‘ erwiderte ich und küßte ihn. Er riß sich los von mir und ging stumm hinaus. Er muß doch noch sehr leidend sein.“

„Ja, das ist er noch. Du mußt ihn sehr lieb haben, Lore.“

Dann fragte sie, die Hand fest auf Hermanns Schulter legend: „Nicht wahr, wenn ich für ihn und für mich einen Freund, einen Bruder brauche, Dich finde ich immer?“

„Ja, immer!“ Langsam ließ Hermann ein Knäuel Garn aus seiner Mutter Arbeitskorb durch die Finger gleiten. „Weißt Du noch, Lore, wie Du immer zum Geburtstag ein ‚Wunderknäuel‘ bekamst?“ fragte er dann.

Sie nickte lebhaft und das alte liebe Kindergesicht verdrängte den Ernst aus ihren Zügen. „O ja! Man konnte es nicht erwarten, was hinter dem Garn versteckt wäre, und wickelte heimlich das ganze Knäuel auf.“

„Ja, Lore! Und fand immer schönere Sachen darin. So geht es nicht im Leben. Man wickelt und wickelt und findet vielleicht schließlich eine hohle Nuß. Ich wollte, ich könnte noch einmal wieder ein solches Wunderknäuel bekommen.“

Sie schaute ihn sinnend an und wiegte den feinen Kopf hin und her, dann sagte sie plötzlich, ihm beide Hände hinstreckend: „Ich kenne doch keinen Menschen, den ich so lieb hätte wie Dich.“

Hastig war er aufgesprungen. Ein heißer Blick aus seinen Augen, der über sie hinirrte, warmes quellendes Blut, das ihm im Herzen pochte! Doch nur einen Augenblick. Er lächelte, konnte lächeln und verstand selbst nicht, wie er es konnte.

„Und Bruno?“

Sie wurde rot. „O, das ist ja ganz anders, ganz anders, weißt Du. Ich zittere oft, wenn er mich küßt. Er ist so leidenschaftlich!“

Wie unbefangen sie das herausgeplaudert hatte!

Am nächsten Tage war Hermann abgereist. Bruno hatte ihr also doch nichts gesagt! Dazu war er wieder zu – – o, nein, nein, vielleicht that er es noch, wenn der Bruder fort war!

Hermann kämpfte gegen seine Liebe, er fand ein grausames Behagen daran, sich selbst zu bezwingen, die widerspenstigen Wünsche und Gedanken zu unterdrücken, aber dieser Kampf machte ihn ernst und alt.




„Wie ich mich frene, Dich wiederzusehen!“

Wenige schlichte Worte, doch wie viel uneingestandene Sehnsucht lag darin! Das sagten ihre Augen, diese lichtbraunen Augen, und das leise Zittern der frauenhaften weichen Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

Ja, sie war schön, die Lore von Weßnitz, noch schöner, als sie einst zu werden versprochen hatte. Ihre Gestalt hatte sich aus den jungfräulichen Formen zur vollen Weiblichkeit entfaltet, ohne die Grenzen der Schlankheit zu überschreiten, nur das Gesicht, das feine kluge Gesicht war dasselbe geblieben, wenn auch etwas mehr von dem Selbstbewußaein der eigenen Persönlichkeit darin lag.

Hermann hatte ihre Hand an die Lippen geführt.

„So lange nicht gesehen! Warte,“ sie zählte an den schlanken Fingern, „ein, zwei, drei Jahre nicht!“

„Ja,“ meinte Hermann, immer noch ihre Hand in der seinen haltend, „drei Jahre nicht!“ Er wunderte sich, daß in drei Jahren ein Mensch so viel schöner werden konnte. „Wie geht es Bruno?“

„Danke – gut wie immer. Er wird erst in einigen Tagen hierherkommen, weil ihn noch seine diplomatischen Geschäfte in Paris fesseln. Ich hielt es nicht aus, die Sehnsucht nach dem lieben alten Weßnitz hatte mich gepackt, und so reiste ich mit meinem Kinde voraus. Freilich, die Mutter“ – sie strich langsam mit der Hand einige Falten aus dem schwarzen Seidenkleid. „Sie war für mich wie eine wirkliche Mutter, nun ist sie schon seit zwei Jahren tot.“

Er nickte stumm.

„Du kannst Dir denken, Hermann, wie unglücklich ich war – willst Du Dich nicht gemütlich hinsetzen? – aber mein Kleiner war kurz vorher zur Welt gekommen, und die Aerzte verboten mir die Reise. Auch Vrnno litt es nicht, obgleich er selbst unmöglich kommen konnte. Schließlich gab ich nach, eine Mutter gehört doch den Lebenden und nicht den Toten.“

Wie einfach sie das sagte! Das war keine Redensart, das war selbst gedacht, empfunden – ein Aussprechen ohne die geringste Scheu, mißverstanden zu werden.

„Ist es nicht herrlich“, fuhr sie fort, „daß wir nun nach Berlin kommen? Bruno scheint rasch vorwärts zu gelangen. Freilich, ihm wird der Abschied vom Pariser Leben etwas schwer, seine Stellung bei der deutschen Gesandtschaft dort war sehr angenehm, und dann – er findet Berlin so philisterhaft. Ich freue mich riesig! Eine schlechte Gattin, nicht wahr? Besonders freue ich mich, weil Du gerade jetzt nach Berlin kommandiert bist.“

„Ihr nach Berlin?“ Hermann sprang wieder auf und blickte sie fast erschrocken an. „Der Vater sagte mir noch nichts davon.“

„Er hat es wohl beim Empfang auf dem Bahnhof in der Wiedersehensfreude vergessen.“

Hermann fühlte, daß er etwas erwidern mußte; sie sah ihn so forschend an bei den letzten Worten. „O, ich freue mich sehr, unendlich darüber; es wird ein gemütliches Zusammenleben werden.“

Lore schüttelte leise den Kopf und begann zu lachen. „Wir wollen es hoffen. Weißt Du, Bruno ist ein schrecklich unruhiger Mensch. Es ist ja durch seine Stellung bedingt, daß wir uns der Geselligkeit nicht entziehen können, obgleich es nicht mein Geschmack ist. Schließlich lernt man alles! In Paris ist er oft einen Monat lang keinen Abend ruhig mit mir zusammen gewesen, immer Gäste oder auswärts Bälle, Gesellschaften, Aufführungen. Oder er hatte Klubverpflichtungen und dergleichen. Er wird von allen verzogen, auch von den Frauen.“ Sie versnchte bei diesen Worten harmlos zu lächeln. „Das legt Verpflichtungen auf. Vielleicht werden wir in Berlin etwas stiller leben. – A propos, Du hattest soeben eine Unterredung mit dem Vater. Wie geht es ihm heute?“

„Er ist alt geworden, seit die Mutter starb, und sieht alles grau in grau.“

Lore schaute auf. Mit einem eigentümlich gespannten Ausdruck in den Augen folgte sie der im Zimmer auf und ab wandelnden Gestalt des Schwagers.

„Du – Hermann!“

Er blieb vor ihr stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

„Ich muß Dich etwas fragen. Ich glaube, Bruno hat sehr viel Geld gebraucht, obgleich ich überall zu sparen suchte. Besitzt er überhaupt so viel? Er hat niemals mit mir davon gesprochen.“

„Wir haben jeder das Erbteil unserer Mutter, fünfzigtausend Mark. Es ist nicht sehr viel, aber für mich reicht es aus, und das Gut bringt auch etwas ein, da der Vater so einfach lebt.“

„Dann haben wir vom Kapital gelebt?“

„Ja, das ist nicht anders möglich, Lore, bei dem Beruf Deines Mannes.“

„Und was das Gut einbringt?“

„Das ist es, worin Vater so sonderbar ist. Er will das zwischen uns teilen. Ein Unsinn! Ich habe keine Bedürfnisse. Mach’ Dir also keine Sorgen, wenn der Vater auch behauptet, es ginge so nicht fort, Ihr müßtet Euch mehr einschränken.“

Er bemerkte, daß ihre Augen den gespannten, fast verängstigten Ausdruck nicht verloren. „Laß nur, Lore, mach’ Dir keine Sorgen!“ wiederholte er noch einmal.

„Aber das Geld gehört eigentlich Dir?“

„Eben deshalb kann es verbraucht werden, wie ich es wünsche. Ich heirate ja doch nie, und Weßnitz fällt Euch zu oder Euren Kindern. Ich habe den Vater gebeten, meinen Anteil nicht zu berücksichtigen.“

„Für wen thust Du das, Hermann? Für Bruno? Er ist so sorglos, das weiß ich, und Du bist zu jung, um auf alles zu verzichten.“

„Für wen?“ fragte er langsam und blickte sie sekundenlang an, um sich dann rasch abzuwenden.

Hatte sie ihn verstanden? Ahnte die Frau mit Blitzesschnelle, was das Mädchen nie verstehen konnte?

„Hermann!“ rief sie und fuhr hastig vom Sessel empor.

Auch er zuckte zusammen. Es lag etwas im Ton ihrer [471] Stimme, was ihm das Blut zum Herzen drängte, etwas von einem Verzicht auf ein schönes Geschenk.

„Für mich, Hermann? Du?“ Thränen traten ihr in die Augen. Ein kurzes Aufschluchzen, dann eilte sie an ihm vorüber zur Thüre hinaus, als fürchtete sie seine Gegenwart.

Er blieb unbeweglich stehen, ein abscheulich dumpfes Gefühl im Kopf. Was hatte sie nur? „Ja, für Dein Glück, Lore! Alles, alles für Dich und Dein Glück! – Glück, was heißt Glück?“ Er setzte seine Wanderung durch das Zimmer wieder fort. „Ich muß mich doch getäuscht haben auf dem Lehrter Bahnhof,“ murmelte er leise. „Und doch! Es war sein Gang, seine Haltung, seine Art, den Hut weit zurück zu setzen. Ein grauer moderner Hut mit auffallend breitem schwarzen Bande. Unsinn! Die Lore sagt, er sei in Paris geblieben. Dann würde er auf dem nächsten Wege hierher reisen. Und die Dame, die er führte, eine schöne Person in unglaublich eleganter Kleidung? Das konnte ich noch sehen, als der Zug die Bahnhofshalle verließ, während der betreffende Herr mir den Rücken zuwandte.“ –

Am andern Morgen kam Bruno an, ohne vorherige Anmeldung. Er liebte das nicht, in dem Wunsche, sich stets ungebunden zu fühlen. Hermann stand in seinem Schlafzimmer am Fenster, noch mit dem Ankleiden beschäftigt, und sah den Bruder aus dem Mietwagen steigen. Es war ziemlich früh und Lore wahrscheinlich noch nicht aufgestanden. Sein Blick verfolgte die Gestalt des die Treppe Hinaufeilenden. Er sah nichts als den grauen Hut mit schwarzem Bande und den hechtgrauen langen Mantel – genau wie der Fremde auf dem Lehrter Bahnhof! Merkwürdig! Aber vielleicht hatte Bruno den Umweg über Berlin gemacht, um dort eine Wohnung zu suchen. Und die Dame? Wohl eine Bekannte! Er lächelte über seine Logik. Natürlich, eine Bekammte! Sonst würde Bruno sie doch nicht am Arme geführt haben. – Er stampfte ungeduldig mit dem Fuße auf, weil er den goldenen Knopf nicht durch die gestärkte Manschette bringen konnte.

Ueber ihm war Lores Zimmer. Er hörte den Bruder die Treppe hinaufeilen, die Thüre sich öffnen und schließen, einen leichten Schrei der Verwunderung und Freude, dann undeutliches Gemurmel zweier Stimmen.

Jetzt, jetzt legte sie die Arme um seinen Hals!

Hermann riß das Fenster auf und lehnte sich weit hinaus. Ihm war so heiß, und wohlthätig empfand er die eiskalte Winterluft an Wangen und Schläfen. Nach einer Weile ging er ins Eßzimmer und fand Vater und Geschwister am Frühstückstisch.

„Guten Tag, Bruno! Ich sah Dich ankommen.“ Er ging eilig auf den Bruder zu; ein Schimmer seiner einstigen schwärmerischen Kinderliebe zu Bruno ging über seine ernsten Züge.

„Guten Tag, Hermann!“ Es klang etwas frostig. „Wie ich höre, bist Du unter die Streber gegangen und büffelst auf der Akademie. Na, da werden wir uns ja oft sehen in Berlin. Du weißt es schon, nicht wahr, daß auch wir da sein werden? Teufel! Ist das kalt heute!“ Er hielt die Hände an die warmen Kacheln des Ofens.

„Früh um sechs Uhr hatten wir zehn Grad,“ meinte der alte Weßnitz, über seine Zeitung hinweg seinem Aeltesten den Morgengruß zunickend.

„Du kommst geradeswegs aus Paris? Ich bin auch erst gestern hier eingetroffen,“ warf Hermann hin und ließ sich von Lore eine Tasse Kaffee einschenken.

Bruno wandte sich kurz um. „Nicht ganz geradeswegs – ich war vierundzwanzig Stunden in Berlin, um eine Wohnung zu suchen.“

„Davon hast Du mir noch nichts gesagt!“ Lore blickte erstaunt auf.

Bruno lachte sorglos und trat dicht an ihre Seite. „Brauchen die Frauen denn alles in den ersten Minuten des Wiedersehens zu wissen? Als guter Familienvater sorgte ich für das Nächstliegende. In vierzehn Tagen muß ich meinen Posten antreten, vorläufig habe ich einige Wohnungspläne mitgebracht. Uebrigens, Hermann, Du bist wohl gestern morgen halb zehn Uhr aus Berlin abgefahren?“

Es lag eine gewisse Spannung in dem Ton seiner Stimme, trotzdem er völlig gleichgültig schien und mit der Rechten nachlässig in der Brusttasche seines Rockes umhersuchte.

„Ja. Neun Uhr fünfundzwanzig Minuten,“ antwortete Hermann.

„So! – Aha, hier sind die Pläne! Eine reizende Wohnung in der Tiergartenstraße. ich sage Dir, Lore, ein Boudoir, ein Schmollwinkel mit Butzenscheiben! Unwillkürlich stand mir in der Phantasie Dein liebes Bild vor Augen. Das Zimmer liegt nach Westen, also Abendsonne. Dein Haar in der glutroten untergehenden Abendsonne, Lore, und dazu Dein lichtblaues Pariser Negligee ...“

Er faßte sie unter das Kinn und blickte ihr in die Augen. Sie war rot geworden. „Schmeichler!“ rief sie, mit dem Finger drohend, aber ein seliges Lächeln ging über ihr Gesicht.

Ein Stuhl ward heftig zurückgeschoben. „Ich vergaß meine Uhr im Schlafzimmer,“ sagte Hermann und ging hinaus.

„Er ist doch ein steifer langweiliger Philister geblieben,“ meinte Bruno, sich eine Cigarre anzündend.

„Weiß nicht,“ erwiderte Lore. „Mag sein – aber es giebt keinen so zuverlässigen Menschen sonst auf der Welt.“

„So? Und wo bleibe ich denn, Lore?“ rief Bruno. Sie sah ihn an, ohne zu antworten. Er faltete nervös das Zeitungsblatt zusammen, das vor ihm lag. Die Frau hat sich eine abscheuliche Art angewöhnt, mich anzusehen! dachte er. – –

„Du hast mich gestern auf dem Lehrter Bahnhof gesehen, Hermann?“ fragte Bruno diesen am Abend, als sie allein waren.

„Ja.“

„Mit jener Dame?“

„Ja!“ Hermann trommelte scheinbar gleichmütig mit den Fingern auf der Tischplatte.

Bruno fühlte sich gereizt. „Zum mindesten war es nicht sehr kavaliermäßig, mich heute morgen so in die Enge zu treiben. Du konntest doch warten, bis ich selbst anfing, davon zu sprechen.“

„Wolltest Du es geheim halten?“

„Welche Frage! Ich wußte nicht, ob Du meiner Frau erzählt hattest, daß Du mich in Begleitung einer Dame gesehen. Frauen sind eifersüchtig, wittern überall etwas, und besonders Lore ist ein weiblicher Othello. Mein Gott, eine unschuldige Bekanntschaft! Eine Pariser Sängerin, der ich meinen Reiseschutz nach Berlin angeboten, weiter nichts!“

„Ich habe auch keine Vermutungen angestellt,“ meinte Hermann nachlässig. Bruno stampfte leise mit dem Fuße auf. In diesem Augenblick kam Lore mit ihrem Jungen ins Zimmer. –

In den nächsten Tagen vermieden es die Brüder, allein miteinander zu sein. Besonders Bruno verschloß sich gegen Hermann immer mehr, und dieser verstand das Gefühl, das jenen trieb. War er doch dem Bruder stets eine lebendige Erinnerung an jenen achtzehnten August! Welcher Mann könnte den Umgang desjenigen ertragen, der ihn im schwächsten Augenblick seines Lebens erblickte, der die Wunde offen sah, die jetzt kaum vernarbt war!

Lore aber zermarterte sich den Kopf über dies Verhalten der beiden. Sie fühlte die Spannung heraus. Wie verschieden die beiden Brüder waren! Das äußerte sich in jedem gemeinsamen Gespräch, mochte es sich nun um Politik oder um diese oder jene allgemeinen Lebensanschauungen handeln. Hermann starr und fest, mit keinem Blick nach rechts oder links vom geraden Wege abweichend, durch und durch preußischer Offizier, erfüllt von den „verbrieften“ Rechten und Pflichten des Adels. Bruno leichtlebig, abgeschliffen in der großen Welt, klug, geistvoll, aber schmiegsam in seiner Meinung, jedes Extrem vermeidend, eine gewisse Gleichgültigkeit gegen alles in seinem ganzen Denken.

*  *  *

„Zum erstenmal in meinem Heim!“ rief Lore aufspringend, während sie mit der ihr eigentümlichen anmutigen Bewegung dem Schwager beide Hände entgegenstreckte. Hermann, der eben ins Zimmer getreten war, beugte sich über ihre Hände und hob dann den kleinen Edgar empor, der an seinen Knien emporstrebte. „Wie schwer der Junge ist!“ rief er, wie in Verlegenheit.

„Ja, das Kerlchen wächst riesig.“ Sie drückte den blonden Kopf des Kindes an sich und strich ihm liebkosend über das Haar.

Ein schönes Bild: die hübsche Frau, das weiche zarte Gesicht herabgebeugt zu dem Knaben, der sich verlegen in den Falten ihres Kleides zu verstecken suchte. Mutterglück – Menschenglück! Eine ganze Welt von Glück in diesem Bilde. Hermann konnte sich an dem lieblichen Anblick nicht satt sehen. Ja, er liebte diese Frau noch immer, aber die Leidenschaft, das Begehren des heißen Jünglingsherzens war durch Zeit und Selbstbeherrschung erloschen; auch schien sie so glücklich, so zufrieden in ihrer Mutterfreude, in der traulichen Umgebung ihres eigenen Heims.

„Es ist hübsch hier bei Euch, sehr hübsch. Ist Bruno zu Hause?“

„Er ist zu einem Essen eingeladen. Aber nimm Platz! Dort, [472] jener Stuhl ist bequem; Bruno pflegt da zu sitzen, wenn er wirklich einmal Zeit findet zu einem gemütlichen Plauderstündchen.“ Ohne zu bemerken, daß Hermann einen andern Sessel wählte, fuhr sie fort: „Du trinkst doch eine Tasse Thee, nicht wahr, und rauchst eine Cigarre? Es plaudert sich behaglicher. Gott sei Dank, daß Du Cigaretten nicht liebst! Seit unserm Pariser Aufenthalt hasse ich ihren Geruch, diesen Geruch, der gerade so süßlich aufdringlich ist wie die französischen Salonherren . . . obgleich – nun, amüsant können sie sein! Edgar, es ist Zeit für Dich ... geh’ zu Bett!“

Sie klingelte nach dem Kindermädchen.

„Daß die Franzosen noch mehr können, als amüsant sein, haben wir 1870 erfahren,“ meinte Hermann.

„Gewiß, ich weiß! Ich meine aber vorzüglich die Spielart von ihnen, die man in den Pariser Salons trifft.“

„Sollte die Sorte nicht international sein und überall zu finden?“

„Nicht so ganz, Hermann. Die andern bleiben doch im Grunde noch Männer. Nimmt man jedoch einer solchen Pariser Preisausgabe für Modezeitungen den äußeren Aufputz, so bleibt gar nichts übrig, kein Charakter, kein Gemüt, keine Liebe, höchstens etwas Eitelkeit und Vergnügungssucht.“

Lore plauderte das alles leicht hervor, während sie geschäftig die Tassen füllte und dem Diener einen Auftrag erteilte.

Hermann folgte ihren geschmeidigen Bewegungen mit den Augen. Eigentümlich, wie gut sie das Plaudern noch immer verstand! Es paßte alles zusammen – das gedämpfte Licht der Dämmerung, selbst ihre Toilette, die für ein Plauderstündchen unter guten Bekannten wie gemacht zu sein schien; nicht gerade elegant, aber doch sorgfältig genug, um den Besucher zü erinnern, daß er sich in Gesellschaft einer Dame der großen Welt befinde.

Jetzt kauerte sie selbst vor dem Kamin nieder und fachte dessen Glut mit einigen Holzscheiten wieder an. „Zu herrlich! Endlich wieder ein deutscher Winter und ein wohldurchwärmtes Zimmer mit einem guten Ofen, der uns zugleich die Illusion des Kaminfeuers läßt! Fühlst Du Dich behaglich, Hermann?“ Die Hände aneinander reibend, kam sie zurück und setzte sich ihm gegenüber.

„Riesig,“ sagte er nur.

Sie lachte vergnügt. „Das könnte kein Franzose so sagen.“

„Nun, Lore, erzähle mir von Euerem Leben in Paris! Du sprachst mir in Weßnitz nie davon.“

„Eigentlich war es abscheulich. Ueberall, wo man uns als Deutsche erkannte, finstere Gesichter. Immerhin gab es viele angenehme Kreise. Ich habe mich trotzdem nie recht heimisch gefühlt. Doch was half es? Auf Brunos Wunsch zwang ich mich in die ungewohnten Verhältnisse hinein. Bruno war entzückt von Paris; Du kennst ja seine Fähigkeit, selbst mit einem Gegner ein angeregtes, alle Klippen vermeidendes Gesprach zu führen.“

Sie machte eine Pause, als erwartete sie eine Antwort, aber ihr Zuhörer saß bewegungslos, stumm da und hob nicht einmal den Blick vom Muster des Teppichs.

„Ich bin viel allein gewesen in der ersten Zeit. Dann wurde unser Kleiner geboren, und später gewöhnte ich mich daran, kein Heim im deutschen Sinne zu haben, und ging jeden Abend aus, mit oder ohne Bruno.“

Sie schwieg wieder. Er sah sie an mit einem langen Blick, wie jemand, der von einer lieben Heimat Abschied nimmt, in der er glücklich gewesen ist.

„Hast Du keine Freunde gefunden, Lore?“

Ihre weißen Finger glitten langsam über die glänzenden, wie poliert erscheinenden Blätter eines Gummibaums neben ihrem Sitze. „Nicht daß ich wüßte! Oder doch! Ich habe einen Schatten, doch keinen wesenlosen, nein, einen Schatten von Fleisch und Blut; er ist aber ebenso beharrlich wie der schwärzliche Bruder des Lichts. Sieh mich nicht so an, Hermann, als wittertest Du irgend einen pikanten Pariser Roman! Mein Schatten nennt sich Prinz Nicolai Sarchentiwitsch und so weiter, russische Durchlaucht mit einem unaussprechlichen Namen, weshalb er von guten Bekannten Prinz Sissi genannt wurde. Bis zu seinem zwanzigsten Jahre in der Steppe unter Kosaken aufgewachsen, dann plötzlich in die Treibhausluft der Großstädte Petersburg, Wien, Paris verschlagen, ein Viertel Kind, ein Viertel Barbar und zur Hälfte ein Schwärmer. Er schriftstellert, macht Verse, schreibt Steppennovellen, die von Pariser Damen verschlungen werden, und spricht deutsch wie seine Muttersprache. Kurz, er ist ein Mensch, der schwer zu beschreiben ist.“

„Also, was man so eine gute Romanfigur nennt?“

„Nein, das nicht. Kein Mensch aus dem Dutzendbündel. Sehr reich, weiß er nicht, was er mit seinem vielen Gelde anfangen soll. Er giebt einem Bettler heimlich hundert Rubel und ist imstande, einen ganzen Tag das Essen zu vergessen, am Abend eine Brotrinde zu kauen und den nächsten Tag drei Diners hintereinander einzunehmen. Er war erst wenige Tage in Paris, als ich ihn in einer größeren Gesellschaft kennenlernte. Mir fiel seine Persönlichkeit auf, während er lange Zeit am Thürpfosten lehnte mit einem halb naiven, halb spöttischen Lächeln auf den Zügen. Seine großen grauen schwermütigen Augen gingen achtlos über das Gewimmel der Menschen weg. Er interessierte mich, daher fragte ich Bruno nach seinem Namen. ‚O, Du meinst Prinz Sissi?‘ sagte er. ‚Ein guter Bekannter von mir.‘ Kurz darauf stand er vor mir mit einer tadellosen Verbeugung, eine französische Höflichkeit auf den Lippen. Weshalb er so ernst dort am Thürpfosten lehne? Ob er noch unbekannt sei? fragte ich ihn. ‚Haben Sie das bemerkt, gnädige Frau?‘ fragte er zurück. Es war beinahe eine Ungezogenheit, aber man konnte ihm nichts übelnehmen. Ich bot ihm einen Platz neben mir an und nach einer Viertelstunde waren wir die besten Freunde, weil – nun weil ich ihn nach seiner Mutter fragte, die er nie gekannt hatte. Ich sei der erste Mensch, der sich teilnehmend nach seiner Mutter erkundigt hätte. Nun, und nachher wurde ich ihn nicht wieder los. Bruno fand nichts in unserem Verkehr, obgleich wir hier und da der Klatschsucht etwas zu thun gaben. Als wir vor einigen Monaten Abschied nahmen, sah er aus wie ein Junge, der aus den Ferien wieder in die Schule geschickt wird. Ich habe ihm befohlen, zwei Jahre zu leben, ohne mich zu sehen, aber er hat es nicht versprochen und ich fürchte, mein Schatten mit dem Tatarengesicht wird sich über kurz oder lang wieder melden.“

Sie schwieg sinnend und Hermann warf scheu einen Blick zu ihr hinüber. Lores leichter Plauderton und dann dieser Russe! Sein deutsches Gehirn konnte das nicht so rasch verarbeiten.

„So, genug von mir, Hermann! Was treibst Du eigentlich? Kriegsgeschichte? Ist das nicht entsetzlich langweilig für jemand, der mit dem Säbel in der Faust selbst geholfen hat, Geschichte zu machen? Willst Du hier in der Gesellschaft verkehren?“

Hermann drehte langsam die Cigarre zwischen Zeigefinger und Daumen. „Ich werde wohl müssen, besonders da ich jetzt zu einem Garderegiment versetzt worden bin.“

„Ah! Darf man Dich beglückwünschen?“

„Es gilt für eine Auszeichnung; mir aber legt es nur Pflichten auf. Ich hasse jede Art von großer Geselligkeit. Mit Fruchteis verdirbt man sich den Magen und mit den Gesprächen Kopf und Herz.“

„Was von beiden ist Dir mehr wert?“

Er zuckte mit den Achseln. „Ein verdorbener Magen läßt sich in Kissingen kurieren, aber von Heilstätten für triviale Köpfe habe ich nie etwas gehört.“

„O doch! Irgend eine große Leidenschaft.“

„Zu einem Weibe?“

„Ja!“

Es war dämmerig geworden und Hermann konnte ihre Gesichtszüge nicht mehr erkennen.

„Ich habe immer gehört, daß verliebte Männer noch unzurechnungsfähiger seien als der größte Dummkopf.“

„Aber nicht herzloser.“

Hermann schwieg, weil er nichts darauf zu erwidern wußte.

„Hast Du nie ein Mädchen gefunden, das Dich interessiert hätte?“

„Nein, niemals. Außer einer Luftturnerin in meiner Gymnasiastenzeit.“

Er versuchte absichtlich einen scherzhaften Ton, aber Lore machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung. Er kannte diese Gewohnheit, die sie schon als Kind besaß, wenn jemand ihr nicht ernsthaft zuhören wollte. Sein ganzes Wesen, die Absichtlichkeit, mit der er einer Antwort auswich, reizte sie. Ein unbezwinglicher Wunsch, in dies Männerherz einen Blick thun zu können, stieg in ihr auf. Sie dachte an das letzte Zusammensein in Weßnitz, auch sein eigentümliches Benehmen damals beim Abschied vor dem Feldzug fiel ihr plötzlich ein. Hatte dieser Mann wirklich einmal für sie gefühlt? An die Spielgefährtin der Jugendjahre in anderer Weise gedacht als an eine Schwester?

[485] Mitten in Lores Gedanken hinein fragte Hermann: „Ihr lebt sehr glücklich zusammen?“ Scheinbar gleichgültig, wie jemand, der ein Ja erwartet, nahm er einen Schluck Thee. Lore zögerte einen Augenblick, sagte dann aber, eine erstaunte Bewegung seines Kopfes bemerkend, rasch: „Natürlich, Hermann! Dein Bruder ist immer gleich liebenswürdig, genau so wie in unserer Verlobungszeit. Man sagt, das sei das beste Zeichen für einen Ehemann und auch ein bißchen für die Frau. Uebrigens“ – sie lachte leise – „habe ich noch gar nicht so ernst darüber nachgedacht.“

„Das ist das allerbeste Zeichen, Lore.“

„Glaubst Du das, weiser Salomo? Aber verzeih' eine vielleicht thöricht klingende Frage – man denkt als gereifte Frau manchmal über Sachen nach, auf die man als junges Mädchen nie gekommen wäre. Ich wuchs doch mit Euch beiden wie eine Schwester auf. Hast Du jemals früher daran gedacht, daß ich einmal einen von Euch beiden heiraten würde?“

Sie sah nur, wie er langsam mit der Rechten über Stirn und Augen fuhr.

„Das weiß ich nicht mehr. – Lore, verzeih’, aber das ist im Grunde eine müßige Frage!“

„Nicht so ganz. Vielleicht sogar von großem psychologischen Interesse, wenigstens für mich, wenn Du bedenkst, wie unreif man in jenen Jahren ist und wie sehr geneigt, Augenblickswallungen des Herzens, man möchte sagen, dem Instinkt zu folgen.“

„Nun, Dein Instinkt war richtig,“ sagte Hermann etwas rauh.

Es war eine Weile still, bloß im Kamin knisterte leise die Glut. „Hermann!“ Es war ein warmer kindlicher Klang in ihrer Stimme. „Bist Du mir böse?“

Etwas leuchtend Weißes näherte sich ihm; er faßte danach und hielt ihre kalten zitternden Finger in den seinen.

„Was ist?“ fuhr sie plötzlich auf, das Eintreten einer Person vernehmend.

„Fräulein Helm, gnädige Frau.“

„Ah! Zünden Sie Licht an; schnell! Und dann lassen Sie die Dame eintreten.“

„Liebe Edda!“ Sie eilte der Eintretenden entgegen. „Seit wann sind Sie wieder hier in Berlin? Ich vermutete Sie noch in England.“

Hermann war zum Fenster getreten, so lange in dem entfernteren Teil des großen Zimmers die Begrüßung und das Ablegen von Mantel und Pelzwerk vor sich ging. Ihm war der Besuch wenig angenehm; er hörte nur, wie dieser mit eigentümlicher Stimme etwas antwortete.

„Hermann! Willst Du die Liebenswürdigkeit haben?“

„Verzeihung, ich glaubte, die Damen seien noch beschäftigt.“

„Mein Schwager – Fräulein Edda Helm.“

Er blickte in zwei große dunkle Augen, in ein feines blasses mageres Gesicht, dessen Züge ihm sonst wenig interessant erschienen. Eine mittelgroße überschlanke Dame, sehr einfach gekleidet, die dunklen Haare scharf aus der Stirn gezogen und in einen englischen Knoten aufgenommen. Sie neigte ein wenig den Kopf in Erwiderung seiner förmlichen Verbeugung.

„Fräulein Edda ist eine sehr gute Freundin von mir,“ sagte Frau von Weßnitz und klopfte jene freundlich auf die [486] Schulter. „Der Vater Eddas ist ein Jugendbekannter von unserem Vater. Wie geht es dem alten Herrn? Wo kommen Sie her? Sie bleiben jetzt doch einige Zeit in Berlin?“ fragte Lore in ihrer lebhaften Weise.

„Sehr viel Fragen zu gleicher Zeit, Lore! Wir kommen von englischen Hospitälern her, die mein Vater im Auftrag der Regierung angesehen hat. Eine lehrreiche Reise in jeder Beziehung. Wenn Papa nur nicht immer zu viel leisten wollte! Jetzt fühlt er nachträglich den Rückschlog auf die Nerven und muß ausruhen.“

Das junge Mädchen sprach sehr langsam, mit einem eigentümlich rhythmischen Tonfall in der tiefen, aber klaren Altstimme, deren Klang Hermann schon vorher aufgefallen war.

„Du mußt nämlich wissen,“ erklärte Lore, „daß Eddas Vater Arzt ist, mit der Eigentümlichkeit, nur solche Kranke zu behandeln, die nicht von ihren Renten leben und für ihre Wohnung nicht mehr als zweihundert Mark im Jahre bezahlen. Und diese hier, seine Tochter, hat ebenfalls Medizin studiert und unterstützt ihren Vater in jeder Beziehung, was sie nicht abhält –“

„Wollen wir nicht lieber von etwas anderem sprechen, Lore?“ fiel Edda ein. „Ihr Herr Schwager wird sich schwerlich für medizinische Studien interessieren.“ Sie hatte eine Falte zwischen den Augenbrauen, so daß diese fast eine gerade Linie über der scharfgeschnittenen Nase bildeten.

„Ich muß Sie schon einmal gesehen haben, gnädiges Fräulein,“ sagte Hermann, ihr scharf ins Gesicht blickend. „Irgendwo, aber ich zermartere mein Gehirn vergeblich. Es müssen schon mehrere Jahre seitdem vergangen sein.“

„Sehr richtig! In Frankreich, am Lager Ihres Bruders. Ich hatte mich als freiwillige Krankenpflegerin anstellen lassen.“

„Ja, jetzt fällt es auch mir wieder ein! Ihre Augen waren mir in der Erinnerung geblieben. Sie müssen damals sehr jung gewesen sein.“

„Genau zwanzig Jahre! Also jetzt fünfundzwanzig, ohne weiblichen Rechenfehler!“ Es lag beinahe etwas Zurückweisendes in ihren Worten.

„Ich wollte keine Taufscheinbetrachtungen anstellen, gnädiges Fräulein.“

„Wenn ich Sie bitten darf, Herr von Weßnitz, so vermeiden Sie das ‚gnädige Fräulein‘. Ich bin niemals gnädig, wüßte auch nicht, wie ich dazu käme. Ich weiß ja wohl, daß diese Anrede Sitte ist, indes ich höre sie nicht gern –“

„Wie Sie befehlen, mein Fräulein,“ erwiderte Hermann, etwas erstaunt, aber höflich.

„Kommen Sie, Edda!“ rief Lore, um über die entstandene kleine Verstimmung wegzuhelfen. „Ich will Ihnen meinen Jungen zeigen, obgleich er schon schläft. Entschuldige uns einen Augenblick, Hermann! Dort liegen Sachen zum Lesen! Ihr bleibt natürlich bei mir, bis Bruno wieder nach Hause kommt!“

Ohne des Schwagers Antwort abzuwarten, zog sie die Freundin zur Thüre hinaus ins Kinderzimmer.

Edda beugte sich über das schlafende Kind und musterte dessen Züge bei dem schwachen Schein des im Zimmer brennenden Nachtlichts. Ein eigentümlich weicher Ausdruck breitete sich über die sonst so gefaßten ernsten Züge ihres Gesichts, ein Ausdruck von echter Weiblichkeit, den ihr ein oberflächlicher Beobachter gar nicht zugetraut hätte. Als die beiden Damen in den Salon zurückkehrten, lag noch der Abglanz der Weichheit von vorhin auf den Zügen der jungen Dame.

„Fräulein Helm hat eine Schwäche für unsern Jungen,“ berichtete Lore, während sie etwas am Theetisch ordnete. „Unser Bekanntwerden war eigentlich drollig, damals in Helgoland! Edgar bekam eines Abends Fieber, ich eilte selbst hinaus, einen Arzt zu holen, fand den unsrigen nicht und fragte einen Herrn und eine Dame auf der Straße, ob sie mir nicht die Wohnung eines andern Arztes zeigen könnten. ‚Nein das nicht!‘ antwortete der alte Herr, ‚doch, wenn es Eile hat – es stehen zwei Aerzte vor Ihnen.‘ Zuerst glaubte ich, er treibe Scherz mit mir, trotz seines ehrwürdigen Aussehens. ‚Nein, nein, liebe Frau,‘ sagte er dann, ‚hier meine Tochter ist ebenfalls Arzt. Sie können sich ihr getrost anvertrauen.‘ So lernten wir uns kennen und haben reizende Wochen zusammen verlebt.“

„Gefiel es Ihnen in Helgoland?“ fragte Hermann, der sich für das eigenartige Fräulein zu interessieren begann.

„Wir waren im September dort, also nach der Saison. Mein Vater geht mit Vorliebe in ein Seebad, um den ganzen Tag auf oder an dem Meere zuzubringen. Er stammt aus einem Ort an der Nordseeküste und schwärmt für die See.“

„Du mußt den Doktor Helm kennenlernen, Hermann,“ unterbrach Lore die Freundin, „ein Original, ein Mensch, in dessen Gesellschaft man stets Neues aufnimmt. Doch, Du wirst ja selbst sehen, ich will Dir die Freude nicht im voraus wegnehmen.“

Sie beugte lauschend den Kopf vor; auf dem Gang ertönten Schritte. „Das wird Bruno sein! Nein, doch nicht – eine andere Stimme! Himmel! Prinz Sissi, mein Pariser Schatten! Das fehlte mir gerade noch.“

Ah, madame la Baronne!“

Der Ankömmling, dem das Mädchen die Thüre des Salons geöffnet hatte, schien für einen Augenblick verwirrt zu sein durch die fremden Gesichter.

„Sie hier? Also doch meinen Wunsch nicht erfüllt,“ sagte Lore, ihm die Hand reichend. „Prinz, Sie sind unverbesserlich und werden Ihre Thorheiten nie lassen. Weshalb jetzt, wo der Karneval beginnt, Paris den Rücken wenden? Trotzdem aber heiße ich Sie willkommen. Fräulein Helm – mein Schwager!“

Prinz Sissi antwortete gar nicht, sondern lächelte still vor sich hin.

„Hab’ ich mich gefreut, Baronin! In Paris giebt es keine warmen Oefen. Und die Saison? Mein Gott, was liegt mir daran! Immer dasselbe! Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Herr von Weßnitz! Habe viel von Ihnen gehört.“ Er musterte Hermann unbefangen mit einer Harmlosigkeit, daß man es ihm nicht übelnehmen konnte.

Ein merkwürdiger Mensch! Der Russe war schlank bis zur Dürftigkeit, jede Bewegung jedoch, als würde sie von verborgenen Stahlfedern getrieben, war leicht, elastisch, das Gesicht slavisch, mit großen grauen Augen, straffen, tief in die Stirn gewachsenen Haaren, harten, eckig hervortretenden Backenknochen. Aber auf diesen an sich wenig anziehenden Zügen spielte ein eigentümliches inneres Leben. Man konnte dem Prinzen ebensogut zwanzig wie dreißig Jahre geben. Die Stimme schwankte in der Betonung; sie war oft weich, oft scharf und gab jedem Wort seinen eigenen Nachdruck. Sein Anzug zeigte ganz die allerneueste Pariser Mode, als hätte man ihn aus dem Schaufenster eines Kleiderkünstlers entnommen, und doch sah der Mann nicht lächerlich aus.

Hermann blickte ihn scharf an. Keine Frage, ein interessanter Mensch! In diesen Zügen schlummerte etwas von ursprünglicher Naturkraft.

Auf Edda heftete der Prinz im Anfang einigemal seine großen Augen, gab dann aber den Versuch auf, für seinen Geschmack in ihrem Gesicht etwas Sympathisches zu finden. Dabei plauderte er französisch und deutsch drauf los, als sei er gewohnt, jeden Abend in diesem Kreise zu sitzen. In Paris sei anhaltendes Regenwetter, selbstverständlich, seit Frau von Weßnitz den Rücken gewendet habe. Das klang weder wie eine gewollte, noch wie eine unabsichtliche Schmeichelei aus seinem Munde, sondern wie die Feststellung einer unleugbaren Thatsache.

„Mein Gott, Baronin, ich bin auf den Boulevards umhergelaufen wie ein herrenloser Hund. Ich konnte nicht arbeiten, nicht einmal Gedichte machen, was doch sonst den Unzufriedenen am leichtesten wird. Ich beneidete jeden Burschen auf der Straße, der italienische Wachsstreichhölzer ausrief. Dann ließ ich mich von Sachée und dem Herzog Osco ins Schlepptau nehmen, nebenbei gesagt, den beiden größten Müßiggängern in Paris. Wir bummelten, aßen, spielten, tranken –“

„Oho!“ Lore drohte mit dem Finger. „Prinz, welch ein Benehmen! Vergaßen Sie so schnell meine gute Erziehung?“

„Warum sind Sie fortgegangen! Wie sollte ich es aushalten ohne Ihren Anblick, ohne die gemütlichen Abende an Ihrem Theetisch! Es dauerte nicht lange, da bekam ich Kopfschmerzen, beklagte mich beim Arzt, und es wurde mir Luftwechsel empfohlen.“

„Sie hätten in Ihre Steppe gehen und mit den Wölfen ein Konzert geben sollen,“ neckte Lore.

Er schwieg eine Weile und sah völlig niedergeschlagen aus.

„Ja, ja, Baronin, in die alte liebe Steppe. Ach, diese Steppe! Nur Himmel und Schnee und hungerige Wölfe, und die Kosaken jagen vorüber auf ihren Pferden. Wie sie jauchzen und die Peitschen schwingen, wie der Schnee stäubt und der Wind durch die Mähnen der Pferde saust! O, das ist herrlich!“

[487] Seine Augen glänzten; er atmete tief auf.

„Wollen wir Wölfe jagen, Herr Lieutenant? Kommen Sie mit, heute nacht geht der Schnellzug nach Petersburg.“

Hermann lachte laut auf. „Ich danke sehr, ich bin keine russische Durchlaucht.“ Dieser Mensch, der seinem Willen nie eine Schranke zu ziehen brauchte, belustigte ihn.

„Schade, sehr schade!“ Prinz Sissi machte wieder sein altes Gesicht. „Dann gehe ich auch nicht fort. Apropos, können Sie mir hier in Berlin einen Gasthof empfehlen?“

Alle sahen sich erstaunt an.

„Wo sind Sie denn bis jetzt gewesen, Prinz?“ fragte Lore.

„Ich komme geradeswegs vom Bahnhof.“ Er lachte heiter. „Das heißt, zuerst fuhr ich nach dem Auswärtigen Amt, um Ihre Adresse zu erfahren.“

„Und Ihr Wagen, Ihr Gepäck?“

Er deutete mit dem Daumen über die Schulter nach dem Fenster und lachte in sich hinein. „Alles noch draußen! Wartet auf mich.“

„Den Wagen lassen Sie stundenlang in der eisigen Kälte warten?“ Lore nahm einen Ton an, wie man ein ungezogenes Kind schilt.

„O, der Kutscher sitzt ganz warm in seinem Pelz! Doch nein! Sie erlauben?“

Rasch schenkte er aus einer Rumflasche neben dem Theeservice ein Weinglas voll und eilte damit zur Thür hinaus.

„Er ist ein steuerloser, aber guter Mensch,“ meinte Lore, ein wenig unsicher zu Hermann und Edda hinüberblickend. Als die beiden schwiegen, fragte sie etwas nervös: „Nun, was sagt Ihr dazu?“

„Man merkt, daß er einem asiatischen Stamm entsprossen ist.“

„Eine psychologische Studie,“ fiel Edda mit ihrer tiefen Stimme ein.

„Leider richtig, Ihr beiden Weltweisen! Aber ich werde – ah, da ist er schon wieder!“

Mit einem Riesenstrauß von Marschall Nielrosen in der Hand, schmelzenden Schnee auf den Spitzen seiner Lackstiefel, erschien der Russe wieder.

„Wie der Kutscher lachte über das ganze Gesicht! Seine Nase leuchtete im Gaslicht wie ein Feuerwerk.“

Ohne weitere Erklärung legte er die Blumen in Lores Hand.

„Mein Gott, diese Pracht! Haben Sie die herrlichen Blumen aus Paris mitgebracht? Aber Prinz, Sie fallen wieder in Ihren alten Fehler, obgleich ich Ihnen die Blumenspenden verboten habe. Geben Sie das Geld lieber den Armen.“

„Thue ich auch! Aber dies ist ein Gelegenheitskauf. Unter den Linden sah ich den Strauß in einem Ladenfenster,“ log er munter. „Was macht man hier in Berlin des Abends? Womit vertreibt sich ein Junggeselle die Zeit?“ suchte er dann das Gespräch abzulenken, um Lores forschenden Fragen auszuweichen.

Hermann gab ihm einige Ratschläge. „Wo Bruno nur bleibt?“ fuhr er dann fort und sah nach der Uhr.

Lore zuckte die Achseln. „Er wird irgendwo gute Freunde gefunden haben.“

„Ja, Ihr Herr Gemahl ist eben ein so charmanter Mensch, ein so vorzüglicher Gesellschafter – ich kenne das aus Paris: man läßt ihn nie fort,“ meinte der Russe. – –

Es war elf Uhr vorüber, als die Drei endlich aufbrachen.

„Darf ich Ihnen meinen Wagen anbieten, Fräuleiu Helm?“

Sie nahm ohne weiteres das Anerbieten des Prinzen an und setzte sich zu den beiden Herren in den Wagen. Jede Art anerzogener kindischer Zimperlichkeit war ihr fremd. Sie wohnte im Mittelpunkt der Stadt, im ältesten Teile Berlins. Als sie dort ausgestiegen war, fahren Hermann und der Prinz die Linden hinab. Dieser hatte den Wagen öffnen lassen trotz der Kälte und saß mit offenem Rock und strahlenden Augen neben seinem Begleiter, neugierig sich das Nachtleben der ihm nur flüchtig bekannten Stadt anschauend.

„O, ganz hübsch, dieses neue Berlin!“ meinte er, Hermann eine Cigarette anbietend.

„Hier sind wir an dem bezeichneten Gasthof, Durchlaucht!“

Rasch sprang der Prinz aus dem Wagen.

„Bitte, Herr Lieutenant – ich will nur ein Zimmer nehmen und mein Gepäck hinauftragen lassen – essen Sie irgendwo mit mir zur Nacht? Ich kann nicht vor ein Uhr schlafen.“

Hermann würde weit lieber in seine Wohnung gegangen sein, doch schien es ihm ungezogen, die Bitte des Fremden abzuschlagen.

„Gut, dann fahren wir zusammen.“

Nach wenigen Minuten war der Russe wieder zurück. „Wohin wollen Sie mich führen? Ist es weit?“

„Nein, nur wenige Minuten.“

Hermann gab dem Kutscher die Adresse an, Prinz Sissi nickte zustimmend mit dem Kopfe und blickte eine Weile sinnend an dem breiten Rücken des Kutschers vorbei. Dann seine schlanke Hand auf Hermanns Arm legend, begann er plötzlich: „Sehen Sie, jetzt bin ich glücklich! Jetzt geht mir wieder das Blut ganz vernünftig durch die Adern, lustig, fröhlich, seitdem ich weiß, daß ich Ihre Schwägerin jeden Augenblick sehen kann. Herrgott, die letzte Zeit in Paris war abscheulich! Ach, Ihre Schwägerin! Sie ist so schön, so madonnenhaft! Und so freundlich mit mir!“ sagte Prinz Sissi leise vor sich hin.

Hermann hatte es gehört. Auf seinem Gesicht war nur Mißmut und ein gewisser Aerger über diesen tollen Gecken zu lesen. Der Russe betrachtete seinen Begleiter aufmerksam, plötzlich fiel er in einen ganz andern Ton, und mit einer Stimme, so weich wie die eines Mädchens, dem Offizier die Hand auf das Knie legend, fuhr er fort: „Sie haben Ihre Schwägerin sehr lieb?“

„Wozu – was soll das? Gewiß, wie eine Schwester.“

Das letzte Wort sprach er mit einem gewissen Nachdruck aus.

„Sie sind hart gegen mich, wenn Sie das Verhältnis zwischen der Baronin und mir ansehen – nun, wie soll ich sagen – wie eine Pariser schlechte Angewohnheit, vielleicht noch als etwas Schlimmeres.“

„Dann würde ich nicht hier neben Ihnen sitzen.“

Die Durchlaucht biß sich auf die Lippen. „Sie sollen mich verstehen lernen, wenn unsere Bekanntschaft auch erst heute geschlossen wurde. Ich kenne Sie aus Erzählungen Ihrer Schwägerin seit langer Zeit sehr gut und will Ihnen meine Geschichte erzählen. Doch wir sind anscheinend am Ziel. Gut! Können wir ein besonderes Zimmer erhalten? Ich möchte ungestört mit Ihnen sein.“

Das Restaurant war ziemlich besucht, doch gelang es den Ankommenden, noch ein stilles Plätzchen zu finden.

Château la Rose?“ fragte Prinz Sissi mit einer Verbeugung gegen Hermann. „Sie erlauben!“ Langsam goß er die beiden Gläser voll, warf sich in den Sessel zurück, schlürfte bedächtig mit Kennermiene den schweren Wein und ließ die blauen Rauchwolken einer Cigarette langsam emporsteigen. Die Augen halb geschlossen, als blickten sie weit, weit in die Ferne, begann er: „Ihre Schwägerin sagte, ich hätte wieder in meine Steppe gehen sollen. Ja, da bin ich aufgewachsen, in der Steppe, dort unten, wo die Wolga ihre trüben Fluten so gemütlich melancholisch zum Meer hinabrollen läßt. Meinen Vater habe ich nie gekannt. Seit Jahrhunderten sterben die Männer unserer Familie am Herzschlag, plötzlich, unvermittelt, ohne vorhergehende Krankheit. So auch er. Wie das zugeht? Nun, der Wahrheit die Ehre – es klingt abscheulich, aber es soll noch keiner meiner Vorfahren je in nüchternem Zustande dahingerafft worden sein. Es ist wie ein Verhängnis, wie ein Fluch in unserem Blut. Ich selbst kenne das an mir. Ich habe Zeiten, wo ich dagegen kämpfen muß mit aller Kraft und doch unterliege. Auf andere Menschen wirkt der Genuß von Alkohol in anderer Weise als auf mich – ich sehe Leute lustig, traurig, schläfrig werden. Von alledem spüre ich nichts; ich glaube mich ganz normal zu fühlen, bleibe im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte, nur daß diese viel gesammelter wirken. Das Blut tobt mir wie mit Hammerschlägen durch die Adern, meine Phantasie arbeitet in einem raseden Tempo, ich bin imstande, in einer Sekunde mehr zu denken als sonst in Stunden. Doch kurz und gut – mein Vater starb zehn Tage nach meiner Geburt und meine Mutter folgte ihm bald nach. Die alte Maruschka, meine Amme, und ein Onkel, ein entfernter Verwandter meiner Mutter, haben mich erzogen, das heißt, der letztere hat mich verzogen, wenn er betrunken war, und geschlagen, wenn ihm am andern Tage der Kopf brummte. Im übrigen wuchs ich auf wie das Unkraut hinter den Lehmhütten unserer Bauern. Im Alter von acht Jahren bekam ich eine Erzieherin, ein deutsches Mädchen, das nach einiger Zeit durch die Liebeserklärungen meines Onkels vertrieben wurde, der sich von unserem Kutscher nur dadurch unterschied, daß er noch mehr Branntwein trank als dieser.

Diese deutsche Erzieherin stellt den einzigen weiblichen Einfluß [488] dar, der während meiner Kindheit auf mich gewirkt hat, denn die Maruschka konnte ich schlagen oder liebkosen, sie war für beides gleich dankbar, für ersteres vielleicht mehr, weil es öfter vorkam. Später wurde einem Hauslehrer, einem Russen, die Aufsicht über mich übertragen, aber dieser trank und spielte mit meinem Onkel, statt sich um meine Bildung zu kümmern. Tagelang durchstreifte ich nun auf flinken Pferden die Steppe, sah glutrot die Sonne über ihr untergehen und lag, den Kopf auf dem Sattel, die Nacht hindurch träumend im feuchten Steppengras oder trieb mich in Kosakendörfern umher, oft meilenweit entfernt vom Gutshofe. Aelter werdend, fühlte ich heraus, daß ich der Herr, daß dies ganze Besitztum mein Eigen sei, eine Herrschaft, weiter als das Auge reichte. Ich konnte stundenlang reiten und war immer noch der Herr des Bodens, den meines Pferdes Hufe berührten. Mein Onkel hatte das Prügeln aufgegeben, seit ich ihm eines Tages die Faust unter die Nase gehalten hatte. Nun sollte ich nach Moskau in ein Institut, ich lachte den Onkel aus und ging nicht. Es hätte mich wohl reizen können, in die Stadt zu kommen, aber mich hielt etwas fest, das stärker war als die Sehnsucht nach der Fremde.“

Der Prinz schwieg einen Augenblick und beugte lauschend das Haupt zur Seite, aus einem Nebenkabinett ertönte Gläserklang, das helle Lachen einer Frauenstimme, lebhafte Unterhaltung.

„Lebenskünstler!“ sagte der Russe sarkastisch, mit dem Kopf eine Bewegung nach der hinter ihm liegenden Wand machend. „Noch eine Cigarette gefällig? Aber Sie langweilen sich wohl bei meinen Reminiszenzen. Nicht? Wirklich nicht? Nun gut, mir thut es wohl, einmal wieder von diesen Dingen zu plaudern, und Sie sind der Schwager der Baronin, Sie sollen mich kennenlernen. Also: wo war ich doch stehen geblieben? Richtig! Ich war mit der Zeit achtzehn Jahre alt geworden, ein fast zur vollen Größe ausgewachsener Jüngling. In einem entfernt gelegenen Kosakendorf hatte ich sie gesehen, als sie an der Cisterne Wasser schöpfte für mein durstiges Pferd. Wie eine Gazelle schlank, schmiegsam, zwei Zöpfe im Nacken so dick wie meine Faust und rote Lippen mit Zähnen dazwischen wie die des Steppenfuchses. Es erwachte in mir jenes Gefühl, das die Menschen Liebe nennen, und zwar für dieses Mädchen, das Kind eines armen Kosaken. Mit der ängstlichen Scheu der erwachenden ersten Liebe näherte ich mich ihr; sie war nicht unfreundlich. Wie das Blut in den Adern kochte in stillen warmen Sommernächten, wenn wir mit den andern Paaren nach dem Klange der Kosakenlieder um das Feuer tanzten! Wie die Röcke flogen und die Glieder sich dehnten! Bei alledem aber wagte ich kaum, sie zu berühren.

Endlich eines Abends – wir standen nach dem Tanze dicht am Zaun, hinter dem das Schnauben und Prusten der Pferde in die stille Nacht tönte. Am Himmel die Sterne so klar und glitzernd und im Osten der Mond wie eine Brandfackel am Himmel aufflammend. Wie alles dann kam, ich weiß es nicht, obgleich ich glaube, eine ziemlich dumme Rolle gespielt zu haben. Ich fühlte ihren heißen Atem auf meinen Lippen, ihre weichen Arme an meinem Halse, ich küßte sie und erbebte bis ins Mark bei dem Sturm, der mir zum Kopf raste. Ein Gefühl war in mir, als hielte mich der Teufel mit eiserner Faust an den Haaren. Da stieß ich sie von mir mit einem Schrei, mit zwei Sprüngen war ich neben meinem Pferd, im nächsten Augenblick jagte ich in die nachtdunkle Steppe hinaus. War es Täuschung oder hörte ich hinter mir das Lachen einer Frauenstimme? Nach kurzem Ritt machte ich Halt. Die Bewegung, der frische Luftzug hatten mir das Blut gekühlt; ich schämte mich meiner albernen Flucht, die ganze Lächerlichkeit meines Benehmens wurde mir klar. Ich riß das Pferd herum, eilte denselben Weg zurück und schlich dann leise um das Haus ihres Vaters. Da tönte aus dem wirren Gestrüpp einer Laube leises Gespräch – ihre Stimme und die Stimme eines Mannes. Behutsam lugte ich durch das Blätterwerk. Ich glaubte zu ersticken; wie ein eisiger erstarrender Schauer ging es durch meinen Körper. Sie saß auf den Knien eines jungen Kosaken, er küßte sie und fragte: ‚Was hat der Gospodar gethan?‘ – ‚Dumm wie ein Pope, auf und davon gelaufen!‘ – ‚Laß nicht ab, mein Täubchen; er wird nicht knausern und dann bauen wir uns ein Häuschen!‘ – Ich fühlte in jener Sekunde die Wut eines gereizten Tieres in meinem Inneren. Der Mond schien klar; selbst durch das dichte Gestrüpp huschten seine Strahlen. Da sah ich, wie er sie umhalste, wie seine dicken Lippen sich auf ihr Gesicht herabsenkten – ich bezwang mich und ging mit einem unauslöschlichen Gefühl der Verachtung im Herzen. Als ich zur Besinnung kam, saß ich in einer Dorfschenke vor einer Schnapsflasche. Es war ganz gemeiner Fusel und ich trank und trank, obgleich es mir widerlich war. Dann weiß ich nur, daß mir alles lustig erschien, so rosenrot, zu komisch! Und ich lachte und lachte und trank, bis mir das Bewußtsein schwand und ich besinnungslos auf den Estrich rollte.“

[501] Der Prinz hielt in seiner Erzählung inne, tief Atem holend; auf seinen Gesicht flog es unruhig hin und her; seine großen kräftigen Zähne leuchteten glitzernd im Gaslicht zwischen den vollen Lippen.

„Soll ich weiter erzählen, Herr von Weßnitz? Nun, ich fing an zu studieren, zu lernen. Ein angeborener Wissensdurst fesselte mich an die Arbeit. Im übrigen, ein Mensch von achtzehn Jahren, ein Fürst mit solchen zerstörten Jugendträumen, mit einem fast unbeschränkten Kredit – Sie werden sich selbst sagen, was aus ihm werden mußte! Trotzdem sank ich nicht ganz: es gab etwas, Was stärker war als die Lockungen der Gelage, als die Süßigkeiten für meine verhätschelte Eitelkeit, die mir überall gereicht wurden. Es kam ein Tag, wo der Ekel vor mir selbst mich faßte, wo ich erwachte. Ich ging nach Wien, nach Italien, ein Stürmen und Drängen in der Brust, als müßte ich etwas Neues, Großes schaffen. Ich begann zu schreiben, zu dichten, suchte den Verkehr mit Künstlern, mit hervorragenden Männern und fand den Wert des Lebens bei ihnen. Aber die Achtung vor der Frau war in mir erstorben, und doch packte es mich oft mit heißer Sehnsucht, nur eine zu finden, zu der ich aufsehen könnte, ein Wesen, das mit mir fühlen und denken würde. Eine nur, die nicht wäre wie alle andern, die nicht nach Namen, nach Stand, nach Reichtum spähte! So kam ich nach Paris. Wieder packte mich das alte Leben in dieser Stadt, wo es so bequem ist, von Genuß zu Genuß zu taumeln, wenn man Geld hat. Ich habe [502] meinen Reichtum oft verflucht. Ein bettelarmer russischer Geigenspieler, der mit seinem Weibe elend und hungrig, aber leidlich zufrieden vier Treppen hoch in einer dürftigen Dachstube hauste, erregte meinen Neid durch seine Zufriedenheit. Ich konnte es nicht lassen, ihm soviel Geld zu geben, daß er sich ein anständiges Heim hätte mieten können. Acht Tage darauf traf ich ihn in liederlicher Gesellschaft im Bois de Boulogne. Ich hätte ihn niederschlagen mögen wie einen räudigen Hund!“

Hell schallend tönte wieder Gelächter aus dem Nebenraum. Ein eigentümliches Lächeln zog über des Russen Züge und ließ sie fast greisenhaft erscheinen.

„Wie viele Nächte habe ich so verbracht!“ Er sah mit großen weitgeöffneten Augen zu Hermann hinüber; der Ausdruck in seinem Gesicht ward weich und träumerisch. „Und dann lernte ich sie kennen, Ihre Schwägerin. Ich kann es nicht ganz in Worten wiedergeben, was damals in mir emporwuchs. Sie hat mich wie ein Kind erzogen, in Scherz und Ernst; ich begann wieder Achtung vor mir zu fühlen, zu arbeiten, zu leben wie ein vernünftiger Mensch. Ich hatte den Glauben an die Frau, an das Gute und Edle wiedergefunden!“

Es lag etwas in diesen Worten, was Hermann zu Herzen ging, was sympathische Schwingungen in seinem Inneren weckte.

„Und Sie lieben meine Schwägerin?“

Der Russe hob abwehrend die Hand.

„Nicht das Wort! Nein! Es ist so oft etwas damit bezeichnet worden, was gemein ist. Nein, lassen Sie! Ich habe nie daran gedacht, die Hand nach ihr auszustrecken. Sie ist so rein, daß ein Engel vor ihr sich beugen müßte.“

Was sollte Hermann darauf erwidern? Er brachte es nicht fertig, diesem idealen Glauben auch nur ein Atom seines Daseins zu rauben. Und doch, während er den Prinzen mit einem forschenden Blick streifte, stieg in ihm ein unerklärliches Angstgefühl auf. Hinter all dieser Schwärmerei, hinter aller Selbstlosigkeit der Liebe schien ihm bei dem Russen ein Stück asiatischer Wildheit zu lauern, die einmal durch die mühsam gebauten Wände sich verheerend Bahn brechen würde. Ob Lore dann die Kraft hätte, ihr zu widerstehen?

Sie saßen sich eine Weile stumm gegenüber, in das aufgetragene Souper vertieft. Als Hermann, um dem Kellner einen Auftrag nachzurufen, einen Augenblick auf den Flur hinaustrat, von dem aus die Thüren zu den kleinen Zimmern führten, stieß er mit einem Herrn zusammen.

„Verzeihung! – Was? Du hier, Bruno?“

„Aha, alter Duckmäuser! In Gesellschaft, he?“

„Nicht wie Du glaubst, Bruno! Was machst Du denn noch hier? Ich war heute abend bei Deiner Frau, sie erwartete Dich vergeblich.“

„So, so.“ Ein Schatten flog über Brunos fröhliches, leichtsinniges Gesicht. „Weiß der Himmel! Ich bin nach dem Essen so hängen geblieben; wir saßen ewig lange bei Tisch, und nachher ließen mich die Freunde nicht los. Alles Leute, die ich von früher her kenne. Uebrigens, sitzt Du denn ganz allein hier hinter der Flasche?“

„Nein. Ich bin hier mit Eurem sogenannten Prinzen Sissi, den andern Namen kann ich nicht aussprechen.“

„Was? Sissi hier?“ rief Bruno. „Haha, Lores Schatten! Menschenkind, was fängst Du mit dem an?“

„Gerade die zweite Flasche Château la Rose!“

Bruno riß die Thüre auf. „Prinz Sissi, bei Gott! Ihr Pariser Gesicht hat mir gerade noch gefehlt. Château la Rose – auch schwer genug für Sie, Prinz! Aber kommen Sie, hier im Nebenzimmer ist lustige Gesellschaft. Die andern haben einige Damen mitgebracht. Vorwärts, alter Nihilist und Weltverächter! Schön ist des Lebens grüner Baum!“

Der Russe lachte über das ganze Gesicht; er bewunderte ohne Frage diesen Weßnitz mit der unverwüstlichen Lustigkeit.

„Nun wohl, ich habe nichts dagegen, obgleich diese Damen –“

„Machen Sie doch keine Dummheiten! Wenn ich als Ehemann dabei bin, können Sie erst recht mitkommen!“

„Ich werde nach Hause gehen,“ sagte Hermann etwas schwerfällig.

„Sei kein Thor! Komm mit, Menne!“ rief Bruno ihm zu mit dem alten Namen aus der Kinderzeit. „So jung kommen wir nicht wieder zusammen.“

Aber Hermann wollte nichts davon hören. Er sei müde, erwiderte er, und so führte Bruno, den Prinzen unter den Arm fassend, diesen allein in das andere Zimmer, während Hermann sich auf den Heimweg machte.

Er war nachdenklich geworden. Seine Gedanken wandten sich den Erlebnissen des verflossenen Tages zu. Er gedachte der Begegnung mit jener Edda bei seiner Schwägerin. Sie hatte ihm nicht mißfallen. Diese eigentümlich ernsten klaren Augen in dem feinen durchgeistigten Gesicht! Und dann ihr Wesen! Dieses Schroffe, Abstoßende und dabei diese offene Ehrlichkeit!

Und Bruno, was war der für ein Mensch? War er überhaupt ein Charakter? Nein – nur ein Gemisch von körperlichen Vorzügen mit allen möglichen liebenswürdigen Eigenschaften und Angewohnheiten. Ob solche Naturen wohl glücklich zu nennen waren, die unbedacht, fast unbewußt, nur ihren Trieben folgend, bis hart an das Schlechte sich fortreißen ließen? Und wo lag der Weg für den, der wirklich ein ganzer Mensch sein wollte? War auch das Glück, nicht nur die Ruhe des Gewissens da zu finden, wo einer ehrenhaft nach großen Zielen strebte?

Derjenige, mit dem sich Hermann, die Linden hinabgehend, in Gedanken beschäftigte, schritt mehrere Stunden später langsam der Tiergartenstraße zu. Er freute sich, daß die Luft ihm so rein und kalt entgegen wehte, durstig sog er den frischen Windhauch ein, und er beschloß, noch ein wenig spazieren zu gehen, um die Wirkung des genossenen Weins und aus den Kleidern den Cigarettengeruch los zu werden.

Er schlenderte vor seinem Hause auf und ab. Aus dem einen Eckfenster glänzte ein matter Lichtschimmer still, fast melancholisch in die Nacht hinaus, ein schwaches rötliches Licht, das von der kleinen Ampel im Schlafgemach herrührte. Jetzt ruhte Lore wohl schon lange, den rechten Arm nach ihrer Gewohnheit unter den rotblonden Haaren. Wie oft hatte ihn, wenn er in der Nacht nach Hanse kam, dieser Anblick entzückt! So schön wie sie war doch keine!

Der Wunsch stieg in ihm auf, etwas Liebes für sie zu thun, gerade heute, etwas Besonderes. Trotz der späten Stunde eilte er zum nächsten Droschkenplatz und ließ sich nach der Friedrichstraße fahren. Dort standen wie immer Blumenverkäufer, halb erfroren und erstarrt. Er kaufte einigen aus den flachen Körben den ganzen Vorrat ab. Glücklich setzte er sich dann wieder in die Droschke zweiter Klasse, die er ohne lange Wahl genommen hatte, und ordnete die Sträußcheu zu einem Bouquet, sich über seinen genialen Einfall freuend, aus den zerrissenen Polstern des Sitzkissens einen Faden herausgezogen zu haben, mit dem er die einzelnen Teile seines Straußes zusammenband. Lore hatte ja die Blumen so gern! Nur mit diesem Gedanken beschäftigt, mit den Veilchen und Schneeglöckchen in der Hand, eilte er die Treppe hinauf, warf rasch Hut und Mantel ab und schlich behutsam an Lores Bett.

Sie schlief nicht, hatte nicht einschlafen können, und ihre braunen Augen schauten weitgeöffnet zu ihm auf. Sie lächelte dazu. Das war nicht der Blick einer Gattin, die bereit ist, mit einer Flut von Vorwürfen zu beginnen; davor schützte sie ihr richtiges Gefühl diesem Mann gegenüber.

„Guten Abend, Bruno!“

„Guten Abend – oder besser Guten Morgen, Lore! Da, da!“ Er drückte ihr die kalten frischen Blumen in die Hand.

Ein erstauntes: „Ach, wo hast Du denn die her?“ war die Antwort. Tief atmend steckte sie das rosige Gesicht in die duftenden Blüten. „Wie herrlich!“

Sie schlug die Augen voll zu ihm auf, das ganze Gesicht von einem frohen Gefühl erhellt. Er hatte doch an sie gedacht in seiner Abwesenheit! Weit breitete sie die Arme aus und zog seinen Kopf zu sich herab, ihm die Lippen entgegendrängend. Da glänzte etwas Feines, Lichtes auf seinem Rock.

Ihre Augen blieben darauf haften, ihre Lippen erwiderten nicht den Druck der seinigen. Ein Frauenhaar, das auf dem Kragen seines Frackes lag, ein braunes Frauenhaar! Ihre Arme glitten zurück, ihr Mund, eben noch lächelnd und ihm entgegenstrebend, nahm den Ausdruck eisiger Kälte an. Jäh pochte ihr das Blut in den Schläfen.

„Ja, ich danke Dir, es war sehr – freundlich!“

„Was ist, Lore?“ fragte er, über die plötzliche Veränderung in ihren Mienen erschreckt.

[503] Wie zufällig schob sie den Strauß an den Rand des Bettes, so daß er hinabrollte. „O, nichts! Doch Du solltest etwas peinlicher mit Deiner Garderobe sein!“ sagte sie mit tonlosem Lachen. Ihr Zeigefinger deutete auf das Haar an seinem Rock; er faßte danach und es blieb, im Lichte glänzend, an seinen Fingern hängen.

„Es war doch ein Herrenabend heute, nicht wahr?“

Zuerst wollte er laut auflachen in dem Gefühl, daß seine Frau grundlos eifersüchtig sei. Er hatte doch nichts Unrechtes gethan! Konnte er etwas dafür, daß die eine der Schauspielerinnen, mit denen er zusammengewesen war, ihr Ohr an seine Brust legte, weil er behauptet hatte, ihr Austernappetit verursache ihm Herzklopfen?

„Es ist ja Unsinn, Lore! Du wirst doch nichts Schlimmes von mir glauben? Ein Zufall!“

„Nein – glauben nicht! Aber ich bin müde.“ Wortlos drehte sie den Kopf auf die andere Seite.

Er wollte ihr später alles erklären; in solchen Augenblicken war es ja weise, Frauen in Ruhe zu lassen; sie nahmen da doch keine Vernunft an. Innerlich freute er sich über seine Ruhe und seine Kenntnis des Frauenherzens und schlief bald ein mit dem Vorsatz, am andern Morgen nach dem Frühstück alles zu erzählen. Lore aber lag mit geöffneten brennenden Augen da; sehnsüchtig wartete sie auf ein Wort von ihm, wartete bis zum Morgengrauen, schlaflos, reglos, mit ängstlichem halberstickten Herzschlag.

Schwatzhafte Spatzen lärmten bereits vor den Eisblumen der Fenster, als Bruno sich erhob. Früher als gewöhnlich rief ihn eine zwingende Pflicht in das Auswärtige Amt. Lore war noch nicht aufgestanden, und die beabsichtigte Beichte bei der Frühstückscigarre ging so verloren.

Bruno hatte den ganzen Tag zu thun und am Abend fand er seine Frau wie immer, vielleicht etwas bleicher als sonst, ein wenig, aber kaum merklich ruhiger und kälter. Sie wird gar nicht mehr an die Geschichte denken, sagte er sich, als er ihr den Gutenachtkuß gab. Allein seine Lippen fanden ihren Mund nicht, sondern nur ihre halb abgewandte Wange.




Es war eine Woche vergangen. Hermann hatte seine Schwägerin abgeholt, um sie zur Schlittschuhbahn im Tiergarten zu begleiten, da Bruno das Vergnügen des Eislaufs nicht liebte. Edda Helm dagegen hatte den Bitten der Freundin nachgegeben und ihr Erscheinen ebenfalls in Aussicht gestellt.

Die Wangen von der frischen Winterluft gerötet, schritt Lore neben dem Schwager her, der schweigsam den Blick über die blattlosen schwarzen Baumäste schweifen ließ, von denen der Ostwind zuweilen den letzten Schnee in leichten Wolken herabstäubte. Verstohlen wandte Lore von Zeit zu Zeit das Gesicht zu ihm und verfolgte prüfend die scharfgeschnittene Linie seines Profils mit den Augen. Wie fest und markig diese Züge waren, als hätte die Natur absichtlich darauf verzichtet, etwas Schönes zu schaffen, nur um ungehindert ein Bild herber abgeschlossener Männlichkeit geben zu können! Und dennoch erinnerte sie sich, wie das Antlitz des Knaben und des ganz jungen Offiziers weich und offen gewesen, wie die Augen einst fast harmlos, mit einem leichten Anflug von Träumerei in die Welt geschaut hatten! Er war doch sehr verändert. Unwillkürlich verglich sie das Gesicht des Schwagers mit dem ihres Mannes. Eine gewisse Aehnlichkeit war vorhanden, zweifellos; nur daß bei Bruno Leben war, was hier Ruhe, bei Bruno alles weich, gefällig, was hier hart und fest.

Lore hatte jene Nacht nicht vergessen können, in der Bruno ihr die Blumen brachte. Sie hatte gerungen mit der Erinnerung Tag und Nacht, dem Zauber nachgespürt, den ihres Mannes Persönlichkeit noch immer auf sie ausübte, und sie hatte versucht, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es wollte jedoch nicht recht gehen damit.

Eine unheimliche Ahnung, die schon während der Jahre in Paris leise in ihr aufgetaucht war, beherrschte ihr Gefühl, wenn er in ihre Nähe kam, ein Gefühl, als hätte Bruno niemals offen seine Seele, seinen Charakter vor ihr enthüllt, als decke er vieles, vieles mit seiner Liebenswürdigkeit zu. Ihr Vertrauen zu ihm war erschüttert.

Konnte dieser Mann zugleich mit anderen Frauen tändeln und ihr die Treue bewahren? Konnte er das, ohne zu lügen? Und warum sollte er nicht lügen? Er konnte ja alles!

Lore gehörte zu den Frauen, die wenig in der Welt lernen. Ihr Gemüt war sehr fein angelegt, sie empfand rein, aber kam selten zür Klarheit und wurde bei der kleinsten Ursache, die ihr Gemütsleben verletzte, leicht hilflos.

Wie fest Hermann mit seinen großen etwas steifen Schritten den knirschenden Schnee trat! Das Gefühl äußerer und innerer Sicherheit in seiner Nähe war bezwingend. Unwillkürlich schob sie ihre Hand unter seinen linken Arm.

„Gehe ich zu schnell, Lore?“

„Nein, nein. Es ist gerade recht so.“

Sie lehnte sich fest an ihn und ihre Gedanken schweiften weit zurück zu den Tagen der Kindheit und blieben dann an ihrem Zusammensein jüngst in der Dämmerstunde haften.

Der unbezwingliche Wunsch stieg in ihr auf, wieder an diese Sache zu tasten, ganz vorsichtig, um zu erfahren, ob denn ein Mann wie dieser wirklich mit solch einer Jugendliebe fertig werden, abschließen konnte. Das Gefährliche dieses Wunsches ward ihr selbst nicht klar; sie wußte nicht, daß dahinter etwas Unheimliches, Drohendes in ihrer eigenen Seele schlummerte, das schon seit Jahren und vollends in den letzten Monaten in ihr heraufdämmerte, ein inneres Sichlösen von ihrem Gatten, ein Lockern des Bandes, das sie mit ihm vereinigte. Eine große wahre Liebe hatte sie eigentlich nie für Bruno empfunden; nur das Wohlgefallen des unerfahrenen Mädchens an seiner äußeren Person, an der Liebenswürdigkeit seines Wesens, das schwärmerische Gefühl für den verwundeten Offizier. Das hatte sie gefangen genommen wie ein Rausch, hatte ihr die Augen zugedrückt unter seinen Küssen. Aber nun? Manchmal graute es ihr vor dem fast bewußtlosen Zustand ihrer Seele.

„Glaübst Du, Hermann, daß es Männer giebt, die gleichzeitig mehrere Frauen lieben können?“ fragte sie plötzlich, ganz unvermittelt.

Er versuchte scherzend dieser Frage auszuweichen. „Warum nicht? Bei einiger Uebung.“

„Nein, nicht so! Ich frage ganz ernsthaft.“

Hermann ahnte, worauf sie hinanswollte, und blickte eine Weile zur Seite.

„Ja – und nein! Das heißt, ein großes Gefühl müßte jede Zuneigung anderen Frauen gegenüber töten. Wie lange ein solches Gefühl besteht, weiß ich nicht; bei einigen sicherlich ein ganzes Leben lang. Uebrigens ist das ein Thema, das mit einer Dame gründlich zu erörtern unmöglich ist.“

Lore runzelte unmutig die feinen Brauen. „Weshalb? Ich bin verheiratet, wir kennen uns genau, Du brauchst nicht zimperlich zu sein.“

„Nein,“ sagte er kurz. „Aber außerdem läßt mich das Thema kalt, weil es für mich nicht von praktischem Wert ist.“

Sie begriff, daß er nicht weiter zu bringen sei. „Was sagst Du zum Prinzen Sissi?“

„Du kennst ihn besser als ich,“ wich er aus.

„Und Du bist unausstehlich heute, Hermann! Findest Du meinen Verkehr mit ihm unpassend?“

„Für deutsche Verhältnisse, ja!“

„Mag sein,“ antwortete Lore und wiegte den Kopf langsam hin und her, „obgleich es lächerlich ist, darin etwas zu finden. Dieses erwachsene Kind verehrt mich wirklich selbstlos und würde sich eher die Zunge abbeißen, als irgend ein Wort sagen oder etwas thun, was mich zwingen würde, den Verkehr abzubrechen. Dieser Prinz Sissi ist ein aus Gegensätzen zusammengesetzter Charakter, ich weiß genau, wenn er nicht mehr zu mir kommen könnte, würde er untergehen.“

„Weißt Du so ganz genau, Lore, daß dieser Russe nie die Grenzen überschreiten wird, die er sich bis jetzt in Eurem freundschaftlichen Verhältnis gezogen hat? Und wenn auch – eine Frau von Weßnitz steht hier nicht außerhalb der Welt!“

„Bah, die Klatschmäuler! Wer kann sich davor schützen? Die Hauptsache ist doch das eigene Gewissen.“

„Das sieht niemand!“

„Also wieder die Mitmenschen, die wir fürchten sollen! Nein, nein! Der Prinz ist imstande, irgend eine entsetzliche Dummheit zu machen, wenn ich ihn fortjage, ich übe wirklich einen guten Einfluß auf ihn aus.“

[504] „Hältst Du Dich ihm gegenüber für ganz sicher, Lore?“

Heiße Röte stieg ihr ins Gesicht, während sich ihre Blicke mit den seinigen kreuzten.

„Pfui, Hermann!“ rief sie mit bitterem Lachen, sich hoch aufrichtend. „Wenn ich mich aber je einmal nicht sicher fühlte – was schadet es, wenn ich mich auf denselben Standpunkt stelle wie die Herren der Schöpfung?“

Der Ton ihrer Stimme schnitt ihm ins Herz. Das war nicht mehr die Lore, die er einst geliebt. Es lag etwas Herbes und zugleich Frivoles in ihrer Aeußerung. Ein heißer Zorn gegen den, der in dieser Frauenseele solche Verheerung hervorgerufen, schwoll in ihm auf. „Lore!“ sagte er nur, mit tiefer Stimme, in der etwas von seiner inneren Erregung zitterte.

Da – dasselbe Gesicht, das er an der kleinen Kousine so wohl gekannt; dies scharfe Herunterpressen der Mundwinkel und diese langsam in die Wimpern tretenden großen Thränen! Es war ihm im Gedächtnis geblieben; kein anderer Mensch in der Welt weinte so. Einige Thränen rollten auf das Pelzwerk ihres Mantels und gefroren dort in der eisigen Luft zu glitzernden Perlen. Er blickte darauf nieder und alles ward weich in ihm.

„Lore, sei nicht traurig! Du bist Dir über Deine Seelenstimmung nicht klar. Was ist vorgefallen? Oder hast Du nur schlechte Nerven? Kopf hoch, Lore!“

Sie erwiderte nichts; ihre Gedanken erratend, fuhr er fort: „Es ist wahr, Bruno ist ein wenig leichtlebig und manches gute Gefühl in ihm kommt deshalb nicht auf, aber das eine ist sicher: er hat Dich sehr lieb!“

„Ach ja, ich weiß –“ sie hob energisch den Kopf – „ja, ja, er hat mich lieb, nach seiner Art. Aber zuweilen möchte ich jemand haben, auf den ich mich stützen könnte!“ Sie hing sich schwer an seinen Arm.

„Was wird aus ihr werden?“ dachte Hermann mit einem unbestimmten Angstgefühl. –

Die elegante Welt Berlins tummelte sich auf der Eisbahn. Wartende Wagen fuhren im Schritt auf und nieder, am Ufer wanderten, in warme Pelze eingehült, die mit erwachsenen Töchtern gesegneten Mütter, die ihre Schutzbefohlenen beobachteten und sich ärgerten, daß die Aelteste wieder von einem eleganten Gardeoffizier sich über die Eisbahn führen ließ anstatt von dem dicken pommerschen Gutsbesitzer.

Prinz Sissi war schon auf der Bahn, in einem seltsam aus russischer Nationaltracht und moderner Pariser Mode gemischten Sportanzug. Trotzdem sah er gut aus mit seinem unvermeidlichen Blumenstrauß im Knopfloch und dem keck in die Höhe gedrehten kleinen Schnurrbart. Er fuhr ausgezeichnet. Alles an ihm war Leben, Bewegung, und wenn er seine Fertigkeit übte, sammelte sich bald ein Kreis Lernbegieriger und Bewunderer um ihn, so daß er sich gezwungen sah, blitzschnell wieder in der Menge zu verschwinden, um mit Frau von Weßnitz davon zu fliegen.

Hermann mußte mehrere Kameraden begrüßen und bekannte Damen aus seinen Kreisen. Auch Edda Helm traf er, die sich unglaublich einfach ausnahm inmitten dieser eleganten geputzten Gesellschaft. Kein Pelzwerk, nur eine eng anschließende Jacke, die mehr für Frühling und Herbst zu passen schien als für einen Wintertag von zehn Grad Kälte. Nicht einmal ein Muff. Ihre beiden Hände steckten in den Seitentaschen ihrer saisonwidrigen Jacke, zwischen den Aermeln und den schwarzwollenen Handschuhen leuchteten in zwei roten Streifen die Handgelenke hervor.

Die meisten von denen, die dieser Erscheinung begegneten, warfen spöttische Blicke auf sie, aber feinere und schärfere Beobachter musterten doch im Vorbeifliegen eine Sekunde mit Interesse das feine leicht gerötete Gesicht mit den kohlschwarzen Augen und den scharf über die Stirn gezogenen Brauen.

Hermann begrüßte sie. Seit ihrem ersten Zusammentreffen hatten sie sich nur einmal zufällig auf der Straße getroffen und er hatte sich bei dieser Gelegenheit auf dem Wunsch ertappt, die junge Doktorin noch oft bei seiner Schwägerin zu finden.

Jetzt lief er neben ihr her und machte einen Versuch, ihr wie üblich die Hand als Stütze zu reichen, gab aber diesen Versuch lächelnd auf, da sie seine Absicht, die andern Damen gegenüber selbstverständlich war, gar nicht zu bemerken schien. Merkwürdige Geschöpfe, diese Frauen mit männlichem Beruf, dachle er. Sie wachsen geradezu über alle Grenzen hinaus, mit denen sonst die Galanterie der Herren ihr Geschlecht zu umgeben pflegt. Na, sie sind nun einmal so, sagte er sich. Und doch errang Edda gegen seinen Willen in seinem Innern einen Achtungserfolg, der ihm selbst unbegreiflich war, denn er hielt auf das Hergebrachte und Unauffällige. Still betrachtete er sie von der Seile. Selbst die Art, wie sie sich auf dem Stahlschuh bewegte, war eigenartig. Nichts von unsicherem Schwanken in den Hüften, kein kurzes unelegantes Kratzen der Schlittschuhe auf dem Eise; in sicheren großen Zügen, die leichte Bewegung nur durch ein gleichmäßiges Schwanken ihres Kleides verratend, flog sie neben ihm dahin.

Endlich, nach einem tüchtigen Umlauf, hielt sie plötzlich an, lächelte aus hochroten Wangen ihren Begleiter unbefangen an und sagte mit einem tiefen Atemzug: „Herrlich!“

Einfach „Ja“ darauf zu erwidern, schien ihm zum mindesten überflüffig; sie schien auch keine Antwort zu erwarten.

„Ich habe Ihre Schwägerin noch nicht gesehen.“

„Dort läuft sie mit dem Russen.“

Edda machte ein Gesicht, als hätte er ihr etwas Unangenehmes gesagt, und zuckte mit den Schultern, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen.

„Was meinen Sie?“ fragte Hermann.

Ein halb erstauntes Lächeln, weil er in ihren Gedankengang eindrang. „Als Mensch nichts, als Frau sehr viel. Wer Ihre Schwägerin kennt, würde ganz gleichgültig diesem eigentümlichen Verhältnis zusehen können. Sie ist unvorsichtig, weil ihr selbst kein Gedanke, keine Handlung in den Sinn kommt, die nicht makellos wäre. Sie hat sich in die Rolle einer Beschützerin dieses steuerlosen großen Kindes hineingelebt und kann nicht wieder heraus, weil ihr niemand hilft und die Augen öffnet.“

„So sagen Sie ihr ein Wort darüber, Fräulein Helm!“

„Nein, das vermag und will ich nicht. So etwas kann nie eine Frau der anderen sagen; wir haben nun einmal unsere berechtigten Schwächen.“

Hermann fühlte, daß sie recht hatte, und wunderte sich über ihre richtige Anschauung.

„Der einzige, der dies thun darf, ist Ihr Bruder.“

Weßnitz blickle sie erstaunt an. „Nach meiner Meinung kann er nur zweierlei thun – entweder die Sache als nicht beachtenswert fortgehen lassen oder den Prinzen ersuchen, seine Aufmerksamkeiten und die Besuche bei seiner Frau einzustellen. Das bedeutet dann ein Duell.“

„Ach, immer mit Ihrem Duellieren! Es ist beinahe lächerlich. Als ob dadurch irgend etwas gebessert würde! Ein Mann im Besitz einer Frau wie Ihrer Schwägerin hat etwas anderes zu thun. Er sollte ihre Hand nehmen und sagen: Liebe Frau, Du bist ein großes Kind. Nimm einmal Deinem Schatten etwas Sonne und er wird schwächer werden; ich will Dir ganz in der Stille dabei helfen. Lore würde das einsehen und den richtigen Weg wohl zu finden wissen.“

Eddas Augen blickten klar und ruhig über das Getümmel der Schlittschuhläufer hinweg.

Wie energisch dies Mädchen alles anfaßte! Nichts von Sentimentalität, eine Natur, die überall den richtigen Weg suchen und finden würde! Und doch konnte Hermann ihr nicht völlig zustimmen. Sie beurteilte alles von der Höhe ihrer Ruhe und Abgeschlossenheit aus und glaubte, andere Menschen müßten in ihrem Thun und Lassen genau so verstandesmäßig und regelrechl vorgehen, ohne den Schwächen und Fehlern, den seltsamen Regungen des menschlichen Herzens zu folgen. Ob sie wohl stets so war, diese Edda Helm? Ob nichts sie aus ihrer Klarheit herausbringen konnte?

„Im Prinzip mögen Sie recht haben, Fräulein Helm. Aber ist mein Bruder ein Mann, der so zu seiner Frau sprechen könnte?“

Sie preßte die Unterlippe fest zwischen die Zähne. „Nein, das ist er nicht. Haben Sie Ihre Schwägerin sehr lieb, Herr von Weßnitz?“

Eigentümlich! So fragte ihn vor einiger Zeit auch Prinz Sissi.

„Ja, gewiß! Wir wuchsen als Kinder zusammen auf.“

„Das meine ich nicht; es muß eine stärkere Neigung sein.“

„Und welches andere Gefühl könnte es geben, das ich selbst mir als Ehrenmann erlauben dürfte?“

[506] Er gefiel ihr in diesen trotzigen Worten. Das war ein Charakter.

„Ich kann es nicht beschreiben, welches Gefühl von Ihrer Seite ich Ihrer Schwägerin wünschen möchte. Es leitete mich auch nur der Gedanke, für sie einen Halt zu finden. Nun, wir wenigstens wollen zusammenhalten.“

Sie streckte ihm freimütig die Hand entgegen, die er kräftig umschloß, und beide wußten, daß sie einen guten Bund geschlossen hatten.

„Dort können Sie meine Schwägerin in Begleitung des Schattens sehen,“ sagte Hermann, auf das in einiger Entfernung vorbeischwebende Paar deutend. Hol’ der Teufel diesen Prinzen! dachte er dabei.

[518] Hermann und Edda setzten sich rasch in Bewegung, um Lore mit Prinz Sissi einzuholen. Eine kurze Begrüßung folgte.

„Liebe Edda, wir wollen in acht Tagen einen Ball geben; Sie werden doch kommen, nicht wahr?“

„Ich auf einen Ball? Das müßte zum Totlachen sein, da ich noch nie im Leben getanzt und nie an diesen sogenannten Vergnügungen teilgenommen habe! Ich würde mir vorkommen wie eine Trauer-Esche in einem Lustgarten.“

„Ach was, Sie müssen kommen, und Hermann auch! Es werden wirklich ganz nette Leute bei uns sein; nicht nur Prinz Sissi, Beamte und Offiziere, nein, sogar Kollegen von Ihnen und Ihrem Vater. Uebrigens hat mir dieser bereits zugesagt.“

„Wer? Mein Vater?“

Es lag ein so unverhohlenes Erstaunen in diesen Worten, daß die andern zu lachen begannen.

„Ich habe ihn so lange gebeten, bis er nachgab und zu kommen versprach,“ plauderte Lore weiter.

„So? Na, eher hätte ich den Einsturz des Himmels erwartet! Ich werde es mir überlegen, liebe Lore. – Wollen Sie mich für einige Minuten begleiten, Prinz?“ fragte Edda unvermittelt den Russen.

Sie hatte wirklich eine merkwürdige Art und Weise, mit Herren umzugehen. Selbst Prinz Sissi war erstaunt, folgte ihr aber trotzdem, Lore mit Hermann zurücklassend.

„Haha, hast Du des Prinzen Gesicht gesehen? Zum Totlachen, wie sie mit dieser von den Pariser Damen verzogenen Durchlaucht umgeht! Ein zu originelles Mädchen! Weißt Du, daß sie eigentlich eine Schönheit ist?“

„Was, die Helm?“ fragte er zerstreut.

„Mein Gott, seid Ihr Männer blind! Wenn Euch die Schönheit nicht in den Formen der herrschenden Mode gereicht wird, bemerkt Ihr sie überhaupt nicht. Ich werde selbst eine Toilette für sie zu unserem Ball herrichten lassen und Ihr werdet sie überhaupt nicht wiedererkennen! Du brauchst nicht ungläubig zu lächeln, Hermann! Denke Dir diese Figur, diesen eigentümlichen Teint gehoben durch ein bordeauxrotes Kleid – ganz einfach ohne allen Zierat – das Haar in eine antike Frisur gebracht, mit einer dunklen Kamelie darin, ohne jeden andern Schmuck! Ich freue mich wie ein Kind darauf. Sie wird durch ihr Aeußeres wie durch ihr Wesen Aufsehen erregen in unserem Salon. In Paris würden sich die Männer um ein solches Mädchen reißen.“

„Ich bin gespannt, ob sie auf Deinen Plan eingehen wird.“

„Keine Sorge, wenn ihr Vater erscheint! Ich bin meiner Sache gewiß.“

„Man kommt im Verkehr mit ihr nicht aus den Ueberraschungen heraus und hat gar nicht das Gefühl, als spräche man mit einer Dame, als stände man überhaupt einem weiblichen Wesen gegenüber.“

Lore sah ihn scharf von der Seite an. „Das macht die verrückte Erziehung und der Beruf, den ihr der Vater gestattete. Interessiert sie Dich?“ Ihre Blicke hingen an seinen Lippen.

„Als Studie, ja! Es ist einmal etwas anderes als der Durchschnitt.“

„Und das zieht Dich an?“

„Nein, es stößt mich ab,“ sagte er schroff. „Es ist eine Empfindung, als müßte man auf unbekanntem Weg in stockfinsterer Nacht vorwärts.“

Lore grübelte einen Augenblick über diese Worte. „Und glaubst Du, daß kein Licht zu finden ist?“

Prinz Sissis Dazwischenkunft überhob Hermann einer Antwort.

„Wo haben Sie Fräulein Helm gelassen? Hat ein anderer sie Ihnen abspenstig gemacht?“ fragte Lore. Prinz Sissi zuckte die Schultern. Er konnte unglaublich hochmütig und verdrossen aussehen.

„Haben Sie sich gezankt?“

„Ich zanke mich nie mit einer Dame.“

„Diese Aeußerung ist nicht artig, Prinz.“

„Aber gerecht,“ antwortete er scharf.

Lore versuchte, mehr aus ihm herausbringen, was ihr zum eigenen Erstaunen nicht gelang.

„Sie begleiten wohl Ihre Frau Schwägerin nach Hause, Herr von Weßnitz?“ wandte er sich an diesen. „Ich habe Wichtiges zu thun. Wollen Sie mich entschuldigen, gnädige Frau?“

„Mein Gott, Prinz Sissi hat etwas Wichtiges zu thun!“ spottete Lore.

Durchlaucht machte einen sehr steifen Hals, versuchte ärgerlich zu bleiben, konnte es aber Lores Lachen gegenüber nicht durchführen.

„Ja, es sind Pariser Neuheiten – Halskragen – in einem hiesigen Geschäft angekündigt, ich habe also wirklich zu thun,“ meinte er ironisch und ging.

Hermann war stiller und einsilbiger als gewöhnlich und Lore langweilte sich um so mehr, als ein ihr bekannter Kavallerieoffizier sie vollständig mit dem Bericht über seine sommerlichen Rennerfolge einspann. Bald trat sie daher neben Hermann den Heimweg an. Ihr Begleiter blieb zerstreut und sie grübelte mit niedergeschlagenen Augen vor sich hin, die Blicke gedankenlos über den schon stark ins schmutzig Graue hinüberspielenden Schnee schweifen lassend. –

Nach ihrer kurzen Unterredung mit dem Prinzen hatte Edda die Eisbahn ebenfalls verlassen, da es zu dämmern begann. Der Prinz hatte sie gänzlich im Zweifel gelassen, ob er ihre zarten Andeutungen bezüglich seines Verkehrs im Hause Lores verstanden habe oder nicht, nur sein Abschiedsgruß war sehr förmlich gewesen.

Edda ging jetzt mit den ihr eigentümlichen langen Schritten durch den Tiergarten bis zur Pferdebahn. Sie fühlte sich durch mancherlei, besonders durch Lores Einladung, etwas in ihrem inneren Gleichgewicht erschüttert, was sie jedoch nicht verhinderte, gewandt auf den in voller Fahrt begriffenen Wagen zu springen und zugleich mit den Blicken einem an Krücken vorbeihumpelnden Jungen zu folgen. Ob dem nicht zu helfen wäre?

Ihren Vater fand sie zu Hause. Er saß in der einfachen Wohnstube vor einem Riesentopf mit Kleister, von dessen unangenehmem Duft das ganze Zimmer erfüllt war, und klebte allerhand Kinderspielzeug zusammen. Der eintretenden Tochter nickte er freundlich zu und war höchst erstaunt, daß sie die aus Kleisterduft und Tabaksrauch zusammengesetzte Luft nicht gut fand.

„Sieh nur diese Festung, Edda! Haha!“

Er rieb zufrieden die Handflächen aneinander und ließ seine tiefliegenden grauen Augen wohlgefällig auf seiner Arbeit ruhen.

„Wie das den Nerven gut thut, eine so harmlose mechanische Arbeit, bei der man seinen Erfolg doch greifbar vor Augen sieht! Dort liegt ein neues Werk, sehr gut geschrieben von einem Irrenarzt; ich habe bis vor einer Stunde darin gelesen. Sehr feiner Beobachter! Wenn alle Leute, die wegen geistiger Ueberarbeitung verrückt wurden, irgend ein kleines mechanisches Handwerk getrieben hätten, würden sie wahrscheinlich ihre Nervenbündel normal erhalten haben.“

„Du bist nicht spazieren gegangen, Vater!“ mahnte Edda vorwurfsvoll, sich an seine Schulter lehnend, während sie nachdenklich an einem Bindfaden die Zugbrücke des Festungsthores auf und nieder klappen ließ.

„Weiß Gott, es ist schon zu spät! Das habe ich ganz und gar vergessen. Das Buch hat mich gefesselt und dann bekam ich eine unbezwingliche Lust, zu kleben und zu bauen, um mich zu erholen. Du bist auf der Eisbahn gewesen? Wollte Dich eigentlich abholen – zu dumm! Ich alter zerstreuter Kerl! War Frau von Weßnitz da?“

Sie nickte lächelnd.

„Donnerwetter, wäre ich doch hingegangen! Diese Frau! Sie sah natürlich reizend aus? Es muß eine Augenfreude gewesen sein!“

Er war fast komisch, der alte Herr, in seiner Begeisterung für die schöne Frau, die sein Herz völlig eingenommen hatte; es schien, als wehte ein jugendlicher Schimmer um seine hohe scharf hervortretende mächtige Stirn, wenn er von ihr sprach.

„Und was hast Du, Vater, hinter meinem Rücken mit ihr verabredet? Du willst zu einem Ball gehen unter all diese Menschen, die nur von Dingen schwatzen, die Dir völlig gleichgültig sind? Du zu einem Ball, Vater, ich muß wirklich lachen!“

„Oho! Weshalb denn nicht? Bin als junger Student höllisch gern zum Tanz gegangen! Und weißt Du, die Frau Lore bat so herzig und sah mich so an –“ er legte den von vollen grauen [519] Locken umrahmten Kopf auf die Seite und blinzelte zu seiner Tochter hinüber – „und wenn sie mich so ansieht, kann ich nicht Nein sagen.“

Sind denn die Männer alle verliebt in sie? dachte Edda. „Sie hat mich natürlich auch eingeladen,“ sagte sie laut und trat an einen Nebentisch, um das Abendbrot zu bereiten.

„Was? Dich?“ fuhr der Alte auf, sich mit einem Ruck nach ihr umwendend.

„Gewiß! Wenn mein Vater zu einem Ball geht, warum denn nicht ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren? Uebrigens habe ich noch nicht zugesagt, obgleich es mich reizt, mit Dir zur Abwechslung auch einmal auf einem Ball zu erscheinen. Schließlich, wenn wir beide hingehen, befinden wir uns sicher in guter Gesellschaft.“

Der Alte drohte ihr mit dem Finger. „Edda, es giebt etwas, das fast so schlimm ist wie die Dummheit – geistiger Hochmut!“

„Du hast recht, Vater. Es hat schließlich ein jeder das Recht, sich seinen Anlagen und Neigungen gemäß auszuleben, so lange diese nicht gemeinschädlich sind, und das ist das Tanzen ja doch eigentlich nicht. Uebrigens, wie geht es mit der schwarzen Lise? Ist der Mann hier gewesen?“

„Das hätte ich fast vergessen! Natürlich, er war hier. Fieber! Das schleppt sich ja in solchen Häusern leicht weiter! Ich habe gesagt, Du würdest heute abend noch einmal vorsprechen.“

„Wenn nur das Kind durchkommt!“

„Es wäre besser, der Knabe folgte der Mutter ins Grab.“

„Denkst Du das wirklich, Vater? Es ist ein gesundes Kind, wer weiß, welche Zukunft in einem solchen Wesen steckt!“

„Ja, welche Zukunft!“ wiederholte er. „In dieser Umgebung, ohne Mutter – der Vater immer auswärts bei der Arbeit ... ein zukünftiger ‚Proletarier‘, weiter nichts! Einer von denen, die das ganze Haus umreißen wollen, weil ihnen gerade das Zimmer, in dem sie leben müssen, nicht groß genug ist.“

Edda antwortete nicht, sondern deutete schweigend auf den Theetisch. Stumm verzehrten beide das einfache Abendbrot, jedes mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Vater und Tochter lebten ganz ohne Dienstboten, eine Aufwartefrau besorgte die gröberen häuslichen Arbeiten in der bescheidenen Wohnung. Es war ein schweigendes Uebereinkommen zwischen ihnen, keinen fremden Menschen dauernd um sich zu dulden.

Nach kurzer Zeit erhob sich Edda, nahm Hut und Mantel und verließ ohne ein Wort das Zimmer. Ein warmer Blick ihres Vaters folgte ihr; er wußte, wohin ihr Weg sie führte.

Edda schritt draußen hastig vorwärts durch die engen Straßen, vorbei an den hochragenden schwärzlichen Häusern dieses Teils von Berlin; aus den Kellerwohnungen stieg der Brodem überheizter, mit Menschen überfüllter Kneipen durch die geöffneten Fenster zum Trottoir herauf. Gemeine Flüche, Johlen, hier und da das Kreischen von Weiberstimmen. Edda hüllte sich fester in ihren Mantel und einem Betrunkenen ausweichend, eilte sie schneller dahin. In einem hochgiebeligen alten Hause stieg sie drei steile enge Treppen hinauf; ein kurzes Pochen, und sie betrat ein kleines armseliges Dachstübchen. Mit höflichem Gruß kam ihr ein junger Mann entgegen, sie reichte ihm die schmale Rechte, die er vorsichtig, zaghaft in seine schwielige Faust nahm. Es war ein hübscher Bursche von einigen zwanzig Jahren. Auf seinem offenen Gesicht lagen Trauer und Angst.

„Sie hält’s nicht lange mehr aus,“ sagte er leise und führte den Besuch zu einem Nebenraum.

Ein einziges Bett; trotz des kleinen Ofens eine eisige Kälte, die sich unablässig durch die Fugen der dünnen Bretter unter den Dachziegeln hindurchdrängte.

Edda beugte sich beobachtend über das junge Weib, das die Augen aufschlug beim Schein der von ihrem Mann über sie gehaltenen Lampe – zwei große fieberbrennende Augen, die irr, verständnislos in den Lichtschein starrten. Plötzlich flackerte ein Strahl des Bewußtseins über das blasse hübsche Gesicht, über die todesmatten Züge, ein unsagbar rührender Zug von Dankbarkeit. Sie tastete mit heißen zitternden Fingern nach Eddas Hand und bewegte die Lippen, ohne einen Ton herauszubringen.

„Das Kind!“ sagte Edda zu dem mit gesenkten Kopf neben ihr stehenden Mann.

Behutsam beugte sich dieser zu einem Häufliein Kissen in der Nähe des Ofens hinab und legte dann das [1]winzige Wesen in Eddas Arme. Ein himmlischer Glanz der Mutterfreude huschte über der Sterbenden Antlitz, als Edda das schlafende Geschöpf ihr entgegenhielt.

„Mein Kind!“ stammelte sie fast unhörbar; dann streckte sie sich langsam aus, mit röchelndem Atem. Aber die Augen mit dem überirdischen Blick ließen nicht von dem Kinde.

„Ist es zu Ende?“ fragte der Mann.

„Bald, Lahrsen.“

Er beugte sich über die Sterbende, schwere Thränen rollten über seine Wangen hinab, während die Augen seiner Frau eine verzweiflungsvolle stumme Sprache redeten. Ein letztes Atemholen, ein krampfhaftes Zittern der Kranken. Langsam legte Edda die Hand auf die Augen der Toten und bettete dann das leise wimmernde Kind wieder auf sein armseliges Lager.

Den Kopf auf das Fußende des Bettes gelehnt, stöhnte der Mann wild auf. Eine Weile ließ sie ihn gewähren, auch in ihren Augen hingen Thränen, der sonst so strenge Ernst ihrer Züge war von einem tiefen Mitleid gemildert. Dann klopfte sie dem Fassungslosen leise auf die Schulter.

„Stehen Sie auf, Lahrsen – fassen Sie Mut! Ich werde morgen früh wiederkommen und nach dem Kind sehen, ich kenne eine ordentliche Frau, die es gegen Kostgeld annimmt. Hat der Kleine getrunken?“

„Ja, vor einer Stunde habe ich ihm Milch gegeben,“ antwortete er, drückte die Mütze auf den Kopf und ging mit Edda zur Thür hinaus. „Der Junge wird sich doch nicht fürchten?“ sagte er.

Edda lächelte schwermütig. „Das lernt er erst später! Aber ich kann allein nach Hause gehen.“

„Nein, das geht nicht bei den vielen wüsten Gesellen auf der Straße, ich ließ die Lise um diese Zeit auch nie allein ausgehen. Die Lise! O Gott! Ist’s moglich? Sie ist tot?“ Und aufs neue fing er an zu stöhnen und zu schluchzen.

Edda ließ ihn gewähren, beschleunigte aber ihren Schritt, um ihren Begleiter rasch wieder nach Hause schicken zu können. Nach etwa zehn Minuten hatte sie ihre Wohnung erreicht. „Da sind wir ja schon, Lahrsen! Schönen Dank, und kommen Sie morgen mittag nach der Arbeit zu meinem Vater; dann wollen wir sehen, was sich weiter thun läßt. Kopf hoch, Mann! Einer, der das Jahr siebzig mitgemacht hat, läßt sich nicht gleich unterkriegen. Bleiben Sie brav, das ist die Hauptsache – und nicht übers Jahr wieder eine neue Liebschaft!“

„Ich werd’ mich hüten! Wenn Sie sich man nicht erkältet haben bei dem Ostwind, Fräulein! Und dann danke ich recht schön! Es war gut, daß Sie noch einmal gekommen sind, wenn Sie auch nicht mehr helfen konnten. Ihnen muß es noch einmal gut gehen im Leben, und wegen des Geldes – ich habe jetzt viel in der Apotheke zu bezahlen gehabt. Ich weiß ja, Ihr Vater will nichts davon hören, aber Sie müssen doch auch leben.“

„Bezahlen Sie, wenn es paßt; jedesmal, wenn der Lohn kommt, eine Kleinigkeit.“

„Schön, wenn Sie erlauben.“

Er zog ehrerbietig die Mütze und blieb an der Thüre stehen, bis sie aufgeschlossen hatte und verschwunden war.

Eddas Vater war noch nicht zur Ruhe gegangen und schaute sie erwartungsvoll an, als sie eintrat.

„Es ist vorbei?“ fragte er mit einem traurigen Blick.

Edda nickte leise mit dem Kopfe, sie sah müde und abgespannt aus, als sie jetzt dem Vater die Hand reichte. Er kannte diese Art, wenn sie nicht sprechen wollte oder konnte, und ohne weiter mit Erkundigungen in sie zu dringen, sagte er ihr Gute Nacht.

Langsam streifte Edda in ihrem Schlafgemach die Überkleider ab, ließ sich müde auf einen Stuhl nieder und löste mit kurzem Griff die schweren Flechten. Bis zu den Knien hinab rollte die Pracht des schwarzen Haares, ein Erbteil ihrer Mutter, einer Russin. Unthätig saß sie da, düsteren Blicks in das leise auf und nieder flackernde Licht auf dem Tische starrend. Sie konnte jene brechenden Totenaugen nicht vergessen, nicht jenen Ausdruck, mit dem die Sterbende das Kind noch angesehen, dessen Dasein sie mit dem eigenen Leben erkaufte. Edda mußte der eigenen Mutter gedenken, die auch so früh gestorben war und sie als ebenso kleinen hilflosen Säugling zurückgelassen hatte. Der Vater hatte dann ausschließlich die Erziehung der Tochter geleitet und sie in allem gehalten, als ob sie ein Sohn wäre. Er lebte einsam, der Welt [520] fern, nur seinen Studien und seinem Beruf, und so wuchs ihm in der Tochter ein Freund, ein Kamerad, ein Assistent heran; sie ward groß unter all dem Elend, in dessen Nähe des Vaters Beruf sie brachte, unter all den idealen Anschauungen dieses Armendoktors, der zu sagen pflegte: „Ich kann keiner eingebildeten Kranken den Puls fühlen und ein Rezept schreiben, meine Kunst steht mir zu hoch, als daß ich mich eines Hustens wegen rufen und gut bezahlen ließe!“ Gleich seinen Kranken sah die Tochter zu ihm auf wie zu einem höheren Wesen, denn überall brach durch die oft rauhe Außenseite das innere warme Feuer der Menschenliebe hindurch, alle anderen Rücksichten verzehrend. So hatte Edda gelernt, in das Leben zu blicken, war bekannt geworden mit den Untiefen der Menschenseele, mit Elend und Jammer und hatte sich doch den vollen Ausblick bewahrt auf das höchste Ziel alles menschlichen Strebens.

In Eddas Zimmer befand sich kein Schmuckgegenstand, nichts von den anmutigen Kleinigkeiten, mit denen andere Mädchen ihre Umgebung auszuschmücken pflegen. Nur ihr gegenüber an der Wand standen auf Konsolen zwei herrliche Marmorbüsten des Zeus und der Juno, ein Geschenk ihres Vaters, das er ihr, die für die alte griechische Welt schwärmte, von dem Honorar für eines seiner medizinischen Werke gekauft hatte. Wie an jedem Abend ruhten jetzt ihre Augen sinnend auf den beiden Marmorbildern. Der weltentlegene Ernst des Zeuskopfes fesselte sie, sie starrte und starrte hinüber, bis die Umrisse der Züge sich ihr verwirrten, es war ihr, als zöge in den starren Marmor warmes Leben, als modle eine innere Kraft an diesen steinernen Formen, und lebendig erschien plötzlich vor ihrer Phantasie das Antlitz Hermanns von Weßnitz. Langsam strich sie mit der Rechten über die Stirn, um das Bild zu verwischen, aber sie konnte die Vorstellung nicht loswerden.

„Zu dumm!“ sagte sie mit einem halben Lachen, „daß ich gerade an ihn denken muß, aber er hat wirklich eine Aehnlichkeit in den Linien von Nase und Stirn.“

Dann fiel ihr Lore ein und deren Bitte, in jener Gesellschaft, in der getanzt werden sollte, und also in einer von diesen lächerlichen ungesunden Toiletten zu erscheinen. Sie lachte jetzt wirklich laut auf, und doch flog ihr der Gedanke durch den Kopf: wie würde ich aussehen? Der Wunsch stieg in ihr auf, sich einmal mit anderen in Vergleich zu stellen und den Eindruck, den sie machte, zu beobachten. Die Männer, mit denen sie bisher verkehrte, hatten nie gezeigt, daß sie in ihr die Frau sahen; sie war ihnen immer nur die Aerztin gewesen, und sie hatte selbst auch nie etwas anderes sein wollen. Nun überkam sie auf einmal ein ganz fremdes Gefühl, die Frage stieg in ihr empor: wie sehe ich aus?

Sie richtete sich auf, widerstrebend wie ein Mensch, der unter dem Bann einer ihm selbst unbekannten rätselhaften Macht steht. Sich vorbeugend, starrte sie in den Spiegel auf ihr eigenes Gesicht, mit den Augen jede Linie, jede Form musternd, bis es ihr vor den Augen zu flimmern begann. Sie schauderte zusammen. Eine unbestimmte Furcht vor etwas Fremdem, Neuem, Unheimlichem, das ihrer Seele die Ruhe rauben würde, durchzuckte sie. Nein, nein, nicht weiter so denken! Rasch löschte sie das Licht. Nur nicht mehr sehen!

Sie ging zu Bett, aber schlaflos wälzte sie sich in den Kissen. Im Schubfach des Betttisches stand eine Schachtel mit Schlafpulvern, die sie zuweilen benutzte, wenn die überreizten Nerven nicht zur Ruhe kommen wollten. Sie nahm die doppelte Dosis, nur um sicher Schlaf zu finden, und bald legte es sich wie Blei auf ihre Augenlider. In wirren Träumen verbrachte sie die Nacht.

*  *  *

Bruno von Weßnitz verlebte die unangenehme Viertelstunde, die für den Hausherrn dem Beginn einer großen Gesellschaft im eigenen Hause vorauszugehen pflegt. Er wußte nicht, was er thun sollte. Es war alles fertig; sogar die Stühle im Salon, welche die Dienerschaft in altfränkischem Ordnungstrieb gleichmäßig um einen Tisch gestellt hatte, waren von ihm in geschmackvolle Unordnung gebracht worden. Er wünschte endlich die Gäste herbei. Den ganzen Tag hatte man Möbel und Teppiche hin und hergetragen; Lore war beim Mittagessen nicht einmal in Toilette, sondern noch im Morgenanzug erschienen. Er selbst hatte wacker mitgeholfen und that sich etwas zu gute auf die Errichtung eines kleinen Wintergartens im Boudoir seiner Frau. Jetzt saß er in seinem Zimmer zwischen den programmmäßig aufgestellten Spieltischen für ältere Herren und rauchte eine Cigarette. Die Fenster waren geöffnet, weil der Diener das Zimmer überheizt hatte.

Selbst in diesem Augenblick schlechter Stimmung und des Alleinseins lehnte der Hausherr in eleganter Stellung im Stuhl. „Man könnte ihn jede Sekunde photographieren,“ hatte Edda Helm einmal von ihm gesagt, in ihrer kurzen Art, ihr Urteil auszusprechen. Brunos Augen ruhten auf einem Spiel französischer Karten, aus dessen Umhüllung das Herz–As hervorleuchtete. Je länger er hinsah, desto unangenehmer wurde ihm der Anblick. Er drehte rasch das Spiel um und deckte ein anderes darauf. Wieder das Herz–As oben! Lächerlich! Er hatte heute nachmittag einen Ueberschlag über Einnahmen und Ausgaben zu machen versucht und war zu einem sehr unbehaglichen Ergebnis gekommen. Zu dumm – hier im „philisterhaften“ Berlin wollten ihm die Karten nicht mehr wohl. Es wurde vorsichtiger gespielt als in den Pariser Klubs und es gab immer Leute, die vernünftig waren und ein Ende finden konnten, selbst wenn sie verloren hatten.

Er war kein Spieler aus Leidenschaft. Zuerst hatte er sich in Paris gelegentlich zu einer Partie Makao bereden lassen, weil er aus gesellschaftlichen Rücksichten nicht gut ausweichen konnte. Die Karten waren ihm mit erstaunlicher Beharrlichkeit hold gewesen, und so wiederholte er das Spiel öfter und öfter. Bald verlor er wie alle Spieler die Achtung vor dem Wert des Geldes, seine Ansprüche und Ausgaben wuchsen. Er spielte und spielte, verlor, gewann aber immer wieder mehr und hielt sich auf der Höhe. Nicht als nervenerregende Unterhaltung betrachtete er das „Hazard“, es war ihm geradezu zum Geschäft geworden, mit dem er seine Einnahmen regelte. Hatte er einen glücklichen Tag gehabt, so vergaß er oft wochenlang dies Laster, um dann durch einige hohe Rechnungen wieder daran erinnert zu werden. Aber solche Ruhepausen waren in letzter Zeit immer seltener geworden. Lore war als Hausfrau unpraktisch, weil er mit seiner leichtsinnigen Freigebigkeit und Sorglosigkeit sie nie gezwungen hatte, sich an eine fest bemessene Einnahme zu halten, und der Haushalt kostete viel, da Bruno nicht den Stolz besaß, auch verwöhnte Gäste einfach bei sich zu empfangen. Mühsam bestritt er eine Ausgabe nach der anderen, und nur sein beispielloser Leichtsinn ließ ihn die volle Heiterkeit seines Wesens bewahren, wenn auch hier und da, wie eben jetzt, allerlei beklemmende Gedanken in ihm aufstiegen. Dieses dumme Herz–As! Gerade diese Karte hatte ihn gestern eine bedeutende Summe gekostet. Er hatte das Gefühl, als lächle dies große rote Auge schadenfroh zu ihm herüber.

Da kam etwas ins Zimmer gerauscht – ein Lachen, ausgelassen, kindisch, toll, ertönte hinter ihm, und Lore in voller Toilette warf sich wie ein übermütiges Kind in einen Sessel und lachte, lachte immerfort. Etwas übellaunig wollte er fragen, was ihr einfiele, aber ihr Lachen war so herzerfrischend, ansteckend, daß er selbst nicht widerstehen konnte und in heller Freude den hübschen Anblick seiner Frau genoß.

„Wie reizend Du aussiehst, Lore!“ sagte er, einen Kuß auf ihre Lippen drückend. „Was ist denn vorgefallen, daß Du so aus dem Häuschen bist?“

Endlich faßte sie sich so weit, daß es ihr gelang, zu antworten: „Ich sterbe, sterbe wirklich vor Lachen. Seit einer Stunde bemühe ich mich mit Hilfe meiner Zofe, Edda ballmäßig vorzubereiten. Wir mußten sie wie ein Kind anziehen. Schließlich war alles fertig, aber wie ich sie siegesfreudig vor meinen Spiegel stelle, wird sie so rot wie eine Pfingstrose und weigert sich, dekolletiert in Gesellschaft zu erscheinen. Denke Dir diesen Ausbund von Prüderie! Uebrigens sieht sie reizend aus. Sie sitzt wütend in meinem Zimmer auf einem Stuhl und verlangt, daß ich ihr aus ihrer Toilette, die im Rücken zugeschnürt ist, wieder heraushelfe. Dazu hat sie Thränen in den Augen. Ich bin ratlos, sie wird geschwollene Augenlider und eine rote Nase bekommen und meine ganze, lange vorbereitete Wirkung geht verloren. Du mußt mir helfen, Bruno!“

Und Lore warf sich wieder zurück und lachte weiter. „Ist es nicht wirklich komisch? Ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren, Doktorin und dabei so zimperlich! Das ist wert, zu einem Lustspiel verarbeitet zu werden.“

„Ich will Dir helfen, Lore! Wir gehen zusammen zu ihr – sie wird schon Vernunft annehmen.“

„Gut, gut, komm!“

Sie eilte ihm voraus, riß die Thür ihres Garderobezimmers [522] auf und meldete mit lauter Stimme: „Mein Eheherr Bruno von Weßnitz!“

Mitten im Zimmer stand Edda, hochaufgerichtet, mit herabhängenden Armen und zitternder Unterlippe, zwischen den Augenbrauen eine tiefe Falte.

„Sieht sie nicht herrlich aus?“ rief Lore.

Bruno war erstaunt über Eddas eigenartige Erscheinung; er reichte ihr rasch den Arm. „Wollen Sie mir das Vergnügen machen, sich von mir hinunterführen zu lassen?“

Sie verharrte regungslos. Energisch hob er ihre linke Hand auf seinen Arm und führte sie hinaus. Wie mattes Elfenbein ruhte ihr fast zu zarter Arm auf dem schwarzen Tuch seines Frackes.

Gleichzeitig mit ihnen langten die ersten Gäste in den Gesellschaftszimmern an. Prinz Sissi, heiter, strahlend, eilte allen voran. Er hatte einen herrlichen Strauß weißen Flieders in der Hand, den er der Dame des Hauses überreichte. „Ich bin ungeheuer vergnügt,“ meinte er nach der ersten Begrüßung, „denken Sie sich, ich habe etwas gearbeitet, bin unter die Journalisten gegangen – Teufel, wer ist das dort?“ rief er und deutete mit den Blicken zu Edda hinüber, die etwas weiter zurück neben ihrem inzwischen ebenfalls eingetroffenen Vater stand. „Wahrhaftig, die kalte Doktorin! Superb!“

„Sie haben Geschmack,“ sagte Lore, mit dem linken Fuß ihre Schleppe langsam zurückschiebend.

Prinz Sissi klemmte das Monocle fest ins rechte Auge, musternd flog sein Blick über die Gestalt des Mädchens. Die ganze Figur fast eckig wie die eines sechzehnjährigen Kindes, aber dennoch graziös, fein, ebenmäßig! Darüber das ernste Haupt mit dem matten Teint, zu dem der leuchtende dunkelrote Atlas vortrefflich stand, die geschwungenen leicht geöffneten Lippen, die großen in tiefen Augenhöhlen ruhenden Augen, die ein wenig zaghaft aus dem klugen Gesicht hervorschauten, weil sie die Aufmerksamkeit des Prinzen auf sich gerichtet fühlten – sie war in der That eine Erscheinung von eigenartigem Reiz.

Eine Zeitlang fühlte sich Edda wirklich verlegen, dann aber ein Ruck, als zöge die wuchtige Fülle ihrer Haare den Kopf plötzlich in den Nacken, die Falte zwischen den geradlinigen Augenbrauen vertiefte sich, und sie schaute unnahbar, eisig dem Prinzen ins Auge.

„Nun, Prinz, so ganz aus der Fassnüg?“ lachte Lore etwas gezwungen auf. „Was sagen Sie zu meiner Toilettenkunst?“

„Ausgezeichnet wie immer!“ meinte er, zerstreut seine Augen auf Lores Gestalt richtend.

„O nicht doch, Prinz! Ich spreche nicht von mir, Sie wissen das ganz genau, ich meine mein Verdienst an Edda Helms Erscheinung.“

Er betrachtete eine Weile sinnend den linken Handschuh und das seidene Futter seines Klapphutes, dann, langsam aufblickend und mit einem schwer zu beschreibenden Ausdruck in den Zügen, sagte er: „Man könnte sich fürchten. Da ist vulkanisches Feuer unter der Asche.“

„Gehen Sie, Prinz – Sie wollen geistreich sein!“

Er schüttelte den Kopf. „Darf ich Sie zu Tisch führen, gnädige Frau?“

„Nein, heute nicht – mein Schwager wird mich zu Tisch führen. Aber holen Sie sich Fräulein Helm, ich möchte die vulkanische Glut einmal leuchten sehen. Wir setzen uns zusammen.“

Sie hatte Hermanns Erscheinen bemerkt und wandte sich ihm entgegen.

„Wie Sie befehlen,“ erwiderte Prinz Sissi zurücktretend. „Aber Sie haben die Verantwortung zu tragen.“

Noch zwei andere Augen hatten Hermanns hohe mächtige Gestalt im Thürrahmen erspäht. Edda hatte das Gefühl, als müßte sie in den Boden sinken. Er wird mich abscheulich, widerwärtig finden, flog es ihr durch den Sinn. Zerstreut und ungeschickt erwiderte sie die Grüße der ihr vorgestellten Herren.

„Kann ich die Ehre haben, Sie zu Tisch zu führen?“ ertönte plötzlich Prinz Sissis Stimme neben ihr, während er sich in seiner nachlässigen und trotzdem verbindlichen Weise verbeugte. Edda blickte ihn stumm an, als fehlte ihr das Verständnis für seine Worte. Dann plötzlich kam sie zum Bewußtsein. „Ja, ja,“ erwiderte sie hastig.

Da dem Prinzen durchaus nichts Besseres einfallen wollte, fragte er sie, während seine Augen sie ungeniert musterten. „Ist dies wirklich die erste Gesellschaft, welche Sie besuchen?“

Edda hätte ihn ohrfeigen können. „Ja, meine erste und letzte!“

Langsam breitete sie den großen Fächer aus, so daß er darüber hinweg nur ihre dunklen blitzenden Augen sehen konnte.

„Ich werde in vier Stunden noch einmal dieselbe Antwort von Ihnen erbitten.“

Was wollte er damit sagen? – „Mit Vergnügen, Durchlaucht, wenn Ihr Gedächtnis dies erfordert.“

Der Russe lächelte, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben etwas fassungslos, weil ihn eine Dame schlecht behandelte. Und doch reizte ihn das Zurückstoßende in ihrem Wesen, schon weil es ihm fremd war. Er war um eine Antwort verlegen und dem Lieutenant von Weßnitz sehr dankbar, als dieser jetzt nähertrat.

Hermann reichte Edda einfach die Hand. Sie atmete erleichtert auf. Da war wenigstens ein ruhiges festes Gesicht, kein konventionelles Lächeln und keine musternden Blicke. Unbewußt nahmen Eddas Züge einen freundlicheren Ausdruck an.

„Sie sahen aus, als bereuten Sie Ihre Zusage für den heutigen Abend, Fräulein Helm,“ sagte Hermann, dicht neben sie tretend.

„Nicht so ganz – es hat wenigstens den Reiz der Neuheit für mich. Doch kann ich nicht leugnen, wäre ich im Besitz einer Wünschelrute, deren Kraft mich unverzüglich in unsere Wohnstube befördern könnte, in die Gesellschaft eines guten Buches, so würde ich nicht zögern, den Zauber anzuwenden. Aber das geht nun nicht, also vorwärts!“

„Sie können in einer Gesellschaft keine lehrreichen Gespräche verlangen. Ich habe übrigens in den Heften gelesen, die Sie mir neulich geliehen haben.“

„Nun?“

„Mir fehlt der Glaube.“

„Weshalb?“

„Das läßt sich nicht so einfach sagen, besonders nicht in der Unruhe einer Gesellschaft, die sich erst entwickelt. Wir können das später bei Tisch in Ruhe besprechen; ich habe meine Schwägerin als Tischnachbarin, und wie sie mir mitgeteilt hat, werden Sie neben uns sitzen. Wollen Sie etwas Interessantes sehen? Dort am Thürpfosten der Herr mit dem etwas wirren grauen Haar, fast häßlich, und doch ein anziehender Kopf. Welche Augen! Ein Blick, als mache er sich über das ganze Getreibe hier lustig. Man wünscht fast, von diesen Augen nicht bemerkt zu werden.“

Sie folgte aufmerksam der Richtung seiner Blicke. „Jener alte Herr dort?“

„Ja; jetzt spricht Lore mit ihm. Wer mag das sein?“

„Es ist mein Vater.“

Hermann drehte sich rasch zu ihr um. „Verzeihung! Das ahnte ich nicht. Entschuldigen Sie meine Offenheit.“

Edda lachte vergnügt auf. „Weshalb entschuldigen? Sie haben meinen Vater gut gezeichnet. Es würde mich verletzt haben, wenn Sie seinen Kopf nur eben schön gefunden hätten.“

„Ich werde mich sofort mit ihm bekannt machen lassen.“

Eilig drängte er sich durch die Gäste nach dem Standort des Doktors. Eddas Augen folgten ihm. Er hat Geist, weiß zu sehen, zu beobachten und findet das Interessante richtig heraus, dachte sie. Jetzt schüttelten sich die beiden die Hände. Edda setzte sich in eine stillere Ecke des Zimmers; sie fühlte sich nun ganz ruhig, im Besitz der vollen Unbefangenheit und fähig, prüfend um sich zu blicken. Wozu nur das Getriebe, wozu dieser Aufwand von eleganten Toiletten und Lackstiefeln? Nur um zu sehen und gesehen zu werden? Was wollten alle diese Menschen hier zusammen? Zu welchem Zwecke opferten sie ihre Nachtruhe? Nur um nichtssagende Gespräche zu führen oder ihre Reize zu zeigen? – –

„Gestatten Sie, Herr Doktor, mich selbst vorzustellen – Lieutenant von Weßnitz. Ich freue mich sehr über Ihr Erscheinen, um so mehr, da ich weiß, welches Opfer Sie damit den Wünschen meiner Schwägerin gebracht haben,“ redete Hermann den alten Herrn, der jetzt allein stand, zuvorkommend an.

„Hätte ich selbst nicht gewollt, würde ich doch kaum den Bitten dieser reizenden Frau widerstanden haben. Aber es ist für mich eine Freude, nun auch den ältesten Sohn meines lieben Jugendfreundes kennenzulernen. Ihr jüngerer Brnder ähnelt dem Vater mehr; der war auch ein so lieber lustiger Kerl! Wie geht es Ihrem Vater?“

„Er ist sehr gealtert in letzter Zeit.“

„So, so. Ja, die Jahre! Uebrigens – mich ergötzt wirklich diese Umgebung. Wie viele Stunden habe ich als Student [523] fröhlich in solcher Gesellschaft verlebt, allerdings in Kreisen mit etwas einfacheren Namen. Aber es war im Grunde ganz dasselbe; die Herren meist fade und süßlich gegen das schwache Geschlecht, hier und da auch ein ernstes Männergesicht, das zu dem Spiel gute Miene machte. Und die Frauen – nun, das wird durch keine Entwicklung der Weltgeschichte und auch durch keine ‚Emanzipation‘ anders gemacht – sie bringen ihre Schönheit noch immer gern zur Geltung, selbst die, die nicht allzuviel davon aufzuweisen haben.“

„Für viele ist es ja auch das Wertvollste, das sie besitzen,“ meinte Hermann, durch den sarkastischen Freimut des alten Herrn angenehm berührt.

„So, so; Sie sind also auch so einer?“

„Was für einer?“

„Nun, einer, der denkt, wenn er um sich blickt.“

„Ist das ein Vorzug einzelner, nicht vielmehr ein Vorrecht aller?“

„Das Sehen – ja! Aber das Denken? Ich möchte meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, selbst wenn ich dadurch von diesen verteufelten Handschuhen befreit würde. Bei den Leuten, die sich Tag für Tag in dieses Karnevalskostüm stecken, ist das Denken auch kaum möglich.“

„Sie mögen für viele recht haben, Herr Doktor,“ sagte Hermann, während seine Blicke nachdenklich über die Köpfe der Anwesenden hinwegschweiften und schließlich an Eddas Gestalt hängen blieben. Dasselbe ruhige Gesicht wie der Vater, dachte er unwillkürlich, nur hübscher, weit hübscher!

„Sieht Ihre Schwägerin nicht reizend aus, Herr von Weßnitz? Eine Perle Ihres Geschlechts, anmutig, liebenswürdig, und dabei klug genug, um selbst mich alten Kerl zu begeistern!“

„Sie lernten sich zufällig in Helgoland kennen?“

Der Alte nickte. „Ja. Und das Seltsamste ist, daß sie mit meiner Tochter Freundschaft geschlossen hat. Uebrigens, wissen Sie was, mein junger Freund? Kommen Sie doch einmal abends zu mir! Ich liebe die Leute, mit denen sich ein ernstes Gespräch führen läßt.“

„Gerne werde ich mich einstellen. Vielleicht schon in den nächsten Tagen,“ erwiderte Hermann, offenbar erfreut.

In der Gesellschaft entstand eine unruhige Bewegung. Die Herren wandten und reckten die wohlfrisierten Häupter, um die Damen zu finden, die sie zu Tisch führen sollten, und drängten sich wie ein Bienenschwarm durcheinander.

„Entschuldigen Sie, Herr Doktor, aber die Pflicht ruft mich zu meiner Schwägerin und zu Ihrem Fräulein Tochter.“

„So? Bitte sehr! Grüßen Sie beide von mir! Die Edda sieht aus wie ein Vogel ohne Schwingen.“

[533] Man begab sich in den Speisesaal, wo an kleinen Tischen gedeckt war.

„Ich bitte, Platz zu nehmen,“ sagte Lore lachend, zu dem Prinzen und Edda gewendet, die mit ihr und Hermann zu einem der Tischchen getreten waren.

„Ich wette, wir bilden die seltsamste Gesellschaft des heutigen Tages: ein russischer Prinz, eine approbierte Doktorin in Balltoilette, ein Gardelieutenant ohne Monocle und zuletzt, nun – der Rest einer jungen Frau.“

„Aber ein beau reste,“ meinte Prinz Sissi schlagfertig.

Eine allgemeine Unterhaltung wollte nicht recht in Gang kommen; der Russe begnügte sich mit einigen spöttischen Bemerkungen und Hermann führte über den Tisch hinüber mit Edda ein angeregtes Gespräch, das die andern nicht interessierte – über die Emanzipation der Frauen. Dabei ließ er keinen Blick von seinem Gegenüber. Lore wurde ungeduldig, je mehr ihr Schwager sich Edda zuwandte. Nervös spielten ihre Finger mit einer Messerbank, während sie die feine Unterlippe zwischen die Zähne klemmte und sich zerstreut im Zimmer umblickte, als wollte sie sich von dem Wohlbefinden ihrer Gäste überzeugen. Sie kannte sich selbst nicht mehr. Sie fühlte sich unzufrieden, ein Gefühl des Verlassenseins kam über sie.

Dort saß ihr Mann neben einer jungen Witwe, einer etwas exotischen Schönheit mit einem Paar dunkler mandelförmiger Augen. Jetzt hob Bruno das Glas und berührte damit leicht das seiner Nachbarin, während er ihr einige Worte zuraunte, vor denen sie mit lachenden Lippen sich in den Schutz eines riesigen Fächers von Straußenfedern zurückzog.

Lore zuckte zusammen. Sie kannte diesen Ausdruck in seinem hübschen leichtsinnigen Gesicht, in seinen dunklen Augen. Wie oft hatte sie an seiner Brust gehangen und glücklich zu ihm aufgeschaut, weil sie glaubte, er könne niemand sonst in der Welt so ansehen! Es rieselte ihr kalt durch die Adern, langsam, schmerzhaft. Sie hatte das Gefühl, als müßte sie nach Hermanns breiter kräftiger [534] Hand greifen, die neben ihr auf dem Tischtuch lag, und ihn anflehen: hilf mir, du, der so stark ist, so klar und fest! Ohne es zu wollen, legte sie ihre Hand dicht neben die seinige, welche er, der Berührung ausweichend, mechanisch langsam herabgleiten ließ, unwillkürlich einer gesellschaftlichen Form genügend und ohne den Blick ihr zuzuwenden.

Ein Diener fragte, ob jetzt Champagner gereicht werden solle.

„Ja, ja, schnell! Hier zuerst!“ befahl sie rasch, froh, etwas sagen zu können.

Da blickte sie in Prinz Sissis Augen, in diese seltsam geformten slavischen Augen, darin glomm etwas, verstohlen, brennend heiß. Es war ein fast unterthäniges Aufschauen, ein vollständiges Aufgehen in ihrem Anblick. Dieser wenigstens gehört mir mit Leib und Seele! zuckte es ihr durch den Sinn. Der Ring an ihrer Rechten klirrte zitternd gegen das Glas, das sie ihm entgegenhob. „Sie träumen, Prinz! Macht das die deutsche Luft?“

Er fuhr zusammen, hob aber dann rasch sein Glas, mit den Augen die ihrigen nicht loslassend. So hatte ihn Lore von Weßnitz noch nie angesehen!

Um sich zu sammeln, blickte er Edda Helm von der Seite an. Sie lehnte ruhig auf ihrem Sitz, das scharf gezeichnete Profil Herrn von Weßnitz zugewandt, und horchte aufmerksam auf dessen Worte. Wie ruhig, wie so ganz ohne leidenschaftliche Regung ihm dies Antlitz erschien! Er fühlte plötzlich etwas wie das Sehnen nach einem unbekannten herrlichen Lande, das noch keines Menschen Fuß betreten. Diese würde dich retten, nicht Lore und nicht all die andern! rief ihm eine innere Stimme zu.

„Woran denken Sie, Prinz?“ fragte Lore, sich hoch aufrichtend, mit einem nervösen Zittern um den kleinen Mund. „Sind Sie mit der Erfindung eines neuen Frackmodells beschäftigt?“

Ohne auf Lores Neckerei einzugehen, sagte er ernst: „Ich habe gedacht, gnädige Frau, daß wir Gesellschaftsmenschen doch eigentlich Sklaven des Lebens sind, daß wir niemals in uns selbst frei bleiben können. Und jedes kämpft trotzdem sein Leben durch mit dem Anspruch auf freien Willen, der sich gegen den Zwang aufbäumt. Ich habe den Kampf aufgegeben, aber ich beneide jene anderen, die sich ihre Freiheit bewahren wollen.“

In seinem Gesicht lag ein scharf ausgeprägter Zug von schmerzlicher Ergebung, aber nur eine Sekunde lang. Ohne ihre Entgegnung abzuwarten, plauderte er plötzlich lustig drauf los, erzählte einige boshafte Geschichten aus Paris, wie sie Lore sonst nie hatte leiden mögen, und war erstaunt, daß sie aus vollem Herzen darüber lachte.

„Und ich behaupte dennoch,“ erhob Hermann im Eifer seines Gesprächs mit Edda die Stimme lauter, „daß eine Frau, die sich einem männlichen Beruf, besonders dem Studium der Medizin widmet, Gefahr läuft, etwas zu verlieren, was eine Göttin den meisten Frauen in die Wiege legt.“

„Und das wäre?“ fragte Edda ruhig.

Er sah ihr scharf in die Augen und besann sich eine Sekunde. „Die unbewußte Anmut. Ich darf diese Ansicht offen aussprechen einer Dame gegenüber, die eine Ausnahme von der Regel bildet.“

„Kinder, seid nicht so gelehrt!“ rief Lore, während Edda ihr für die Unterbrechung einen dankbaren Blick zuwarf. „Es ist wirklich unerhört – da stehen die beiden Champagnergläser noch unberührt, dagegen muß ich als Wirtin protestieren! Auf gute Freundschaft!“

Edda trank haftig, noch mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

Irgend jemand hielt jetzt einen heiteren Trinkspruch; es antwortete ein anderer – man trank auf Lores Gesundheit, auch Doktor Helm winkte mit einem gefüllten Glas in der Hand herüber und jedesmal schlürfte seine Tochter den perlenden ihr ungewohnten Wein achtlos hinunter, sich an der Kühle labend, so daß Hermann ab und zu einen erstaunten Blick auf sie richtete.

Die Anwesenden bekamen allmählich etwas erhitzte Gesichter; hier und da hörte man ein helles lustiges Lachen. Es drängten sich Herren an den Tisch, um mit der Dame des Hauses anzustoßen; einer und der andere redete auch Edda an, angezogen von dem eigentümlichen Aeußeren des Mädchens, dem der Wein das Blut in schweren Wellen in die sonst bleichen Wangen trieb, ohne daß sie ahnte, wie leuchtend schön ihre Gesichtsfarbe in dieser stärkeren Färbung erschien. Man sagte ihr liebenswürdige Worte, sie raffte sich zu einigen witzigen Gegenbemerkungen auf, die etwas spöttisch ausfielen, aber doch die Aufmerksamkeit der Herren erregten. Ihr war, als sei sie nicht mehr dasselbe Menschenkind wie vordem, als sei in ihr ein Wesen erwacht, das sie bisher niemals gekannt hatte. Dazu dann die lustige Bewegung einer Gesellschaft nach aufgehobener Tafel, aus dem großen Nebenzimmer der lockende Klang eines Walzers. Sie fühlte, wie ihr Pulsschlag rasch und rascher flog. Der elegante Offizier, der eben mit ihr scherzte, war ihr nicht mehr ein gleichgültiger Mensch, sondern ein Mann mit einem kecken hübschen Gesicht, an dem sie Wohlgefallen fand.

Schließlich bot ihr Weßnitz den Arm; ganz ohne Verabredung hatten er und der Prinz die Damen getauscht. Auch Hermann sah jetzt anders aus und die Hand, die er Edda reichte, als er ihr „Gesegnete Mahlzeit“ wünschte, war heiß. Und dann ruhte ihr Arm auf dem seinigen und sie schritt neben ihm durch den Saal, mit einem Gefühl völliger Sicherheit. Frei blickte sie mit glänzenden Augen von der Seite zu ihm auf.

„Mir ist, als träumte ich,“ sagte sie leise, nachdem sie dem Gedränge der sich zum Tanz anschickenden Paare entronnen und in ein anstoßendes menschenleeres Zimmer gelangt waren. „Freilich, ich weiß genau, daß es der Einfluß des Weines ist, den ich nicht gewohnt bin, und morgen werde ich mit Kopfschmerz büßen müssen.“

Langsam ließ sich Edda auf einen Sessel nieder. Von draußen tönte, durch die Portieren gedämpft, die Musik zu ihnen herein. Hermann lehnte dicht neben Edda an einem Tisch. Sie hob den Blick voll zu ihm auf. Er fühlte, während sie einigemal tief atmete, dies kurze Anschauen wie eine Macht, gegen die er sich nicht wehren mochte.

„Wissen Sie, daß diese Balltoilette Sie außerordentlich gut kleidet, daß Sie ganz wundervoll aussehen?“ flüsterte er ihr zu, einer plötzlichen Regung gehorchend.

Sie schloß langsam die Augen, die langen Wimpern senkten sich dunkel, tief auf die Wangen, ein träumerisches Lächeln spielte um ihren Mund. Für Hermann war dies Gesicht unvergleichlich achön, wie es jetzt langsam, wie schlaftrunken auf die Lehne des Sessels zurücksank.

Eine ganze Weile blieb sie so. Hermann wurde unruhig. Was hatte sie? War sie ohnmächtig? Wußte sie von sich? Er faßte leise ihre Rechte; sie war kalt.

Mein Gott, wenn jemand sie so fand, hier mit ihm allein! Unwillkürlich beugte er sich dicht über ihr Gesicht und rief gedämpft ihren Namen, in der Verwirrung sogar den Vornamen.

„Edda!“

Diese halb geöffneten weichen Lippen, zwischen denen kaum sichtbar die weißen Zähne schimmerten! Wer diesen Mund küssen dürfte! schoß es ihm durch den Sinn. Ein scheuer Blick nach der Thür und er senkte seine Lippen auf die ihren. Kein Atemzug Eddas, keine Bewegung, daß sie empfand, was geschah.

Eine Sekunde seligen Vergessens, dann taumelte Hermann in die Höhe. Wie unritterlich, das zu thun, wie unüberlegt! Er stürzte hinaus, fand nach einigem Suchen Lore und flüsterte ihr einige Worte zu.

Diese blickte ihm eigentümlich prüfend in das erhitzte Gesicht. „O, das kommt schon vor, es wird nichts Schlimmes sein! Wo ist sie?“

Er deutete nach einer Thür. Als Lore eintrat, saß Edda aufrecht auf ihrem Stuhle, die Augen wie geistesabwesend starr vor sich hin gerichtet.

„Mir sagte soeben mein Schwager, Sie seien nicht wohl. Soll ich Ihren Vater holen, liebe Edda?“

„Nein, nein, bitte nicht! Das würde ihn beunruhigen! Nur Wasser!“ stammelte diese, sich mit beiden Händen an die Stirn fassend.

Eilig besorgte Lore das Gewünschte. Als schüttle ihre Glieder ein innerer Frost, so schauderte Edda zusammen.

„Kommen Sie, liebes Kind, hier nebenan ist mein Ankleidezimmer! Legen Sie sich dort auf das Ruhebett, ich werde in einer Viertelstunde wiederkommen.“

Wortlos, wie ein gehorsames Kind folgte Edda den Anordnungen der Freundin, die ihr das Zimmer öffnete und dann hinausging. Sie atmete auf und warf sich auf die Chaiselongue. Dieses gräßliche Kleid, die ungewohnte Umgebung, die Lichter, die Hitze und der Wein – das alles war schuld! Sie suchte sich darauf zu besinnen, was vorgegangen war. Hatte ihr nicht jemand gesagt, daß sie schön sei? O ja, sie erinnerte sich – sie hatte erwidern wollen, es sei ihr höchst gleichgültig. Ob sie aber wirklich diese Worte gesprochen hatte, wußte sie nicht mehr. Hernach war [535] es ihr gewesen, als senke sich eine rosig leuchtende Wolke auf sie herab – ein unendlich wohliges Gefühl, eine süße Mattigkeit; irgend etwas raubte ihr die Besinnung, den Atem, als sollte sie ersticken, und dann? Dann war sie aufgefahren, hatte sich allein im Zimmer gefunden, bis plötzlich Frau von Weßnitz vor ihr stand.

Es war ja am Ende nichts Außerordentliches dabei, ein kaltes Bad morgen früh würde ihre Nerven wieder in Ordnung bringen. Und dennoch überkam sie plötzlich ein Ekel vor sich selbst; es war ihr, als sei eine Veränderung mit ihr vorgegangen, als sei ihr ganzes Wesen von einer Leidenschaft erschüttert, die ihr fremd war und sie erschreckte. Und mit einmal blitzte der Gedanke in ihr auf: Hermann von Weßnitz war zuletzt bei dir! Er wird seine Schwägerin gerufen haben. Habe ich mich verraten? Hat er irgend etwas von dem bemerkt, was in mir vorging?

Sie sprang auf. O, sie wollte ihm zeigen, daß sie genau so war wie früher!

Rasch ordnete sie ihren Anzug mit Hilfe der herbeigerufenen Zofe. Ein Blick in den Spiegel. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, der Teint war grau. Sie kühlte die schmerzende Stirn mit einem angefeuchteten Tuch und verließ das Zimmer, einen herben leidenden Ausdruck in ihren Zügen.

An der Thür zum Tanzsaal blieb sie stehen. Dort wirbelten die Paare durcheinander in rauschendem Reigen. Man lachte, man plauderte, dazwischen Sporenklirren und Gläserklingen. Dort tanzte Lore mit Prinz Sissi; ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten, Leben und Lebensdrang sprach aus jeder ihrer Bewegungen, während ihr schöner Körper nach dem Klange der Musik sich wiegte. Hermann war nicht zu sehen.

Ein Narrenhaus! dachte Edda, und dennoch regte sich in ihr der Wunsch, auch so als „Närrin“ mitthun zu können, ohne Besinnen unterzutauchen in diesen Strom. Ein Herr forderte sie zum Tanz auf und sie mußte über sein erstauntes Gesicht lachen, als sie erklärte, nicht tanzen zu können.

„Gut, dann gestatten Sie mir, Ihnen einige Minuten Gesellschaft zu leisten. Wünschen Sie irgend eine Erfrischung? Sie sehen ermüdet aus.“

„Nein, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie der Dame des Hauses, die dort am anderen Ende des Saales eben zu tanzen aufhört, sagen wollten, sie möchte mir meinen Vater hierherschicken.“

„Mit größtem Vergnügen.“ Der Herr eilte weg.

Hermann war inzwischen in das Rauchzimmer gegangen, wo er Eddas Vater im Kreis älterer Herren wiederfand. Das scharfgeschnittene Gesicht des Doktors leuchtete aus dem Tabaksdunst hervor. Man schien eifrig zu debattieren und Helm hatte offenbar mit seinem schlagenden Witz die Leitung der Unterhaltung an sich gerissen.

In der Thüre erschien jetzt auch Lore und winkte dem Schwager mit einer Handbewegung.

„Edda ist wieder ganz wohl,“ flüsterte sie ihm zu, als er zu ihr trat. „Sie sitzt dort drüben im Nebenzimmer ohne Gesellschaft und wartet auf ihren Papa, der aber wohl schwer aus seiner lebhaften Unterhaltung hier loszureißen ist. Du könntest ihr wohl indessen Gesellschaft leisten.“ Sie nickte ihm freundlich zu und er eilte davon, dem ihm von Lore bezeichneten Zimmer zu, demselben, in dem er vorhin mit Edda zusammengewesen war. Diese hatte ihn schon von weitem kommen sehen. Sie saß auf dem gleichen Sessel wie vorhin und dennoch schien sie eine andere zu sein, so verändert war ihr Aeußeres, der Ausdruck ihres Gesichts.

„Sind Sie wieder ganz wohl, Fräulein Helm? Ich habe mich selten in einer so hilflosen Lage befunden.“

Edda lächelte unwillkürlich. Dieser Gegensatz zwischen der hohen kraftvollen Erscheinung und der selbsteingestandenen Hilflosigkeit! Sie mußte daran denken, welch ein verblüfftes Gesicht er bei ihrer Ohnmacht gezeigt haben mochte.

„O, es war nur eine Kleinigkeit! Aber ich bedauere, Ihnen einen Schreck eingejagt zu haben.“

„Daß es nichts Ernstes war, bemerkte ich schon,“ sagte Hermann verlegen. „Uebrigens sitzt Ihr Herr Vater sehr vergnügt im Rauchzimmer und unterhält alle Anwesenden!“

„Ich habe schon Lore bitten lassen, ihn hierherzusenden. Würden Sie nicht die Güte haben, ihm mitzuteilen, daß ich jetzt gern nach Hause möchte? Ich denke, für ihn wie für mich ist es genug, Mitternacht ist lange vorüber.“

Wortlos ging er hinaus. Man tanzte den Kotillon. Er nahm einen Strauß frischer Maiglöckchen und rief dann den alten Doktor. Edda kam den beiden Herren, als sie miteinander zurückkehrten, schon aus der Garderobe entgegen, eingehüllt in einen weiten grauen Mantel und um den Kopf einen dichten schwarzen Schleier, unter dessen Falten ihr Gesicht fast geisterbleich hervorleuchtete.

Hermann war erstaunt über den seltsamen Ausdruck dieser Züge. Man muß sich bei ihr immer aufs neue zurechtfinden! dachte er, während er sie zum Wagen führte.

Als sie schon Platz genommen hatte, reichte er ihr das Sträußchen. „Eine kleine Erinnerung an den heutigen Abend!“

Sie griff mit einer verwirrten linkischen Bewegung nach den Blumen. „Ich danke. Gute Nacht, Herr von Weßnitz!“

Ein kurzer Händedruck, dann rollte der Wagen davon.

„Ein netter gescheiter Kerl, dieser Weßnitz! Mir lieber als der Bruder! Ein Mann von gutem Schrot und Korn, der fest in seinen Schuhen steht,“ sagte Doktor Helm, sich in seinen Pelz wickelnd.

Edda schmiegte sich schweigend in die Wagenecke. Sie drückte die Hand fest um das kleine Sträußchen, führte es empor und senkte, tief atmend, das Gesicht darauf hinab. Wie ein schmeichelnder Traum umfing der Duft der frischen Blumen ihre Sinne.

„Thorheit!“ flüsterte sie dann plötzlich, mit einem hastigen Ruck ließ sie das Fenster herab und warf die Blumen hinaus.

„So schließe doch das Fenster!“ murmelte ihr Vater halb schlaftrunken.

Edda erwiderte nichts, die Lippen fest aufeinander gepreßt, zwischen den Augen eine tiefe Falte, starrte sie durch die trüben Fensterscheiben, gegen die der Wind prasselnd Schnee und Regen schleuderte. – –

Als Hermann in die Gesellschaftsräume zurückkehrte, rüsteten sich die Gäste schon zum Aufbruch. Er selbst fühlte sich übellaunig und abgespannt. Lore stand mit müdem Gesichtsausdruck in einem Kreise von Herren und Damen und nahm von jedem einzelnen mit mühsam stets neubelebtem Lächeln die Versicherung entgegen, daß der heutige Abend reizend gewesen sei.

„Gute Nacht, Lore!“ sagte ihr Schwager, von rückwärts an sie herantretend.

„Bitte, bleib’ noch einen Augenblick!“ flüsterte sie ihm hastig zu, und gutmütig trat er wieder zurück. Als sich die Flügelthüren hinter dem letzten Gaste geschlossen hatten, schlug Lore plötzlich beide Hände vor das Gesicht, das gleichmäßige Lächeln der letzten Stunden verlor sich mit einmal, und sich rasch zu Hermann wendend, rief sie nerväs aus:

„Mein Gott, ist das ermüdend und geisttötend! Hast Du einige Minuten Zeit für mich? Bruno kann wie gewöhnlich kein Ende finden und hat noch einige Freunde zu einem Spiel in sein Rauchzimmer geführt.“

Sie gab einem Diener den Auftrag, zwei Tassen Kaffee zu bringen, und ging dann, ohne Hermanns Zustimmung abzuwarten, voran in ihr Boudoir, dort warf sie sich wie gebrochen auf einen Sessel.

„Du glaubst nicht, wie ich mich von hier fortsehne!“ begann sie, Hermann eine Tasse Kaffee reichend. „O, nur hinaus aus diesem ekelhaft übertünchten Gesellschaftsflitter, aus diesem Wirrwarr von gleichgültigen Menschen mit geschwätziger Liebenswürdigkeit, nur vier Wochen hinaus aus der Stadt, um zur Ruhe zu kommen, meinem Kinde zu leben!“

Hermann blickte sie mitleidig an, sie that ihm aufrichtig leid. Wenn er daran dachte, wie sie als Mädchen war – still, genügsam, stets heiter und sorglos . . . und jetzt? „So mach’ doch kurzen Prozeß und geh’ mit Deinem Jungen auf zwei Monate nach Weßnitz!“ sagte er herzlich.

„Nach Weßnitz?“ wiederholte sie langsam seine letzten Worte wie jemand, der von einer lange vergessenen Heimat spricht. Vor ihrem Geist tauchte deutlich das Bild des alten viereckigen Gutshauses auf mit dem grünen Epheu an der Ostseite, mit seinen gemütlichen Zimmern und den glänzenden Mahagonimöbeln, und in dem Lehnstuhl am Ofen Brunos Vater im langen weißen Bart, mit der brennenden Meerschaumpfeife; auch der Winkel hinter der Hausthür, wo sie als Kinder im Zwielicht so oft zusammen kauerten und sich Räubergeschichten erzählten.

„Und Bruno soll ich hier allein lassen?“ fragte sie erregt nach einer kurzen Pause.

„Nun ja, warum denn nicht?“

[536] „Nein, nein; das will ich nicht! Ohne mich würde er wie ein Junggeselle leben, noch mehr, als er es jetzt schon thut!“

Hermann senkte nachdenklich den Kopf und rührte langsam mit dem Löffel in der Tasse herum. Konnte er ihr widersprechen? Arme Lore! Sie kam ihm vor wie ein gehetztes Wild, unstet, nirgends sichere Ruhe erspähend.

Ihre Augen hingen an seinem Gesicht. Wenn er bei ihr war, fühlte sie sich ruhiger, die schlichte Festigkeit seines Wesens schien ihr ein Bollwerk gegen alle Stürme. Hier, hier war ein Mensch, zu dem sie vor sich selbst flüchten konnte! Eine unbeschreibliche Sehnsucht nach dem Glück, das einst, von ihr ungeahnt, ihr Leben gestreift hatte, stieg in ihr auf. Aber war Hermann denn noch derselbe wie ehedem, wie bis vor wenigen Wochen? Was würde sie ihm noch sein, wenn er eine große Neigung faßte zu jenem Mädchen, das ihn verstand, ihn würdigen konnte?

„Was sagst Du zu Edda Helm?“ fragte sie unvermittelt, das Schweigen brechend.

Er war nicht erstaunt über diese Frage, weil seine Gedanken sich gerade mit Edda beschäftigt hatten; ihm hatte das Bild der Ohnmächtigen vorgeschwebt, der seelenvolle weiche Ausdruck in den sonst so herben Zügen.

„Ich denke nach über sie.“

„Findest Du sie nicht schön?“

„Nein, schön finde ich sie nicht. Aber sie hat ein Gesicht, das man nie vergißt, weil es die Gedanken beschäftigt.“

Lore schaute ihn prüfend an. „Könnte Dir eines solchen Mädchens Dasein interessant werden?“

„Ja, denn es giebt mir zu raten.“

„Geh’ mir nicht aus dem Wege! Könntest Du sie lieb gewinnen?“

Er fuhr auf.

Nun wußte sie genug; sie lächelte wehmütig. „Aber weshalb denn so erregt? O, wenn dies Mädchen einen Mann liebt, wird sie alles von sich werfen, rücksichtslos, selbst ihren weiblichen Stolz, und wird ihm gehören mit Leib und Seele.“

„Ein solches Mädchen sollte lieben können wie andere? Glaubst Du das, Lore?“

„Sicherlich! Nur größer, stärker!“

Edda Helm die Seine! Ein heißer Blutstrom schoß ihm durch die Adern.

„Ach, Unsinn, Lore! Daß Ihr Frauen doch das Ehestiften nicht lassen könnt! Geh’ zur Ruhe, Du siehst übermüdet aus.“

Sie lächelte wieder mit demselben eigentümlichen Lächeln wie vorhin. „Gute Nacht, Hermann!“ Und dann ihm beide Hände auf die Schultern legend: „Wenn ich einem Menschen in der Welt etwas Gutes gönne, so bist Du es. Und nun versuche, ob Du die späten Gäste auf anständige Weise aus dem Rauchzimmer vertreiben kannst, es ist vier Uhr vorüber.“

Mit müden Schritten ging sie langsam zur Thür.

In ihrem Schlafzimmer angelangt, sank sie aufs Sofa. „Den habe ich nun auch verloren,“ murmelte sie erregt. „Nur die Bande der Verwandtschaft und unserer gemeinsam verlebten Kindertage verknüpfen mich noch mit ihm. Und Bruno? Mein Gott, wie gleichgültig ich neben ihm hergehen kann! Warum vernachlässigt er mich, läßt mich stets allein mit diesem Russen, der mir schmeichelt mit seiner blinden Ergebenheit? Er achtet gar nicht auf den Prinzen, auf mich, gerade als wäre ich ein Wesen ohne Schwäche, ohne Blut in den Adern. Oder hält er mich nicht mehr für schön genug, eines anderen Mannes Liebe zu erwerben?“

Ein schrilles Lachen tönte durch das Schlafgemach. Nicht mehr schön genug! Sie strich die goldenen Locken aus der Stirn und eilte zum Spiegel. Ein trotziger Zug legte sich um ihren Mund, als sie ihre biegsame Gestalt in dem eng anliegenden mattgelben Seidenkleid betrachtete. O, Bruno sollte schon sehen! Wenn er sie reizte – – Sie beugte lauschend den Kopf zur Seite. Im Nebenzimmer lallte eine Kinderstimme abgerissene Worte im Schlaf.

„Edgar!“ rief sie und wankte an das Bett ihres Kindes.

Der Knabe schlief fest, erwachte auch nicht bei dem Lichtschimmer des über sein Lager gehaltenen Lichtes. Lore blickte lange nieder auf das rosige Gesicht. „Nein, nein, Du sollst Dich Deiner Mutter nicht zu schämen brauchen,“ flüsterte sie und senkte langsam den Kopf. – 0000000000


Im Rauchzimmer herrschte eine abscheuliche Luft. Der Qualm der Cigaretten und Cigarren vermischte sich mit dem Dunst von Wein, Bier und Punsch. Um einen runden Tisch saßen noch einige Herren, Prinz Sissi auf dem Sofa mit einem vergnügten Kindergesicht wie ein Knabe beim „Schwarzen Peter“. Er litt nie unter den Wechselfällen des Spiels. Was galt es ihm, ob er Tausende verlor oder gewann! Und weil er so gleichgülag gegen die Höhe der Summe war, machte er nie aus eigenem Antrieb höhere Sätze, sondern spielte nur gerade hoch genug, um sein Vergnügen bei der Sache zu haben.

Eben hatte der Prinz die Bank übernommen. Ihm gegenüber saß Bruno nachlässig auf dem Stuhle, mit eleganter Bewegung die Einsätze vor sich hinschiebend. Er hob die Karten nie hastig auf, sondern mit der Ruhe eines gewiegten Spielers, langsam, mit halb geschlossenen Augen, ohne neugierige Blicke auf den Tisch, und erst dann, wenn alle anderen bereits ihre Blätter gesehen hatten. Aber der feine Beobachter bemerkte doch, wie sehr das Spiel ihn beschäftigte, wie jede Fiber in ihm gespannt war, die Vorteile auszunutzen, wie oft eine kaum merkliche Röte über seine etwas blassen Züge huschte. Der andere Kartenhalter war ein junger Assessor, der vor sechs Wochen die Tochter eines Kommerzienrats geheiratet hatte. Die übrigen Anwesenden beteiligten sich nur hier und da mit kleinen Einsätzen auf irgend eine Karte.

Hermann trat hinter Brunos Stuhl, um einen günstigen Augenblick für die Erfüllung von Lores Bitte abzuwarten.

Prinz Sissi nickte ihm lächelnd zu. „Sie sah reizend aus, die Helm,“ meinte er, ohne die Cigarette aus dem Munde zu nehmen, während er die Karte abheben ließ. Dann fiel sein Blick auf das unbefriedigte Gesicht eines jungen Lieutenants, der beiseite stand, weil fortgesetzter Verlust und ein Rest von Besinnung ihn hatten aufhören lassen. „Aber, lieber Baron, Sie setzen ja nicht mehr mit!“

Dieser zuckte die Achseln und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung.

„Nur nicht weglaufen!“ rief der Russe. „Kommen Sie, ich gebe Ihnen tausend Mark! Man muß das Glück zwingen!“

„Ich möchte lieber nicht,“ antwortete der Lieutenant, war aber offenbar doch geschmeichelt durch die Aufmerksamkeit des Fürsten.

„Machen Sie keine Umstände! Rückzahlung nach Belieben, meinetwegen, wenn Sie Hauptmann geworden sind! Hier, ich gebe die Bank ab. Setzen Sie – ich wette, in einer halben Stunde haben Sie Ihre Verluste ausgeglichen.“

Hermann ärgerte sich über den Russen, aber er war klug genug, zu schweigen.

Der Prinz stand auf, trank ein Glas Selterswasser und sah dann lächelnd zu, wie der Offizier aufs neue an dem Spiel teilnahm und nach Art des Anfängers regelmäßig ein Zwanzigmarkstück setzte. „Das ist geradezu Selbstmord, lieber Freund! Sie können so nicht ordentlich gewinnen. Hundert Mark! So ist’s recht! Sehen Sie, großer Schlag! Und nun den Gewinn stehen lassen! Gut gekauft – so fängt man das Glück!“ rief er lachend, während er für sich selbst einen Geldschein auf eine Karte schob.

„Lassen Sie die Summe stehen, Prinz?“ sagte Bruno langsam, mit einem Ton in der Stimme, als wünsche er das. Die Bank, die er jetzt übernommen hatte, war stark zusammengeschmolzen.

„Wie hoch hält die Bank?“

„Alles!“ erwiderle Bruno, während er ein Stück Papier mit einer Zahl und seiner Unterschrift versah und vor sich zu dem Gelde legte.

Weßnitz verlor noch zweimal.

„Nun, Prinz?“

„Ich lasse es wieder liegen.“

„Das isl kein Spiel mehr,“ knurrte der Assessor, ohne gehört zu werden.

Die Karte schlug für Bruno. Der Russe lächelte fein.

„So kann ich mich nicht behandeln lassen! Ich halte die Bank!“

Es trat Stille ein. Dem Lieutenant, der zwei Karten zu nehmen hatte, zitterte die Hand, obgleich er selbst nur mit einer kleinen Summe beteiligt war.

„Nehmen Sie einen Schlag auf zwei Karten an, Prinz?“ fragle Bruno, die Blätter verteilend.

Dieser nickte und trat gleichgültig an einen Nebentisch, um sich einen Chartreuse einzuschenken. Beim Umwenden streiften seine [538] Frackschöße den Tisch, die hart am Rande liegenden Karten herunterwerfend. Sie blätterten über Brunos Schoß zur Erde. Unwillkürlich griff dieser danach und fing mit der Rechten einige auf.

Hermann hatte den Atem angehalten; er sah ein As und eine Zehn in des Bruders linker Hand.

„Kleiner Schlag!“ rief der Lieutenant mit vor Aufregung heiserer Stimme.

„Großer Schlag!“ sagte Bruno langsam, Herz-As und eine Acht auf den Tisch legend.

„Entschuldige, Bruder, wenn ich Dich auf einen Irrtum aufmerksam mache, aber mir schien, als hättest Du diese Karte soeben aus Mißverständnis mit jener verwechselt, während das Spiel herunterfiel.“

Es herrschte für eine Sekunde atemlose Stille. Bruno starrte noch bleicher als vorhin auf das Herz-As, dann raffte er sich auf.

„Ich bitte um Entschuldigung,“ stieß er hastig heraus. „Ich hatte meine Karten selbst noch nicht angesehen!“

Prinz Sissi stand wieder am Tisch, sein Blick haftete adlerscharf auf Hermanns verstörten Zügen. „Sie müssen sich irren, lieber Herr Lieutenant von Weßnitz,“ sagte er, jedes Wort betonend. „Es ist zwar mein eigener Schaden, aber ich weiß bestimmt, als ich zum Nebentisch trat und die Karten herunterfielen, daß ich den großen Schlag in der Hand Ihres Bruders gesehen habe. Ich wollte mir mit einem Chartreuse über mein Pech hinweghelfen,“ fügte er lachend hinzu.

Hermann war bleich wie der Tod.

„Dann war es ein Irrtum meinerseits, ich bitte um Entschnldigung, Durchlaucht!“

Er fühlte einen stechenden Schmerz in der Schläfe. Nur jetzt etwas thun können, um diese entsetzliche Pause zu kürzen! Weil ihm nichts anderes einfiel, sagte er. „Bruno, willst Du mir die Bank überlassen? Wir machen Halbpart, wenn die Herren einverstanden sind!“

Er hatte nie eigentlich gespielt; nur hier und da an langweiligen Abenden sich beteiligt, um die Zeit totzuschlagen. Wie alle Gleichgültigen hatte er Glück, auch heute. Man machte Witze darüber; das Spiel hatte seinen Höhepunkt überschritten und ging langsam, mit mäßigen Einsätzen weiter. Die Erregung war vorüber.

„Meine Herren, ich denke, wir machen Schluß, fahren zusammen ins Café und feiern den Sonnenaufgang!“ sagte der Assessor, sich erhebend.

Der Lieutenant, der einige hundert Mark gewonnen hatte, stimmte rasch zu.

Nach wenigen Minuten waren die beiden Brüder allein, allein in dem grauen Zwielicht des Morgens, das durch die Fenstervorhänge hereinschlich.

[549] Hermann stand seinem Bruder stumm und finster gegenüber. Bruno löschte die Kerzen aus, riß ein Fenster auf und stellte sich tief aufatmend in den kalten Luftzug, der den Dunst des Zimmers nach oben drängte. Auf der Straße ging pfeifend ein Bäckerjunge vorüber, ferne wurde die Riesenstadt wieder lebendig. Durch die blattlosen Bäume des Tiergartens fielen aus einer trüben Dunstwolke die ersten grauen Lichter des Tages; weder Schatten noch Licht, alle Farbenunterschiede waren ausgeglichen zu einem fahlen endlosen Grau.

„Bruno!“

Dieser fuhr zusammen, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. Seine Hand krallte sich fest um den Fenstergriff, bis die Fingerspitzen sich weiß färbten.

„Bruno, hast Du mir nichts zu sagen?“ Es lag eine unendliche Hoffnungslosigkeit im Klang dieser Stimme, die aus dem Hintergrunde des Zimmers kam.

„Nein, ich wüßte nichts.“

[550] „Gar nichts?“

„Nein. Oder doch! Dieser verdammte Russe!“ Erleichtert atmete er auf, daß ihm diese Ausflucht gekommen war.

„Was ist mit ihm?“

„Ach, nichts! Aber hast Du ihn und die Lore heut’ abend zusammen gesehen? Ein Skandal! Man wird es nächstens in den Zeitungen lesen.“

Gott sei Dank! Hier wenigstens war er zu fassen! dachte Hermann. „Und weshalb spielst Du, Lores Gatte, diese Dulderrolle?“

Bruno lachte schrill auf. „Frage doch Lore selbst! Sie hat ihn ja herangezogen.“

Hermann schüttelte den Kopf. „Wirf keinen Stein auf Dein Weib! Ihre Seele ist noch rein.“

„Noch?“ rief Bruno schneidend.

„Ja, noch!“

„O, wenn ich handeln könnte, wie ich wollte!“

„Was hindert Dich?“

Brunos Gesicht wechselte rasch die Farbe, dann ließ er die Faust dröhnend auf einen Tisch fallen. „Mir sind diesem Prinzen gegenüber die Hände gebunden!“ Und Hermanns Erschrecken bemerkend, fuhr er gereizt fort. „Nun ja, was starrst Du mich so an? Der Russe hat mir oft aus einer Geldklemme geholfen. Doch Unsinn – er ist ein Ehrenmann durch und durch!“

Es wurde totenstill. Dann schwere, langsam sich entfernende Schritte, das Geräusch der sich schließenden Thür – Bruno war allein. Ihm war zu Sinn wie jemand, der vor der Vernichtung steht. Er wagte sich kaum zu rühren. Erst nach einer Weile wandte er scheu den Kopf und starrte mit glanzlosen Augen in das trostlose Grau. Plötzlich hörte er auf dem Flur Kindergeschrei, die helle fröhliche Stimme seines Knaben. Er stürzte hinaus, preßte Edgar an sich, tollte mit ihm herum und trieb tausenderlei Unsinn, nur in dem Drange, sich von dem Jauchzen des Kindes die inneren Stimmen übertönen zu lassen, nur um den alten Leichtsinn wiederzufinden. Und es gelang ihm. Nicht einmal mehr körperlich unbehaglich fühlte er sich, als er nach einiger Zeit das Haus verließ, um sein Bureau aufzusuchen.


Nun ist alles vorbei, hatte Hermann gedacht, als er auf der Straße war. Zu Hause fand er seinen Burschen schon wach und schämte sich fast vor ihm, nicht weil er erst im Morgengrauen zurückkam – er hatte das Gefühl, als müsse er sich von heute an vor jedem Menschen schämen.

Finstere Gedanken durchwühlten sein Gehirn, auch während der Vortragsstunde in der Akademie, wo er noch schweigsamer und stiller auf seinem Platze saß, als ihn seine Kameraden sonst zu sehen gewohnt waren.

Ein unbesieglicher Zorn gegen den Bruder arbeitete in seinem Innern, gegen diesen Menschen, der nicht nur seine eigene Ehre, sondern auch die seiner Frau und seines Hauses durch den Kot zog, der dank seinem jämmerlichen Leichtsinn nicht mehr das Recht besaß, einem zudringlichen Versucher die Thür zu weisen. Und dann dies Unerträgliche, das gar nicht auszudenken war – Brunos Benehmen beim Spiel! War es soweit mit dem Bruder gekommen? Oder hatte er selbst sich am Ende doch getäuscht? Aber nein, nein, er hatte zu deutlich gesehen. Und sagten nicht Brunos Verwirrung und das eigentümliche Eingreifen des Prinzen genug? Fluch diesem Russen, der offenbar alles durchschaute, der jeden Augenblick die Schande der Familie Weßnitz ausposaunen konnte, wenn er wollte! Wenn er wollte – ja. Aber gab es denn kein Mittel, diesen Menschen unschädlich zu machen? Konnte man seine Geldansprüche an Bruno nicht befriedigen, ihn dann dazu bringen, sich aus Berlin zu entfernen? Wenn die Schuld Brunos nicht allzu groß war – das ließ sich ordnen. Er konnte dem Bruder die nötige Summe aus dem Erbteil der Mutter zur Verfügung stellen. Ja, das war der allein richtige Weg! Es war zwar seine letzte Hilfsquelle, aber lieber hungern, als stets die Schande über seinem makellosen Namen lauern sehen! Indessen – würde Bruno darauf eingehen? Würde er, nach allem, was vorgefallen war, den Mut finden, dem Russen das Geld vor die Füße zu werfen und ihm sein Haus zu verbieten? Und mußte Lore dann nicht alles erfahren? Würde sie nicht außer sich sein vor Scham, den eigenen Gatten hassen, verabscheuen? Würde ihr der Prinz nicht als das Muster eines vornehmen Mannes erscheinen? Er, der so großmütig das Geld gab und nie etwas dafür forderte! Nein, nein! Ein Dritter, er selbst konnte besser alles ordnen. Lore durfte nichts erfahren. An ihm selbst war es, den Prinzen nach der Höhe der Schuld zu fragen und ihn zu zwingen, unauffällig den Verkehr abzubrechen und Berlin zu verlassen.

*  *  *

Prinz Sissi befand sich zu Hause in seinem Hotel, als ihm Hermanns Besuch gemeldet wurde. Zuvorkommend trat er dem Gast entgegen und lud ihn zum Sitzen ein.

„Ah, was verschafft mir die Ehre, Herr von Weßnitz? – Ein wenig Kater von der vergangenen Nacht? Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaviar und einen russischen Liqueur?“

„Ich danke, Durchlaucht! Mich führt etwas Ernstes zu Ihnen, eine heikle Angelegenheit. Sind wir hier allein?“

„Bitte sehr, ich stehe zur Verfügung,“ sagte der Prinz, erstaunt die Thür zum Nebenzimmer schließend.

Hermann legte langsam Mütze und Handschuhe auf den Tisch.

„Ich will keine große Einleitung machen. Ich erfuhr zufällig von meinem Bruder, daß er in Ihrer Schuld steht, und bitte Sie, mir die Höhe der Summe zu nennen.“

„Kommen Sie im Auftrage des Herrn Legationsrats?“ fragte der Prinz mit unbewegtem Gesicht, jedoch Hermann scharf betrachtend. Er fühlte unwillkürlich, daß dieser Mann ihm feindlich gegenüberstand.

Weßnitz war einen Augenblick verwirrt. „Nein, das nicht.“

„Nun, dann bleibt diese Sache wohl Kavaliergeheimnis zwischen Ihrem Herrn Bruder und mir.“

Hermann drückte beide Hände fest auf die Seitenlehnen seines Sessels. „Verzeihen Sie, ich bin anderer Ansicht. Ich stehe hier als Vertreter der Familie, verantwortlich für die Handlungen ihrer Mitglieder.“

„Das verstehe ich nicht,“ erwiderte der Prinz trocken. „Weshalb kommt Ihr Herr Bruder nicht selbst?“

„Er weiß nichts von meinem Besuch hier.“

„Nun, dann –“ meinte jener unglaublich hochmütig und zuckte die Schultern.

Hermann fühlte, wie es in ihm kochte, aber er zwang sich gewaltsam zur Ruhe. Durch Heftigkeit konnte er die Partie nur verlieren.

„Durchlaucht belieben, sehr lakonisch zu sein. Gut, so will ich Ihnen den Grund meiner Handlungsweise auf andere Art klarlegen. Sie verkehren seit langer Zeit im Hause meines Bruders, sehr häufig, sehr intim; Sie suchen überall die Gesellschaft meiner Schwägerin – wir sprachen gleich am ersten Tag unserer Bekanntschaft darüber.“

Der Prinz zuckte unmerklich zusammen, doch unterbrach er die Rede Hermanns nicht.

„Ich weiß,“ fuhr dieser fort, „daß der Ruf meiner Schwägerin darunter leidet, ich weiß auch, daß meines Bruders Finanzen in Unordnung sind, daß er nicht imstande ist, aus eigenen Mitteln seine Schuld zu tilgen. Ich könnte ihm nun das Kapital geben, um ihn moralisch frei von Ihnen zu machen, in der Hoffnung, daß er Sie dann ersuchen würde, Ihre Besuche in seinem Hause einzustellen oder wenigstens einzuschränken – bitte, ich bin noch nicht fertig!“

Prinz Sissi war aufgesprungen.

„Bis hierher wäre alles korrekt. Aber die Rolle des beleidigten Ehemanns ist schwer durchzuführen, wenn man dem Liebhaber seiner Frau gegenüber Verpflichtungen hat, ja das ist unmöglich, ohne daß der Frau selbst alles klargelegt wird, und diese Frau, die mit mir wie eine Schwester aufgewachsen ist, diese Frau Durchlaucht, muß geschont werden!“

Es war totenstill zwischen den beiden. Auch Hermann hatte sich erhoben.

„Und wenn ich Ihnen das Recht Ihrer Beschützerrolle nicht zugestehe, Herr von Weßnitz?“

„Sie müssen es als Ehrenmann!“

Dem Prinzen entfuhr ein russischer Fluch. „Ich muß? Ich will nicht müssen! Ich habe nie gemußt in meinem Leben.“

„Aber ich will es, Durchlaucht!“

Hermann sprach ruhig; seine grauen Augen hafteten durchdringend, eiskalt auf dem Prinzen, und dieser fühlte mit Unbehagen die rücksichtslose Willenskraft seines Gegners.

„Ich frage noch einmal, wie hoch ist die Summe?“

[551] „Ich weiß es nicht,“ antwortete der Prinz, mit dem Benehmen eines eigensinnigen Kindes ihm den Rücken zuwendend.

„Ich bitte um die in unsern Kreisen als anständig anerkannten Formen,“ tönte es scharf an sein Ohr.

Der Russe fühlte, wie er die Herrschaft über sich verlor.

„Ich verweigere jede Auskunft!“

„Gut. Dann fordere ich von Ihnen, daß Sie unauffällig den Verkehr im Hause meines Bruders abbrechen und Berlin sobald als möglich verlassen.“

„Mit welchem Rechte?“ fragte der Russe höhnisch.

„Mit dem Recht eines Ehrenmannes, der den guten Rnf einer Dame verteidigt!“

Prinz Sissi ward bleich; dann plötzlich vollständig wechselnd, selbst aus seinen Zügen jede Spur der Wut verwischend, die noch soeben unter den Beleidigungen Hermanns in ihm kochte, sagte er langsam. „Sie sind der beste Mensch, der mir je vorgekommen ist!“

Hermann verbeugte sich, spöttisch lächelnd und doch einen Augenblick fassungslos. „Ich danke Ihnen für Ihre günstige Meinnug! Was ist Ihre Antwort auf meine Frage? Ja oder Nein?“

„Und wenn ich Nein sage?“

„Dann werde ich Sie zwingen, mir zu willfahren.“

„Wie in aller Welt?“

„Wenn Ihnen das noch nicht genügt, was ich Ihnen ins Gesicht gesagt habe, so werde ich es vor Zeugen wiederholen und Sie unmöglich machen, falls Sie dem keine Folge geben. Ich werde vor nichts zurückschrecken!“

„Ach, Sie wollen sich mit mir schießen oder mich totstechen? Sehr gut! Aber ich werde mich nicht mit Ihnen schlagen!“

„Durchlaucht! Die Faust zu brauchen ist gemein aber –“

Nicht mehr Herr seiner Sinne, stand Hermann vor dem Fürsten. Dieser sah ihn noch immer so ruhig an wie vorher, ohne eine Spur von Erregung im Gesicht. Eine Sekunde lang glaubte Hermann, einem Verrückten gegenüber zu stehen.

Der Russe betrachtete die Nägel seiner rechten Hand und meinte dann. „Sie können thun, was Sie wollen. Ich lasse mir nie Vorschriften machen, am wenigsten von Personen, die nicht dazu befugt sind. Aber die eine Versicherung gebe ich Ihnen: ich werde mich durch nichts in der Welt zu einem Duell mit Ihnen zwingen lassen, weil – nun, weil Sie mir zu gut zum Totschießen sind und ich mir selbst zu nichtig.“

Hermann hatte entwaffnet den Kopf gesenkt.

„Uebrigens – halten Sie mich für niedrig genug,“ begann der Prinz wieder, „daß ich für einige tausend Thaler mir gegen eine Frau wie Ihre Schwägerin unziemliche Freiheiten herausnehme?“

Hermann antwortete nicht. Er griff langsam, wie im Traum, nach Mütze und Handschuhen und verließ ohne Gruß das Zimmer. In dumpfem Brüten, das keinen klaren Gedanken aufkommen ließ, gelangte er in seine Wohnung. Dort raffte er sich endlich soweit auf, um an seinen Bruder schreiben zu können. Er teilte diesem die Unterredung mit, bot ihm die Summe zur Tilgung der Schuld an und beschwor ihn bei seiner Ehre, Lore ein volles Geständnis abzulegen. Dann könne noch alles gut werden.


„Eine Dame wünscht Ew. Durchlaucht zu sprechen,“ meldete der Zimmerkellner.

Prinz Sissi sprang auf. Es war dämmerig im Zimmer, in dem er träumend gesessen hatte.

„Wer ist es?“ fragte er kurz.

„Die Dame wollte ihren Namen nicht nennen.“

Im Halbdunkel sah der Prinz eine schwarze Frauengestalt ins Zimmer treten. „Ich bitte um Verzeihung! Entschuldigen Sie einen Augenblick, bis ich Licht angezündet habe.“ Während er das Streichholz anbrannte, zerbrach er sich den Kopf, wer das wohl sein könnte.

„So, ich bitte nochmals um Entschuldigung! Mit wem habe ich die Ehre?“

Er näherte sich mit einer Verbeugung der noch immer an der Thür Stehenden, deren Gesicht ein dichter Schleier verdeckte. Der ganzen Haltung und Kleidung nach mußte es eine Dame der Gesellschaft sein.

„Sie werden erstaunt sein, Durchlaucht, mich in diesen Ihren Räumen zu sehen!“

„Frau von Weßnitz!“ preßte er in maßlosem Erstaunen hervor, Lore groß anstarrend, während sie langsam den Schleier zurückschlug.

„Sie können sich denken, daß mich nur ganz ungewöhnliche Vorkommnisse zu diesem Schritt veranlassen konnten.“

Lores Antlitz war ernst und bleich; um den sonst so weichen feinen Mund zogen sich zwei tiefe Falten.

„Bitte, wollen Sie Platz nehmen, gnädige Frau!“

„Nein, ich danke. Was ich zu sagen habe, spricht sich besser stehend. Mein Schwager war heute bei Ihnen?“

Jetzt wußte der Prinz alles. Dieser Tollkopf wollte also um jeden Preis seinen Entschluß durchsetzen!

„Mein Schwager hat den Inhalt Ihrer heutigen Unterredung meinem Mann mitgeteilt und dieser hat es für seine Pflicht gehalten, mir alles zu gestehen.“

„Ich habe nicht das Recht, seine Handlungsweise mit dem Namen zu bezeichnen, den diese verdient.“

Lore lächelte schmerzlich. „Wenn mein Mann nicht unmittelbar nach diesen Mitteilungen auf geheimen Befehl unverzüglich nach Paris hätte reisen müssen, so würde ich natürlich nicht an seiner Stelle hier stehen,“ sagte Lore mit tiefer Stimme, durch die merkbar die Erregung ihres Inneren hindurchklang.

Der Prinz verbeugte sich. Wie schön sie war!

„Was in meinem Innern vorgegangen ist nach jenem Geständnis meines Mannes, das geht niemand etwas an. In mir stand sofort der Entschluß fest, daß ich keine Minute ungenutzt verstreichen lassen dürfe, die Schmach dieses ganzen Verhältnisses von meiner Person und dem Namen meines Mannes fortzuwaschen. Meinen edelmütigen Schwager zu Hilfe zu rufen, verbot mir mein Stolz. Er hat, bei Gott, genug gethan!“

„Frau von Weßnitz!“ tönte es an ihr Ohr mit weicher, fast demütiger Kinderstimme.

„Bitte, lassen Sie den gerührten Ton, Prinz! Bleiben wir sachlich! Wie hoch beläuft sich die Schuld meines Mannes?“

„Das sagen Sie mir?“ rief der Prinz und warf sich empört in einen Stuhl.

„Nun ja! Ich will Ihnen übrigens keinen Vorwurf machen – ich selbst habe gefehlt. Aber mir stand niemand zur Seite, und jede Frau kann schwach sein, wo sie glaubt, eine selbstlose Verehrung zu finden.“

„Und daran glauben Sie nicht mehr, Lore?“

Sie antwortete nicht. Eine Weile war es unheimlich still zwischen den beiden.

„Ich weiß es nicht,“ preßte sie endlich hervor, während sie die Hand, wie nach einer Stütze suchend, gegen den Thürpfosten stemmte.

Plötzlich stand er dicht vor ihr und ihre Hand nehmend, diese kalte zitternde Frauenhand, führte er sie zu einem Sessel.

„Bitte, setzen Sie sich!“

„O, es ist so viel, was ich in den letzten Stunden durchlebt habe!“ Wie gebrochen sank sie auf den Stuhl. Dann, mit einmal sich hoch aufrichtend, sagte sie mit harter Stimme. „Bitte, Prinz, die Höhe der Summe!“

Dieser ging langsam zum Schreibtisch, schloß ein Schubfach auf, blätterte in einigen Papieren, und dann mehrere Zettel zusammenfassend, trat er auf Lore zu.

„Hier sind die Schuldscheine Ihres Mannes, die er mir gegen meinen Willen aufgedrungen hat!“

Lore streckte die Hand aus. Da knisterte es in seinen Fingern – mit einer schnellen Bewegung riß er die Papiere in Fetzen, langsam fielen die Schnitzel über den Teppich.

Zuerst verstand Lore gar nicht die Bedeutung dieser Handlungsweise, ihre Blicke hafteten irr auf seinem Gesichte, in dessen Zügen ein wilder Kampf zu toben schien. Aber nur ein Augenblick, dann hatte sie begriffen.

„O, das ist häßlich!“ schrie sie auf, die Hände wie zur Abwehr ausstreckend.

Als habe den Prinzen ein Blitzstrahl getroffen, so knickte er zusammen und warf sich auf die Knie. „Lore, bei Gott, das ist zuviel!“ stöhnte er. „Hab’ Mitleid mit mir, mit meiner Seele, die Dir gehört! Habe ich jemals mehr gewollt, als Deine Gegenwart genießen, Deine Stimme hören, Dein Antlitz sehen? Ist ein Wort über meine Lippen gekommen, das Dir gesagt hätte, wie ich Dich liebe, seit Jahren, bis zum Wahnsinn? Und nun – was habe ich nun Häßliches gethan?“

[552] „Um Gotteswillen, stehen Sie auf!“

„Nein, nein, hier will ich liegen zu Deinen Füßen, zufrieden, wenn ich nur den Saum Deines Gewandes küssen darf! Sieh, so ist meine Liebe! O, ich will Dich mit Reichtum überschütten, will mein Leben lang zu Dir aufschauen wie zu einer Heiligen! Was fesselt Dich an Deinen Mann? Welches Band verbindet Dich innerlich mit ihm? Giebt er Dir, was ich Dir geben kann, ein ganzes Leben voll sklavischer Liebe? Dieser Mann, der Dein Glück, Deine Seele zerstört hat, der Dir verächtlich sein muß! Lore, um Deines eigenen Glückes, um meiner unendlichen Liebe willen zerreiße Deine Fessel und werde mein Weib!“

„Halten Sie ein!“ rief sie, sich zurückwerfend.

Was dieser Mann alles in ihr aufrührte! Wie ein berauschendes Märchen schlugen seine leidenschaftlichen Worte an ihr Ohr. Ihre Nerven begannen zu erschlaffen nach den Erschütterungen der letzten Stunden, sie fühlte eine ohnmachtähnliche Mattigkeit durch ihre Adern rinnen. Da berührte etwas ihre Knie, ein Mund flüsterte dicht an ihrem Ohr: „Erhöre mich, Geliebte! Nur einmal sieh mir in die Augen, ob das nicht die Liebe ist, die zum Wahnsinn führt oder bis zum Tode währt! O, sieh mich doch an!“

Sie fühlte seine Lippen auf den ihrigen, sein heißer Atem vermischte sich mit dem ihren – ein eisiger Schreck fuhr ihr durch die Glieder. Ein unnennbarer Ekel ergriff sie, sie stieß ihn mit beiden Händen von sich.

„Zurück! Sie sind betrunken!“ rief sie und sprang auf. Indem sie sich von seinen Händen losriß, die ihr Kleid umklammerten, erreichte sie mit einem Sprung die Thüre und stürzte hinaus. – –

Der Prinz lag am Boden, mit dem Gesicht auf dem Teppich, als wollte er ihn mit den Zähnen fassen. Ein heiseres Aechzen drang aus seiner Brust. So kauerte er eine Weile, dann hob er mit fast irrsinnigem Ausdruck den Blick und ließ ihn durch das Zimmer schweifen, langsam, wie jemand, der sich nach einem wüsten Traume der Wirklichkeit seiner Umgebung versichern will. Dann begann er zu lachen. Kein Wort kam über seine fahlen Lippen, er wankte in eine Ecke, dort klirrten unter seinen zitternden Fingern Flaschen aneinander. Zwei, drei faßte er mit den Händen und stellte sie auf den Tisch.

„Also trunken bin ich!“ murmelte er, sich ein Glas einschenkend. „Trunken! Richtig, ich weiß nicht einmal mehr, was ich gesagt habe! Es muß wohl so sein!“ Und er stürzte ein Glas hinunter.

Die Gasflamme zitterte, von der Straße tönte das Geräusch des Lebens herauf.

„Dein Wohl, Leonore!“ Er hielt den Inhalt des Glases gegen das Licht, das sich in dem geschliffenen Kelche brach und gespensterhaft über sein bleiches verstörtes Gesicht huschte.

Stunden verrannen – immer wieder füllte er das Glas, bis sein Kopf schwer aufs Sofa zurücksank. – 0000

Als der Kellner am andern Morgen das Zimmer betrat, fand er den Prinzen tot auf dem Sofa. Ein herbeigerufener Arzt stellte als Todesursache Herzschlag fest, veranlaßt durch übermäßigen Genuß von Alkohol.

Der Fall erregte in allen Kreisen, die den Fürsten gekannt hatten, das größte Aufsehen. Allerlei unklare Gerüchte schwirrten umher, in Verbindung mit dem Namen der Frau von Weßnitz. Diese selbst rang in schwerem Nervenfieber mit dem Tode.

Sobald Hermann die erschütternde Kunde vom Ende des Prinzen erhalten hatte, war er zu Lore geeilt.

„Es darf niemand zur gnädigen Frau,“ berichtete der Diener.

Wer denn bei ihr sei?

Der Hausarzt und als Pflegerin Fräulein Helm.

Noch während Hermann mit dem Diener verhandelte, erschien Eddas dunkler Kopf in einer vorsichtig geöffneten Thür. Sie winkte ihm mit den Augen, einzutreten.

„Was ist mit Lore^“' fragte er hastig.

„Man kann noch nichts sagen, Herr von Weßnitz. Heute, morgen und übermorgen noch nichts; doch denke ich, daß ihre gesunde Natur die Nervenkrisis überstehen wird. Ich weiß ja selbst nicht, was alles vorgefallen ist. Nur den unnatürlich schnellen Tod des Russen erfuhr ich und eilte sofort hierher. Mir sagte eine Ahnung, daß ich vielleicht hier nötig sein würde, wenngleich ich diesen Zustand Ihrer Schwägerin nicht voraussetzen konnte. Können Sie mir irgend welche Aufschlüsse geben?“

Hermann senkte finster den Kopf. „Nichts von Bedeutung,“ sagte er trotzig.

„Sie sehen selbst krank aus, Herr von Weßnitz.“

Er hob rasch den Blick und schaute in ihre ernsten forschend auf ihn gehefteten Augen. Wie wohl ihm der weiche mitleidige Ton ihrer Stimme that!

„Ist an Bruno telegraphiert worden?“ fragte er, sich mühsam auf die Lehne eines Stuhles stützend.

„Es hatte keinen Zweck, da er so wie so morgen wieder zurückkehren muß.“

„So? Und kann ich nicht irgend etwas thun für Lore? Soll ich bis zur Rückkehr meines Bruders nicht hier bleiben?“

„Nein, Sie könnten doch nichts helfen. Je weniger Menschen im Hause sind, desto besser. Ich werde hier bleiben.“

„Halten Sie einen ernsten Ausgang der Krankheit für möglich?“ fragte er leise, wie jemand, der sich vor der Antwort fürchtet.

„Möglich, ja – soweit ich den Fall beurteilen kann. Aber es giebt etwas Schlimmeres als den körperlichen Dod - den geistigen.“

„Entsetzlich!“ stöhnte Hermann.

„Wir wollen den Mut nicht verlieren, Herr von Weßnitz!“

Sie streckte ihm herzlich die schmale Hand hin und begab sich wieder zu der Kranken.


Wochen waren vergangen. Die Berliner Gesellschaft hatte schon wieder wichtigere Sachen zu thun, als den Tod des russischen Prinzen und die unmittelbar darauf folgende Versetzung des Legationsrats von Weßnitz nach Brüssel zu besprechen. Der Frühling war gekommen – Wettrennen, Ausflüge, Vorbereitungen für Badereisen nahmen alles Interesse in Anspruch.

Lore hatte die Krankheit überwunden, obgleich es schien, als hätte ihre Natur, die Thatkraft ihres Wesens eine unheilbare Wunde empfangen. Jetzt war sie mit ihrem Knaben einige Monate am Gardasee. Was zwischen ihr und Bruno besprochen worden war, nachdem sie das Krankenlager verlassen hatte, wußte niemand, nicht einmal Hermann. Immerhin konnte dieser aufatmen, denn die Familientragödie, die er für unausbleiblich gehalten hatte, war vermieden worden. Als er Bruno zum erstenmal nach jenen Ereignissen wiedersah, schien dieser ein anderer denn sonst; er war weich, duldsam wie ein Kind – vielleicht führten ihn die Erlebnisse der letzten Zeit auf den richtigen Weg zurück, das Leben ernst zu nehmen. Damit er überhaupt imstande war, seine Verpflichtungen in Berlin einzulösen und den Haushalt in Brüssel zu beginnen, mußte Hermann fast sein ganzes mütterliches Erbteil opfern. Er hatte beabsichtigt, den Bruder zu veranlassen, seiner diplomatischen Laufbahn zu entsagen und nach Weßnitz überzusiedeln, aber er mußte diesen Gedanken aufgeben. Bruno wäre nie imstande gewesen, als praktischer Landwirt die ohnehin etwas in Unordnung geratene Gutsverwaltung in die Hand zu nehmen.

Merkwürdig, wie dieser Bruno trotz all seiner Fehler von oben begünstigt wurde! Jedem anderen hätte der Skandal den Hals gebrochen – er wurde nur versetzt, und zwar auf einen Posten, der ihm wenig Repräsentationspflicht auferlegte und es ihm möglich machte, seine Vermögensverhältnisse zu ordnen.

Es war Hermann gelungen, dem Vater all diese Vorgänge zu verheimlichen, was um so leichter war, als der alte Mann augenscheinlich nur noch wenig Interesse und Verständnis für die Außenwelt zeigte.

Jetzt war nun Hermann ganz zu seinem Berufe zurückgekehrt, verschlossener, wortkarger denn je, fast menschenscheu in der großen Stadt lebend. Manches, was er früher für wertvoll und groß gehalten hatte, schien ihm jetzt nichtig und lächerlich. In seinem Innern ging eine Umwandlung vor, seine ganze Lebensanschauung kam ins Wanken. In dieser Stimmung erinnerte er sich eines Tages, daß er dem Doktor Helm versprochen habe, ihn zu besuchen; der Verkehr mit dem geistvollen alten Herrn erschien ihm plötzlich als ein Bedürfnis, und am nächsten Abend entschloß er sich, zu ihm zu gehen.

„Ist der Herr Doktor zu Hause?“ fragte er die Aufwartefrau, die ihm die Thür öffnete.

„Bitte, treten Sie näher!“

„Aber das ist hübsch, lieber Weßnitz, daß Sie endlich einmal Ihre Schritte zu uns lenken!“ begrüßte der Doktor seinen Gast. [554] „Ich habe seit Wochen nichts mehr von Ihnen gehört und gesehen. Aber was ist mit Ihnen? Sie sehen ja recht elend aus! Abgearbeitet? Uebertreiben Sie’s nicht! Das rächt sich. He, Edda, Frau Lores Schwager ist da!“

„Ja, ich komme gleich!“ tönte ihre Stimme aus dem Nebenzimmer.

„Na, nehmen Sie Platz! Was giebt es Neues in Ihrer Welt da draußen?“

„Nichts, Herr Doktor. Und wie geht es Ihnen?“ „Danke, recht gut. Ich überarbeite mich nicht eben und suche mich auf leichte Weise zu beschäftigen, wie Sie sehen. Sie gestatten doch, daß ich fortfahre? Ich fertige da gerade ein Modell für ein nach allen Regeln der Hygieine gebautes Krankenhaus an. Sehen Sie, hier – dies ist die chirurgische Abteilung, dies die für innere Krankheiten, dort das kleine Gebäude ist für Geisteskranke, die zur Beobachtung eingeliefert sind. Haha! eigentlich fehlt noch eine Abteilung für die Verrückten, die in der Welt umherlaufen und im allgemeinen doch für vernünftig gehalten werden – oder für solche, die mit ihren Ansichten nicht mehr in die heutige Welt passen, eine Art Asyl für verbrauchtes Menschenvolk!“

„Wollen Sie mir einen Platz darin ausbedingen?“ fragte Hermann, sarkastisch lächelnd.

„Machen Sie keine schlechten Witze!“ Der Alte blickte ihn aus den mächtigen grauen Augen gutmütig an. „Wissen Sie, einen kleinen Vogel hat jeder Mensch, man darf ihn nur nicht zu groß wachsen lassen. Ah, da ist meine Tochter!“

Er nickte dieser freundlich zu, ohne zu bemerken, daß sie in der Eile den Anzug gewechselt hatte. „Ich habe Hunger, Edda, und denke, wir könnten zu Abend essen.“

Edda begrüßte Hermann einfach mit einem Händeschütteln. Dieser blickte sie mit unverhohlenem Erstaunen an. Fast ungläubig folgte er mit den Augen ihrer Gestalt, die sich eilig, aber still und geräuschlos hin und herbewegte, während sie den Theetisch ordnete. Sie hatte ein helles modernes Kleid angelegt mit weit offenen Aermeln und Halsausschnitt, das ihre eigenartige Schönheit zur vollen Geltung kommen ließ.

Sie bemerkte seinen bewundernden Blick, heißes Rot stieg ihr in die Wangen. Sie hatte sich umgezogen, ihm zu lieb, ihr schwarzes Werktagskleid schien ihr so abscheulich häßlich und düster. Und nun schämte sie sich über diese Anwandlung von Eitelkeit, wie sie es innerlich nannte, und war doch zugleich froh, als sie das Wohlgefallen, die angenehme Ueberraschung in seinen Augen las.

In Hermann stieg, wie er sie so beobachtete, der Gedanke auf, wie schlicht und pflichtgetreu dieses Mädchen wochenlang Tag und Nacht an dem Krankenlager Lores gewacht hatte, mit welch einfacher Herzlichkeit sie hier ihres Amtes als Hausfrau waltete, und er ertappte sich plötzlich über der Empfindung, wie gut es sein müsse, sein Leben, sein Glück in so fester treuer Hand zu wissen.

Der Doktor riß ihn aus seinem Sinnen. „Was ist das für eine Geschichte mit dem Lieutenant, der sich erschossen hat?“ fragte der alte Herr, behaglich ein Butterbrot mit kaltem Braten belegend. „Ich las davon in der Zeitung. Wieder so ein Schwächling, der die Flinte ins Korn wirft!“

Hermann schüttelte den Kopf. „Nein, er that seine Pflicht. Ich kannte ihn oberflächlich und verstehe die Beweggründe seiner That.“

Er hatte selbst in der Ehrensache jenes jungen Kameraden mit aburteilen müssen und, wie er glaubte, streng sachlich seine Stimme abgegeben, sich nur als Offizier fühlend, der die Ehre seines Standes zu wahren und zu schützen habe. Es war eine Spielgeschichte gewesen, und die Angelegenheit hatte in ihm die bittere Erinnerung an jene Nacht im Hause seines Bruders wieder neu belebt.

„So, er that seine Pflicht?“ Helm schaute scharf in das ernste Gesicht seines Gastes. „Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr von Weßnitz – seine Pflicht thun, wenn man sich eine Kugel durch sein zwanzigjähriges Hirn schießt? Das will in meinen fünfzigjährigen Kopf nicht hinein.“

„Und doch, Herr Doktor, giebt es Umstände, welche es einem gebieten, so zu handeln. Denken Sie an einen Offizier, der seine eigene Ehre und damit die seines Standes und seiner Familie preisgegeben hat!“

„Und das alles wird durch das Totschießen wiederhergestellt?“

„Teilweise, ja. Und vor allen Dingen wird ein Zweig der menschlichen Gesellschaft aus der Welt geschafft, der mißraten war.“

„Was wird die Mutter eines solchen Selbstmörders empfinden?“ fragte Edda, den klugen Kopf aufrichtend.

Hermanns Züge wurden hart. „Kleine persönliche Gefühle spielen in diesen Fragen keine Rolle.“

„Das nennen Sie kleine persönliche Gefühle, Herr Lieutenant! Ist das Ihr Ernst?“

Fast verwirrte ihn der feste Blick ihrer Augen. „Ja, gewiß! Kann ein Mensch auf irgend eine andere Art als durch freiwilligen Tod eine untilgbare Befleckung seiner Ehre sühnen? In dem vorliegenden Fall hat der Offizier das gesellschaftliche Vertrauen, die Zuverlässigkeit der ehrenhaften Gesinnung verletzt, die man von jedem einzelnen fordern muß, denn auf dieser Grundlage beruht das innere Zusammenleben einer Gemeinschaft von Menschen. Deshalb mußte er gehen.“

„Ich komme von der gleichen Voraussetzung aus zu einem ganz anderen Schluß,“ entgegnete der Doktor. „Die Menschen haben ein Recht, ehrlose Handlungen vor dem Gesetz gerichtet zu sehen, und niemand ist befugt, sich dieser Forderung durch den selbstgewählten Tod zu entziehen.“

„Es ist schließlich nichts als Feigheit vor den Folgen des eigenen Handelns,“ meinte Edda und sah Hermann ruhig an.

„Nein, das ist es nicht!“ Seine Stirn rötete sich leicht. Aber trotz seines energischen Widerspruchs fühlte er sich plötzlich dem klaren Blick dieser Augen gegenüber unsicher. Das Recht seiner Ansicht schien ihm mit einmal nicht mehr so zweifellos. Er schwieg.

In die entstandene Stille hinein ertönte das Klingeln der Hausglocke. Jemand fragte nach dem Doktor.

„Es thut mir leid, gerade heute abend zu einem Kranken zu müssen,“ sagte Helm, als er von draußen zurückkehrte, zu Hermann, während er Hut und Stock nahm. „Vielleicht sind Sie noch da, wenn ich wiederkomme. Doch kann es spät werden.“

„Wir wollen ins Nebenzimmer gehen,“ sagte Edda, als ihr Vater sich entfernt hatte. Sie ergriff die auf dem Eßtisch brennende Lampe und schritt Hermann voraus.

Es war augenscheinlich das Arbeitszimmer des alten Helm, das sie betraten, ein einfaches, fast dürftiges Gemach. An den Wänden große Regale, mit Büchern und allerhand Gläsern angefüllt, in denen seltsame Präparate ruhten. In einer Ecke das Gerippe eines Menschen, auf einem Tisch eine Anzabl von Totenköpfen, augenscheinlich Abnormitäten.

Hermann beschlich ein seltsames Gefühl. Allein mit diesem Mädchen in der fremdartigen fast unheimlichen Umgebung!

„Bitte, nehmen Sie Platz! – Haben Sie etwas von Ihrer Schwägerin gehört?“

„Nein, nichts! Sie hat mir noch nicht einmal geschrieben seit jener unglücklichen Geschichte, mein Bruder auch nicht, und vom Vater erhalte ich nur sehr selten eine kurze Nachricht. Wer kümmert sich noch um mich? Ich bin überflüssig.“

Er sagte das scharf, finster in das Licht der Lampe blickend.

„Sie sind verbittert, Herr von Weßnitz! Weshalb? Sie wissen, wie hoch alle Ihre näheren Bekonnten Sie stellen!“

Er zuckte die Achseln. „Ja, hoch stellen, hoch schätzen! Was ist das alles? Man friert dabei. Ich brauche mehr als das, brauche zuweilen einen teilnehmenden Menschen, ein gutes herzliches Wort!“

Sie sah ihn aufmerksam an, während eine feine Röte ihre Wangen überzog. Und dann, einer unwillkürlichen Regung folgend, streckte sie ihm die Hand hin.

„Wenn Sie Teilnahme, Verständnis suchen, Herr von Weßnitz – hier bei meinem Vater und mir werden Sie das finden. Sie leben zu einsam, ich kann das nachfühlen, aber Sie dürfen nicht verbittert werden, gerade Sie nicht!“

Welch eigentümlicher Ton in Ihrer Stimme zitterte! Hermann beugte lauschend das Ohr. Alles in seinem Innern ward weich, alles, was er in den letzten Jahren still, ohne Aussprache niedergerungen, quoll in ihm empor bei der Berührung dieser schlanken warmen Mädchenhand.

„O, wenn meine Mutter noch lebte!“ preßte er hervor.

Es war eine Weile still, dann sagte Edda: „Es muß etwas Wunderbares um den Besitz einer Mutter sein. Ich habe nie den Segen einer Mutterhand gefühlt, selbst nicht in meinen ersten Kindertagen. Erzählen Sie mir, bitte, von Ihrer Mutter!“

[565] Hermann begann zu erzählen, von der Kindheit, wie er die Seinen so lieb gehabt, die Eltern, den Bruder, die Lore. Allmählich ward er beredt, es war, als ob ein lange zurückgedämmter Strom nun freien Lauf bekäme. Edda horchte, das Haupt in die Hand gestützt, auf die schlichten Bekenntnisse dieses Mannes. Einigemal fühlte sie sich versucht, zu rufen. „Das war falsch; da hast Du nicht richtig gedacht!“ aber sie brachte es nicht übers Herz. Er hatte doch alles so ehrlich, so warm empfunden.

„Und nun so dazustehen, mir sagen zu müssen, daß alle meine Bemühungen umsonst waren, daß Bruno und Lore unglücklich geworden sind, daß unsere Familie vielleicht dem äußeren Ruin entgegen geht! Diese widrige Sache mit dem Prinzen, in der ich durch mein Eingreifen alles verdorben habe! Das ist hart. Fast ein Jahrzehnt gekämpft und gerungen und wer weiß – nun fällt doch alles zusammen.“ Er schwieg erschöpft.

„Armer Mann!“ sagte sie einfach. „Sie hätten wahrlich Besseres verdient! Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Vertrauen. Aber sie dürfen nicht kleinmütig werden! Es paßt nicht zu Ihnen.“

Nur mühsam bezwang sie die eigene Erregung. Jetzt fühlte sie deutlich, wie sie zu ihm gehörte, wie ihr Herz mit dem seinen schlug, jetzt, nachdem er ihr ein Stück seines eigensten Selbst gezeigt und gegeben hatte. Sie hätte zu ihm treten und die Arme um seinen Hals schlingen mögen, damit er wisse, daß er nicht ungeliebt, allein in der Welt stehe.

„Sie sind stark, Fräulein Edda. Es ist alles so fest und ruhig an Ihnen, daß ich in Ihrer Nähe meine, ich könnte – – doch nein! Ich gehe heute anders fort, als ich gekommen bin, und das danke ich Ihnen. Ich weiß, daß das, was ich gesprochen, bei Ihnen so fest verwahrt ist, als hütete ich selbst diese Bekenntnisse. Darf ich öfter wiederkommen? Ich empfinde selbst, daß ich Menschen brauche, die mir nicht nur äußerlich nahe stehen“

Der Klang seiner Stimme war ernst, tief zu Herzen gehend, und Edda fühlte diesen Ton wie ein Zittern durch ihr Inneres dringen. „Wie gern!“ erwiderte sie und senkte den Blick.

Eine Weile saßen sie sich stumm gegenüber, dann sagte Hermann: „Ihr Vater scheint doch erst spät zu kommen. Gute Nacht, Fräulein Edda!“

Langsam ging er hinaus, nachdem er ihr die Hand gereicht hatte; sie öffnete ihm die Hausthür. „Gute Nacht,“ klang’s noch einmal, während seine Schritte sich entfernten.

In die Stube zurückgekehrt, warf sich Edda, seltsam erregt, in einen Lehnstuhl. Wie gut sie ihn verstehen konnte, wenn auch vieles in ihm [566] so ganz anders war! Und wie herzlich er sich gezeigt hatte, wie vertrauend! War es denn denkbar, daß er ihr Gefühl erwiderte? O, sie wollte ihm helfen, den alten Lebensmut wiederzufinden; alles wollte sie von sich werfen, ihren Beruf, selbst ihre Dienste für den Vater, wenn sie nur für ihn leben konnte! Aber – dachte er überhaupt in dieser Weise an sie? War es nicht nur ein augenblickliches Gefühl innerer Hilflosigkeit, das ihn in ihre Nähe zog?

„Wo seid Ihr denn?“ ertönte plötzlich des Vaters Stimme aus dem Nebenzimmer.

Sie fuhr erschreckt zusammen.

„Wie, Weßnitz ist schon fort? Weiß Gott, es ist bald Mitternacht! Da gehen wir wohl zur Ruhe? Gute Nacht, Edda!“

*  *  *

Hermann machte von der ihm erteilten Erlaubnis Gebrauch. Er kam oft in die stille Wohuung des Doktors, in der Regel abends, und in anregender Unterhaltung flossen dann die Stunden dahin. Ein Heimatgefühl beherrschte ihn, wenn er in die Stube trat und der Doktor ihm wie einem guten alten Bekannten freundlich zunickte, ohne seine Thätigkeit zu unterbrechen, während Edda das Abendessen bereitete, bei dem sie sogar seine kleinen Lieblingsgerichte berücksichtigte.

Oft fehlte der Doktor, wenn Berufspflichten ihn abriefen. Dann saß Hermann wohl den ganzen Abend mit Edda allein und geheimnisvolle Fäden spannen ein Band von Herz zu Herz. So war Edda noch nie gewesen, so heiter, so sanft, so blühend gesund. Selbst ihre früher stets bleichen Wangen zeigten jetzt ein jugendfrisches Rot. Hermann bemerkte mit wachsendem Anteil diese Veränderung. Ihr kluges interessantes Gesicht wurde ihm täglich lieber und vertrauter, und in einsamen Stunden sehnte er sich nach ihrer Anwesenheit, er träumte davon, wie herrlich es sein müßte, dies trotzige Mädchen einmal in den Armen zu halten und von diesem weichen Mund geküßt zu werden. dem er einst heimlich den ersten Kuß geraubt.

Bei schönem Wetter machten die Drei Ausflüge in die Umgebung Berlins. Das waren Stunden reinster Erholung. Vater und Tochter, die sonst nur den schweren Forderungen ihres Berufes lebten, wurden in der freien Natur zu zwei großen Kindern. Der Alte pfiff lustige Studentenlieder, fing mit jedem, den der Weg mit ihnen zusammenführte, in seiner humorvollen Art Gespräche an, besonders mit Leuten aus dem Volk, mit denen er trefflich umzugehen wußte. Oft wunderte sich Hermann, wie bekannt dieser Armendoktor war, wie ehrerbietig Hüte und Mützen sich von den Köpfen lösten, wie freundlich die Leute dem alten Herrn im dichten Gedränge Platz machten.

Für einen Sonnabend hatte Hermann mit den Beiden einen Ausflug nach dem Grunewald verabredet. Pünktlich traf er ein, in Civil gekleidet, aber nur Edda empfing ihn.

„Wo ist Ihr Herr Vater?“ fragte er erstaunt.

„Zu einer schweren Operation abgerufen. Er bat mich, wir sollten uns durch seine Abwesenheit nicht stören lassen. Ich bin fertig!“ Hermanns verlegenes Gesicht gewahrend und sofort seine Gedanken erratend, begann sie zu lachen. „Sie bleiben doch stets derselbe! Sollen wir aus Rücksicht auf eine oberflächliche alberne Form den heutigen Ausflug unterlassen, bei diesem herrlichen Wetter?“

„Nein, nein ich dachte nur – –“

„Sie dachten, daß es nicht schicklich sei für uns beide, ohne Begleitung in die freie Natur zu gehen! Würden Sie mit Ihrer Schwester nicht unbedenklich allein nach dem Grunewald fahren?“

Nun mußte auch er lachen über den unnachahmlichen gutmütig spottenden Ausdruck ihres Gesichts. Schließlich kannte ja auch niemand diese Edda Helm! Trotzdem schaute er sich im Pferdebahnwagen halb scheu um, ob nicht zufällig irgend ein Bekannter einsteigen würde, und atmete erst auf, als er nach längerer Wanderung mit Edda einen Waldpfad einschlug, dessen Einsamkeit ihn vor einem zufälligen Zusammentreffen mit Bekannten hinlänglich zu schützen schien.

Es war ein warmer sonnenheller Maitag, der Wald friedlich und still, ein sprossendes Werden und Drängen in Baum und Strauch. Hell klang des Spechtes fröhliches Pochen am morschen Stamm und flinke Meisen fuhren blitzschnell an den Baumästen hin und her. Eine feuchtwarme Luft lagerte über dem Wald, würziger Harzduft zog durch die rötlichen von Sonnenlichtern durchspielten Kiefern. Die beiden einsamen Wanderer schwiegen. Die Einsamkeit, die friedliche Stille hielten jedes Wort zurück.

Edda atmete tief und langsam, die herrliche Luft begierig einsaugend, während ihre dunklen Augen träumerisch rechts und links in den Wald schweiften. Ein Reh sprang über den Weg, unwillkürlich hemmte Edda den Fuß und faßte nach ihres Begleiters Hand. Sie schauten beide dem flüchtigen, durch die Stämme huschenden Wilde nach, dann setzten sie sinnend ihren Weg fort.

Auf der Höhe eines Hügels, zu dem sie in lockerem Sandweg etwas mühsam hinaufgestiegen waren, blieb Edda stehen und strich erhitzt mit beiden Händen über ihr glattgescheiteltes Haar, von dem sie den einfachen Strohhut abgenommen hatte. Wie auf Verabredung ließen sie sich am Waldrand auf einem Raine nieder.

Sie hatten beide das Gefühl, als seien sie hier ganz allein auf der Welt. Dichtes Unterholz rings umher, kein Geräusch vom Getriebe der arbeitenden Menschheit, die große Stadt hinter ihnen, als sei sie versunken. Er trocknete sich langsam die Schweißperlen von der Stirn. Edda hatte die Handschuhe ausgezogen, zupfte einige Kräuter aus und blickte sinnend auf die zarten Frühlingskeime.

Hermann sah seine Begleiterin stumm von der Seile an und unwillkürlich mußte er an jenen Gesellschaftsabend bei seiner Schwägerin denken. War es nicht, als sei diese Edda damals ein ganz anderes Menschenkind gewesen? Die Scene fiel ihm ein, als sie ohnmächtig wurde, das Unrechl, das er sich hatte zu Schulden kommen lassen, da er die Hilflose küßte, schien ihm auf einmal in diesem vertrauensvollen Alleinsein doppelt schwer, und einem unwiderstehlichen Drange folgend, begann er unvermittelt: „Wissen Sie, daß ich Ihnen etwas abzubitten habe, ein großes Unrecht, das ich gegen Sie begangen habe?“

Edda wandte ihm langsam ihr Gesicht zu. „Sie mir?“ fragte sie verwundert. „Sie haben mir ein Unrecht äbzubitten?“

Sie stützte, während sie sich zu ihm wandte, die Hand ins Moos und berührte dabei die seine, ohne es zu wollen.

„Ja.“ Er senkte den Blick unter dem Blick der auf ihn gerichteten dunklen Mädchenaugen. Sein Herz pochte laut in hämmernden Schlägen. „Ja, ein Unrecht! Können Sie sich noch erinnern, wie ich Sie an jenem Abend bei meiner Schwägerin ins Nebenzimmer führte?“

„Ja, ich wurde ohnmächtig.“

Ihr war seltsam zu Mut. Hermanns Stimme, seine Art zu sprechen, war auders wie sonst. Er bohrte den Spazierstock tief in den trockenen Sand. „Damals, als ich mich über Sie beugte, um zu erfahren was Ihnen wäre, da habe ich Sie – geküßt!“

Es wurde ganz still. Hermann wagte nicht, aufzusehen, nur unter den Wimpern hervor bemerkte er, wie ihre Rechte sich fest um einen Busch Gräser am Wegrand schloß. Keine Silbe, kein Laut!

Behutsam, scheu schaute er endlich auf. Sie saß da, mit gesenktem Kopf, die Augen zu Boden gerichtet; unter den dunklen Wimpern hervor blinkte es wie Thränen, und dann rannen die Tropfen langsam über die Wangen hinab.

„Edda!“ flüsterte er, „Edda, können Sie mir verzeihen?“

Da sah sie auf – war es Zorn oder Schmerz, Freude oder Vorwurf, was in diesem Aufschauen lag? Hermann verstand es nicht, er fühlte nur den unwiderstehlichen Drang, sich Verzeihung zu erflehen, und warf sich ihr bittend zu Füßen. Was dann geschah – er wußte es nicht. Aber mit einmal ruhte sein Haupt in ihrem Schoß und ihre Hände strichen liebkosend über seine blonden krausen Haare. Er spürte ihren Atem an seinem Ohr.

„Edda! Edda! Ich hab’ Dich lieb!“

„Du! Du mich?“ Ein Schrei, ein Jubelruf schallte durch die Stille. Ihre Lippen hingen an den seinen, ihre Arme preßten sich um seinen Nacken. „Küsse mich, küsse mich wieder, Hermann!“ Sie stieß es selig hervor.

O, wie er sich geborgen fühlte in diesen Mädchenarmen! Es war ihm, als würde er von Wolken emporgehoben, als versänke alles Irdische unter ihm.

„Dich liebe ich, Hermann! Auf der Welt nur Dich!“ stammelte sie. „Dein Weib will ich sein, ich gehöre Dir ganz mit Leib und Seele!“

Schon sank die Dämmerung herab, der Abendruf der Drossel schallte aus dem Gebüsch. Da wanderten sie beide Hand in Hand den Weg zurück.

„Ich fürchte mich vor den Menschen“ flüsterte Edda, sich an ihn schmiegend.

Ein weltvergessener Ausdruck lag in seinen Zügen, er antwortete nicht. Ehe der Waldpfad ins Freie führte, blieb sie stehen.

[567] „Küsse mich noch einmal, Hermann!“

Als wollte sie vergehen, so hing sie in seinen Armen, an seinem Mund. Dann blieb sie still und wortkarg, scheu vermied sie jede Berührung seiner Hände; fröstelnd, mit bleichen Wangen saß sie neben ihm im Pferdebahnwagen.

„Gute Nacht, Hermann. Es ist besser, wir trennen uns schon jetzt!“ sagte sie, als sie an ihrem Hause angelangt war.

„Wie Du willst, Edda! Schlaf süß! Gute Nacht!“

Wie im Traum ging er nach Hause. War dies das Glück? Ja, das mußte es sein!

Sein Bursche übergab ihm beim Betreten der Wohnung ein schon am Nachmittag eingelaufenes Telegrantm.

„Kommen Sie so schnell wie möglich! Ihr Vater schwer erkrankt.“ Darunter der Name des alten Hausarztes.

Das fiel wie ein Donnerschlag in seine Herzensstimmung. In zwei Stunden ging der nächste Zug, der ihn der Heimat zuführen konnte. Mit fliegender Hast schrieb er ein Urlaubsgesuch und packte die notwendigsten Sachen zusammen. Noch eine Stunde, eine ewig lange Stunde hatte er Zeit. Wie sollte er sie ausfüllen?

Da fiel ihm ein, daß er an Doktor Helm schreiben, ihn um die Hand seiner Tochter bitten mußte. Eigentlich hatte er zuerst seines Vaters Zustimmung einholen wollen, aber nun? Wer wußte, ob er denselben noch lebend antreffen würde? Mit wenigen schlichten Worten teilte er dem Doktor seine Verlobung mit und bat ihn um seine Einwilligung. Aber schon während er schrieb, kam ihm der Gedanke, ob sich jetzt wohl alles so gestalten würde, daß er um ein Mädchen werben, eine mittellose Braut zu seiner Frau machen durfte? Und plötzlich erschien ihm diese Liebe so knabenhaft unbesonnen. Er schämte sich beinahe, das nicht früher überlegt zu haben. Aber es war über ihn hereingebrochen, ohne daß er vorher ernstlich daran gedacht hatte. Und doch, waren alle diese Bedenken nicht kleinlich?

„Ich hab’ sie so lieb,“ murmelte er vor sich hin. Ihr Antlitz stand ihm wieder vor der Seele, wie selig es geleuchtet hatte, als sie an seinem Halse hing. O, er liebte sie, diese Edda! Er fühlte bewegt, wie ihm im Herzen ein großes zuversichtliches Glücksgefühl aufging.

Dies Gefühl verließ ihn auch nicht während der langen nervenanspannenden Eisenbahnfahrt. Ihm war, als hätten erst Eddas Küsse alles Gute in ihm zum Leben erweckt. Gedankenvoll durch das Fenster in die vorüberfliegende Landschaft schauend, flüsterte er ihren Namen. – –

Er fand den Vater nicht mehr unter den Lebenden; auf kalte starre Totenhände fielen des Sohnes Thränen. Bruno hatte nicht kommen können, da er sich auf einer Dienstreise befand, Lore auch nicht, weil ihr Knabe erkrankt war. So ging Hermann als einziger Anverwandter dem Sarge nach, genau wie er einst neben dem Vater, den tief Gebeugten stützend, der toten Mutter das letzte Geleit gegeben. Von nah’ und fern waren Leidtragende herbeigeströmt, Freunde, Bekannte, Abordnungen von Vereinen und Genossenschaften. Man hielt am Grabe Reden, viele Reden, man lobte die edle Gesinnung, das ritterliche Handeln des Dahingeschiedenen, seine treue Pflichterfüllung. Selbst vom Landesfürsten kam Beileidsschreiben und Kranz.

Alte Bekannte seines Vaters begrüßten den Sohn als dessen Nachfolger; man bot ihm Stellungen, Ehrenämter an, die der Vater ausgefüllt hatte, als sei es ganz selbstverständlich, daß der Sohn in allem in des Vaters Spuren trete.

Ihn umfing das alles, als sei er aus einer fremden Welt wieder zurückgelangt in seine eigentliche Heimat, als habe er während der letzten Monate in Gedanken und Thaten wie ein Abtrünniger der Scholle gelebt, die ihm einst das erste Brot gegeben. Er sann und sann, dann reichte er kurz entschlossen seinen Abschied ein, Nicht einmal Edda fragte er um Rat.

Es kamen Tage lästiger Arbeit; das Ordnen des Nachlasses nahm alle seine Kräfte in Anspruch und bald wurde ihm klar, daß er ein Erbe übernommen hatte, das in alle Winde zu zerflattern drohte. Die Wirtschaft war in Verwirrung, kein Nachweis vorhanden über Einnahmen und Ausgaben. Er mußte sich sagen, daß nur eine eiserne Anstrengung seinerseits imstande sein würde, soweit Ordnung zu schaffen, um überhaupt das Gut zu halten und wieder in die Höhe zu bringen.

Trotzdem durchzog sein Inneres ein frohes mächtiges Kraftbewußtsein. Er wollte schon vorwärts kommen! Die Leute, die ihn umgaben, hatten ja alle denselben guten Willen wie er; es kamen sogar Dienstboten und Tagelöhner, die seit Jahren auf dem Gute lebten, mit der Bitte zu ihm, ihren Lohn herabzusetzen, da er offen von seiner Lage gesprochen und sie darauf aufmerksam gemacht hatte, daß viele Aenderungen eintreten müßten.

Endlich erhielt er einen Brief von Doktor Helm. Hermann erschrak fast. Er hatte sich vergeblich Eddas Schweigen zurechtzulegen versucht, nachdem er ihr den Tod des Vaters und seinen Entschluß mitgeteilt hatte, seine Offizierslaufbahn aufzugeben. Er zögerte, das Couvert zu erbrechen. Selbstverständlich würde der Doktor seine Zustimmung geben, aber was sollte werden? Die Unsicherheit seiner äußeren Lage, die Notwendigkeit, fast alles, was er jetzt dem Namen nach noch sein nannte, erst durch jahrelange Arbeit in Wirklichkeit zu erringen, machte es für ihn beinahe zur Unmöglichkeit, jetzt eine Ehe zu schließen. Die Arbeit der letzten Tage hatte ihn kaum an diese Dinge denken lassen und abends war er todmüde, jeder Ueberlegung unfähig, in den Schlaf gesunken. Nun stand die harte Wahrheit ihm plötzlich vor Augen. Zögernd öffnete er den Brief.

  „Lieber Herr von Weßnitz!

Mein und Eddas Mitgefühl bei Ihrem bitteren Verlust ist Ihnen wohl ohne weitere Beteuerungen gewiß. Trostworte helfen da nichts; es ist einmal nicht anders, als daß Kinder die Eltern überleben. Der Tod ist ehrwürdig und Sie mit Ihrem Charakter werden mit Fassung seine Macht ertragen haben.

Ihren in Berlin geschriebenen Brief erhielt ich. Ich darf Ihnen sagen, daß ich mich selten im Leben so glücklich gefühlt habe als beim Lesen Ihrer Zeilen.

Edda hat geweint bei der Nachricht vom Tode Ihres Vaters. Sie spricht nur von Ihnen; ihr Gesicht strahlt, wenn ich Ihren Namen nenne, aber auf meinen Wunsch unterließ sie es, Ihnen zu schreiben. Es soll erst alles klar zwischen uns sein.

Schwer fällt mir das Bekenntnis, das ich Ihnen abzulegen habe, aber das Vertrauen auf Ihren Charakter, auf Ihr vorurteilsfreies Denken erleichtert mir diese Aufgabe, obgleich – doch hören Sie mich an! Ich muß weit ausholen. Nachdem ich in Berlin studiert hatte, ging ich nach Zürich als Assistent zu einem damals berühmten Arzt, mit einem Gehalt, der mich eben vor dem Verhungern schützte, denn mein kleines väterliches Erbteil hatte kaum für meine Studienjahre gereicht. Meine bescheidene Junggesellenwohnung lag auf dem Flur eines großen Miethauses, auf den auch das Zimmer einer Studentin der Medizin mündete, eines geistreichen strebsamen jungen Mädchens, das, von einfachstem Herkommen, ihre geringen Mittel auf das Studium verwandte. Ich will Sie nicht langweilen mit den kleinen Nebenumständen, die mich mit dem Mädchen zusammenführten. Sie sind alt genug, um die Welt zu kennen. Nur das Eine sei Ihnen gesagt: wenn sich zwei Menschen von Herzen treu und ehrlich lieb gehabt haben, so waren es Eddas Mutter und ich. Ich wollte sie zu meinem rechtmäßigen Weib machen, sobald mir eine gesicherte Lebensstellung die Gründung eines Haushalts erlaubte. Es sollte nicht soweit kommen. Eine Tochter wurde uns geboren – Edda; ihre Geburt kostete der Mutter das Leben. Mein Schmerz war grenzenlos. Was soll ich weiter sagen? Wie meine Tochter aufwuchs, wissen Sie. Bis jetzt trägt Edda gesetzlich noch nicht meinen Namen, mir schien es bisher überflüssig, all die lästigen Förmlichkeiten zu erfüllen; Schätze habe ich ja nicht zu vererben. Trotzdem bedaure ich jetzt die Unterlassung, die sich übrigens rasch wird gutmachen lassen.

Ich will und kann nichts weiter hinzufügen. Sie kennen Edda und mich. Seien Sie gerecht! Es war meine Pflicht, Ihnen dies mitzuteilen. Edda habe ich gestern in alles eingeweiht.
Ihr alter Freund Helmut Helm.“ 

Hermann ließ langsam das Papier sinken. Unklare Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, finster, regungslos grübelte er stundenlang vor sich hin. Was sollte er thun? Der Bericht des Doktors hatte alles in ihm wachgerufen, was die Tradition seiner Familie, seine ganze Erziehung an Stolz und Vorurteilen in ihm niedergelegt hatten. Durfte er ein Mädchen von solcher Herkunft als Gattin in das Haus seiner Väter führen? Und selbst, wenn er alles überwand, durfte er dies Mädchen, das kaum die einfachsten Pflichten einer Hausfrau zu erfüllen gelernt hatte, an die Spitze seines Gutes stellen, dessen Wirtschaft in tausenderlei Obliegenheiten eine erfahrene Herrin erforderte, die mit ihm Seite an Seite arbeitete? Er mußte leben wie ein einfacher Gutspächter, [570] wenn er Weßnitz halten wollte – war da eine Doktorin der Medizin die richtige Gefährtin?

Hinter diesen Gedanken versteckte er sich vor sich selbst, vor der inneren Stimme, die sich immer wieder heimlich regen wollte, die ihm zurief: sei kein Narr, sei ein freier Mensch – sie ist eine reine edle Natur, was kümmert dich da ihre Herkunft!

Nein, nein, er durfte nicht nachgeben, es ging nicht!

In diesem Sinne beantwortete er den Brief des Doktors, ohne weiter zu überlegen, hastig, mit dem unbestimmten Gefühl, daß weiteres Nachdenken ihn in seinem Entschluß wankend machen könnte. Er verschwieg nicht, daß ihn die unerwartete Mitteilung erschreckt und betrübt hatte, aber das Hauptgewicht legte er auf die Gestaltung seiner äußeren Verhältnisse. Er habe kein Recht, das Schicksal eines Mädchens an sein Leben zu ketten, ohne zu wissen, wie seine Zukunft sich gestalten werde.

Der Brief war fertig, zur Post gebracht, aber den Schlaf raubte er ihm doch in den nächsten Tagen. Er hatte das Gefühl, als habe er in sich selbst einen dunklen Winkel gefunden, den er nicht beleuchten dürfe, ohne zu erröten.

Nach einigen Tagen kam ein Brief – er enthielt sein eigenes Schreiben. Darunter stand mit großer fester Schrift: „ Gelesen! Edda Helm.“

Ihm war zu Mut, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Abscheulich! Beleidigend! Mit einem wahren Ingrimm stürzte er sich in seine Geschäfte, und wenn in ihm trotzdem Bedenken auftauchen wollten über seine Handlungsweise, Erinnerungen an jenen Tag im Grunewald, dann schaute er zu den Bildnissen seiner Eltern auf und murmelte: „Ich war es Euch schuldig.“ Aber leichter wurde es ihm nicht ums Herz.

Schließlich kam eine Art von Verstocktheit über ihn; er klammerte sich fest an die Pflichten die er seinem Namen, seinem Stande zu leisten habe, die er Bruno und Lore gegenüber erfüllen müsse. Den Kopf mühsam aufrecht tragend, ging er mit hartem Gesicht über Hof und Felder, legte überall selbst Hand an und versagte sich die bescheidensten Bedürfnisse. Aber einsame Stunden kamen doch immer, in denen er sich widerwillig bewußt ward, daß es eine wunde Stelle in seinem Herzen, in seinem Gewissen gebe.


Zum zweitenmal, seit Hermann sein Erbe angetreten hatte, war es in Weßnitz Winter geworden. Die braune Heide, der erschauernde seufzeude Tannenwald – alles zugedeckt mit den unendlich sich übereinander lagernden weißen Flocken, und noch immer schneite es unaufhörlich, als gälte es, alles zu begraben, alle Höhen und Tiefen zu ebnen. Der pfeifende Sturm jagte den Schnee, der hier sich wirbelnd in einer Hausecke fing, dort sich wieder hoch in die Lüfte erhob, ohne Unterlaß vor sich her, hinein in die ragenden Baumwipfel jenseit des Teiches.

Die Dämmerung sank herab, schwer und bleiern; zum letztenmal flammte ein glutrotes Sonnenlicht auf hinter den Höhen der Heide, als grüßte eine riesige leuchtende Götterhand segnend die Erde.

Hermann stand am Fenster in seines Vaters ehemaligem Arbeitszimmer und blickte sinnend in die trostlose Oede. Schon eine Stunde verharrte er so, grübelnd die Arme über der Brust gekreuzt. Ein elender Kampf ums Dasein! Zwei Krähen stritten da draußen wütend um eine Brotrinde, Federn stoben, dann flog die eine besiegt, heiser krächzend davon. Ueberall derselbe Kampf, Hunger und Durst, die ewigen großen Triebfedern alles Lebens! Wie viele Monate waren vergangen, seit er die starken Schultern gegen das morsche unterwühlte Gebälk seines Erbes stemmte, Monate voll Arbeit, voll Verdruß, ein unausgesetzter Streit mit Kleinigkeiten, dabei immer das Gefühl, als müsse ihm ein böser Zufall das ganze Werk vernichten. Aber er hatte den Mut nicht sinken lassen; es war ihm gelungen, vorwärts zu kommen, ja sogar etwas von der Schuld abzutragen, mit der er das Gut hatte noch mehr belasten müssen, um die Wirtschaft neu einzurichten. Aber was konnte die Zukunft alles bringen? Wenn nun auch einmal Mißerfolge kamen! Wann durfte er endlich an sich denken?

Während der ganzen Zeit hatte der Gedanke an Edda in seinem Inneren genagt; oft war das Schuldgefühl und die Sehnsucht mächtig in ihm geworden, dann wieder ein verbissener Trotz, als habe er nicht anders handeln dürfen. Hätte er an der Seite Eddas so karg und zurückgezogen nur seiner Arbeit leben können? Und was würde aus Bruno und Lore geworden sein? Nicht einmal die kleine Unterstützung, die der Bruder im ersten Jahr aus dem Gut erhielt, wäre zu erübrigen gewesen.

Mit großen Schritten wanderte Hermann jetzt auf und ab, nach seiner Gewohnheit immer in derselben Richtung hin und zurück; die eichenen Dielen zeigten genau den Weg, den er Tag um Tag machte – faserig und rauh erschien an dieser Stelle die Oberfläche der altersdunklen Bohlen.

Diese seine Gewohnheit fiel ihm heute selbst auf, er dachte voll Bitterkeit an das ruhelose Auf- und Abwandern des gefangenen Tieres in seinem Käfig, eines Sträflings in einsamer Zelle. Doch nein! Er warf den Kopf zurück. Nicht gekettet, nicht gefangen! Aus freien Stücken ging er hier einsam seinen Weg, mit hartem Tritt, er kämpfte einem selbstgewählten Ziele zu. Sein Blick fiel auf das lebensgroße Bild seines Vaters über dem Schreibtisch. Ein kraftvoller Männerkopf, stark und stolz! „Ja, so will ich sein und bleiben, Vater, so wie Du warst! Noch kurze Zeit, dann darf ich den Brief öffnen, den ich in Deinem Schreibtisch fand. Was magst Du mir noch zu sagen haben?“

Seine Gedanken wanderten weiter zu Bruno und Lore. Der Bruder mußte sich geändert haben, er lebte ohne Frage jetzt vernünftiger, denn er hatte sogar im Herbst freiwillig auf seinen Zuschuß verzichtet. Das war ein Freudentag für Hermann gewesen. Aber was war mit Lore? Er senkte finster den Blick. Sie würde nie wieder so werden wie einstmals. Gebrochen, fast willenlos, war sie an der Seite ihres Mannes geblieben. „Ich weiß, welche Opfer Du dem Namen Deiner Väter gebracht hast, ich will nicht zurückstehen, sondern bleiben, wo ein Schwur mich bindet, und meinen Knaben in Deinem Geist erziehen,“ hatte sie ihm vor Jahresfrist geschrieben. Es war so selbstverständlich, daß nur die Pflicht sie hielt, daß sie den Gatten nicht mehr zu lieben vermochte. Daß ein Weßnitz so schwach sein konnte!

Müde ließ er sich vor dem Schreibtisch nieder und begann in dem großen Wirtschaftsbuch zu blättern. Eintönig tickte die Uhr in ihrem eichengeschnitzten Gehäuse. Leise trat der alte Diener seines Vaters ein und übergab ihm ein Telegramm. Von wem nur? dachte Hermann und öffnete den Umschlag.

„Komme heute abend halb Zwölf mit Edgar in Weßnitz an. Bitte Wagen! Lore.“

Er erschrak. Was war vorgefallen? Rasch flog sein Blick zur Wanduhr. Schon ein halb elf Uhr.

„Der Kutscher soll anspannen! Meine Schwägerin kommt in einer Stunde. Lassen Sie die Fremdenzimmer in Ordnung bringen!“

„Nein, die Freude!“ meinte der alte Johann und ging eilig hinaus.

„Freude!“ wiederholte Hermann bitter und faltete mechanisch das Telegramm zusammen. Ob sie Freude brachte?

Eine seltsame Unruhe erfaßte ihn, er ging in die Küche, bestellte ein Abendessen, blickte selbst in die Gastzimmer. Qualvoll langsam verrann die Zeit. Da schallte vom Hofe herauf Peitschenknallen. Rasch eilte Hermann hinab, mit herzlichem Gruße hob er Lore aus dem Schlitten, dann Edgar.

„Guten Abend, Hermann,“ flüsterte sie nur und stützte sich schwer auf seinen Arm beim Ersteigen der Treppe.

„Legt Eure Mäntel ab und wärmt Euch!“ sagte er, in seinem Zimmer angekommen. Es war ihm, als schnüre ein eiserner Reif seine Brust zusammen. Wortlos folgte Lore seiner Aufforderung. Er sah, wie sich ihr bleiches Gesicht aus den Umhüllungen losschälte. Dann stand sie stumm, mit herabhängenden Armen, dicht am Kamin, Hermann an seinem Schreibtisch gerade aufgerichtet, die Rechte krampfhaft um die geschnitzte Lehne des Stuhles geschlossen. Nun wußte er gewiß, es war etwas vorgefallen, etwas Entscheidendes, Furchtbares.

Und dann ein Schrei, jäh aus einer geängstigten Brust sich losringend. „Hermann! Hermann, rette, rette uns! Ihn, mich! Dem Kinde den ehrlichen Namen!“

Sie lag vor ihm auf den Knien, ihre eiskalten zitternden Finger tasteten nach seiner Hand; und daneben stand, das feine Köpfchen gesenkt, mit einem rührend fragenden Kinderblick und zum Weinen verzogenen Mundwinkeln, Edgar, ihr Knabe.

Es war still, ganz still. Hermann beugte sich nicht herab, sein Blick war ins Weite gerichtet, starr, als erblickte er grausend ein Medusenhaupt. Keine Muskel an ihm zuckte, nur die Faust auf der Stuhllehne preßte krampfhaft das geschnitzte Holz.

[571] Es war etwas Schändliches, Entsetzliches geschehen und er sollte helfen! Helfen, immer helfen! Nicht mit Faust oder Herz, nein, mit Gold, mit elendem rollenden Gold! Was sonst trieb die Lore ohne vorherige Ankündigung durch Schnee und Sturm hierher, vor seine Füße?

„Hermann!“

Er fühlte, wie ihre Gestalt schwer an seinen Knien lehnte, wie das Kind mit schwachen Händen nach der Mutter tastete. Langsam beugte er sich hinab und hob sie empor. Wie leicht sie war, als er sie auf den Armen zum Sofa trug! Schwer sank ihr Kopf auf die gepolsterte Lehne. War das die Lore von einst – dies abgezehrte Gesicht mit den hervortretenden Backenknochen und den vielen Falten an den eingesunkenen Schläfen?

Er flößte ihr starken Wein ein. Leise, sanft wie einem Kinde strich er ihr mit der harten Hand über die Stirn. „Sei ruhig, Lore, Du bist bei mir! Was hat er gethan? Was ist geschehen? So sprich doch, Lore! Zu mir, Deinem Bruder!“

Ein erleichternder Thränenstrom rann über ihre Wangen.

„Was er gethan? Ich soll es sagen, ich, sein Weib – dem Bruder – daß mein Mann ein – ein Betrüger ist?“

Hermann taumelte zurück.

„Das – das kann nicht sein! Mein Bruder ein Betrüger?“

„Ja, Dein Bruder! Vor zwei Tagen war’s, da gestand er mir alles. Gespielt! Gespielt seit zwei Jahren! Davon haben wir gelebt – von dem Sündengeld gezehrt. Dann ließ ihn eines Tages das Glück völlig im Stich. Bruno – half sich. Vom Spieler zum Fälscher! Ein Wechsel, nur ein elender Fetzen, aber der Name Weßnitz steht darunter – Hermann von Weßnitz! O es ist zum Wahnsinnigwerden!“

„Wie viel beträgt die Summe?“ fragte Hermann. Es lag etwas Metallhartes in seiner Stimme.

„O nicht viel – eine Kleinigkeit für Bruno . . . nur dreißigtausend Mark!“ rief Lore mit unheimlichem Lachen.

Vor Hermanns Augen tanzten rote Schatten. Dreißigtausend Mark!

„Kannst Du helfen?“ stammelte Lore, „sag’, kannst Du? Nein, nein – ich seh’ es an Deinem Gesicht. Hilf, Himmel! Er kann nicht mehr helfen! Und Bruno hat mir versprochen, geschworen, er wolle nichts beginnen vor morgen früh acht Uhr, aber dann – dann – wenn keine Nachricht kommt –“

„Nun dann, Lore?“

„Dann schießt er sich tot!“

„Das thut er nicht, der Feigling!“ stieß Hermann ingrimmig hervor.

Sie starrte ihn eine Weile an, dann begann sie wieder zu schluchzen, krampfhaft, verzweifelt.

„O, Du magst recht haben. Sein Stolz ertrüge es nicht, sagte er, seine Schande zu überleben. Ich kenne aber seinen Stolz ... er hat keinen Stolz mehr und keine Ehre! Ich kann ihn nicht einmal mehr achten. Aber sieh, hier, meinen Sohn! Dem möchte ich die Ehre retten, dem sollen sie nicht dereinst die Schmach seines Vaters gellend in die Ohren schreien, der soll sich nicht des Namens Weßnitz schämen müssen! Und deshalb flehe ich Dich an: rette uns!“

„Ich werde es thun!“

„Du telegraphierst sofort?“

„Ja!“ Ein hartes trockenes Ja war es.

Dann schickte er Lore mit dem Kinde zur Ruhe, willenlos folgte sie seinen Anordnungen.

Wieder war er allein. Wieviel war es doch? Dreißigtausend Mark, richtig! Genau so viel hatte er nach dem Tode seines Vaters mit Mühe auf das Gut aufnehmen können und in die Wirtschaft gesteckt, nur um überhaupt imstande zu sein, weiter zu arbeiten. Und nun? Wenn es je möglich war, das Geld zu schaffen, wie dann das Gut halten? Und schließlich – wozu das alles? War nicht auch diese neue Summe nur ein Tropfen auf einen heißen Stein? Würde dieser Brnder mit seiner ehrlosen Gesinnung nicht stets den Namen derer von Weßnitz wie ein Verhängnis mit neuer Schande bedrohen? Aber dennoch – es war sein Bruder, ein Weßnitz! Und wenn sie ihm das Blut aus den Adern saugten, er mußte, solange noch ein Tropfen davon vorhanden war, sich aufbäumen dagegen, daß ein Weßnitz ins Zuchthaus kam!

Da flackerte die Lampe, ein leises Rauschen, langsam wandte er den Kopf. Dicht vor ihm stand Lore, im hastig übergeworfenen Schlafrock, in wuchtigen goldenen Wellen rieselten die Haare hinab bis auf die Hüften.

„Lore!“ schrie er auf.

Ein mattes Lächeln huschte über ihre Züge. Aus ihren tiefen dunkel geränderten Augen flackerte etwas Unruhiges, Gespensterhaftes. Mit einer seltsam starren Bewegung hob sie die Hände, die weiten Aermel fielen zurück von ihren Armen, die krankhaft mager waren. „Hermann!“

Er erschrak über den heiseren Klang ihrer Stimme, ihre Hand ergreifend, die glühend heiß in seiner brannte, führte er sie zu einem Sessel. „Setze Dich! Was möchtest Du noch von mir? Du solltest schlafen!“

„Schlafen? Ich kann nicht schlafen.“ Liebkosend glitten ihre Finger über seine Rechte. „Wie gut die Hand ist! Nur bei Dir sein wollte ich, mich schauert’s allein in meinem Zimmer, und ich hörte Dich auf und ab wandern. Gieb es doch zu, Du kannst nicht helfen! Sag’ es offen, Du ruinierst Dich selbst!“

„Nein, nein, ich will helfen,“ wehrte er ab.

„Und Edda? Wie steht es mit Euch beiden? Hast Du sie nicht lieb gehabt?“

„Das ist vorbei, Lore!“

„So, so, auch vorbei!“

Ihn fröstelte bei ihrem Anblick.

„Merkwürdig,“ fuhr sie fort, den Kopf in die durchsichtige Hand stützend, „wir haben so manches ,Wunderknäuel’ aufgewickelt als Kinder und fanden immer schöne Sachen darin, und nur unser Leben, Dein Leben – –“

„Das Leben ist nicht schön, Lore!“

„Rein, es war nicht schön.“ Sie senkte das Haupt, dann begann sie aufs neue mit tonloser Stimme: „O doch, damals als Edgar geboren wurde, ja, da war es schön, und dann zu Anfang in Berlin, als Du so häufig kamst, um mit mir zu plaudern und als alles so ruhig wurde in mir, so oft Du mit mir gesprochen. Sag’, Hermann, war es nicht schön damals? Nein, nein,“ schluchzte sie auf, „es war Lüge, alles Lüge! Hermann, was war das nur in mir damals, als er zurückkam aus Frankreich? Warum nur hab’ ich Bruno die Hand gereicht? Als wir uns in Berlin wiedersahen, Hermann, da wußte ich, daß ich ihn und Dich verwechselt!“

„Laß!“ stieß er stöhnend hervor.

„Nein nein, ich will es sagen! Es ist ja nun alles vorbei. O wie ich an Dir gehangen! Wie ich Dich geliebt! Ja, ja – es war Sünde, aber Dich hab’ ich doch allein lieb gehabt, jetzt weiß ich es genau, und das hat mich gerettet vor jenem Russen!“ Sie schauerte zusammen. „Weißt Du, was es heißt, wenn man den Bruder seines Mannes liebt? Kannst Du diese Qualen fühlen? Kannst Du ermessen, wie schwer es war, Dich ruhig neben dieser Edda zu sehen? Und alles das umsonst – vorbei! Hermann!“ Blitzartig sprang sie auf, hing an seinem Halse. „Hermann, laß mich Dir danken! Nur ein einziges Mal laß mich Dich küssen!“

Ihm hämmerten die Pulse. Alles, was er niedergerungen, die ganze Liebe seiner Jünglingsjahre wallte in ihm auf. Dies Weib, die Lore, in seinen Armen, diese Lippen, die zu ihm aufstrebten und dann diese Augen – doch nein, das waren nicht die Augen einer Gesunden, es flackerte darin etwas Fremdes, Unbewußtes, Wahnwitziges! Er schob sie zart von sich. Sie schwankte und ächzend sank sie zu Boden. Bestürzt hob er sie auf, trug sie in das Schlafzimmer und klingelte nach dem Diener. Die Haushälterin wurde geweckt; sie entkleidete Lore, die sich im Fieber hin und herwälzte.

„Den Schatten, die Rappen!“ herrschte Hermann den Kutscher an, den er hatte rufen lassen.

„Bei der Nacht, gnädiger Herr?“

„Es muß sein! Schnell, wir müssen den Doktor aus der Stadt holen!“

Und über die Heide ging es in wildem Lauf, mit keuchenden Pferden. Der weiße Schaum ihrer Flanken mischte sich mit dem stiebenden Schnee, und immer wieder flog die Peitsche pfeifend auf ihren Rücken nieder. Durch Hohlwege und über kahlgewehte Höhen, immer weiter! Der Mann im Schlitten kannte kein Erbarmen. In der Ferne blinkten endlich Lichter, der alte Kutscher atmete auf, die breite Landstraße war erreicht. Noch ein letzter Peitschenhieb und in sausendem Galopp flog der Schlitten hinein in die menschenleeren Straßen der kleinen Kreisstadt.

[581] In einem öden kalten Gasthofzimmer verbrachte Hermann die Stunden der Nacht; den Schlitten hatte er mit dem Arzt zurückgeschickt nach Weßnitz; ihn selbst hielt die Pflicht, die quälende Sorge, wie er das Geld für seinen Bruder schaffen könnte.

So früh wie möglich suchte er seinen Bankier auf.

„Mein Gott! Wie sehen Sie aus, Herr von Weßnitz!“ redete ihn der alte Berater seines Vaters an. „Sie sind krank! Was treibt Sie so früh zu mir?“

Hermann ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl nieder und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung.

„Ich brauche dreißigtausend Mark, sofort, Herr Weber! Zahlbar an ein Brüsseler Haus für meinen Bruder.“

„Dreißigtausend Mark? Jetzt gleich? Das ist unmöglich!“

„Ich muß das Geld haben! Irgend woher! Schaffen Sie Rat! Vorwärts, Sie müssen es können!“

„Woher es nehmen, Herr von Weßnitz? Ich habe eine solche Summe jetzt nicht in der Kasse. Selbst wenn ich also helfen wollte – woher das Fehlende in der Eile nehmen und auf welche Garantie?“

„Eine neue Hypothek auf Weßnitz!“

[582] „Das geht nicht! Weßnitz hat an den früheren Hypotheken genug zu tragen.“

„Einerlei, es muß sein!“

Der alte Bankier sprang auf und rannte hastig im Zimmer auf und ab. „Ist eine Möglichkeit vorhanden, das Kapital innerhalb sechs Monaten zurückzugeben?“

Hermann lachte auf, schrill, trocken.

„Herr von Weßnitz, ich habe Ihrem Vater oft geholfen – er war ein Ehrenmann, und Sie sind sein Sohn! Aber ich bin ein Greis und habe Kinder. Das Gut trägt diese neue Last nicht mehr.“

„Schaffen Sie das Geld, Weber!“

Der alte Mann schaute eine Weile stumm in das verzweifelte blutleere Gesicht seines Besuchers. Es graute ihm fast vor diesem Ausdruck qualvollen Schmerzes. „Auf gute Zinsen, Herrn von Weßnitz?“

„Einerlei! Es geht in einem Bettel fort.“

Jener seufzte. „So will ich versuchen, das Geld zu schaffen.“ Hastig verließ er das Zimmer.

Als er nach einer Stunde zurückkehrte, saß Hermann noch auf demselben Fleck. „Haben Sie Vertrauen zu mir, Herr von Weßnitz! Es ist wieder für den Herrn Bruder? Ein Kavalier, aber sorglos, sehr sorglos! Das ganze schöne Geld also fort?“

„Ja.“

„Dann ist Weßnitz nicht zu halten!“

„Ich weiß es. Wenn kein Gott hilft!“

Der alte Geschäftsmann lachelte. „Ich will Ihnen etwas sagen, Herr von Weßnitz, nichts für ungut – es giebt noch ein Mittel. Machen Sie eine reiche Partie! Es wäre zu arrangieren.“

„Lieber betteln! Lieber Weßnitz verkaufen!“

„Nun, dann nicht! Ich habe das Geld flüssig gemacht; die gerichtliche Sache mit der Hypothek werde ich ordnen; aber eins versprechen Sie mir, Herr Baron, kommen Sie in acht Tagen noch einmal hierher, ehe Sie irgend welche Schritte zum Verkauf des Gutes thun.“

Hermann stand wortlos auf.

„Versprechen Sie es mir, Herr von Weßnitz!“ Des alten Mannes Hände zitterten, als er sie ihm entgegenstreckte. „Ich weiß, wie Sie gearbeitet haben seit einem Jahr; wie ein Lastpferd.“

„Hier!“ Hermann legte seine feuchtkalte Hand in die Rechte des Bankiers. „Ich danke Ihnen!“

„Das Geld wird sofort telegraphisch überwiesen werden.“

„Gut! Nochmals Dank!“ Dann schwankte er hinaus wie ein Trunkener, nachdem er dem Bruder ein lakonischeS Telegramm geschickt hatte, das ihm die Ankunft des Geldes mitteilte, wanderte er durch die Straßen der Stadt, hinaus aus dem Thore, bis zu den Knien im Schnee watend. Die Anstrengung that ihm wohl; er war ganz allein auf der Landstraße mit den schnurgerade sich ausdehnenden Baumreihen zu beiden Seiten. Könnte man doch immer so geradeaus gehen! Immer geradeaus ohne Winkel und Hemmung, denselben geraden Weg bis zum Ende! So hätte er gehen mögen sein Leben lang; er hatte es auch gewollt.

Sein Fuß zögerte; wenige Schritte vor ihm hatte der Sturm einen starken Baum quer über die Straße geworfen. Er blieb eine Weile sinnend davor stehen. „Ja, ja, so trifft es,“ murmelte er leise. Dann wollte er im Bogen um das Hindernis herum, allein er hatte nicht acht auf den verschneiten Straßengraben und sank bis unter die Arme ein. Ein müdes Lächeln ging über sein Gesicht. Er dehnte sich wohlig in dem weichen Schnee, der seinen Körper umschloß. Hier schlafen, nur wenige Stunden, und es ware alles aus! Alles, alles aus!

Von fernher sah er den Turm von Weßnitz winken; ihm fiel ein, wie oft auf dieser Straße sein Vater beim gewohnten Spaziergang einhergeschritten war, kraftig, selbstbewußt, ein alter Recke auf seinem eigenen Grund und Boden. Hermann stützte plötzlich die Hände auf den Grabenrand und richtete sich auf.

Von neuem verfolgte er seinen Weg. Der Gedanke an Lore zuckte ihm durch den Sinn. Was mochte diese lange bange Nacht aus ihr gemacht haben? Seine Schritte wurden hastig, der Schweiß trat ihm trotz der Kälte auf die Stirn. Vorwarts! Vorwärts!

Er traf den Arzt noch im Gutshaus an.

„Typhöses Fieber! Kein Wunder bei ihrer allgemeinen Schwäche und dieser unsinnigen Reise! Die Frauen werden doch nie klug!“

Hermann blickte den alten Doktor sonderbar an. „Nein, klug niemals! Was halten Sie von dem Zustand der Kranken?“

„Fast hoffnungslos!“

„Doktor!“ rief Hermann, während seine Finger den Arm des Arztes umklammerten, so daß dieser zusammenfuhr. „Sie glauben –“

„Ich glaube nichts, Herr von Weßnitz! Aber es müßte ein Wunder geschehen –“

Hermann wandte sich stumm ab.

„Ich komme heut’ abend wieder, um neun Uhr, früher bin ich nicht nötig – können Sie mir einen Wagen schicken?“

„Ja, gewiß!“

„Was ich noch sagen wollte, Herr von Weßnitz – was macht Ihr Herr Bruder?“

„O, dem“ – Hermann schluckte ein paarmal trocken hinunter – „dem geht es gut.“

„Nun, dann verständigen Sie ihn telegraphisch.“

„Ich werde es thun. Kann ich meine Schwägerin sehen? Ist sie bei Besinnung?“

„Sie ist jetzt ganz klar, das Fieber wird erst in einigen Stunden wieder einsetzen.“

„Dann entschuldigen Sie mich wohl. Ich habe mit ihr zu sprechen.“

„Bitte sehr – also heut’ abend neun Uhr!“

Vorsichtig auf den Zehenspitzen schlich Hermann in das Krankenzimmer. Die Vorhänge waren herabgelassen, ein stumpfes gedämpftes Licht brütete in dem Raum.

„Bist Du es, Hermann?“ Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen.

„Ja.“ Er drückte einen Kuß auf ihre Rechte.

„Nein, laß! Nicht die Hand – küsse mich auf den Mund, oder auf die Stirn, wie wir es als Kinder gethan!“

Er erfüllte ihren Wunsch.

Sie lächelte zufrieden. „Mir ist der Kopf so wirr, Hermann! Wie kam das alles? Sieh, wie meine Hände brennen, und in den Adern ein Kochen, als würde flüssiges Blei hineingegossen.“

„Du hast Fieber, Lore!“

„Ja, Fieber! Der Doktor sagte, ich sei schwer krank; so schlecht fühle ich mich jetzt gar nicht. Ist das Geld fort?“ fragte sie plötzlich mit stockendem Atem.

„Ja, es ist telegraphisch überwiesen worden.“

„Also ein ehrlicher Name!“ Sie schloß die Augen. Es war ihm, alS sähe er das Blut in den feingeäderten Schläfen pochen.

„Lore!“

„Ja?“

„Soll ich Bruno rufen? Du bist sehr krank.“

„Glaubst Du, daß ich sterbe?“

„Nein, nein – das nicht –“

Ein traurigeS Lächeln flog über ihre Züge. „Ich fürchte den Tod nicht – es wäre vielleicht am besten so.“

Dann zog sie die Stirne nachdenklich empor, so daß sich die scharf gezeichneten Brauen mit den krausen Löckchen berührten. Ein Zittern ging durch ihre Glieder. „Nein, nein, rufe ihn lieber nicht! Ich kann ihn nicht sehen, nie, nie wieder!“

Mit einmal fuhr sie empor, und die Arme mit zuckenden Fingern weit von sich streckend, schrie sie: „Hilfe, Hilfe! Da steht er! Blut, Blut! Rotes Blut gerade unter der Schläfe! Weßnitz, Weßnitz!“

Hermann preßte die Rasende mit Gewalt in die Kissen und rief die Wärterin. Dann ging er.

Qualvoll verrannen die Stunden. Lange Zeit stand er vor der alten Wanduhr in seinem Zimmer. Gedankenlos folgte er mit den Augen dem kaum merkbaren Vorrücken des Minutenzeigers. So ging die Zeit vorüber, unaufhaltsam, unbekümmert um unser Wohl oder Weh, um Sterben und Leben – wohin? Schritt um Schritt vom ersten Atemzug an, dem Tod entgegen! Und zwischen der ersten und letzten Minute ein Menschenleben, durchgekämpft, durchgearbeitet, durchlitten! Für was? Für Nichtigkeiten!

Am Sofatisch baute der kleine Edgar Kartenhäuser. Raschelnd fiel das große Haus zusammen, das der Knabe mühsam gebaut hatte. Stumm sah Hermann dem Spiele zu. Bruno fiel ihm ein. Sollte er ihn nicht dennoch telegraphisch herbeirufen? Aber weshalb? Lore sehnte sich wahrlich nicht nach seinem treulosen Gesicht. Und doch, wenigstens schreiben mußte er ihm.

Hermann setzte sich an den Schreibtisch. „An Bruno von Weßnitz!“ – absichtlich vermied er die Anrede.

„Lore liegt schwer krank am Nervenfieber.

Für Dich giebt es nur eins, reiche sofort deinen Abschied ein! Ich will es so und ich habe ein Recht, es zu wollen, und Du die [583] Pflicht, meinen Willen zu achten und zu erfüllen. Im Falle Deiner Weigerung werfe ich alle Rücksicht von mir und lasse Dich fallen. Wir haben nichts mehr miteinander gemein. Schicke mir das Eiserne Kreuz! Du wirst mich verstehen! Hermann.“     

Fest und klar standen die Buchstaben auf dem Papier.

Am Abend ließ Lore den Schwager noch einmal rufen. Sie war nur für kurze Augenblicke bei voller Besinnung.

„Was ist mit Edda? Weshalb ist alles vorbei? Sie ist so stark und klug, und meinem Edgar würde sie eine Mutter sein. Bringe das Kind zu ihr, wenn ich – –“

„Du darfst nicht sterben, Lore!“ Ein unsagbarer Jammer überkam ihn. So viel Jugend und Schönheit, so viel Liebe sollte sterben? Es konnte nicht sein!

Lore verlangte nach ihrem Knaben. Sie herzte ihn, als er gebracht wurde, und tastete dann nach Hermanns Hand, die sie dem Kind aufs Haupt legte. „Der da ist Dein Vater fortan! Schwöre mir, Hermann, Du giebst den Knaben nicht seinem Vater wieder – bring’ ihn zu Edda oder behalt’ ihn bei Dir!“

„Ja, das will ich,“ sagte Hermann mit schmerzlich zusammemgezogenen Brauen.

Der Arzt kam wieder. Höchstens noch einige Stunden Frist,“ lautete sein Ausspruch.

Lore hatte die Besinnung verloren, ihr Atem ging keuchend durch die blinkenden Zähne, von denen die Oberlippe krampfhaft zurückwich. Hermann saß neben ihr und starrte unverwandt in das vom Fieber entstellte Antlitz; Thränen standen in seinen Augen.

Mitternacht!

Da begann sie noch einmal zu sprechen, leise, kaum hörbar: „Auf dem Kirchhof unter der Linde neben Deiner Mutter – es wird alles – alles gut werden – ganz – ganz – gut –“

Ihr Körper streckte sich – sie war entschlummert.

Der Morgen dämmerte. Mit müden übernächtigen Augen blickte Hermann hinein in die schwankende Helle des neuen Tages. Dann verließ er die Tote. „Lebe wohl, Lore!“ – 0000000000

Man hatte die Dahingeschiedene hinausgetragen unter die alte Linde und eingesenkt in die kalte erstarrte Erde. Bruno war nicht gekommen. „Adressat gestern abgereist, ohne seinen Aufenthaltsort anzugeben“ hatte man aus Brüssel auf Hermanns Telegramm geantwortet, das die Todesnachricht enthielt.

Als Hermann einige Tage nach der Beerdigung in sein Zimmer trat, fiel sein Vlick auf den Kalender. Der erste Dezember!

Heute also, heute durfte er den Brief lesen, dessen Siegel der Wille des toten Vaters bis dahin verschlossen gehalten! Er holte das große Couvert mit den kräftigen Schriftzügen hervor und drehte es nachdenklich in den Händen, dann öffnete er es langsam.

„An meinen Sohn Hermann, Erbherrn auf Weßnitz.

Es muß Dir sonderbar erschienen sein, mein lieber Sohn, daß ich das Oeffnen dieses Briefes erst so lange nach meinem Tode gestattete, aber ich wollte erst die Erde fest wissen auf meinem Grab, wollte Dir Zeit lassen, alles zu ordnen, ich wollte in menschlicher Schwäche die Gewißheit haben, daß Du ein Jahr lang Deines Vaters Andenken fleckenlos in der Brust trügest. In den Schmerz um meinen Tod sollte sich nichts Häßliches eindrängen.“

Hermann hielt inne. Ein Frösteln überkam ihn, die Ahnung vor etwas Schrecklichem.

„Um alles zu verstehen, Hermann, mußt Du ein gutes Stück Weges mit mir zurückgehen. Ich hatte einen Freund, einen jungen Mediziner, auf der Universität zu Berlin, wo ich nach dem Willen Deines Großvaters einige Semester studierte. Er war einer der edelsten besten Menschen, der größte Idealist, der je den Fuß auf die Erde gesetzt hat, mir ein lieber lustiger Freund. Ich hing mit allen Fasern meiner jungen Seele an ihm – trotzdem habe ich ehrlos gegen ihn gehandelt.

Eines Abends, wir saßen zusammen in einem Restaurant, trat ein Losverkäufer an unseren Tisch. Es wurden verschiedene Lose genommen und Helm, so hieß mein Freund, kaufte eines mit mir zusammen. ,Ich will die Nummer nicht wissen,‘ rief er mir dabei zu. ,sonst bringt es kein Glück, und ich armer Schlucker hätte gern einmal einige Thaler! Behalte Du das Los und studiere die Ziehungslisten!‘ Lachend schob ich das Papier in die Tasche und dachte kaum wieder daran. Kurz darauf starb Dein Großvater und ich mußte Weßnitz übernehmen. Den Freund sah ich nicht wieder.

Dann kam das Unglück! Weßnitz war nicht schuldenfrei, die letzten Jahre waren schlecht gewesen – ich liebte Deine Mutter und wollte ihr ein Heim gründen.

Das Los gewann, zwanzigtausend Thaler, und ich – – hebe nicht den Stein auf, Hermann! – ich sagte dem Freund nichts davon, sondern behielt das Geld, vorläufig in dem Glauben, ihm in kurzer Zeit seinen Anteil auszahlen zu können. Ich steckte die ganze Summe in unser Gut, ich sparte wie ein Geizhals. Es ging langsam aufwärts in zwanzigjähriger Arbeit. Da machte Bruno Schulden und ich mußte dafür einstehen; es war vor dem Feldzug. Nun gingen unsere Verhältnisse rasch zurück, weil ich immer wieder schwach gegen Bruno war. Ich konnte die Schuld nicht mehr sühnen. Thu’ Du es, Hermann, ich beschwöre Dich! Jener Freund lebt als Arzt in Berlin, ich hörte durch Lore von ihm.

Glaube mir, diese Stunde, in der ich für Dich, gerade für Dich, meine Schuld niederschreibe, diese Stunde hat Höllenqualen für mich. Ich that jenen ehrlosen Schritt um Deiner Mutter, um des von den Vätern ererbten Gutes willen! Gott wolle es mir verzeihen!“

Aschgrau, die Zähne aufeinander gepreßt, die Augen geschlossen, saß Hermann da; in seinen Zügen arbeitete es, als zöge der Tod mit kaltem Griffel Furche um Furche darüber. Was hatte sein Vater ihm angethan! Ihm war, als falle die letzte Stütze, die ihn noch aufrecht erhalten. Er, er hatte Edda verlassen, sie in ihren heiligsten Gefühlen tödlich verletzt – und nun war sein eigener Vater schuld an jenem Verhängnis, das über ihrer Herkunft schwebte! Stumm blickte er um sich, als befände er sich in einer fremden Welt; kalte Schauer rieselten ihm durch den Körper. Im Halbdunkel schien es ihm, als huschten unheimliche Gestalten um ihn her, als stürmten sie heran gegen ihn, ertötend, erstickend.

Er sprang auf und riß an der Klingel. „Licht, Licht! Schnell!“

Der alte Diener warf einen besorgten Blick auf seinen Herrn. „Wollen der gnädige Herr denn gar nichts essen?“

„Essen, Johann? Ach ja, bringe mir etwas! – Natürlich, man muß essen,“ murmelte er dem abgehenden Diener nach.

Dieser stellte nach wenigen Minuten kalte Küche und eine Flasche Portwein auf den Tisch.

„Es ist kalt hier, Johann mich friert! Zünden Sie Feuer im Kamin an!“

Als dies geschehen und Johann das Zimmer wieder verlassen hatte, setzte er sich an den Tisch und genoß etwas von den Speisen. Rasch stürzte er einige Gläser Wein hinunter; eine wohlige Wärme ergoß sich in seine Adern, er begann freier zu atmen.

Was sollte er thun? Zum erstenmal seit Tagen fragte er sich wieder danach. Dort lag noch der Brief seines Vaters. Er faltete ihn zusammen und schrieb einige Worte dazu: „Ich habe nichts weiter hinzuzusetzen. Das Geld kann ich zu meinem Bedauern nicht sofort zurückerstatten; es wird meine einzige Lebensaufgabe sein, die Erledigung dieser Schuld in kürzester Zeit möglich zu machen.“

Dann fiel ihm ein, daß er vergaß, jenen eine Anzeige von Lores Hinscheiden zu senden; er fügte daher noch hinzu: „Lore ist vor vier Tagen hier gestorben. Es ist alles aus! Seien Sie zum letztenmal von einem gegrüßt, der wie ein Schwächling an Ihnen gehandelt hat, getreu dem Vorbilde seiner Familie!
Hermann von Weßnitz.“ 

Tief aufatmend erhob er sich und trat ans Fenster; heller Mondschein glitt in bläulichen Lichtern durch die Bäume auf den Schnee herab. Ein zwingendes Verlangen nach der schweigenden Natur, nach winterlicher Nacht, nach Bewegung erfaßte ihn. Schnell entschlossen drückte er seinen Jagdhut auf den Kopf und eilte hinaus.

Wie lange er durch den Schnee gestürmt war, durch den Wald, über die öde trostlose Heide, er wußte es nicht. Wie im Traum langte er wieder vor der Hausthür an.

„Der junge Herr ist da,“ flüsterte ihm Johann schon im Hausflur zu.

„Welcher junge Herr?“

„Der Herr Legationsrat!“

„Es ist gut! Ist er in meinem Zimmer?“

„Jawohl, gnädiger Herr.“

Wie Blei lag es ihm in den Gliedern, als er die Treppe hinaufstieg. Aber es mußte sein! Zum letztenmal!

Vom Sofa löste sich bei seinem Eintritt eine Männergestalt.

„Guten Tag, Hermann. Hu, die Kälte – sie geht durch Mark und Bein!“

Hermann starrte wortlos in Brunos Gesicht. War das sein [584] Bruder – dieser gebeugte Mann mit den vorhängenden Schultern, dem glanzlosen Blick?

„Du willst mir nicht die Hand geben, Hermann?“

„Nein.“

„Nie wieder?“

„Nein.“

Bruno lachte leise, unheimlich in sich hinein. „Ja, ja, Du hast recht! Ich hätte mich nie an Dich gewendet, lieber tot als das. Aber die Lore wollte es durchaus. – Hier,“ er zerrte einen Koffer heran und versuchte lange vergeblich, mit den von der Kälte starren Fingern den Schlüssel ins Schloß zu bringen. Endlich gelang es. „Da, da! Sieh hier!“ Es raschelte im Koffer unter seinen Händen. Goldstücke rollten heraus. „Hier, hier, gute Staatspapiere! Mehr, viel mehr als meine Schuld betrug!“ Er riß ein Bündel Papiere heraus und warf sie auf den Tisch.

„Wo hast Du das Geld her?“ schrie Hermann auf und krampfte seine Hand um die Schulter des Bruders, so daß dieser scheu zurückwich.

„Ja, ja, Hermann – heute mir, morgen Dir! Ich komme von Monaco, die dreißigtausend Mark haben schnell Zinsen getragen – alles ehrlich erworben!“

„Ehrlich erworben!“ stöhnte Hermann. Ein unsagbarer Ekel stieg in ihm auf.

„Ich hatte gerade noch eine Woche Zeit, als das Geld. von Dir ankam. Meine Ehre war zwar gerettet – –“

Deine Ehre, Bruno?“

„Ja – nein . . . doch einerlei! Meinetwegen die Deine und die der Familie! Aber was half das mir? Wir wollten doch nicht hungern, Du, die Lore und der Junge. Da blitzte mir der rettende Gedanke durch den Kopf: nach Monaco!“ Seine Augen begannen fieberhaft zu glänzen, seine Finger krümmten sich unwillkürlich. „O – und ich gewann, gewann immerfort, ohne Aufhören!“

„Und wenn Du verloren hättest?“

„Dann hätte ich mich totgeschossen!“

Ein Lachen gellte durch das Zimmer, grauenhaft, gespenstisch. „Dann schossest Du Dich wirklich tot? Ha, ha, ha!“

Bruno nickte nur stumpf mit dem Kopfe. Eine Weile blieb es still.

„Und das Sündengeld soll uns retten?“ Mit raschem Griff riß Hermann die Papiere an sich und trat vor den Kamin. Bruno folgte mit den Blicken den Bewegungen des Bruders. Schon hob dieser den Arm den züngelnden knisternden Flammen entgegen.

„Bist Du wahnsinnig?“ Mit einem Sprung hatte Bruno den Bruder erreicht und umklammerte mit wilder Energie dessen Handgelenk. Hermann blickte ihn eigentümlich von der Seite an. „Ja Du hast recht! Du willst weiterleben! Warte.“ Er öffnete die Päckchen und begann die Papiere zu zählen. „So, hier – dreißigtausend Mark! Da – das andere magst Du behalten! Dies hier ist nur die Deckung für eine häßliche Schuld unseres Vaters.“

„Was redest Du?“ fragte der jüngere Bruder unsicher.

„Nun ja, um diese Summe hat er jemand gebracht, als er noch jung war. Nur eine Schwäche, eine kleine Schwäche – Du weißt, das liegt bei uns so in der Familie –“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ist auch nicht nötig.“

Im Gang ertönte des kleinen Edgar helle Kinderstimme. „Laßt mich – ich will zu Papa! Papa! Papa!“

Bruno sprang zur Thür, aber des Bruders Rechte fiel ihm hart auf die Schulter. „Laß!“ Hermann ging selbst zur Thür und rief hinaus: „Geh zu Bett, Edgar! Dein Vater kann Dich heute nicht sehen, er ist schon schlafen gegangen.“

„Wie die Mama?“ fragte das Kind von außen. Hermann zog, ohne Antwort zu geben, die Thür zu.

„Wo ist Lore?“ fragte Bruno, sich willenlos fügend.

Mit einem Ruck fuhr Hermann herum und starrte entsetzt zum Bruder hinüber. „Warst Du nicht wieder in Brüssel? Hast Du meinen Brief nicht erhalten?“

„Nein, ich fuhr geradeswegs von Monaco hierher, habe nur in Paris das Geld in Papiere umgesetzt. Aber, was blickst Du mich so an – ist sie nicht wohl?“

„O ja, ihr ist sehr wohl!“ kam es dumpf zurück. „Wenn Du sie suchen willst – sie ruht neben der Mutter!“

Ein gurgelnder Laut, ein qualvolles Stöhnen tönte durch das Zimmer. Kraftlos ließ sich Bruno auf einen Sessel sinken. „Wie starb sie?“ fragte er endlich heiser.

„Ruhig und friedlich.“

„Hab’ ich sie gemordet?“

Keine Antwort.

„Sprach sie von mir? Wünschte sie nicht, mich noch zu sehen?“

„Nein. Sie hat mir Euren Knaben anvertraut, mir – nicht Dir!“

„Hermann!“ schrie Bruno und sprang auf. „Das Kind gehört mir! Kein anderer hat ein Recht darauf!“

„Dir gehört es, dem Spieler und Fälscher?“ klang es erbarmungslos zurück. Da knickte Bruno zusammen, als träfe ihn ein Dolchstoß mitten ins Herz. Fast wollte Hermann ein Mitleid überkommen beim Anblick der gebrochenen Gestalt da vor ihm.

„Laß genug sein, Bruno, geh – Du hast keine Heimstätte mehr hier! Nimm das Geld! Hast Du den Abschied eingereicht?“

„Nein, noch nicht.“

„So thu’ es hier, gleich, sofort!“

Etwas wie Trotz flog über Brunos Gesicht, aber rasch verschwand dieser Ausdruck unter dem kalten Blick Hermanns. Willenlos setzte er sich an den Schreibtisch. „Was soll ich schreiben? Ich weiß nicht, welchen Grund ich anführen soll.“

„Schreibe!“ Im Zimmer auf und abgehend, diktierte ihm Hermann das Gesuch. „So, das wäre fertig, ich werde alles Weitere selbst besorgen – ich reise morgen nach Berlin. Nimm Dein Geld, vielleicht hilft es Dir irgendwo ein anderes Leben beginnen!“

Brunos Wille war wie gebrochen. Er packte die Papiere hastig in den kleinen Handkoffer und setzte den Hut auf.

„Leb’ wohl, Hermann!“

Dieser übersah die zitternde Bruderhand, die sich ihm entgegenstreckte; Bruno schauderte zusammen, dann trat ein Zug wilden Trotzes in sein Gesicht. Eine rasche Wendung – er war hinaus.

„Bruno!“ stöhnte Hermann auf, die alte Liebe zu dem Bruder erwachte noch einmal. Er sprang ans Fenster, dort unter den Bäumeu verschwand in der Ferne eine dunkle Gestalt. Er wollte das Fenster aufreißen, rufen – nein, nein, wozu? Seine Hand sank schlaff herab.

Am andern Tage reiste Hermann nach Berlin, er reichte den Abschied des Bruders ein und beauftragte ein Bankgeschäft, in seinem Namen dreißigtausend Mark an den Doktor Helm auszuzahlen.

*  *  *

Es war still geworden in Weßnitz. Selbst Edgar schlich sich aus dem öden Hause zu dem Kutscher und den Knechten in den Stall. Dort wurde doch noch hier und da ein Lied gepfiffen, wenn auch nur gedämpft. Es war, als lagere ein Alp über allem.

Den Gutsherrn hatte keiner der Dienstboten wieder gesehen, seit er von Berlin zurückgekehrt war. Nur der alte Johann war um ihn und dieser schwieg auf alle neugierigen Fragen.

Vor drei Tagen war der Bankier dagewesen und vorgelassen worden.

„Also, Herr von Weßnitz, Sie verzichten auf jegliche Hilfe? Sie wollen das Gut fallen lassen? Es ist schade drum; es wäre zu retten gewesen – mit Arbeit, mit schwerer Arbeit.“

„Ja, ich verzichte auf alles, auch auf Ihre edle Hilfe, Herr Weber! Hier dieser Händedruck muß mein Dank sein; mehr kann ich nicht geben. Den Verkauf des Gutes, die Versteigerung des Inventars lege ich in Ihre Hände. Vielleicht bleibt soviel, daß ich mit dem Rest die Erziehung meines Neffen sicherstellen kann.“

„Wollen Sie nicht wieder in die Armee eintreten?“

„Nein!“ Hermann lächelte grausam. „Mein König braucht andere Leute, als ich es sein kann.“

Der Bankier blickte ihn besorgt an. „Ich will die Zinsen auf die letzte Anleihe drei Jahre lang stunden, Herr von Weßnitz.“

„Nein, nein – weg! Ich will nicht!“ fuhr Hermann auf, als wollte er eine Versuchung von sich abwehren.

Kopfschüttelnd war der alte Herr gegangen. –

Hermann hielt die Vorhänge geschlossen; in dieser künstlich geschaffenen Dämmerung ruhelos umherwandernd oder brütend im lederbezogenen Lehnstuhl, verbrachte er seine Tage. Dumpf grübelte er über die Zukunft, eine unbezwingliche Apathie schien seine Nerven gelähmt und ihm selbst die Kraft genommen zu haben, überhaupt irgend einen Entschluß zu fassen.

Gutskäufer, die von dem bevorstehenden Verkauf von Weßnitz gehört hatten, kamen, den Besitzer selbst zu fragen, er wies jeden ab. So war eine Woche seit Brunos Abschied vergangen. Es war [586] Sonntag; das Gesinde hatte sich zum Besuch der Kirche in das Nachbardorf begeben, nur der alte Johann befand sich im Hause.

Es herrschte bittere Kälte. Neugierig lugte der Alte aus der Hausthür, als er Schellengeläut und Peitschenknall vernahm. An der Sandsteintreppe fuhr ein Schlitten vor, eine Dame in schwarzem Kleid stieg aus und ging langsam die Treppe hinan.

„Ist Herr von Weßnitz zu Hause?“ fragte sie kurz.

„Der Herr nimmt keinen Besuch an, schon seit einer Woche.“

„Wo ist er?“

„In seinem Zimmer.“

„So führen Sie mich zu ihm!“ Es klang wie ein Befehl.

„Ich darf nicht. Mein Herr ist –“

„Ich will es. Zeigen Sie mir das Zimmer; er muß mich annehmen.“ Widerwillig gehorchte der Diener und öffnete, oben angelangt, behutsam die Thüre. Entschlossen trat die Dame hinter ihm in den dämmerigen Raum und zog die Thür zu.

„Was willst Du, Johann?“ sagte Hermann mit müder Stimme.

„Ich bin es – Edda!“ Ihre Stimme zitterte doch etwas.

Eine Weile war es still. Dann klang es wie ein Seufzer zurück: „Edda!“ Kurz entschlossen schritt diese zum Fenster und riß den Vorhang zurück. Klares Sonnenlicht flutete herein. Hermann starrte mit geblendeten Augen in die Helle und auf die schwarze Gestalt mitten in den flimmernden Sonnenstrahlen. Ein Grauen überkam Edda bei seinem Anblick. Dies bleiche Antlitz, die gebrochen im Stuhle lehnende Gestalt, diese tödliche Müdigkeit auf den gramdurchfurchten Zügen! Sie stützte die Rechte auf das Fensterbrett.

„Ja, ich, Hermann, ich bin hier, weil ich kommen, weil ich sehen mußte, was aus Dir geworden.“

Er lachte schrill auf. „Mich willst Du hier sehen, mich? Fürwahr, das war die Reise nicht wert! Schickte Dich Dein Vater?“

„Ich komme auch in seinem Namen. Ich wäre sofort nach dem Eintreffen Deines Briefes hierher geeilt, aber mich hielt eine höhere Pflicht – ich mußte erst meinem kranken Vater die Augen zudrücken.“

„Auch er ist tot?“ Hermann schauerte zusammen.

„Ja, er ist tot, und der Tote schickt mich zu Dir.“

„Als Anklägerin?“

„Nein, um Dir zu sagen, daß er Deinem Vater verziehen.“

„Woran starb er?“ preßte Hermann hervor.

„An Blutvergiftung nach einer Operation.“

„Wie gut er es hat! O, so stumm und still in endloser Ruhe zu schlafen unter der Erde!“

„Willst Du mir zuhören?“ fragte Edda.

Er antwortete nicht, aber ohne darauf zu achten, begann sie zu sprechen. „Als ich damals Deinen Brief an meinen Vater las, sieh, da habe ich Dich verabscheut, habe Dich unfrei, ungerecht, feige genannt, habe die Liebe zu Dir aus meinem Herzen reißen wollen. Ich glaubte, alles, was ich für Dich gefühlt, sei nun für immer erstickt, gestorben –“ sie schwieg eine Weile, dann, mit der Hand sich langsam über die Augen streichend, fuhr sie fort: „Da kam Dein letzter Brief, Hermann! Mein Vater lag schon krank, hoffnungslos danieder. Hätte mich nicht die Kindesliebe an des Vaters Lager gehalten, ich hätte schon hier gestanden vor acht Tagen. Nenne es Mangel an Selbstbewußtsein, an Stolz … nenne es, wie Du willst – aber nach jenem Brief hatte ich nur einen Wunsch, hörte ich nur eine Stimme: jetzt braucht er dich, ihm thut ein Herz not, das ihn lieb hat – dein Platz ist neben ihm!“

Leise hatte sie die letzten Worte gesprochen.

„Und jetzt, wo ich den Vater begraben, jetzt bin ich hier – und sehe, daß ich beinahe zu spät gekommen wäre!“

In Hermanns Antlitz arbeitete es; es zuckte um seinen herb geschlossenen Mund, seine Augen erweiterten sich, als zöge in sie ein strahlend helles Licht ein. Plötzlich aber wandte er den Blick ab, der alte vergrämte Ausdruck trat wieder in seine Züge.

„Was willst Du von mir? Von dem Bettler, der in wenigen Tagen von der Scholle seiner Väter weichen wird, der froh ist, eine Stätte zu verlassen, die ihm alles geraubt hat. Was kommst Du und mahnst mich an das Unrecht, das ich Dir angethan, an die Schuld, die der Sohn zu der des Vaters fügte? Die Wunde blutet frisch genug! Was willst Du? Geh!“

„Nein, nein, ich gehe nicht; wir gehören zusammen – ich gehöre zu Dir! Hier ist mein Platz! Was frage ich noch danach, daß Du mich einmal von Dir gestoßen! Ich liebe Dich und will nicht dulden, daß der Mann, der mein war, der mein ist, einem thörichten Wahn zu lieb untergeht!“

Er entgegnete nichts; seine Gestalt kauerte sich nur noch tiefer zusammen in dem hochlehnigen Stuhl.

„Hermann liebst Du mich wirklich nicht mehr?“ fuhr sie leise fort. „Willst Du mich fortstoßen? Wir sind beide nun so allein, so verlassen – sollte uns das Schicksal nicht fester finden, wenn wir nebeneinander stehen?“ Unwillkürlich die Hände ausstreckend, war sie näher getreten. Ein wimmernder Laut kam aus seiner Brust – der starke Mann schluchzte.

„Hermann!“

„Edda!“ schrie er auf und umfaßte ihre Knie. „Ist es denn wahr? Du stehst zu mir, Du, der einzige Mensch in der Welt, den ich noch lieb habe? Du kommst zu mir, der Dich schnöde verlassen? Du, das Weib, mahnst mich, ein Mann zu sein?“

„Ja, weil ich Dich liebe, Hermann!“

Leise strich sie ihm mit der Hand über die Haare, über einen breiten silbernen Streifen darin, den die Sorge gezogen hatte.

Da sprang er auf und zog sie mit sich zum Fenster, hinein in das volle flutende Sonnenlicht. Sein Antlitz flammte.

„Ich grüße Dich, meine Sonne! Klar und hell wird es nun werden in mir, weil ich Dich habe, Edda, Dich, Du Starke, Edle.“

Edda lehnte sich an ihn, das Gesicht von einer ernsten seligen Freude verklärt.

„So wollte ich Dich sehen, Hermann! Stark und frei!“

Er blickte mit weit offenen Augen in das Sonnenlicht und legte den Arm fest um sie. Ueber den Bäumen des Parkes zog ein Vogel seine ruhigen Kreise aufwärts, dem Lichte zu. Er deutete mit fester Hand hinüber. „So laß uns aufwärts streben, Edda – der Sonne, dem Glücke zu!“


  1. WS: Zwei fehlende Worte aus dem Zusammenhang ergänzt.