Die Brüder (Wilbrandt)

Textdaten
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Autor: Adolf Wilbrandt
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Titel: Die Brüder
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30–36, S. 465–468, 481–484, 497–500, 513–516, 529–532, 545–548, 561–564,
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.


In meiner Vaterstadt lebte am Ausgang des vorigen Jahrhunderts, zur Zeit der französischen Revolution, ein Brüderpaar, dem das seltsamste Geschick widerfahren sollte, welches Brüdern von solcher Art und Gesinnung begegnen kann. Sie waren beide soeben erst zur Mündigkeit herangereift, sie hatten miteinander verschiedene deutsche Universitäten besucht, mehr um ihre allgemeine Bildung zu vollenden, als um fachmäßige Kenntnisse zu erwerben, und waren nun, durch den Tod des Vaters völlig verwaist, im Begriff, die von ihm ererbten Güter anzutreten. Man nannte sie in meiner Vaterstadt nur „die Brüder“ und kannte sie allgemein, denn ihr Reichthum, ihre jugendliche Anmuth und ihre Unzertrennlichkeit machten sie auffallend. Seit ihrer Wiegenzeit hatten sie Alles miteinander getheilt; sie waren von gleicher Größe, und man sah die beiden schlanken Gestalten stets nebeneinander, in gleicher Kleidung, durch die Straßen gehen. Und in ihren ständigen Begleitern, den beiden klügsten und gelehrigsten Windhunden der Stadt, schien sich derselbe Gedanke der Natur zu wiederholen: sie waren sich ebenso gleich und ebenso unzertrennlich, wie ihre Herren. Das Zusammenleben dieser zwei Paare schien für alle Zukunft fest bestimmt zu sein, denn die herrschaftlichen Güter der beiden Brüder lagen Scheide an Scheide, und wie sie schon als Kinder daran gewöhnt waren, auf ihren kleinen „Schweden“ von einem Hof zum anderen hinüberzureiten, so hatten sie auch ihre Hunde gelehrt, Zeitungen und Briefe in der Blechkapsel am Halse hin und her zu tragen. Indessen, ehe die jungen Männer sich entschlossen, aus ihrem ungebundenen Jugendleben sich in die ländliche Arbeitsamkeit zurückzuziehen, waren sie noch einmal in die Stadt gekommen, genossen hier unruhig gesellige Tage und Wochen, und die theilnehmende Neugier der Frauenwelt kam überein, daß der Zweck dieses Aufenthaltes sei, sich nach dem letzten Wunsch ihres Vaters schon jetzt, nach Ablauf der Trauerzeit, zu beweiben.

Diesem ehrwürdigen Wunsche (den die Mehrzahl der jungen Mädchen im Lande mit dem Verstorbenen theilte) stand nur ein seltsames Versprechen entgegen, das die Brüder sich gegenseitig gegeben hatten und das aus ihrer schwärmerischen Liebe zu einander entsprang: keine Verbindung einzugehen, die in irgend einer Weise ihr brüderliches Zusammenleben beeinträchtigen könnte. Sie nahmen dieses Versprechen, in ihrer jugendlichen Unerfahrenheit, im genauesten Sinne; sie begriffen noch nicht, daß irgend eine Macht über sie kommen könne, die der Ueberschwänglichkeit dieser Bruderliebe überlegen sei, und vor Allem hatten sie den Grundsatz aufgestellt, daß Keiner einen Herzensbund schließen dürfe, dem nicht die rückhaltloseste Zustimmung des Anderen gewiß sei. Indessen hatten sie bisher nur die sonderbare Erfahrung gemacht, daß sie sich Beide in dieselben Mädchen verliebten, ein Geschick, über welches sie miteinander lachten und dessen Folge beiderseitige Abkühlung und Erkältung gewesen war. Die Bereitwilligkeit, mit der sie sich diese kleinen Romane gegenseitig geopfert hatten, machte sie zuversichtlich und erhöhte ihr brüderliches Gefühl, und unter ihren lustigen Cameraden war es eine ausgemachte Sache, daß den Unglücklichen nichts übrig bleiben werde, als in Gemeinschaft zu heirathen.

Gleichwohl waren die Brüder so verschiedene Menschen, wie Kinder desselben Blutes und derselben Erziehung nur immer sein können. Wilhelm, der ältere, blonde, hatte ein so rasches, zufahrendes Temperament, wie das des anderen innerlich und bedächtig war; seine Züge voll Offenheit, seine Geberden beredt, seine blauen Augen die zutraulichsten, die man sehen konnte. Der jüngere, Karl, verrieth durch nichts, daß er jünger war; im Gegentheil, man mußte ihn für den älteren halten. Er war etwa um ein Jahr hinter Wilhelm zurück, sein Gesicht wie sein Charakter um mehrere Jahre gereifter. Seine hellbraunen Augen, mehr nach innen gekehrt, übten eine stillschweigende Macht über den Anderen aus, die dieser fühlte und liebte: denn es war für Wilhelm’s weiblichere Seele ein Genuß, den angebeteten Bruder sich überlegen zu wissen. Er bewunderte ihn. Er war überzeugt, daß ihm keine menschliche Fähigkeit fehle. Seit ihren Knabenjahren hatte er sich gewöhnt, in allen wichtigen Dingen seiner Meinung zu folgen. Er hielt es für des Bruders Vorrecht, sehr viel weiser und demgemäß auch stiller und selbstbewußter zu sein, und für das seine, sich ohne alle Sorge gehen zu lassen und seinen thörichteren Wallungen zu folgen.

Beide waren wohlgestaltet und edle Erscheinungen, aber Wilhelm’s Züge regelmäßiger, schöner. Seine nordisch weiße Haut leuchtete in die Ferne. Er war immer um ein Weniges zierlicher in der Kleidung, als sein jüngerer Bruder. Er liebte es, die Haare noch nach alter Weise zu kräuseln und zu pudern, als der revolutionär gesinnte Karl schon zur vollen Natur zurückgekehrt war, und mit Widerstreben hatte er sich an dessen Beispiel angeschlossen und die Kniestrümpfe mit hohen Stiefeln vertauscht. Seine Handschrift war sauberer, eleganter. Er schien mehr den Mädchen, der Andere mehr den Frauen zu gefallen.

Die letzten Tage des Mai waren herangekommen, ihre Abreise nach den wenig entfernten Gütern stand bevor; man gab sich alle Mühe, ihnen diese Abreise sehr schwer und das Heimweh nach [466] der Stadt sehr lebendig zu machen. Das erste Landhaus vor dem Thor, von einem der reichsten und angesehensten Bürger erbaut, und für jene Zeit ein Ereignis, sollte eingeweiht werden; man lud auch die Bruder ein, das Fest verschönern zu helfen. Mit der sinkenden Sonne fuhr unter vielen anderen Carossen ihr wohlbekannter offener Wagen hinaus, von zwei isabellfarbenen Rossen gezogen; der Kutscher in höchster Gala, die Brüder in ihren schönsten Feierkleidern und in der heitersten Laune. Sie scherzten unterwegs über ihr Verhältniß zu der Tochter des Hauses, die bis vor Kurzem ihre letzte gemeinschaftliche Liebe gewesen war und die sie sich gegenseitig abgetreten hatten. Der Jüngere, Karl, versicherte wiederholt, daß er sie seinem Bruder lassen wolle, und Wilhelm erklärte lachend, er wolle von dieser Großmuth Gebrauch machen und sich noch heute auf’s Neue in sie verlieben. Ueber diesen Neckereien hatten sie das Haus erreicht, das auf’s Festlichste geschmückt und von der neugierigen Vorstadtjugend umstellt war; sie stiegen aus, traten in die saalähnliche Halle, in der soeben Hunderte von bunten Lampen angezündet wurden, und verloren sich bald in der geputzten, auf- und abrauschenden Menge. Während Wilhelm, seinem Vorhaben gemäß, sich sogleich der Tochter des Hauses näherte, trat Karl nach seiner Art in eine der tiefen, mit Guirlanden verhängten Nischen zurück, um die Vertheilung der Räume und die plaudernden Menschen ungestört zu betrachten. Er machte die Bemerkung, daß unter all’ den hochfrisirten, hochgestellten, fächerschwenkenden Mädchengestalten, die ihm im Vorüberschweben ihre lächelnden oder gleichgültigen Züge zeigten, nur eine seine Blicke an sich zog, deren Gesicht er nicht sah, die in einiger Entfernung, in ruhigem Gespräch mit der alten Demoiselle Merling ihm den Rücken zuwandte. Sie trug das einfachste weiße Kleid von der Welt und in ihrem Haar keinen anderen Schmuck, als das blaue Band, das es zusammenhielt; aber ihre zierliche ruhige Gestalt rief eine geheimnißvolle Begierde in ihm hervor, ihr in die Augen zu sehen. Er wettete mit sich selber, daß sie blau seien, und war eben im Begriff, sich davon Ueberzeugung zu verschaffen, als das Mädchen den Arm der alten Dame nahm und sie mit sich hinauszog. Dagegen näherte sich eine sehr lebhafte Gruppe junger Schönen seiner Nische, ohne ihn zu bemerken, und blieb vor den Blumengewinden und Oleanderbäumchen so zusammengedrängt stehen, daß sie ihm den Ausweg versperrte. Ein ganzer Wald von Federn erhob sich im Haarputz dieser drei Fräulein und entzog ihm jede Aussicht in den Saal; ihre Bänder und Schleifen spielten in den verschiedensten Farben. Karl mußte, wohl oder übel, das eifrig geführte Gespräch an sich heranrauschen lassen, er blieb in seiner Ecke stehen und horchte. Die Unterhaltung schien sich um eine Betschwester zu drehen und ihre unzähligen Fehler zu betreffen.

„Ich glaube, sie will sich lächerlich machen,“ sagte die Eine, „und ich wette, sie wird ihren Zweck erreichen.“

Mon dieu, was verlangt man von ihr!“ sagte die Zweite, eine sehr weiße Blondine, in mitleidigem Ton. „Ihre Education ist gerade nicht die feinste gewesen. Sie steht eben überhaupt eine Stufe tiefer.“

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als die Dritte, eine kleine Schwarze, lebhaft einfiel: „Meine Mama meinte, sie gehöre überhaupt nicht hierher. Sie hat ja nicht einmal etwas anzuziehen! In ihrem weißen Sterbekleid und im bloßen Haar sieht sie aus wie ein – Lamm; etwas Schlimmeres will ich nicht sagen.“

Karl horchte eifriger auf.

„Du bist etwas boshaft, Louise,“ fing die Mitleidige wieder an; „was kann die arme Annette dafür, daß ihre Eltern nicht reich sind! Ihr Vater hat eben einmal Bankerott gemacht – und wie man sagt, auf eine sehr curieuse Manier. Man spricht nicht gern davon. Ueberhaupt, die ganze Familie – –“

„Dann sollte sie bescheiden sein,“ fiel die Dritte wieder ein, indem sie ihren Fächer sein Pfauenrad schlagen ließ, „dann sollte sie nicht die kleine Hochmüthige spielen! Aber statt sich lieber gar nicht sehen zu lassen, zeigt sie uns, wo sie kann, daß sie anders ist als wir. Sie hält es für feiner - das weiß ich – wenn sie sich so recht simpel, so recht kindlich kleidet. Sie macht sich über all’ unseren ,Firlefanz’ lustig, wie das Gänschen es nennt. Wißt Ihr, was sie neulich gesagt hat? Ein kleines Gedicht von Goethe zu lesen, sei ihr lieber, als in sechs von unseren modischen Gesellschaften zu gehen; Gott, dieses – Lamm!“

„Sie will sich ridicule machen,“ wiederholte die Erste.

„Viele finden sie reizend!“ sagte die Zweite mit einem sanften, aber vernichtenden Lächeln. „Meine Tante hat einmal von ihr gesagt: ,sie ist zu gut für diese Welt;’ die ganze Gesellschaft lachte. Ich finde, das ist die richtigste Bezeichnung. Das arme Ding! Sie ist eben so gar nicht für die Welt gemacht, sie träumt vor sich hin, sie merkt es nicht einmal, wenn ein Mann sie ansieht.“

„Das ist unmöglich,“ fiel ihr die Dritte in’s Wort, „das ist nichts als die reine Heuchelei. O, ich traue ihr gar nicht. Sie thut, als wenn sie an die Lämmer auf der Weide dächte, und beobachtet dabei Alles! Sie kann einen durch und durch sehen.“

Die Zweite lächelte wieder und öffnete eben die schmalen Lippen, um etwas Neues zu sagen, als einige Musiktöne heranwehten und alle Drei wie elektrisch bewegt die Köpfe hoben und sich in den Saal zurückwandten. Sie hängten ihre Arme ineinander, und ein paar Augenblicke später waren sie aus Karl’s Gesichtskreis entschwunden. Indessen stand er noch eine Weile und regte sich nicht; er wünschte lebhaft, sie möchten noch lange so fortgeredet haben. „Annette heißt sie,“ dachte er und freute sich über den Namen. „Sie muß absonderlich, sie muß reizend sein. Ganz, wie ich sie möchte. Diese drei Grazien ahnen nicht, was sie angerichtet haben!“ Nun besann er sich und lachte über sich selbst, daß er drauf und dran sei, auf das Gerede dieser Lästerschule hin sich in ein Mädchen zu verlieben, dessen Rücken er einmal gesehen hatte. Die Musik, die unterdessen eine Weile präludierte, brach wieder ab und hob dann wieder an. Karl richtete den Kopf aus seinem Nachdenken auf und sah nun, daß die Tanzlust jener Schönen zu früh erwacht war; an dem Clavier ihm gegenüber stand Demoiselle Amalie, die Tochter des Hauses, mit einem Heft in der Hand, und eine andere Dame saß neben ihr, um ihren Gesang auf den Tasten zu begleiten.

In der ganzen Halle war es mittlerweile still geworden; die Gäste standen oder saßen zerstreut umher und schienen alle bereit, andächtig zu horchen. Demoiselle Amalie erröthete ein wenig und begann. Sie sang eine Arie mit italienischem Text, ihre Stimme zitterte von unten bis zu ihrer höchsten Höhe hinauf, dann blieb sie eine Weile oben in der Schwebe, und die himmelnden Augen schienen ihr auf ihrem Fluge zu folgen. Karl hatte diese Arie schon mehr als einmal aus ihrem Munde gehört; es wunderte ihn selbst, wie gleichgültig er ihr heut’ nur ein halbes Ohr lieh. Er meinte, den Klang einer kunstvollen Spieluhr zu hören. Ihre verzückten, hellen, farblosen Augen kamen ihm vor wie zwei sehende Wassertropfen, er verstand nicht mehr, daß sie ihm je etwas bedeutet hatten. Sein Blick glitt bald von ihr ab und blieb auf einmal auf einem blauen Haarbande hängen, das er schon gesehen zu haben meinte. Es gehörte der Dame, die am Clavier saß und spielte, für ihn unsichtbar, durch ihre Noten verdeckt. Nichts als ihr dunkelblondes Haar ragte darüber hervor, einfach zusammengefaßt, in leichten Wellen, die nach hinten flossen. Ihr Gesicht schien vornüber geneigt zu sein, es entzog sich ihm leider ganz. Nach einer Weile erst richtete sich der Kopf ein wenig auf, der Ansatz des Haares ward sichtbar, der sich in kleine, eigenwillige Löckchen löste. Dann verschwand er wieder, die Melodie ward lebhafter, die Clavierbegleitung wuchs zum Fortissimo heran, – und auf einmal erschien die ganze Stirn bis an die Augenbrauen und leuchtete hell herüber. Sie war nach den Schläfen zu sanft gewölbt, zwischen den Brauen sehr nachdenklich und vielleicht auch ein wenig eingesenkt, wenigstens erschien es ihm so; die Farbe aber war so licht und strahlend, daß der Kopf der daneben stehenden Amalie ganz in’s Grau versank. Darunter spannten sich die reizenden Brauen etwas hoch hinauf und führen dann wie dunkle Pfeile auf die Schläfen zu, bis sie sich in einer feinen, zarten Spitze verloren. Karl verfolgte sie mit aufgeregter, fast sehnsüchtiger Neugier, er hob sich auf den Zehen, um auch die Augen zu sehen. Aber in demselben Augenblick versank wieder die ganze Stirn, und statt der blauen Sterne, die er erwartet hatte, schien nur das blaue Band zu ihm herüber.

Dieses neckisch Spiel, das Gespräch von vorhin, der erste Anblick der weißgekleideten, räthselhaften Gestalt, dies Alles hatte das Blut des einsamen Lauschers in eine wunderliche Wallung gebracht; seine Phantasie schlug mit den Flügeln und begann unruhig zu flattern. Die Musik dauerte noch eine Weile fort; er hörte nichts als ein allgemeines Klingen und beschäftigte sich mit dem sonderbaren Spiel, das irgend ein Kobold mit ihm zu verführen schien, um ihm dieses Mädchen auf jede Weise zu zeigen [467] und zu verhüllen. Ihm war, als sähe er sie dennoch schon in ganzer Gestalt, mit allen Gesichtszügen, vor seinem inneren Auge stehen; den feinen sprechenden Blick, längliche Wangen, einen etwas schwermüthigen Mund mit träumerisch aneinander geschmiegten Lippen. Er dachte sie sich unwillkürlich nach seiner eigenen Art. Ihm wurde sehr weich zu Muth; ohne es zu wissen, bewegte er die Lippen und flüsterte den Namen „Annette“ ganz gerührt vor sich hin. Auf einmal schreckten ihn lautes Klatschen und beifallrufende Stimmen auf. Er öffnete die eingedrückten Augen und starrte in den überhellen Raum hinein. Die Gesellschaft hatte sich zum Theil herzugedrängt und schlug die Hände eifrig zusammen; Demoiselle Amalie, mit niedergesenktem Notenblatt, verneigte sich lächelnd unter neuem Erröthen, neben ihr aber stand noch eine zweite Gestalt. Die junge Dame mit dem blauen Band hatte sich erhoben und hielt ihre Augen gerade auf den Träumer in der Nische geheftet. Sie hatte eine ihrer Hände auf das Clavier gelegt, die andere schien noch auf den Tasten zu ruhen, und mit ruhiger Neugier dämmerte ihr ernsthafter Blick zu ihm hinüber.

Bei diesem Anblick faßte ihn eine ganz unerwartete Verwirrung, denn er entdeckte, wie sehr seine Phantasie ihn irre geführt hatte. Das Gesicht, das er sah, war viel zierlicher und kindlicher, als er es sich vorgestellt, die Augen von einem sehr in’s Graue spielenden Blau, groß, aber schüchtern und ohne lebhafte Sprache, der Kopf mehr rund als oval, und die dunkelrothen Lippen von einer durchaus nicht melancholischen Holdseligkeit, vielmehr wie zum Lächeln bestimmt. Auch in der ganzen Gestalt lag ein Ausdruck sanfter Schüchternheit, der sich nirgend festhalten und doch nicht verkennen ließ. Sie schien so wenig dazu geschaffen, die Bosheit der Menschen zu erwecken. Der zierliche Hals, die etwas schmächtigen Arme, das zarte, rundliche Kinn, Alles schien noch an ihr zu knospen. Kaum bemerkte sie, daß seine geöffneten Augen sie anstarrten, als ihr Blick, in einer überaus reizenden Weise sich verschleiernd, seitwärts hinausglitt. Einige der Herren näherten sich ihr, um auch ihr über ihr Spiel etwas Angenehmes zu sagen; sie überhörte es eine Weile, bis sie auf einmal herumfuhr und im Vorbeifliegen ihr Blick sich an den glühenden Augen in der Nische gleichsam vorüberdrängte.

„Hier muß man Sie suchen, Charles!“ sagte in diesem Augenblick eine Stimme neben ihm, und eine vertrauliche, magere Hand legte sich dem Träumer auf den Arm. „Wo starren Sie hin? Hat Demoiselle Amalie es Ihnen angethan? Sie sind sehr ingeniös, lieber Charles, sich hier im einsamen Hinterhalt aufzustellen.“

Die Demoiselle Merling hatte sich ihm unbemerkt genähert und sah ihm, während sie diese Anmerkung machte, spöttisch klug in’s Gesicht. Das alte Fräulein war in seinen Knabenjahren, nach dem frühen Tod seiner Mutter, als Hausdame an deren Stelle getreten und hatte sich aus jener Zeit die Rechte einer mütterlichen Freundin bewahrt, die sich noch immer zur Familie rechnen durfte. Sie war ein wenig verwachsen, aber ohne daß es sie eigentlich entstellte; ihre grauen, klugen Augen lagen wie in einem Ring von großen und kleinen Falten, die, wenn sie sprach, fast stets in Bewegung waren. Sie trug sehr kleine, aber sehr hohe Schuhe, um ihre allzu winzige Gestalt zu erhöhen. Sie galt, nach den Begriffen jener Zeit, für eine gelehrte Frau, und so viel war unzweifelhaft, daß sie von Allem wußte, was in der Stadt und in weitem Umkreise vorging.

„Tante Merling,“ erwiderte Karl, indem er sie sichtbar aufgeregt anstarrte, „wer ist diese andere junge Demoiselle da? Sie sprachen vorhin mit ihr, Sie kennen sie?“

Die alte Dame lächelte und klopfte mit ihren dünnen Fingern auf seinen Arm. „Also nicht Demoiselle Amalie!“ sagte sie. „Heut’ ist’s eine Andere. Sie sind mir der Rechte, Charles, Sie werden noch ganz und gar Franzose, mit Ihren emancipirten Ideen, Sie Revolutionär, Sie Mann der neuen Zeit’. Immer für das Neue –“

„Ich habe Sie nicht gefragt, Tante Merling, was Sie von mir denken, sondern wer diese junge Dame ist, die eben davongehen will.“

„Soll ich Sie etwa vorstellen?“ sagte die Alte mit ihrer listigsten Miene. „Ich dachte übrigens, Sie kennten unsere kleine Annette schon! Sie ist etwas unscheinbar, aber ein Mädchen comme il faut, lieber Charles, comme il faut. Ihre Mutter war beauté zu meiner Zeit.“

Karl sah wieder hinüber, aber seine aufgeregten Züge waren mittlerweile still geworden. „Sie haben Recht,“ erwiderte er mit scheinbarer Seelenruhe, „sie ist etwas unscheinbar. Aber sie sieht gutmüthig aus, freundlich. Wenn Sie es wünschen, nun ja, so stellen Sie mich ihr vor; ich sollte ihr wohl über ihr Clavierspiel etwas Artiges sagen.“

Die alte Dame betrachtete ihn mit ebenso verwunderten wie prüfenden Augen. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er von diesem ihrem Clavierspiel nicht eine Note gehört hatte.

„Sie sind ein recht charmanter Heuchler, lieber Charles, Sie vergessen mir, wen Sie vor sich haben! Uebrigens habe ich die kleine Annette in meine besondere Protection genommen, merken Sie sich das! Ich will Sie vorstellen – Sie Beide. Kommen Sie, mein alter Wilhelm, kommen Sie“ – da dieser eben mit großen Schritten neugierig herantrat – „Sie sollen meine kleine Schwärmerin, die Elevin meiner Seele, kennen lernen und mir dann sagen, ob ich’s mit ihr verfehlt habe.“

Mit diesen etwas pomphaften Worten nahm sie die beiden jungen Männer bei der Hand und führte sie quer über den Saal auf das Mädchen zu, das jetzt in einer der offenen Thüren stand und in’s Nebenzimmer hineinsah. Es war ein drolliges Bild, die kleine, auf ihren hohen Absätzen trippelnde Dame zwischen den schlanken, vornehm jugendlichen Gestalten zu sehen, die in ihren braunen Sammetröcken und goldgestickten Westen hoch über sie emporragten. „Annette!“ rief sie eifrig, und das Mädchen wandte sich herum. Es wird nun endlich Zeit, daß Sie mit meinen ehemaligen Söhnen Bekanntschaft machen; kommen Sie, mon enfant!“ Sie sprudelte die beiderseitigen Namen hervor und nahm dabei Annettens Hand in die ihre, um sie ein Mal über das andere zu streicheln. „Mon dieu, wie sie roth wird!“ sagte sie und lachte mit etwas süßlicher Heiterkeit. „Wir führen sie heut’ zum ersten Mal in die große Welt, man sieht’s ihr an! Und nun denken Sie, mein alter Wilhelm, sie wird heute nicht einmal tanzen, sie hat Kopfweh, das böse Kind. Mon dieu, als ich noch so ein Ding war, da gab’s keine Kopfschmerzen! Da gab es Education, und weiter nichts! Aber die junge Welt von heute – und das Träumen, das Schwärmen, das Gedichtelesen –“

In diesem Augenblick trat Amalie hastig in eine andere Thür und rief ihren Namen, und Demoiselle Merling, eifrig wie immer, nickte ihr zu und rauschte mit ihrer seidenen, grauen Schleppe hinaus.

Annette blieb stehen und sah den schönen blonden Wilhelm, der ihr in seiner raschen Weise näher trat, mit dem arglosen Blick eines Vogels, den Andern mit unsicheren, schüchternen Augen an. Das erste Erröthen war von ihr gewichen, aber eine reizende Unruhe flog von Zeit zu Zeit über ihr Gesicht. Wilhelm fing eilfertig an mit ihr zu reden. Worte flossen ihm wie immer leicht über die Lippen; seine Augen waren voll des liebenswürdigsten Feuers und sagten sehr deutlich, daß er sie reizend finde.

Unterdessen stand Karl in der tiefsten Zerstreuung, in das liebliche Bild vor ihm versunken, da. Es that ihm wohl, daß er ihr nichts zu sagen brauchte, daß Wilhelm sprach. Seine ganze Seele war beschäftigt, die erste falsche Vorstellung seiner Phantasie und diese sichtbar vor ihm lebende Gestalt zu verschmelzen. Er sah wieder auf ihre leuchtende Stirn, hinter der sich die Gedanken durchsichtig zu bewegen schienen, fühlte wieder denselben seltsamen Trieb, der ihm vorhin die ganze Wahlverwandtschaft ihrer Seelen, die träumerische Schwermuth ihrer Lippen vorgemalt hatte, – und ward dann von Neuem durch diesen blühenden, kindlichen Mund enttäuscht, der noch nicht zu ahnen schien, was eine Menschenseele von der andern begehren mag.

Endlich fühlte er die Verpflichtung, auch seinerseits ein Wort zu dem Mädchen zu sagen; aber eben fingen einige Geigen in einem der Nebenzimmer zu spielen an, Wilhelm brach mitten im Satze ab, um zu seiner Tänzerin zu eilen, und die ersten Paare tanzten über die Schwelle herein, gerade auf Karl und Annette zu. Er mußte zurücktreten, um Platz zu machen. Ein Paar über das andere walzte in den Saal, der Raum füllte sich schnell, und er verlor Annette aus den Augen. Nun fiel ihm erst ein, daß er noch gar nicht an eine Tänzerin gedacht hatte. Er stand allein mitten im Saal, wie die Wendesäule in der Rennbahn; bald rauschte ein Rockschooß, bald ein luftiges Kleid gegen seine Kniee. Der Träumer raffte sich auf, schob sich durch die Kette der Tänzer hindurch und fand sich wieder bei den Oleanderbäumen in seiner Nische. Hier leuchtete ihm Annette’s weißes Kleid aus dem Grün entgegen. Sie hatte sich ebenfalls in diese Ecke geflüchtet, kümmerte [468] sich um die Tanzenden nicht und schien in ernsten Gedanken vor sich nieder zu starren.

Seltsam aufgeregt trat er auf sie zu, und in dem Augenblick begegnete ihm das Sonderbare, was er schon in seinen Knabenjahren zuweilen erlebt hatte: er glaubte etwas zu thun, was er ganz ebenso schon einmal gethan. Es war ihm, als habe er sich – er konnte nicht sagen, wo und wann – mit ganz denselben Empfindungen, in derselben langsamen, fast stockenden Bewegung, derselben Gestalt genähert und sie ihn mit denselben eingeschüchterten Augen betrachtet. Ganz verwirrt blieb er stehen und suchte sich erst zu fassen. Das Mädchen bemerkte seine plötzliche Verstörung, oder wie man es nennen will, und mit einer sehr wohltönenden, freundlichen, noch etwas traurigen Stimme fragte es: „Was ist Ihnen? Ich glaube, Sie werden blaß; sind Sie nicht wohl?“

Karl schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bin ganz wohl, Mademoiselle,“ sagte er schnell beruhigt und in leichtem Ton. „Es war mir ein Augenblick – – Sie würden lachen, oder mich nicht verstehen, wenn ich Ihnen sagen wollte, was über mich kam.“

„Sagen Sie es mir dennoch,“ erwiderte sie mit einer gewissen verlegenen Heiterkeit. „Ich möchte wissen, ob ich es nicht verstände.“

„Kennen Sie das Gefühl, Mademoiselle, etwas zu erleben, was man schon einmal erlebt zu haben glaubt? ganz ebenso? Sehen Sie, so war mir jetzt, als ich auf Sie zu trat.“

Annette nickte. „Ich habe einmal gelesen,“ sagte sie lächelnd, „aber ich weiß nicht mehr, wo – daß dies Erinnerungen aus der Seelenwanderung seien, aus einem früheren Leben.“

„Das könnte wohl sein,“ entgegnete er überrascht und starrte in ihr kindlich kluges Gesicht. „Wo haben Sie das gelesen? – Es giebt so seltsame Traumzustände, für die man nach irgend einer Erklärung sucht. Mir war in dem Augenblick, als kennte ich Sie schon längst; als müßten auch Sie es wissen, daß ich Sie kenne.“

„So war mir auch,“ fiel sie ihm scherzend in’s Wort; „aber bei mir erklärt es sich besser. Ich habe Sie oft an unserem Hause vorbeireiten sehen –“ und unwillkürlich stieg ihr eine Röthe in die Wangen hinauf. „Die beiden Herren kennt ja Jedermann,“ setzte sie mit hastiger Heiterkeit hinzu. „Und obgleich ich mich nicht erinnere, Sie schon in einem früheren Leben gesehen zu haben, weiß ich doch mehr von Ihnen, als Sie denken; denn Demoiselle Merling spricht alle Tage von Monsieur Wilhelm und Ihnen.“

„So muß ich Ihnen sagen, daß ich auch über Sie schon stark unterrichtet bin – Sie werden es nicht errathen, in welcher Weise! Doch Sie leiden, liebe Mademoiselle. Es ist ein trauriges Schicksal, bei dem ersten Fest, auf dem man Tanzschuhe trägt, mit Kopfweh geplagt zu sein.“

„Nicht so traurig,“ erwiderte sie und schüttelte mit einem überaus reizenden Lächeln ihre kleinen Stirnlocken. „Denn wenn ich Kopfweh habe, bin ich nachdenklich und sogar etwas verständig, und habe gute Gedanken; und wenn ich ganz wohl bin, so hab’ ich nichts als Kindereien im Kopfe. Meine Mutter, die das ganze Haus voll Kinder hat, war zuweilen recht glücklich, wenn ich mit Kopfschmerzen versorgt war; dann hatte sie eine Hausplage weniger und eine recht gesetzte Pflegerin für die Kleinen.“

„Aber eine grausame Mutter, liebe Mademoiselle! – Und doch könnte ich selber fast so abscheulich sein, mir Glück zu wünschen, daß Sie – nachdenklich geworden sind, statt zu tanzen.“

„Warum tanzen Sie nicht?“ fiel sie auf einmal ein und sah ihm ganz befremdet in’s Gesicht.

„Warum sollte ich tanzen? Sehen Sie, ich interessire mich mehr für die Köpfe der Menschen, als für ihre Füße. Der schönste Atlasschuh ersetzt mir nicht einen – liebenswürdigen Mund, mit dem ich mich aussprechen kann. O Mademoiselle! Ich habe vorhin ein Wort über Sie gehört, das mich sehr glücklich gemacht hat. Sie lieben Goethe’s Gedichte. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen dafür die Hand drücke.“

Er hatte eine ihrer zierlichen Hände ergriffen, die eben in einiger Verlegenheit an den Oleanderblättern zupfte, und drückte sie mit jugendlicher, begeisterter Wärme. „Ich bin ein Goethe-Anbeter,“ setzte er hinzu. „Hier zu Lande lacht man über solche Menschen; man hält sie für Schwärmer. Lassen Sie die Menschen lachen, Mademoiselle! Sie haben die Augen, mit denen man Goethe liebt.“

Er sah dabei in ihre bläulichen Sterne hinein, so tief er konnte; sie schienen sich in der That mit Seele, mit Schwärmerei zu füllen. Annette zog ihre sanfte Hand leise zurück und senkte die Wimpern.

„Es ist wahr, ich lese Goethe gern,“ sing sie nach einer Weile etwas leise an, „und am liebsten im Freien. Wenn ich irgendwo im Garten oder im Walde sitzen kann, recht in der Stille, – da liest er sich so gut. Alles fängt an zu klingen und zu singen, und es wird Einem so wohl. Ich habe einen Lieblingsplatz – eine kleine Stunde von hier; Demoiselle Merling und ich, wir wandern mit einander oft hinaus – dahin geh’ ich nie ohne das Büchlein in der Tasche, und doch weiß ich’s fast auswendig.“

Sie stockte auf einmal und erröthete; sie schämte sich, von ihren kleinen Schwärmereien so viel verrathen zu haben. Ihre Finger spielten wieder an den Zweigen. „Sehen Sie, der Tanz ist aus!“ setzte sie plötzlich hinzu und schien ihn verlassen zu wollen.

Karl blieb vor ihr stehen. „Sie sagen da eben von einem Lieblingsplatz, eine kleine Stunde von hier; darf ich fragen, Mademoiselle, ob ich ihn kenne?“

„Nun? – Wie verstehen Sie das?“

„Vor dem Wasserthor etwa?“

Sie nickte.

„Die hohe Straße entlang, an den Windmühlen vorbei, bis der große Wald kommt?“

„Ganz recht.“

„Und dann links ab, zum Vorwerk, das mitten im Walde liegt? Und dort zu der großen Eichengruppe am Saum, von wo man so versteckt in das weite hügelige Land und über den Fluß hinaussieht?“

Annette nickte von Neuem mit den heitersten Augen. „Das ist der Platz. Dort sitz’ ich unter der großen Eiche, welche die schönste ist, und höre zu, wie die Blumen rauschen und die Eichkätzchen spielen, oder lese still für mich hin, oder spiele mit den Vorwerkskindern, während Demoiselle Merling an ihren religiösen Liedern dichtet. Aber woher wissen Sie, daß diese Stelle es ist? Warum sehen Sie so ernst, so nachdenklich in die Ecke?“

Er sah sie an. „Ja, ich bin heute nachdenklich,“ erwiderte er. „Der Mensch wundert sich so oft über nichts, auch über das Seltsamste nicht, und ich wundere mich heute über Alles. Wie kommt es, daß ich diesen Ihren Lieblingsplatz errathen habe und daß es auch der meinige ist? – Nichts hab’ ich davon gewußt. Sehen Sie wohl, daß wir uns schon einmal gekannt haben müssen, daß wir uns auf unserer Seelenwanderung zum zweiten Male begegnen? Jetzt verstehe ich auch,“ fuhr er mit scherzender Miene fort, „warum ich vorhin gleich so betroffen ward, als ich nur erst Ihren Rücken gewahr wurde. Ich wußte ja auf der Stelle, wer Sie seien. Natürlich! – Ich erinnere mich im Augenblick nicht, welcher Mann es war, der sich von einer Frau so wunderbar beherrscht und gefesselt sah, daß er schrieb: ,Wir müssen einmal in einem früheren Leben Mann und Frau gewesen sein; sonst verstehe ich es nicht’ –“

Er verstummte plötzlich, ohne den Satz zu vollenden, von der Beziehung getroffen, die für ihn selbst darin lag. Annette sah auf den Boden. Sie schwiegen Beide eine Weile und suchten nach Worten. Auf einmal trat wieder Demoiselle Merling heran, ließ ihre eingefalteten klugen Augen von Einem zum Andern gehen und sagte mit ihrer Falsett-Stimme: „Ich weiß nicht, ob ich störe! Denken Sie sich, meine theure Annette, daß einer der Musikanten plötzlich unwohl geworden ist, der Einzige, der was taugt; die Andern sind geradezu abominables. Wir wollen seinen Bruder holen lassen; aber unterdessen –? Da Sie ja doch nicht tanzen, ma chère infante wollen Sie nicht eine Weile mit Ihrem Clavierspiel aushelfen?“

Indem sie das sagte, betrachtete sie Karl von der Seite, was für ein Gesicht er dazu machen würde. Allein er bemerkte es und hielt seine Züge in Ruhe, während er einen Verdruß empfand, der ihm durch die Seele schnitt. Annette verrieth einen Augenblick, wie ungern sie sich dem Gespräch entrissen sah; dann faßte sie sich geschwind, und die holdseligste, natürlichste Freundlichkeit ging über ihre Züge.

„Ich helfe gern, wenn ich kann,“ sagte sie mit ihrer weichen Stimme und ging hinaus an’s Clavier.

Karl sah ihr mit warmen Augen nach, gerührt durch das liebreich Fügsame so einer Mädchenseele. „Sie ist das gutherzigste Kind!“ sagte die alte Dame und rauschte wieder hinaus. Er nickte still vor sich hin.

[481] Unterdessen hatte das junge Volk sich wieder gepaart; der Tanz sollte beginnen. Karl widerstand es, teilzunehmen oder einsam Zeuge zu sein. Er ging in’s Nebenzimmer, wo einige der älteren Herren spielten und rauchten; fand es auch hier unerträglich, sich ihren Bitten und Fragen auszusetzen, trat in’s Freie hinaus und überließ sich unter dem warmen Nachthimmel ganz seinen erregten Gefühlen.

Vor der Thür stand eine Bank; er saß hier lange, in eine Ecke gedrückt, Annettens weißes Kleid und helläugige Seele vor den geschlossenen Augen. Endlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter; Wilhelm war neben ihn getreten und sah ihn verwundert an.

„Hast Du geschlafen, Karl? Man sucht Dich überall, – nur nicht auf der Straße. Was ist in Dich gefahren, daß Du zwei Dutzend junge Mädchen nach Dir seufzen lässest?“

Der Träumer stand auf und rieb sich unwillkürlich die Stirn, wie um sich in die Wirklichkeit zurückzurufen.

„Uebrigens, Karl,“ fuhr Wilhelm mit einem fröhlichen Lächeln fort, „ich bin meiner neuen Liebe, meiner schönen Amalie, schon wieder untreu geworden. Es ist nichts mehr damit! Ich bin ganz verliebt. Ganz weg;“ – und er legte seine warme Hand von Neuem auf Karl’s Schulter und sah ihm auf’s Zutraulichste und Heiterste in’s Gesicht – „wieder einmal auf meine acute Weise! Du weiß noch, Karl, was unser alter Doctor einmal zu uns sagte: Du wärst eine chronische Natur, ich eine acute! Ich bin’s, das muß wahr sein. Ich bin weg. Auf dem Fleck könnt’ ich sie heirathen. Sie ist reizend, Karl; anders als die Andern. Aber leider will sie jetzt fort, und kein Mensch kann sie halten.“

„Von wem sprichst Du?“ fragte Karl. „Ich verstehe kein Wort.“

„Nun, von Demoiselle Annette! Von wem sonst? Du hast sie ja auch gesehen, aber Du bist ihr davon gelaufen. Sie fragte nach Dir. Ich habe lange, lange mit ihr gesprochen. Was ich da Alles geschwatzt habe, ich weiß es nicht mehr. Aber nun thut ihr der Kopf so weh, der Armen, und sie will nach Hause. Der Abend ist hin, denn ich mag mit Keiner von den Andern mehr tanzen.“

Indem er noch sprach, – ohne zu bemerken, wie mühsam der Bruder sich zu fassen suchte – trat Annette, in ein leichtes Mäntelchen gehüllt, von Demoiselle Merling und einer anderen Dame begleitet, aus der Hausthür hervor und stockte ein wenig, als sie die beiden Jünglinge so unerwartet vor sich stehen sah.

„Ich lasse es mir nicht nehmen, mon enfant,“ eiferte die Alte, „Sie nach Hause zu bringen. Ich habe Sie hier bemuttert und ich fühle die Obligation, Sie unversehrt wieder abzuliefern! Kommen Sie, Dorette!“ – Dorette, das Hausmädchen, erschien auf der Schwelle, den Hut auf dem Kopfe und die Enveloppe der alten Dame in der Hand. Im nächsten Augenblick sah sich schon Annette fortgezogen, hatte kaum noch Zeit, die Verbeugungen der Brüder mit einem flüchtigen Abschiedsgruß zu erwidern, und während Demoiselle Merling erst wahrnahm, wem dieser Gruß gegolten hatte, und nun eifrig zurückwinkte, verschwand sie schon mit ihrem Schützling und der Magd um die Ecke.

„Sie ist auch im Mäntelchen reizend,“ sagte Wilhelm mit einem herzlichen Seufzer und starrte ihr nach. „Karl, das ist mehr als Amalie, das ist ein höheres Wesen!“

„So sagt man, wenn man verliebt ist,“ antwortete Karl und suchte harmlos zu lächeln. „So sagtest Du vor vierzehn Tagen von Amalie, und so wirst Du nach zwei Wochen von einer Dritten sagen.“

„Meinst Du? Ich weiß nicht. Ich bin wenigstens – unendlich verliebt. Du hast Recht, man sollte sich nur unter dem Sternenhimmel aufhalten. O diese Nacht! Diese weiche, warme, weiche Luft! Wie steht es denn mit Dir, Du kalte philosophische Seele?“

„Ich lache ein wenig über Dich,“ erwiderte Karl und wandte sein Gesicht bei Seite. „Du schwärmst recht acut. Ich indessen –“ er wollte noch etwas sagen und wußte nicht, was; seine Gefühle flossen verworren durch einander, ein Scherz schien ihm Unwahrheit und Entweihung, und er verstummte.

„Dieses Sternengewölbe!“ sagte Wilhelm, der von des Bruders Worten nur die Hälfte gehört hatte, und staunte selig hinauf. „Diese Unendlichkeit! Ob man auch da oben auf den Plejaden verliebt ist? Karl, ich bin wie betrunken. Ich habe neuen Wein im Kopf – oder im Herzen. Wie ist es nur möglich, Karl, daß so ein paar Augensterne – ich meine, gegen die Unermeßlichkeiten da oben – uns vorkommen wie eine Welt? und daß uns dabei so groß, so weit, so unendlich wird? Es macht Einen schwindlig, Karl. Warum: mußte sie auch nach Hause gehen! Wenn man nur wenigstens unter ihrem Fenster –“ Er lehnte sich gegen die Wand, starrte nach oben, wie wenn er zu ihrem Fenster hinaufsähe, und schien alle seine Gedanken an das kleine Licht hinter ihrem Vorhang zu richten.

„Die Musik fängt wieder an,“ sagte endlich Karl und raffte [482] sich aus seinen verschlossenen Empfindungen aus. „Wir müssen hinein; komm’, mein Schwärmer. Wenn Du erst wieder eine Tänzerin im Arme hast, wird Deine arme angeschossene Seele genesen.“

Er nahm Wilhelm bei der Hand und zog ihn sanft mit sich fort. „Du irrst Dich ganz unaussprechlich,“ sagte dieser und seufzte. „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie mir zu Muth ist, weil Du nie so unsinnig werden kannst, wie ich. Aber ich liebe Dich dennoch; laß Dich umarmen, Karl, laß Dich umarmen!“ Er legte seine Arme weich um des Bruders Hals und umschlang ihn sehr zärtlich. „Ewige Liebe, Karl! So ewig wie–“ Seine Zunge taumelte und verstummte, und in einem schwärmerischen Bruderkuß begrub er seine sehnsüchtigen Gefühle.




2.

Am nächsten Nachmittag saßen Demoiselle Merling und Annette im Wohnzimmer der alten Dame beim Kaffee sich gegenüber, jede einen Strickstrumpf in der Hand, und in leichtem Geplauder. Die Sonne schien durch die beiden Fenster herein, erleuchtete die Lichtbilder, die an den Scheiben hingen, spielte auf dem schlohweißen Tischtuch und den vergoldeten Kaffeetassen, und glitzerte über die Stricknadel, mit der sich Demoiselle Merling, während sie sprach, nach ihrer Gewohnheit hinter den Schläfen rieb. Es war für sie die behaglichste Stunde des Tages, und sie liebte es, um diese Zeit nie ohne Besuch zu sein. Neben ihrer Tasse lag ein geistliches Buch, aus dem sie vorhin einige Stellen vorgelesen hatte; indessen hatte das Plaudern diesen schweinsledernen Tröster abgelöst, und sie war jetzt damit beschäftigt, die Gesellschaft von gestern Abend zu mustern. Eben nahm sie, mitten im Satz sich unterbrechend, wieder ein Stückchen Zucker in den Mund, um ein Schlückchen Kaffee hinterher zu trinken, als Annette sich wie zufällig umwandte und sagte, indem sie zu den Oelbildern an der Wand hinaufsah: „Sind diese rothröckigen Knaben da oben nicht Ihre beiden Söhne, Monsieur Wilhelm und Karl?“

„Freilich, freilich, meine liebe Annette,“ erwiderte die alte Dame und ließ ihre Tasse stehen, „das sind die beiden Jünglinge, vor acht Jahren gemalt, als sie noch auf dem Gymnasium den Homer und den Livius exercirten. Nicht wahr, sie sind charmant, die kleinen grands seigneurs, in ihrem gepuderten Haar, mit dem Spitzen-Jabot und der gelben Weste? Diese rothen Röcke waren damals das Feinste. Und mein alter Wilhelm, was für ein schöner Junge er damals schon war! So distinguirt sieht er aus! Der arme gute Charles kann sich daneben nicht halten.“

„Meinen Sie?“ fragte Annette mit kaum hörbarer Stimme. „Seine braunen Augen – er sieht so interessant aus.“

„Interessant? Ein Freigeist ist er. Ein revolutionärer Mensch. Aber Wilhelm – das ist ein junger Mann comme il faut. So offen, so elegant, so gutherzig! Das ist mein Ideal von einem jungen Menschen, in den hätte ich mich verliebt,“ setzte sie mit einem etwas verschämt lächelnden Blick auf das Tischtuch hinzu, „wenn er zu meiner Zeit jung gewesen wäre.“

Annette schwieg, aber schüttelte unwillkürlich den Kopf, während sie, immer noch abgewandt, den feinen Mund und die ernsten braunen Augen des Andern studirte. „Sie haben Recht, Ihr Monsieur Wilhelm ist schöner,“ sagte sie endlich und verschwieg, was sie dachte.

Die alte Dame nickte eifrig und schien sich eben zu einem zweiten Hymnus auf den schönen Jüngling anzuschicken, als an die Thür geklopft ward und auf ihr „Herein!“ Wilhelm wie in der Fabel erschien. Hinter ihm folgte Karl, und die beiden schlanken Gestalten traten auf sie zu, um sie mit einem ehrerbietig zärtlichen Handkuß zu begrüßen.

„Ah, Mademoiselle,“ sagte Karl mit einem Blick der freudigsten Ueberraschung, als er jetzt Annette bemerkte, die bei dem Klopfen aufgesprungen und bei Seite getreten war. Ein hastiges Roth schlug ihr bis an die Stirn hinauf und färbte ihre durchsichtigen Schläfen. „Sind Sie heute wohl?“ fragte er. „Sind Sie heute – weniger verständig?“ – Sie nickte ihm lächelnd zu und ward wieder roth. Darüber bemerkte Karl, daß zwei beobachtende Augen auf ihnen hafteten; er setzte seine ruhigste Miene auf und wandte sich von dem Mädchen zu der Alten zurück. „Ich komme, um auf einige Zeit von Ihnen Abschied zu nehmen, liebe Tante,“ sagte er scheinbar gelassen. „Mein Inspector ist krank geworden, er hat keinen Vertreter, das Gut schreit nach seinem Herrn. Morgen früh – sobald ich hier Alles abgewickelt habe – fahr’ ich hinaus, um nach dem Rechten zu sehen. Und dann werd’ ich wohl so lange auf meinem Acker sitzen bleiben, – bis ich wieder hereinkomme.“

„Sie Armer!“ sagte Demoiselle Merling mit einiger Emphase und drückte ihm die Hand. „So werden Sie sich der Abschiedsfête entziehen, die wir unseren beiden Jünglingen geben wollten? Kommen Sie, mein lieber alter Wilhelm, setzen Sie sich. Das ist schön, daß Sie die Alte nicht verlassen, Sie sind ein prächtiger Mensch. Ich habe eben auch allerlei – Böses von Ihnen geredet,“ setzte sie mit scherzhaft blinkenden Augen hinzu und kniff ihn sanft in den Arm. „Sie werden dieser jungen Dame da sehr abschreckend geschildert, lieber Wilhelm, nehmen Sie sich vor meiner bösen Zunge in Acht!“ Und dabei lachte sie auf und winkte der erröthenden Annette so geheimnißvoll lustig zu, daß diese verwirrt in ihre Tasse starrte.

„Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Tante Merling,“ erwiderte Wilhelm mit sehr neckischer Miene, ohne auf diese Späße einzugehen. „Sie können jetzt heirathen, Tante, Ihr alter Anbeter, der Herr Walter, hat sich von seiner Frau scheiden lassen und wird sich nun natürlich nach einer Anderen, – nach einer gewissen ungewissen Anderen umsehen.“

Mon dieu, mon dieu, was dieser tolle junge Mensch für Späße macht!“ rief die alte Dame mit ihrer höchsten Stimme aus und schien vor Lachen umkommen zu wollen. „Seine alte Tante so zu verhöhnen! Ich den Herrn Walter noch heirathen! ist das ein närrischer Junge!“

„Warum nicht, wenn man noch so liebenswürdig ist?“ erwiderte Wilhelm und sah ihr mit drolliger Koketterie in die Augen. „Der alte Herr Walter hatte gar keinen anderen Grund, sich von seiner Gattin scheiden zu lassen, als gegenseitige Abneigung. Also, wenn umgekehrt gegenseitige Zuneigung da ist –“

„Schweigen Sie, Bösewicht!“ unterbrach ihn Demoiselle Merling, ihre lachlustige Munterkeit unterdrückend, „wie können Sie in Gegenwart eines jungen Mädchens so abscheuliche Reden führen? Nein, nein, lieber Wilhelm, darüber läßt sich nicht scherzen. Mit so einer alten Tante wohl, aber nicht mit der jungen Welt. Sagen Sie nie mehr dergleichen. Der alte Herr Walter ist ein gottloser, gewissenloser, detestabler Mensch, wenn er aus so einem frivolen Grund seine Ehe auflöst. Lassen Sie sich sagen, lieber Wilhelm, daß die Ehe zu dem Ehrwürdigsten gehört, was es auf Erden und im Himmel giebt, und daß ich zwar keine Katholikin bin – das hat Gott verhütet – aber daß ich dennoch die Ehe für ein heiliges und unauflösliches Band halte.“

„Ich widerspreche Ihnen durchaus nicht, liebe Tante,“ erwiderte Wilhelm mit dem gutmüthigsten Lächeln, „durchaus nicht. Sie haben ja Recht. Ich halte die Ehe,“ und er warf dabei Annetten einen so lebhaften, glänzenden Blick zu, daß sie von Neuem vor sich niedersah, „ich halte die Ehe ebenfalls für etwas sehr Ehrwürdiges, liebe Tante.“

„Für ein heiliges und unauflösliches Band,“ wiederholte die Alte mit dem stärksten Nachdruck und sah Einen nach dem Anderen durchdringend an.

„Meinen Sie?“ sagte Karl ruhig, indem er ihr näher trat.

„Meinen Sie das so ohne jede Ausnahme?“

„Ohne jede Ausnahme,“ rief sie mit ihrer lauten Stimme, „ja wohl, ohne jede Ausnahme! Dieser Herr Walter hat nach meiner Meinung ganz detestabel gehandelt –“

„Ich rede nicht von Herrn Walter,“ unterbrach sie Karl, „ich rede von allgemeinen Möglichkeiten. Mir scheint es nicht nöthig, liebe Tante, mit den unehrenhaften Fällen auch die ehrenhaften auszuschließen.“

„Scheint Ihnen nicht nöthig? Nein, Ihnen natürlich nicht! Sie betrachten ja Alles mit revolutionären Augen, Sie sind ja ein Jakobiner, ein Franzose.“

„Wozu sich erhitzen, liebe Tante!“ erwiderte Karl ruhig, indem er ein leises ironisches Zucken der Mundwinkel unterdrückte. „Warum soll es von irgend einer Einrichtung – und mag sie an sich so vortrefflich sein, wie sie will – keine Ausnahme geben? Ist nicht bei allen menschlichen und irdischen Dingen auf Ausnahmen gerechnet? Und wenn es in neunundneunzig Fällen eine Sünde wäre, vor der großen sittlichen Aufgabe, die man sich in [483] der Ehe gestellt hat, feig davonzulaufen, kann darum nicht der hundertste so geartet sein, daß es hier eine Sünde wäre, zwei unglücklichen Menschen die Freiheit zu verweigern?“

„Die Freiheit!“ rief die Demoiselle Merling aus; „da hören Sie ihn! La liberté! Annette, da hören Sie den Jakobiner.“

„Es ist schade, daß Sie mich immer mißverstehen, liebe Tante. Ich rede nicht von der Freiheit, zu thun und zu lassen, was man will, sondern von der Befreiung aus einer unerträglichen und unmöglichen Lage.“

„Das wird ja wohl auf Eins herauskommen,“ rief die Alte zuversichtlich aus, doch ohne ihn anzusehen.

„Das wird es nicht,“ liebe Tante, „diesmal nicht. Lassen Sie uns nur einen Augenblick die Fälle unterscheiden, – warum wollten wir das nicht thun? Ein Mensch, wie dieser Herr Walter, der sich scheiden läßt, weil er das Leben mit seinem Weibe satt hat, weil er vielleicht, so alt wie er ist, noch nach einer Anderen, einer Jungen, ausschaut, kurz, weil es ihm so beliebt, ein solcher Mensch ist mir so verächtlich wie Ihnen. Dagegen, wenn ein guter, unglücklicher –“

„Ja, das ist er,“ unterbrach ihn die Demoiselle eifrig, „ein ganz meprisabler Mensch. Und das sind sie Alle! Und das geistliche Gericht, das so sans conscience diese gottlose Scheidung ausgesprochen hat –“

„Er hat sich einfach den Dispens gekauft,“ erwiderte Karl und zuckte die Achseln, „wie das in unserem lieben, gemüthlichen, jakobinerlosen Vaterland den Reichen und Vornehmen erlaubt ist! Aber Sie haben mich unterbrochen, liebe Tante. Ich denke an einen ganz anderen Fall, und es wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, wenn Sie mich ausreden ließen.“

„Ich lasse ihn nicht ausreden!“ rief die alte Dame mit starker Entrüstung aus. „Hören Sie wohl, liebe Annette: ich lass’ ihn nicht ausreden! Reden Sie, reden Sie. Ueberschütten Sie uns mit Fällen, lieber Charles, überschütten Sie uns mit Ihren anderen Fällen.“

„Ich denke nur an einen,“ sagte er, ohne auf ihre Entrüstung zu achten, und seine Stimme gerieth in einige Bewegung. „An einen Fall, den ich mir nur habe erzählen lassen’, und doch muß ich heut’ den ganzen Tag daran denken. Es handelt sich um einen edlen, vortrefflichen Menschen, der in gutem Glauben, daß man ihn lieb hat, ein wackeres Mädchen heirathet und nun hinterdrein erfährt, daß sie zu der Ehe gezwungen worden, daß ihr Herz längst vergeben ist, daß sie und noch Einer zu ewigem Unglück verdammt sind. Was soll dieser Mensch nun thun? Soll er sie an sich anschmieden und auf dem Buchstaben seines Rechtes bestehen und ihr und sich die Ehe zur Hölle machen? Was würden Sie thun, Mademoiselle?“ indem er sich plötzlich an Annette wandte, die athemlos lauschend und ihre großen Augen auf ihn gerichtet dasaß, „oder vielmehr, was würden Sie fordern, daß dieser Unglückliche thun soll? Wenn nun Sie selbst dies Opfer wären, das man am Altar durch zwei Buchstaben auf immer gebunden hat – und wenn Sie in Ihrem Innersten fühlten, daß dieser Bund eine ewige Lüge bleiben würde –“

„Aber mon dieu!“ rief Demoiselle Merling in verächtlichem Ton dazwischen, „warum hat ihm die Närrin nicht vor der Hochzeit gesagt, daß sie einen Anderen liebte? Warum mußte sie damit warten, bis sich die Sache so hübsch tragisch gemacht hatte?“

„Weil – – “ begann Karl zu erwidern, brach aber ermüdet und ungeduldig ab und wandte sich wieder zu Annette. „Würden Sie auch in diesem Falle die Ehe für heilig und unauflöslich halten, liebe Mademoiselle?“ Würden Sie auch hier sagen, daß es besser ist, drei unglückliche Menschenherzen durch die Regel zu brechen, als durch die Ausnahme zu retten?“

„Ich kann darüber nicht urtheilen,“ entgegnete Annette nach einer Pause mit sehr leiser Stimme. „Ich – ich weiß es nicht,“ und dabei sah sie schüchtern zu der alten Dame hinüber.

Karl schüttelte lebhaft den Kopf. „Warum sollten Sie es nicht wissen? Ist denn die Frage so schwer?“

„Ich kann mich vielleicht in den Fall nicht ganz hineindenken,“ erwiderte sie verlegen. „Ich meine, daß der Mensch dazu da ist, Alles, was Gott ihm schicken will, mit Ergebung zu tragen.“

„Sie haben Recht, Mademoiselle,“ rief Wilhelm, der sehr aufgeregt zugehört hatte, feurig aus und trat vor sie hin. „Ja, dazu ist der Mensch da! Sie hat Recht, Karl, und Du hast Unrecht; aber Du hast Deine Sache gut geführt, wie ein Cicero. Sagen Sie selbst, Tante Merling.“

Die Alte sah verstimmt in die Ecke und schwieg. Karl trat an das Fenster und starrte eine Weile hinaus, ohne ein Wort zu erwidern. Endlich kam er zurück, und seine Augen ruhten mit sichtbarer Bewegung auf Annettens zarter Gestalt und weichen, hingebenden Zügen. „Sie mögen so denken,“ sagte er, „ich will Ihnen auch nicht widersprechen. Aber was heißt das: ,was Gott uns schickt’? Schickt er uns nicht auch so manche Dinge, damit wir sie überwinden, damit wir sie abschütteln sollen? damit wir unsere sittlichen und geistigen Kräfte an ihnen üben? Und wenn wir irgend eine Thorheit begangen haben, muß denn das immer Gottes Wille sein? Ein Jeder von uns erlebt doch nur sein eigenes Schicksal, und darum find’ ich es unrecht, wenn Aeltere den Jüngeren ihre eigenen Ansichten als maßgebend aufdrängen, wenn irgend eine zufällige Erfahrung, die sie gemacht haben, für vielleicht ganz andersgeartete Menschen gelten soll.“

„Sprechen Sie von mir, lieber Charles?“ sagte die Alte mit sehr böser Stimme und stand auf.

„Ich spreche in diesen: Augenblick von meinem Vater,“ erwiderte Karl, „von meinem sonst so weisen und einsichtigen Vater, der aber in diesem einen Punkte was die Ehe betrifft – sich eine sehr starre Meinung gebildet hatte und es für seine Pflicht hielt, sie auf uns zu vererben. Weil er einmal in seiner Familie einen sehr kränkenden und tragischen Fall erlebt – mit jener allzu langen Brautzeit, von der Sie ja wissen – hat er uns in seinem Testament zur ausdrücklichsten Pflicht gemacht, auf unsere etwaige Verlöbniß ohne Aufenthalt die Hochzeit folgen zu lassen. Ich finde das unrecht, und ich gestehe es offen. In diesen Dingen meine ich –“

„Sie haben sehr wenig Pietät, lieber Charles,“ fiel Demoiselle Merling ein.

„Darüber lassen Sie mich meiner eigenen Meinung sein!“ gab ihr Karl etwas hastig zurück. „Wo es sich um das allerpersönlichste Wohl und Wehe handelt –“

„Gegen einen solchen Vater!“ rief die alte Dame aus, „gegen einen so distinguirten Mann und einen so sehr liebevollen Vater!“

„Ich bin sein Sohn, Tante Merling,“ unterbrach Karl sie mit erregter Stimme. „Ich gestatte Ihnen allerlei Vorrechte, aber ich gebe Niemandem das Recht, mich über mein inneres Verhältniß zu meinem verstorbenen Vater zu belehren.“

Demoiselle Merling starrte ihn sprachlos an. Diese Ausdrucksweise bei einem so jungen Menschen brachte sie ganz außer Fassung.

„Um Gotteswillen, Ihr werdet Euch doch nicht erzürnen!“ rief plötzlich Wilhelm’s helle, gutmüthige Stimme dazwischen. „Tante Merling, lassen Sie doch; – laß doch, Karl! Mein ! Gott, es ist ja nicht der Mühe werth! – Nun ja, und wenn man sich ein Mädchen gewählt hat, das Einem ganz gefällt, warum soll man da auch nicht sogleich mit beiden Füßen in die Ehe hineinspringen?“

Die Alte nickte eifrig zustimmend, war aber noch zu aufgebracht, um selbst zu Worte zu kommen.

„Streiten wir nicht, lieber Wilhelm,“ erwiderte Karl mit etwas bitterem Lächeln. „Ich war so pietätlos, mich nicht sowohl gegen die Sache an sich, als gegen die tyrannische Liebe unseres Vaters aufzulehnen. Ich lehne mich gegen Alles auf, was über mein Wohl und Wehe entscheiden will, ohne meine eigene Gesinnung zu befragen. Das ist freilich nicht Sitte, ist nicht kindlich gedacht. Was aber das Hineinspringen in die Ehe betrifft, lieber Wilhelm, wer bist Du? Doch wohl auch ein sehr gebrechlicher, irrthumsfähiger Mensch? Und wenn Dir plötzlich irgend ein Gelüste durch den Kopf schießt – und Dir in: Augenblick Alles herrlich, Alles in Ordnung scheint – – Doch was reden wir davon!“ setzte er abbrechend hinzu und that einen Schritt auf die Seite. „Wir reden in’s Blaue hinein. Jeder denkt, wie er fühlt. Wozu auch das ganze Gespräch! Man versteht sich nicht, und man ereifert sich, ohne zu wissen, warum man sich ereifert.“

Er sagte das mit einem scharfen Blick auf die alte Dame, die leidenschaftlich in die Luft hinaussah, und wandte sich dann unwillkürlich zu Annette zurück. Das Mädchen, mit leicht gerötheten Wangen und brennenden Lippen, sah in reizender Verlegenheit zu ihm hinauf und dann zur Tante hinüber und schien ihn mit ihren sanften Augen und Mäßigung, um Freundlichkeit zu bitten. Dieser Anblick wirkte ganz plötzlich auf ihn. Er [484] löste die finstere Falte zwischen seinen Brauen wieder auf, und ein sanftmüthiges Lächeln trat ihr auf die Lippen. Er blickte Annette herzlich an und ging auf die Alte zu.

„Sie müssen nicht böse sein, liebe Tante,“ sagte er leichthin. „Sie müssen mir verzeihen. Sie wissen, im Gespräch ereifere ich mich leicht. Geben Sie mir die Hand und sagen Sie mir freundlich Adieu! Ich muß fort, aber ich darf nicht eher gehen, als bis Sie sich in aller Großmuth mit mir ausgesöhnt haben.“

Demoiselle Merling stand auf und schlug ihn leicht auf die Hand. „Sie verdienen es gar nicht!“ sagte sie mit einem sauersüßen Lächeln und noch immer grollender Stimme. „Sie sind ein Mensch ohne Grundsätze, eine Mensch ohne Pietät – ja, ich muß es wiederholen, lieber Charles – ohne Pietät gegen mich! gegen mich, Ihre zweite Mutter! – Gehen Sie, reisen Sie und bessern Sie sich. Es ist nur gut, daß Sie mir wenigstens meinen alten Wilhelm zurücklassen.“

Karl gab dem Bruder die Hand, ohne etwas zu erwidern, und verneigte sich gegen das Fräulein, das sich zierlich, doch in einiger Bewegung erhob. Er fühlte sich verwirrt und eilte nach einigen hastigen, inhaltslosen Abschiedsworten hinaus. Die Luft in diesem Zimmer schien ihn zu bedrücken. Erst draußen kehrte seine Besinnung zurück; er mäßigte seinen Schritt, der sich anfangs überstürzt hatte, und blieb endlich mitten auf dem Marktplatze stehen, um. seinem ungestümen Blut ein wenig Ruhe zu gönnen.

„Ich hatte es schon fast aufgegeben, Dich einzuholen,“ sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm, und Wilhelm’s Arm legte sich in den seinen. „Warum liefst Du denn auf einmal so davon? Ich hatte Dir noch Allerlei zu sagen; warum stürmst Du so, Karl?“

„That ich das?“ erwiderte Karl mit erzwungenem Lächeln. „Ich mußte ja fort! – Was hast Du mir denn zu sagen?“

„Karl,“ fragte Wilhelm und suchte seine Augen, „hast Du Dich vorhin über mich geärgert? Ich habe Dir so dumm widersprochen; hat Dich das gekränkt?“

„Du bist ein Narr!“ sagte Karl und lachte ihm in’s Gesicht.

„Wie soll mich das kränken?“

„Ich meinte nur, weil Du heut’ so eigenthümlich erregt bist! Uebrigens mit den unglücklichen Ehen, Karl, da hatte Demoiselle Annette Recht, da hatte sie Recht! Ich hab’s wohl auch bemerkt, wie sie Dich wieder sanft gemacht hat ohne ein Wort; ja, die kann’s! Eh’ ich eben davon lief, hab’ ich ihr dafür die Hand gedrückt und ihr gesagt – ich weiß nicht mehr, was. Ja, so ein Mädchen kann, was es will! – Leb’ wohl, Karl; auf Wiedersehen, Ich muß noch ein wenig umherlaufen – so für mich weg, durch die Straßen; da drin ward mir’s zu heiß. Auf Wiedersehen heute Abend, zu Hause!“

„Auf Wiedersehen!“ sagte Karl zerstreut und drückte ihm die Hand. Er sah ihm nach, wie er sich entfernte; er fühlte, wie wohl es ihm selber that, wieder allein zu sein. Das Bild Annettens trat ihm, da er sie nun für unbestimmte Zeit verlassen sollte, um so lebhafter vor die Seele. Unwillkürlich dachte er an den Tag, an dem er zurückkehren würde, suchte die Zwischenzeit hinwegzublasen, die ländlichen Sorgen und Nöthe, die ihn erwarteten, sich klein und kleiner zu denken. Der Blick, mit dem sie ihn vorhin besänftigt hatte, schien von Neuem auf ihm zu ruhen und ihn schüchtern um schnelle Rückkehr zu bitten. Seine ganze Seele wallte auf, und er eilte, es ihr zu versprechen. Es dünkte ihn fast unmöglich, davonzugehen. Er nickte ihr zu, wie wenn er sie vor sich sähe, bewegte die Lippen, wie um ihr laut zu sagen, daß er bald wiederkomme, und verlor sich in alle die herzlichen, empfindungsvollen Tändeleien, in denen sich ein jugendliches Herz mit dem Gegenstände seiner überwallenden Gefühle beschäftigt.

So wanderte er vor sich hin, zum Thor hinaus, auf der alten Landstraße, die an dem hügeligen Flußufer entlang führt, im vollen Nachmittags-Sonnenschein und in der lieblichsten Maienluft, die ein sanfter Wind von Süden her bewegte. Er sah um sich her und ward lebhaft gerührt; die Gegend, die ihn sonst nie von Herzen erbaut hatte, schien ihm heute so schön; der Fluß breitete sich so weit, so blau hinaus, die Wolken leuchteten wie Schneegebirge über dem Saatgelände, die Lerchen in der Höhe, die Wachteln im Feld sangen so eindringlich, und aus dem Wald, dem er entgegentritt, lockte der Finkenschlag und schienen die unermüdlichen Meisen ihn anzurufen. Er wanderte immer weiter, tief in’s Gehölz hinein, von der Straße weg; es that ihm wundersam wohl, über die knackenden dürren Aeste hinzuschreiten, das alte rothe Laub rascheln zu hören und dann wieder, mit einem Blick nach oben, das junge Grün der Wipfel, den dunkelblauen Himmel und die ziehenden Wolken überspinnen zu sehen. So glaubte er über seine eigene Vergangenheit hinwegzutreten und in ein neues Leben hinauszustarren. Wie singende Vögel umgaukelten ihn seine Hoffnungen und schienen von Ast zu Ast neben ihm herzufliegen. Wie man sich als Kind in zauberhafte Märchenwälder hineindenkt, wo tausend räthselhafte Stimmen uns aufregend und sanft betäubend umschwirren, so schien er heute unter lauter Wunderbäumen, unter einem unbekannten Himmel hinzugehen; der Maienwind wühlte in seinen Adern, seine Augen füllten sich mit Gluth, und ein ganz neuer Lebenshauch schien ihn, wie ein Lufthauch, der die Segel schwellt, leichter dahinzutragen.

So war er schon lange, auf keinen Weg mehr achtend, über Moos und Blätter und Baumwurzeln hingeschritten, als sich auf einmal der Wald vor ihm lichtete und an der tiefen Ecke, die hier ein Saatfeld in das Gehölz hineinschnitt, eine mächtige, wohlbekannte Eichengruppe ihm gegenüber aufragte. Er erkannte zu seiner Ueberraschung, daß er, ohne es zu wissen und zu wollen, an der Grenze des im Wald versteckten Vorwerks, am Lieblingsplatz Annettens angelangt war. Das hügelige Land dehnte sich zur Rechten, der breite Fluß lag wie ein See, wie ein blaues Auge mitten drin. Oben im jungen Laub sprangen die Eichkätzchen von Baum zu Baum; sonst war es hier wunderbar still. Karl ging träumerisch auf die Eichen zu; er glaubte ein helles Kleid zwischen ihnen schimmern zu sehen. Seine Schritte beschleunigten sich. Endlich stand er unter den hohen Bäumen. Am Fuß der letzten, herrlichsten Eiche, deren Zweige breiten Schatten ausstreuten, saß wirklich Annette und rief ihm mit überraschender Gewalt ein Bild vor die Seele, das daheim in seinem Herrenhaus hing, das er als Knabe so oft in schwärmerischer Träumerei betrachtet hatte. Ein junges Mägdlein im Wald, auf einer hohen Baumwurzel sitzend, mit sanften Augen herausblickend; den breiten Strohhut am Arm, die Füßchen in rothen Schuhen nachlässig ausgestreckt, ein Lied oder ein singender Gedanke auf ihren kindlichen Lippen. So sah er hier Annette vor all’ seinen Sinnen, in lieblichster Wirklichkeit. Sie bemerkte ihn nicht. Ihr Blick träumte schräg zur Seite hinaus, – was sie zu lieben schien. Ihr dunkles Haar legte sich ihr frei, in lockiger Verworrenheit um die Stirn, wie wenn es noch nie Band und Schleifen gekannt hätte. Die Hände ruhten im Schooß, ein aufgeschlagenes Büchlein lag daneben; der stroherne, rothbebänderte Sommerhut hing ihr am Arm, das blaßgelbe Kleid floß über die grünbemoosten, schlangenartigen Baumwurzeln hin; – nur die kleinen rothen Schuhe fehlten. Karl trat in seiner ganzen frühlingsseligen Erregung heran. Bei seinen knisternden Schritten fuhr sie aus ihren Gedanken auf, starrte zu ihm hin, und wie Purpur überlief es ihre Wangen.

Er zog seinen Hut, verneigte sich mit bescheidener Vertraulichkeit und redete sie an: wie glücklich es ihn mache, sie noch einmal zu sehen; sie an diesem schönsten Frühlingstage so unerwartet an diesem holden Platze zu entdecken. Er blickte auf ihr Büchlein herab und erkannte dasselbe Liederbuch, das auch ihn überall zu begleiten pflegte. Sein scharfes Auge sah, daß sie das „Mailied“ aufgeschlagen hatte. Unwillkürlich fing er an, den glückseligen Text mit leiser Stimme vor sich hin zu sprechen. Annette sah ihn mit halb beglückten, halb verlegenen Augen an. Sie erröthete von Neuem und warf dann ängstliche Blicke hinter sich. Er folgte ihnen und sah nun zu seinem Schrecken hinter einer andern Eiche, in einem hellgrauen Sommerkleid, einen mächtigen Hut auf dem Kopf, ein Buch auf den Knieen, die alte Demoiselle Merling sitzen. Sie schien zu lesen, schielte aber über das Buch hinweg zu den Beiden hinüber.

Der sehr verstörte Jüngling rang nach Fassung; er hatte sich mit Annetten ganz allein gedacht. Er vergaß fast zu grüßen. Indessen stand die Alte langsam auf, näherte sich mit einem zweideutigen Lächeln und fragte ihn, was für ein Zufall, indem sie das Wort betonte und Annette forschend dabei ansah, ihn gerade hierher geführt habe? – „Sie sind nur leider sehr spät gekommen, lieber Charles,“ setzte sie boshaft hinzu. „Denn wir Beide, wir werden uns wieder auf den Retourweg machen müssen. Der Weg ist weit, und die Sonne schielt schon sehr! Leben Sie wohl, lieber Charles. Es war schön von Ihnen, daß Sie sich uns noch einmal gezeigt haben. Reisen Sie glücklich.“

[497] Annette hatte sich mit leisem Zittern erhoben, warf noch einen Blick auf Karl, der ihm sagen sollte – sie wußte nicht was – und schickte sich dann geduldig an, der alten Dame zu folgen. Indessen Karl hatte schon seine verlorene Fassung wiedergewonnen. „Ich danke Ihnen, liebe Tante,“ sagte er sehr verbindlich. „Uebrigens, was Ihre Heimkehr angeht, so trifft es sich gut: ich will auch eben nach Hause! Also, wenn Sie erlauben, so schließ’ ich mich Ihnen an. Zu Dreien geht sich’s noch besser. Ich führe Sie auch einen näheren und schöneren Weg: zunächst einige Minuten durch den Wald, und dann schräg über die Straße hin. Ich weiß, diesen näheren Weg kennen Sie nicht – – Und ich auch nicht,“ setzte er in Gedanken hinzu, „denn er ist sehr viel weiter. Aber ich will Dich lehren, mich bei Seite schieben zu wollen!“

Damit hob er Annettens Büchlein auf, das ihr vor Verwirrung niedergefallen war, ging ohne Weiteres voran und schlug einen Pfad rechts von den Eichen ein, der vom Vorwerk hinweg tiefer in den Wald führte. Er summte, wie in völliger Unbefangenheit, ein Lied vor sich hin und blieb dann wieder stehen, um die Alte, die ihm nach einigem vergeblichen Zögern folgte, an sich vorüberzulassen. Der Weg war so schmal, daß ihn nicht Zwei neben einander betreten konnten. Karl, indem er zur Seite auf den Baumwurzeln dahinging oder sich an dem niedrigen Gestrüpp vorüberdrängte, hielt sich neben Annetten. Er kümmerte sich um keinen der giftigen Blicke, die ihm die Alte, aufgeregt den Hals verdrehend, zurückwarf; er hatte auch alle Scheu und Bangigkeit vor dem holden Geschöpf an seiner Seite verloren. Ein feuriger, fröhlicher Uebermuth war in ihm wachgerufen, und die ganze Seligkeit dieses Abends drängte sich ihm unwiderstehlich auf die Lippen. Er begann das Goethe’sche „Mailied“ wieder vor sich hin zu sprechen, aber diesmal mit lauter, schwärmerischer Stimme. Annette horchte und sah still auf den Weg; die Alte trippelte heftiger voran. Die Aeste krümmten sich und knarrten unter ihren Füßen; aber nur um so lauter und glücklicher fuhr der Jüngling fort:

– – O Erd’, o Sonne!
O Glück, o Lust!

O Lieb’, o Liebe!
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn! !

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blüthendampfe
Die volle Welt.

O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb’ ich Dich!
Wie blickt Dein Auge! –

„Wie liebst Du mich!“ schwebte ihm ersterbend auf der Zunge. Er starrte das Mädchen, sich plötzlich besinnend, an. Sie hatte ihre gefüllten Augen auf ihn gerichtet, schlug sie nun heftig nieder und schien sie in den Boden zu versenken, während ihre glühenden Wangen sich noch glühender färbten. Ein starker, krummer Ast legte sich über den Weg; sie schnellte ihn mit einem unsicheren Tritt in die Höhe, so daß er wie eine Schlange an ihr hinauffuhr, erschrak und strauchelte. Karl sprang hinzu und faßte ihren Arm.

„Wollten Sie fallen, Mademoiselle?“ sagte er hastig.

„O nein,“ flüsterte sie und suchte zu lächeln. „Ich danke Ihnen. Es war ein kleiner Schrecken, weiter nichts. Es ist schon vorüber.“

„Ich werde lieber hinterdrein gehen,“ sagte Demoiselle Merling mit Betonung und einer sehr bösartigen Miene und blieb stehen. „Geh’n Sie voran, mon enfant.“

„Sind Sie so schreckhaft, liebe Mademoiselle?“ fragte Karl, ohne auf diesen zornigen Schachzug der Alten zu achten. „Sind Ihre Nerven so zärtlich?“

„Ich fürchte, sie sind es,“ erwiderte Annette mit dem reizendsten, mädchenhaftesten Kopfnicken. „Aber das thut nichts, ich habe doch Muth. Ich bin leicht zu erschrecken, aber ich kann mich auch zusammennehmen.“

„Da haben Sie Recht, Mademoiselle Annette! Ein Frauenzimmer ohne Muth, pflegte mein Vater zu sagen, ist wie ein Mann ohne Verstand. Aber zum Beispiel?“ setzte er mit einem scherzhaften Blick hinzu, indem er auf das Hinderniß zeigte, das gerade jetzt ihren Weg durchschnitt. Ein ziemlich breiter, wenn auch nicht tiefer Bach floß durch den Wald, und an der Stelle, wo sie standen, führte nur ein schmaler, roh zugehauener Baumstamm hinüber. Etwa zwanzig Schritte weiter hinauf hatte man für die Aengstlichen und Ungeschickten gesorgt und einige hohe, feste Steine in das Wasser gelegt, welche wie Brückenpfeiler ohne Brücke hervorsahen. Karl wies auf den Baumstamm hin und trat dann auf [498] ihn hinauf. „Würden Sie es wagen, Mademoiselle, sich dem Rücken dieser zahmen Schlange anzuvertrauen?“

„Aber mon dieu, Charles, wohin führen Sie uns!“ rief Demoiselle Merling mit entrüsteter Stimme. „Wir sollten jetzt längst auf der Landstraße sein und stecken mitten im Wald – und können nicht weiter! Oder denken Sie etwa, daß ich auf der Stange da Seiltänzerkünste machen soll?“

„Nicht doch, liebe Tante, Sie nicht! Sehen Sie dort hinten die Steinbrücke, da können Sie gar nicht fehlen. Ueber diese ‚Stange‘, wie Sie es nennen, möchte ich nur die junge Dame da herüberlocken!“ Und damit ging er schon den Stamm entlang und winkte vom andern Ufer lächelnd zu Annetten herüber.

„Sie sind toll, lieber Charles! Annette, Sie folgen ihm nicht! Lassen Sie sich nicht von ihm zu Narrenspossen verführen!“

„Haben Sie Muth, Mademoiselle Annette?“ fragte Karl von Neuem. „Sie sehen, der Balken hält still. Oder fürchten Sie, daß Sie schwindeln könnten?“

„Schwindeln nicht – aber ich fürchte –“ und das Mädchen sah verlegen auf Demoiselle Merling und ängstlich auf den Bach.

„Also Sie fürchten!“ rief Karl mit einem leisen Anklang von Spott. „Das thut mir leid, ich dachte, Sie hätten Muth.“

Bei diesen Worten zog Annette hastig ihr Kleid ein wenig hinauf, so daß die kleinen Füße sichtbar wurden, und trat auf den Baumstamm. Sie warf einen Blick zu ihm hinüber und erröthete hoch hinauf. Dann fing sie an, zwar etwas behutsam, aber doch mit fester Entschlossenheit vorwärts zu gehen.

„Aber au nom du ciel, Annette!“ rief Demoiselle Merling außer sich, „wollen Sie durchaus in’s Wasser fallen? Wollen Sie sich von diesem abscheulichen Menschen umbringen lassen? Kehren Sie um, Annette, kehren Sie um!“

„Ich bitte Sie, liebe Tante,“ sagte Karl etwas unwillig, „schweigen Sie doch! Sie sehen, es ist zu spät; wollen Sie die Demoiselle außer Fassung bringen?“

„Annette! Annette!“ schrie die Alte nun vollends, „Sie fallen ja unfehlbar hinein! Sie werden straucheln, Annette! Kehren Sie um, oder Sie fallen hinein!“ Ihre gellende, hohe Stimme fing an, das Mädchen in Verwirrung zu bringen. Annette blieb stehen, weil ihre Schritte plötzlich unsicher wurden. „Richtig, da straucheln Sie schon!“ rief die Alte in vollem Entsetzen aus und hob ihre Arme mit dem Sonnenschirm in die Höhe. Diese Bewegung, die Annette von der Seite sah, verwirrte sie ganz, sie gerieth in’s Schwanken, suchte durch einen raschen Tritt festeren Fuß zu fassen, und indem sie darüber das Gleichgewicht verlor, sank sie, blaß wie eine Leiche, lautlos hinunter.

In demselben Augenblick stürzte Karl schon hinzu, sprang vom Ufer in den Bach hinein und haschte nach ihren Gewändern, ihren Armen. Der Fall war nicht hoch; das Wasser schlug zwar einen Augenblick über ihren Schultern zusammen, aber der Jüngling zog sie schnell in die Höhe und an seine Brust. Sie schlug die Augen auf, um sie sogleich wieder zu schließen. Er trug sie in seinen Armen wie ein Kind, hob sie mit starker Anstrengung auf den Uferrand hinauf, dann, als er sah, daß sie mit wiederkehrender Willenskraft sich hielt und ihr Blick mit dem lieblichsten Bewußtsein auf ihm ruhte, ließ er sie auf einen Augenblick los, um sich auf das Ufer hinaufzuschwingen.

„Annette! Annette!“ sagte er, als er oben stand, und beugte sich in fassungsloser Bewegung zu ihr nieder. „Können Sie mir verzeihen?“

„Was soll ich Ihnen verzeihen?“ sagte sie mit noch matter Stimme und lächelte ihn an.

Er hob sie vom Boden auf, um sie nicht länger in der Nähe dieses tückischen Bachs zu sehen, und trug und führte sie einem bemoosten Stein in der Nähe zu. Er fühlte sie auf’s Neue in seinen Armen und? ohne daß der Schreck, wie vorhin, das Gefühl der Wonne in ihm erstickte. Ihre leichte, wieder ein wenig schwankende Gestalt lehnte an seiner Brust; er begriff in diesem Augenblick, daß man für so eine unaussprechlich süße Last das Unaussprechlichste zu wagen vermöchte. Endlich mußten seine Arme sie loslassen; sie saß auf dem Stein und blickte ihn dankbar an, und der erste rothe Schimmer blühte wieder auf ihren blassen Wangen.

Demoiselle Merling hatte bisher starr und wie betäubt dagestanden; ihr Sonnenschirm lag am Boden, ihre laute Stimme schien aus dem halb offenen Mund davongeflogen zu sein. Jetzt endlich trat sie heran. „Wie Sie noch blaß sind, ma chère! Sie haben sich doch nicht weh gethan? Ich sagte es gleich! Ich habe es gleich gesagt, Sie würden hineinfallen!“

„Weil Sie unvernünftig waren wie ein Kind,“ unterbrach sie Karl in sehr unwilligem Ton. „Ich bitte, schweigen Sie, bringen Sie mich nicht auf. Hier ist keine Zeit, sich zu entschuldigen, sondern die Demoiselle in trockene Kleider zu bringen.“

„Wollen Sie mir Impertinenzen sagen, lieber Charles?“ erwiderte die Alte und sah ihn mit offener Feindseligkeit an. „Ich bin also schuld? Ich also habe das Kind zu dieser Thorheit verleitet? Ich habe uns hier in die Irre geführt? Sie übertreffen heute sich selbst, lieber Charles, Sie übertreffen sich selbst!“

„Lassen Sie uns heute nicht mehr streiten,“ brach Karl kurz ab und reichte Annetten seine Hand, um sie von ihrem Sitz sanft in die Höhe zu ziehen. „Kommen Sie, kommen Sie, liebe Mademoiselle. Wir müssen zum Vorwerk zurück; es ist das nächste Haus; dort kann man Sie umkleiden. Sind Sie noch schwach, liebe Mademoiselle? Soll ich Sie tragen? Ich habe Kraft genug, um Sie durch zwei solche Wälder zu tragen wie dieser.“

„Charles! Charles!“ rief die Alte in der höchsten Entrüstung aus, „sind Sie denn ganz von Sinnen? Wissen Sie denn nicht, wie unanständig Sie sind? Ein junges Mädchen tragen – nein, dieser Einfall!“

„Können Sie gehen, Mademoiselle Annette?“ sagte Karl mit weicher, etwas bebender Stimme und wandte sich von der Alten ab. Das Mädchen nickte ihm zu. „Nehmen Sie meinen Arm, liebe Mademoiselle! Sie frieren schon in Ihren nassen Kleidern?“ Sie schüttelte lebhaft den Kopf. Mit einigem Zögern hing sie sich an seinen Arm und vermied es dabei, dem Blick der Demoiselle Merling zu begegnen. „Schreiten Sie recht tapfer aus,“ sagte er, indem er sie zärtlich anblickte, und führte sie rasch voran. Die Alte keuchte mühsam hinterdrein und biß sich stumm auf die Lippen. Karl schien nicht mehr zu wissen, daß sie auf der Welt war; er drückte Annettens Arm an den seinen, flüsterte ihr freundlich belebende Worte zu und fragte sie ein Mal über das andere, ob sie ihm auch verzeihe. „Ob ich Ihnen verzeihe?“ sagte sie leise und blickte mit scheuer Dankbarkeit zu ihm hinauf.

„Sie haben mich gerettet! Sie haben mir –“ Sie verstummte. Dann begann sie nach einer Weile, indem sie plötzlich ihren Schritt zu beschleunigen schien: auch ihre Eltern würden ihm danken wollen, ihre guten Eltern. Es würde sehr freundlich von ihm sein, wenn er sie aufsuchen wollte, damit sie den Retter ihrer ungeschickten Tochter kennen lernten. Sie riß einen Zweig von dem Gebüsch am Wege ab und fragte dabei mit etwas hastiger Stimme: „wann er wieder zurückkomme?“ Karl glaubte die holdeste Musik zu hören, indem sie das sprach. Er ergriff ihre Hand, drückte sie und betheuerte, daß er keinen wärmeren Wunsch habe, als sie wiederzusehen. Sie erröthete sehr und wandte ihr Gesicht zur Seite hinaus. Unterdessen hatte die Alte sie endlich wieder erreicht, das dürre Holz knatterte unter ihren hastigen Füßen. Der Wald lichtete sich, und zwischen den Bäumen durch schien das Haus des Vorwerkspächters herüber.

Die Kinder, die vor der Thür in der Abendsonne spielten, sprangen Annetten mit liebkosenden Ausrufungen entgegen. Auf ihr ungestümes Schreien, als sie die nassen Kleider sahen und hörten, was vorgefallen, kam die Mutter heraus und eilte fast mit Zärtlichkeit auf das Mädchen zu. Annette schien nun wirklich trotz des raschen Ganges kläglich zu frieren; ihre Lippen verloren alle Röthe. Die erschrockene Pächterin führte sie schnell hinein, die alte Dame und die Kinder folgten, und Karl blieb allein vor der Thür zurück, in seinen hocherregten, wogenden Gedanken.

Eine lebhafte Bangigkeit bedrückte ihn, dann zerschmolz sie vor dem Feuer seiner Gefühle; er sah sich wie über alle Wipfel weggetragen, er wiederholte sich Annettens Blicke und Worte und drückte sie im Geiste wieder an seine Brust. Auf einer der Bänke, die in dem Wirthsgarten vor dem Hause unter den Lauben standen, warf er sich hin und starrte mit überfüllten Augen in den Himmel hinein. Nach einer Weile kamen die Kinder wieder hervor, schlichen neugierig näher, standen stumm um ihn her und sahen dann wieder voll Erwartung nach der Hausthür zurück. Endlich erschien auch Annette, und nun sprangen ihr die Kleinen mit lautem Lachen entgegen. Sie hatte sich von Kopf bis zu Fuß verwandelt und stand in ländlicher Mädchentracht, wie eine etwas [499] unwahrscheinliche Dorfschöne, da. Das große, farbige Brusttuch, die kurzen Aermel, die leinene Schürze standen ihr seltsam drollig zu Gesicht. Karl war aufgesprungen und starrte sie an; sie blickte in der liebenswürdigsten Heiterkeit zu ihm herüber. Ihre Lippen waren wieder frisch und roth, ihre Wangen blühten. Sie drückte einen mächtigen ländlichen Strohhut auf den Kopf; darüber brachen die Kinder in neues Jubeln aus, hingen sich rechts und links an ihre Schürze und gaben ihr die lustigsten Schmeichelnamen, während sie mit herzlicher Liebe und Holdseligkeit auf die kleinen Schelme herabsah.

Karl schritt auf sie zu und wollte eben ihre Hand ergreifen – ohne zu wissen, warum – als auch Demoiselle Merling aus der Thür hervortrat und zugleich ein kleiner, einspänniger Wagen von der Stallung heranfuhr, um vor dem Hause zu halten. „Bemühen Sie sich nicht weiter, lieber Charles,“ sagte sie mit ihrem süßesten Lächeln, „und haben Sie schönen Dank, daß Sie uns das böse Mädchen da so weit wieder gerettet haben. Wir fahren heim, wie Sie sehen. Ich habe sofort beim Eintreten einen Wagen bestellt. Es ist leider nur Platz für Zwei, es wäre schöner gewesen, wenn wir den Lebensretter hätten mitnehmen können. Aber Sie machen sich ja nichts aus weiten Wegen zu Fuß. Leben Sie wohl, lieber Charles. Steigen Sie ein, mon enfant, steigen Sie ein. Helfen Sie mir ein wenig, lieber Charles. Ich danke Ihnen so. Und nun fahren Sie zu, Kutscher, was die Pferde nur laufen wollen.“

Karl stand überrascht. Er hatte in der Verwirrung noch ein mal Annettens Hand ergriffen, drückte sie lebhaft und glaubte ihren Gegendruck zu fühlen; aber dann riß die Alte, wie durch eine zufällige Bewegung, den Arm des Mädchens zurück, und die ungeduldigen Pferde zogen an. Ein letzter Blick aus Annettens sanften Augen flog zu dem Jüngling zurück, und ihre ganze Seele schien ihn daraus anzustrahlen. Beglückt und verstört zugleich stand er und sah ihr nach. Der Wagen rollte zum Gehöft hinaus, eine leichte Staubwolke schwebte hinter ihm auf, und durch diesen grauen Schleier hindurch glaubte er noch den boshaft triumphirenden Blick der Alten zu erkennen.




3.

Unterdessen war Wilhelm, seit er sich auf dem Marktplatz vom Bruder getrennt hatte, mit seinen hastigen Schritten durch die Straßen geraunt; er sprach vor sich hin, er sang, er nahm seinen Hut in die Hand und irrte durch die Sommerluft der Gassen umher, ohne zu wissen, wohin seine Füße ihn führten. Endlich blieb er stehen und dachte, was für ein Thor er gewesen sei, das Zimmer seiner Tante Merling zu verlassen; er sah sich wieder auf seinem Platz, neben Annette, – und plötzlich kehrte er um, zu dem kleinen schmalen, hochstirnigen Eckhaus am Marktplatze zurück. Er trat auf den Flur und horchte, um Annettens liebliche Stimme drinnen zu hören. Aber Alles war still. Er klopfte und fand die Thür verschlossen, er zog an der Hausthürglocke, das Dienstmädchen erschien und sagte ihm, daß die Demoiselle spazieren gegangen sei. Es war ihm unmöglich, so wieder von dannen zu gehen. Er ließ sich aufschließen und trat in das Zimmer hinein, um auf dem Stuhl, auf dem vorhin Annettens kleine Gestalt geruht hatte, niederzusitzen. Ihr unfertiger Strickstrumpf war auf der Tischdecke liegen geblieben; mit Zärtlichkeit nahm er ihn in die Hand, dachte sich die zierlichen Finger hinzu, die ihn so weit gebracht hatten, und starrte ihn sehnsüchtig an, wie wenn sich ihre ganze Seele in diese Maschen verstrickt hätte. Endlich trieb ihn seine Unruhe wieder davon. Es drängte ihn, der Tante Merling ein Zeichen seines Zustandes zurückzulassen. Auf dem Clavier fand er einen weißen Briefbogen, er theilte ihn in seine beiden Hälften und hing das eine Blatt unter sein Bild, nachdem er darauf die Worte geschrieben hatte: „Ist sehr verliebt.“ Dann nahm er die andere Hälfte, schrieb mit übergroßen Buchstaben: „Ich komme wieder!“ auf dieses Blatt, stellte es aufrecht gegen das Erbauungsbuch und legte Annettens Strickstrumpf davor, um es vor dem Fallen zu schützen. Hierauf drückte er der Magd, die mit sehr verwunderten Mundwinkeln wieder in die Thür getreten war, zum Abschied die Hand, rief sein getreues Windspiel, das ihn auf dem Flur erwartet hatte, und eilte hinaus, um von Neuem seine Irrfahrt durch die Straßen, am Hafen, auf den Stadtwällen zu beginnen.

Es war dunkle Nacht geworden, als er nach Hause kam; nun endlich hoffte er den Bruder wiederzufinden, nach dem er sich herzlich sehnte. Sein Geheimniß, sein inzwischen glühend heiß gewordener Entschluß brannte ihm auf der Zunge; es trieb ihn, wie es ihn noch nie getrieben hatte, in Karl’s Herz seine überladene Seele auszuschütten. Indessen die Wohnung war leer. Statt des Bruders fand er auf seinem Tisch einen Brief. Er ließ sich vom Bedienten die Kerzen bringen, öffnete ihn und las:

„Liebster Wilhelm! Die Nacht ist so schön, ich wandere zu Fuß hinaus. Ich bitte, schicke mir morgen den Wagen nach und sei inzwischen, wie immer, guter Dinge. Ich habe hier in der Stadt keine Ruhe mehr; der Mond geht eben auf, und es wandert sich im Mondlicht so gut, wie im Sonnenschein. Mir ist, als müßt’ ich mich einmal austoben! Gute Nacht, gute Nacht! Zu wenigen Tagen, Liebster, sehen wir uns wieder.“

Wilhelm starrte eine Weile in den Zettel hinein, dann auf den Himmel hinaus, wo der Mond schon aus der Höhe in sein Fenster herabsah. Er dachte in seiner Unruhe einen Augenblick, ob er dem Bruder nachlaufen, seinem Beispiel folgen, ihn einholen sollte; dann belehrte ihn wieder das hohe Gestirn, daß es ohne Zweifel zu spät sei, und sehr beklommen warf er sich in die Sophaecke und fühlte sich traurig allein. Er sprach laut vor sich hin, um nur eine Stimme zu hören. Er redete den Flüchtling an, warf ihm mit herzlichen Scheltworten vor, daß er so ein Pflichteiferer sei, sich zur ungeschicktesten Zeit davonzustehlen. Wie eine sichtbare Frage schwebte es ihm vor den Augen, was er nun thun solle. Es däuchte ihn ganz unmöglich, sich nicht schon jetzt zu entscheiden. Wenn er nur an Annette dachte, so erschien es ihm wie eine Pflicht, dieses Mädchen zu heirathen. Sie allein auf der Welt, und sogleich! Es konnte ihm ein Anderer zuvorkommen – schon morgen – noch heute! Bei diesem Gedanken sprang er wie gemartert in die Höhe und hastete mit großen Schritten im Zimmer umher, riß alle Fenster auf, um die Beklemmung, die ihn umdunstete, hinauszulassen. „Er kann nicht anderer Meinung sein, als ich,“ sagte er, auf- und niedergehend, vor sich hin. „Er kann diese Wahl nicht mißbilligen, er kann’s nicht! In diesem Mädchen ist Alles! Wie Tante Merling sie lobt! Wie ihr Liebe und Güte aus den Augen sehen! Ach, und Karl als ihr Schwager – wie wird ihm wohl sein, so eine Schwester zu haben; er hat sie ja gern. Ich hab’s ihm ja angesehen! Er hat keine Leidenschaft für sie, wie ich, aber mit brüderlichem Herzen, wie es seine Art ist, wird er sie lieb haben.

Und dann wir Drei miteinander – bis auch er das Mädchen findet, das ihn so toll macht, wie mich! Wenn er je so eins findet,“ dachte er und blieb stehen, „wenn es je Eine geben wird, die ihn nicht kühl laßt, an der sein kluger Geist nichts zu tadeln findet – Doch, doch, so Eine wird es geben!“ sagte er laut mit ermuthigender Stimme und sah in den Nachthimmel wie in die Zukunft hinaus. „Auch er wird einmal heiß werden, wird alle Sinne verlieren – und dann leben wir Vier wie die Engel im Himmel.“

Bei diesem rosigsten Gedanken stand seine Seele still; es that ihm unendlich wohl, ihn sich fort und fort vor Augen zu halten, die letzten Zweifel hinter ihm zu verbergen. So verbrachte er den Rest des Abends und einen Theil der Nacht. Endlich entkleidete er sich, halb im Traum, suchte sein Bett auf und war, indem er im Geist noch einmal Karl’s Hände drückte, plötzlich entschlafen.

Am andern Morgen stand die Sonne schon hoch, als er aus dem tiefsten Schlaf erwachte und aufstand. Er rief sich seine Entschlüsse von gestern zurück, mit einem Gefühl, wie wenn er sich des Bruders Einwilligung herangedacht hätte; Alles schien ihm so klar, so sonnenhell; er kleidete sich an, warf sich in seinen schönsten Sammetrock, nahm seinen zierlichsten und reichsten Busenstreif und wanderte hinaus, dem Eckhaus am Marktplatz zu. Die Sonne schien auch heute, wie gestern, aus der Bläue herab. In den Straßen war es so warm, die kühle Morgenfrische schon aufgesogen, die vorübergehenden Gesichter glänzten in der Sonne. Ihm war so wohl, wie wenn er zum schönsten Fest seines Lebens ginge. Er hatte endlich die Thür in der Hand, zu der es ihn zog, und öffnete ohne zu klopfen, – und Demoiselle Merling, die an ihrem Nähtisch saß, blickte ihn verwundert an und fuhr in die Höhe.

[500] „Was verschafft mir so früh das Vergnügen, lieber Wilhelm ?“ sagte sie und ging ihm ein paar Schritte entgegen.

„Liebste Tante,“ erwiderte er, indem er ihre beiden Hände nahm und sie mit seinen leuchtenden blauen Augen anglänzte, „haben Sie meine beiden Zettel von gestern gelesen?“

„Ja, mein alter Wilhelm,“ sagte sie und lachte.

„Haben Sie auch den Zettel unter meinem Bildniß gelesen?“

„Ich denke.“

„Und wissen Sie, wen ich meine?“

„Ich glaube so was zu merken,“ sagte sie und durchbohrte ihn mit ihren listigen Augen. „Ist sie klein, lieber Wilhelm? Hat sie blaue Augen? Hat sie ein feines, kleines Naschen? – Hab’ ich Recht oder Unrecht, mein alter Wilhelm?“

Der aufgeregte Jüngling hatte ihre Hände losgelassen, warf sich in’s Sopha und streckte die Arme an den Lehnen aus. „Tante Merling,“ sagte er, „dieses Mädchen muß ich heirathen, und Sie müssen meine Freiwerberin sein, und Sie müssen jetzt sogleich Ihre Enveloppe nehmen und Ihren Hut aufsetzen und diesen Gang für mich machen.“ .

„Was soll ich – ?“ fragte die alte Dame und starrte ihn an.

„Für mich werben, Tante; bei den Eltern, bei Annette; mich ihr antragen! Ich habe keine Ruhe, bis Sie wieder zurückkommen.“

„Und das muß sogleich sein? – Lieber Wilhelm – – Mein Gott, ich bin ganz erschrocken; – ist das ein ungestümer, stürmischer Mensch! – Seit vorgestern Abend –“

„Fragen Sie nicht viel, liebe Tante; glauben Sie mir’s! Ich liebe sie; ich halte Annette für einen Engel, und Sie wissen ja, daß ich Recht habe.“

„Sie ist ein gutes Kind; – aber so eilig – – Nein, diese jeunesse!“ – Sie stand noch immer und konnte sich, nicht fassen.

„Sind Sie nicht auch ein Mal jung gewesen, Tante Merling? – Seien Sie gut, seien Sie liebenswürdig und foltern Sie mich nicht lange. Sie wissen, ich war ja immer von raschen Entschlüssen. Und jung gefreit hat noch Niemand gereut. Und eh’ ein Andrer kommt und sie mir wegnimmt, müssen Sie hinüberlaufen, liebe Tante –“

„Nun, nun!“ unterbrach sie ihn lachend, „so schlimm wird’s ja nicht stehen! Daß gerade in dieser Minute –“

„Alles geschieht in irgend einer Minute, liebe Tante! – Was bedenken Sie noch? Haben Sie nicht immer Gutes von ihr gesagt? Sind ihre Eltern nicht brave und gebildete Menschen? Und ist sie nicht so reizend, so liebenswürdig –“

„Aber arm, lieber Wilhelm! Die Eltern haben nichts; sie sind stets in Verlegenheiten –“

Wilhelm sprang auf. „Wollen Sie mich böse machen, Tante Merling? Wenn ich für uns Beide genug habe, was geht ihre Armuth mich an?“ Er begann unruhig auf und nieder zu gehen. „Sie soll reich werden!“ stieß er heraus. „Sie soll ihren Eltern aus der Noth helfen! – Warum kommen Sie mir mit solchen Bedenken, Tante? Was haben Sie, warum stehen Sie so in Gedanken?“

Die Alte stand in der That sehr nachdenklich da; aber bei diesem Anruf faßte sie sich und suchte es hinter einem Lächeln zu verbergen. Die Erlebnisse von gestern traten ihr vor die Seele; der Abend im Walde, der Unfall, Karl’s Schwärmereien – sein Benehmen gegen Annette – gegen sie selbst – ihre Galle fing wieder an sie zu ersticken. Er hat sie gern, dachte sie. Er mißhandelte mich um ihretwillen! O, wie ich mich jetzt an ihm rächen könnte, wenn ich nur wollte! Wenn ich nur nicht so gut wäre! Sie fühlte, wie ihr der giftige Aerger wieder in’s Gesicht trat, und wandte sich ab, als sähe sie auf einen Augenblick zum Fenster hinaus, um ihre unholden Gefühle nicht zu verrathen.

„Liebe Tante Merling!“ sagte Wilhelm mit zärtlicher Stimme und trat an sie heran, indem er seinen Arm sanft um ihre Schultern legte. „Seien Sie nicht wunderlich; kommen Sie mir nicht mit Frauenzimmer-Bedenken, die Sie vielleicht im Sinn haben; thun Sie mir etwas zu Liebe! Sie haben mich ja immer gern gehabt,“ und er sing an sie zu streicheln. „Sie haben mir so oft gesagt, daß Sie mir einmal eine recht liebe, gute, reizende Frau aussuchen wollten. Nun haben wir sie gefunden, Tante Merling; sie ist gerade wie ich sie wünsche, und Sie sollen sie mir verschaffen, Sie und kein Anderer. Vorgestern Abend haben Sie Annette die Elevin Ihrer Seele genannt; wissen Sie das nicht mehr? Wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle gut sind und mir die Hand darauf geben, daß Sie bei diesem Mädchen noch heute für mich werben wollen, und wenn Sie nicht Ihre Enveloppe und Ihren Hut nehmen, um hinüberzugehen, – so sehen Sie mich hier zum letzten Mal, so gebe ich Sie auf, so verlasse ich Sie, so erkläre ich der ganzen Welt, daß ich Sie für immer verlasse.“

Die Alte drehte sich herum, sah ihn an und warf sich ihm in die Arme. Dann machte sie sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder los und ging mit einigem Pathos auf die Nebenthür zu, in’s andere Zimmer hinein. Nach wenigen Augenblicken kam sie zurück, den mächtigen Hut auf dem Kopfe, in ihren grauen Ueberwurf gehüllt, ganz zum Auszug gerüstet und in jedem Auge eine Thräne, die sie ruhig stehen ließ, als gehöre sie dahin. „Sie sehen, mein Wilhelm, ich gehe,“ sagte sie sehr gerührt. „Ich sage nichts weiter. Verlassen Sie sich auf Ihre Alte; fürchten Sie nichts! Sie hören von mir. Ich glaube, Ihre Sache ist in guten Händen, in ganz guten Händen, lieber Wilhelm! Haben Sie Vertrauen und Geduld und leben Sie wohl!“ Sie reichte ihm ihre Hand, die er sehr glückselig an seine Lippen drückte, sah ihn noch mit einem weinenden Lächeln an und glitt dann eilig hinaus.

„Der vortreffliche, einzige Mensch!“ sagte sie in Gedanken, indem sie unter ihrem Sonnenschirm über den Marktplatz hinweg schritt; „was seine alte Tante für diesen Menschen nicht thäte! – Wie er die Sache auffaßt! Wie glücklich wie unendlich glücklich er sie machen wird! Wenn es so steht, ja, dann ist es freilich das Beste, schnell zu Ende zu kommen. Karl ist ein schlechter Mensch, ein bösartiger Mensch; aber so lieblos will ich an ihm nicht handeln – was er freilich an meiner Stelle thäte – daß ich sein Gefühl für das Kind wachsen lasse, bis es unheilbar wird! Nein davor wird ihn diese beleidigte, verachtete alte Frau bewahren, die er nicht ausstehen kann! die sich trotzdem noch einbildet, mütterliche Pflichten gegen ihn zu haben! – Heirathen kann er ja das Mädchen nie. Der gute Wilhelm liebt sie, und für den ist sie wie geschaffen. Und der ist der Aeltere. Also verzichten Sie nur, lieber Karl, verzichten Sie! Lassen Sie sich bei Zeiten sagen, daß Annette für einen Andern auf der Welt ist, und drücken Sie Ihr armes Herz nur wieder zusammen, ehe es zu groß wird, und dann danken Sie Ihrer mißhandelten alten Tante Merling, daß sie zum Dank für Ihre Abscheulichkeiten Sie vor Ihrem Unglück bewahrt hat!“

In diesem freilich etwas unsicheren Gefühl ihrer Herzensgüte schritt sie eifriger aus und hatte bald, der alten Marienkirche gegenüber, das niedrige Haus erreicht, in dem sie die zukünftige Frau ihres Lieblings aufsuchen sollte. Annettens Eltern wohnten zu ebener Erde, und mehrere der Geschwister kamen der alten Dame gleich beim Eintritt entgegen. Sie liefen ihr mit Lärm voran, um sie zur Schwester zu geleiten und den Besuch schon von Weitem durch ihre hellen Stimmen anzumelden. Annette stand in der Küche, eine blanke weiße Schürze vorgebunden, und das Heerdfeuer schien roth über ihr Gesicht. Sowie sie die alte Demoiselle kommen sah, band sie hastig ihre Schürze los und eilte mit der ganzen Freundlichkeit ihres Wesens auf sie zu, um sie nach vorn in’s Wohnzimmer zu führen.

„Nein, nein,“ sagte Demoiselle Merling und schüttelte mit einiger Feierlichkeit den Kopf. „Kommen Sie in den Garten, meine Liebe. Ich habe Ihnen etwas zu sagen – etwas Besonderes zu sagen. Zu der Laube, – kommen Sie, mon enfant!“ – Und damit nahm sie Annettens Hand, drückte sie mehrere Male und zog das verwunderte Mädchen auf den Hof hinaus und dem Garten zu.

[513] „Meine theure Annette!“ sagte Demoiselle Merling, als sie die jasminduftende, schattig versteckte Laube in der Ecke des kleinen Gärtchens erreicht hatten, faßte Annettens beide Hände, sah ihr mit pathetischer Rührung in die Augen und schloß sie dann, ohne ein Wort hinzuzusetzen, in ihre Arme. Sie küßte sie auf die Stirn, auf die Wangen und auf den Mund.

Das Mädchen ließ Alles in wachsender Verwirrung über sich ergehen, endlich aber löste es sich sanft aus den Armen, die es so feierlich umschlungen hielten, und suchte auf dem Gesicht der alten Dame die Erklärung zu lesen. „Um Gotteswillen, Mademoiselle Merling!“ sagte es ängstlich, „was haben Sie? Was soll dies Alles bedeuten?“

„Ihr Glück, meine Liebe, Ihr Glück!“ erwiderte die Alte und ließ von Neuem ihre angefeuchteten Augen auf dem Mädchen ruhen. „Der Himmel meint es gut mit Ihnen, Annette. Er traut Ihnen wohl zu, ma chère enfant, daß Sie sich nicht überheben werden! – Lieber Gott, Sie sind sechszehn Jahre. Sie sollen recht früh verwöhnt werden; bleiben Sie demüthig, Annette!“

„Aber so sagen Sie mir, um des Himmels willen –“

„Der liebenswürdigste, schönste, beste, blauäugigste Jüngling in der ganzen Stadt will Sie heirathen, Annette! – – Ich hätte erst zu Ihren Eltern gehen sollen, ich komme zu früh zu Ihnen, aber ich konnt’ es nicht lassen. Ich mußte sehen, wie meine kleine ahnungslose mignonne sich dabei ausnehmen würde! Mon Dieu, wie sie roth wird! Wie roth – und wie blaß! Oho, was ist Ihnen, ma chère? War die Ueberraschung gar zu groß? Sie werden ja schneeweiß vor Schrecken. Fassen Sie sich, Annettchen! Fassen Sie sich! Setzen Sie sich auf die Bank; lassen Sie Ihr blasses Köpfchen nur ein wenig sinken, - so! Ich bin zu plötzlich damit herausgekommen, n’est-ce pas, ma chère? Sie haben sich so ein Glück nicht denken können, nicht wahr, meine alte Annette? Gott, und die Hände so kalt, – kommen Sie zu sich, mein Kind! Wenn Wilhelm Sie so sähe – er würde ja ganz außer Fassung kommen! Er würde Wunder glauben, was ich Ihnen zu Leide gethan hätte! Und ich habe Ihnen doch weiter nichts gesagt, ma petite folle, als daß Sie das glücklichste Mädchen werden sollen und bald eine kleine Frau – und eine Frau, die tausend Andere beneiden!“

„Ich danke Ihnen,“ sagte Annette endlich mit schwacher Stimme, indem sie ihr immer noch entfärbtes Gesicht auszurichten versuchte. „Sie reden von Monsieur Wilhelm?“

„Von wem sonst, liebes Kind? – – Sie denken doch nicht etwa – –“ Der Mund blieb ihr plötzlich halb offen stehen, und sie starrte das blasse Mädchen ganz erschrocken an. Erst nach einer Pause fand sie wieder Worte und sagte mühsam: „Hatten Sie etwa einen andern Gedanken, Annette?“

„Ich weiß es nicht,“ sagte das arme Geschöpf und suchte die Mundwinkel, in deren Zittern sich die Thränen ankündigten, stille zu halten. „Mademoiselle, – verzeihen Sie mir. Ich kann, ich kann Monsieur Wilhelm nicht heirathen.“

„Sie können nicht? Warum können Sie nicht, Annette?“ Die alte Dame stand auf und forschte in der größten Aufregung in Annettens Gesicht. „Wie kommen Sie dazu, mir zu sagen, mein Kind, daß Sie nicht können?“

Annette schwieg und sah in der tiefsten Beklemmung vor sich hin.

„Soll ich etwa glauben, mein Kind,“ fuhr Demoiselle Merling mit schärferer Stimme fort, „daß Sie sich Rechnung auf – auf Wilhelm’s Bruder gemacht haben? Warum schütteln Sie den Kopf? Warum belügen Sie mich? Was könnte es sonst sein, daß Sie die ausgezeichnetste Partie im ganzen Lande so sans façon ausschlagen?“

„O Mademoiselle,“ sagte das Mädchen und sah ihr mit einem Blick, der um Mitleid bat, in’s Gesicht, „ich kann nicht – ich weiß nicht – ich kann es Ihnen nicht sagen.“

Die Alte faßte Annette bei der Schulter, und es sah aus, wie wenn sie sie vor Aufregung schütteln wollte, aber sie besann sich, glättete ihr gerunzeltes Gesicht, zog ihr heftig vorgeschobenes Kinn wieder zurück und setzte sich, so sanft es ihr möglich war, neben dem Mädchen hin. Ma pauvre petite!“ sagte sie mit ihrer freundlichsten Stimme, indem sie ihren Arm um die zierliche Gestalt legte, die bei dieser Berührung leise zu zittern anfing. „Ich habe Sie sehr erschreckt, Sie sind so ein zartnerviges Kind. Sie wissen ja, die alte Merling hat Sie von Herzen lieb und will Ihnen nichts Böses. Contenance, meine alte Annette! Hat Ihnen unser Charles irgend ein leichtsinniges Wort von Liebe gesprochen?“

Annette schüttelte den Kopf und sah sie unruhig an.

„Nun, also Sie ihm auch nicht! Was ist Ihnen denn? Haben Sie etwas gegen meinen Wilhelm einzuwenden?“ Sie schüttelte wieder den Kopf.

[514] „Oder, unglückliches Kind, glauben Sie ein Gefühl, eine Neigung für – den Andern zu haben?“

Das Mädchen schwieg und blickte, ohne sich zu rühren, auf die Erde. Die Alte fuhr wieder auf. „Mon dieu, es ist richtig! Dieser tolle, emancipirte Mensch hat ihr den Kopf verdreht! Mit seinem souverainen Wesen, mit seinen Mailiedern, mit seiner Freigeisterei hat er’s ihr beigebracht! Und da sitzt sie und will den Menschen nicht nehmen, um dessen Liebe hundert junge Mädchen sie gerne vergiften würden!“

„Lassen Sie mich, lassen Sie mich, Mademoiselle Merling!“ rief Annette plötzlich in ihrer Bangigkeit aus, indem sie aufsprang und unwillkürlich ihre Hände erhob. „Lassen Sie mich gehen!“

„Nein, nein, ich lasse Sie nicht,“ erwiderte die alte Dame mit feierlichem Nachdruck und faßte Annettens Aermel, wie um sie festzuhalten. „Ich bin da, um Ihnen Vernunft beizubringen, liebes Kind. Sie wollen ja mit offenen Augen in Ihr Verderben rennen, wie die Fliege in’s Licht! Setzen Sie sich, Annette, und hören Sie, was ich sage.“

„Was wollen Sie noch sagen?“ fragte das Mädchen und blieb in hülfloser Unruhe stehen.

„Setzen, setzen Sie sich! Was ich noch sagen will? Daß Sie ein rechtes Kind sind, liebe Annette! Seit wann kennen Sie Charles?“

Annette schwieg.

„Seit vorgestern Abend, wenn ich’s Ihnen sagen muß! Und heute bilden Sie sich ein, ihn schon zu lieben! Mon enfant, mon enfant! Sind das die Empfindungen eines wohlerzogenen, gesitteten Mädchens?“

Annette warf ihr einen hastigen Blick zu und preßte die Lippen zusammen.

„Was würden Ihre vortrefflichen Eltern sagen, Annette, wenn ich ihnen von diesem unglaublichen Zustand Ihres Gemüths erzählen würde? wenn ich ihnen sagte, daß ihre Tochter das größte Glück, das ihr auf Erden begegnen kann, ablehnt, daß sie es verschmäht, sich und ihre ganze Familie – und ihre ganze Familie, mein Kind! – glücklich zu machen, weil sie einen andern jungen Menschen seit gestern angenehm findet?“

Annette schwieg beharrlich, aber ihre Augen füllten sich mit Thränen.

„Was würden Ihre armen Eltern sagen,“ fuhr Demoiselle Merling immer eifriger fort, „wenn sie je erführen, daß ihrer Tochter so etwas begegnen konnte? und daß dieses Kind, das sie mit so viel Schmerzen und Sorgen und Liebe aufgezogen haben, sie jetzt lieber in Noth und Elend läßt – in Noth und Elend! – als daß es dem romantischen Vergnügen entsagt, vierzehn Tage für einen Freigeist zu schwärmen?“

„Lassen Sie mir Bedenkzeit, Mademoiselle Merling!“ sagte das Mädchen mit der flehendsten Stimme, und die ersten Thränen liefen ihm die Wangen hinunter.

„Das werde ich nicht thun, mon enfant, das werde ich nicht thun. Etwa so lange, bis Sie ausgeschwärmt haben? Und so lange soll mein armer Wilhelm sich krümmen wie ein Wurm und sich den Verstand aus dem Kopfe denken? Als wenn er dazu auf der Welt wäre, nach so einem kleinen eigensinnigen Mädchen in aller Demuth zu schmachten –“

„Mademoiselle Merling, haben Sie Mitleid mit mir,“ sagte Annette unter tiefem Erröthen und faßte ihre Hand. „Wollen Sie mich unglücklich machen? Wenn nun der Andere – wenn Monsieur Karl mich lieb hätte – –“ Sie schlug die Augen in der rührendsten Verwirrung nieder und schloß wieder die Lippen.

„Ah, ich verstehe,“ sagte die Alte mit einem bösen Lächeln, „und wenn dann Monsieur Charles käme und uns heirathen wollte, so hätten wir ja nicht umsonst gewartet! Schlagen Sie sich diesen Gedanken aus dem Kopf, Annette. Charles wird Sie niemals heirathen, niemals. Er denkt nicht daran. Er hat noch nie daran gedacht. Er läßt Sie seinem älteren Bruder. Er wird eine Andere nehmen.“

Das Mädchen starrte sie an. „Woher wissen Sie das?“ stammelte sie nach einer Weile, blaß wie ihr weißes Tuch.

„Woher ich das weiß?“ erwiderte die Alte und suchte ihre plötzliche Verlegenheit hinter einem harten Ton zu verbergen. „Glauben Sie etwa, daß ich Ihnen Unwahrheiten berichte? Er denkt nicht daran: Er ist ein wenig passionirt für Sie, wie er es schon für hundert Andere gewesen ist. Er hat – er hat Sie lieb wie eine zukünftige Schwester; verstehen Sie mich jetzt?“

Annette zuckte kläglich zusammen. Die Arme sanken ihr an den Seiten nieder und ihre ganze zarte Gestalt schien das Leben zu verlieren. „Weiß er davon?“ hauchte sie mit vieler Mühe hervor. „Weiß er, daß sein Bruder – ?“

Sie konnte nicht weiter sprechen. Demoiselle Merling stand einen Augenblick in Verwirrung da, sie hatte nicht den Muth es zu bejahen. „Warum soll er es schon wissen, liebes Kind?“ sagte sie endlich mit einer gewissen Rührung; „das glaube ich nicht. Das weiß ich nicht zu sagen. Fassen Sie sich. Vielleicht, ja, vielleicht, daß der gute Wilhelm es ihm schon gesagt hatte, – daß Charles eben darum so galant, so herzlich gegen Sie war. Wie konnten Sie das nur so mißverstehen, ma pauvre Annette! Er dachte an weiter nichts. Nie wird er das Mädchen heirathen wollen, das sein älterer Bruder liebt. So schlimm ist er nicht! Er wird sich recht herzlich freuen, wenn Sie seinem theuren Wilhelm Ihre Hand geben; er wird Sie lieb haben wie eine Schwester, und Sie ihn wie einen Bruder; enfin. eines Tages werden Sie darüber lachen, daß Sie einmal die kleine Närrin waren, Ihre und seine Gefühle so romantisch zu verwechseln.“

„Nun, liebes Kind, was sagen Sie?“ fuhr die Alte nach einer Weile fort, da das Mädchen noch immer wie betäubt in der Laube stand und seine Thränen eine der anderen nachflossen. „Was soll ich Ihren Eltern sagen, wenn ich jetzt zu ihnen hineingehe?“

„O Mademoiselle Merling!“ sagte Annette mit Thränen in der Stimme und suchte sie mit ihren ausgestreckten Armen aufzuhalten.

„Ich gehe nicht zu Ihrem armen Vater, Annette; was soll ich ihm sagen? Soll ich ihm mittheilen, daß man keine Lust hat, ihm aus seinem Bankerott endlich herauszuhelfen? daß sich zwar ein unbedeutender junger Mensch gefunden hat, der dazu bereit wäre –“

„Wie können Sie so unbarmherzig sein, Mademoiselle Merling!“ rief das Mädchen ans, das vor Thränen ganz zerfließen zu wollen schien, „wie können Sie mich so martern!“

„Die Vernunft ist oft eine Marter, liebes Kind,“ sagte die Alte mit etwas strengem Gesicht, „wenn man sie nicht annehmen will. Sie werden die Alte eines Tages segnen, heute finden Sie sie natürlich unbarmherzig. Ich gehe jetzt zu Ihrem armen Vater hinein, und wenn er sich zufälliger Weise über diesen unbedeutenden Schwiegersohn freuen sollte –und wenn Ihre gute Mutter, die so viel um Sie gelitten hat, ebenso denken sollte – dann werde ich sie Beide herausschicken, Annette, damit sie von ihrer eigenen Tochter hören, weshalb es ihr unmöglich ist, ihre Eltern glücklich zu machen.“

„Bleiben Sie, bleiben Sie!“ rief Annette außer sich ihr nach. „Sie wollen mich tödten!“

„Ich will Sie tödten, allerdings,“ erwiderte die Alle und blieb stehen, „ich will Ihnen einen armen, häßlichen, alten, abscheulichen Menschen aufdrängen! Quelle horreur! – Soll ich jetzt gehen oder nicht? Haben Sie sich gefaßt, Annette?“

Das Mädchen antwortete nicht mehr; es war auf die Bank gesunken, hatte die Arme auf den Tisch gelegt und sein Gesicht drüber hin. Ein fast unhörbares Schluchzen war das einzige Zeichen des Lebens in der hülflosen Gestalt. Die alte Dame blieb noch einige Augenblicke, mit einer Regung des Mitleids kämpfend, stehen, dann ermannte sie sich, zog ihren letzten Blick von dem verstockten Kinde ab und wandte sich zur Thür. „Sie können sich noch nicht besinnen, Annette,“ sagte sie streng. „Ich sehe, es ist hohe Zeit, Sie zu retten. Ich werde thun, was ich Ihnen und meinem Liebling schuldig bin, und es wird dann die Sache Ihrer armen Eltern sein, Ihre Vernunft zu erwecken.“

Damit rauschte sie über den Kiesweg zwischen den Beeten davon, dem Hause zu und ließ Annette mit ihren Thränen allein.




4.

Am Abend des nächsten Tages ritt Karl, seinen Bedienten hinter sich, Caro zur Seite, dem Sonnenschein entgegen, der von Thurm und Dach der Marienkirche auf’s Feld hinaus strahlte, und dachte an den weiten Weg, den er so hastig zurückgelegt, an die endlosen Tage, die nun überstanden waren, und an das kleine Haus neben jener Kirche, dem er zusteuerte. Er hatte seine Geschäfte und Obliegenheiten als Gutsherr so viel wie möglich gekürzt, [515] seine Gedanken nur an Eins geheftet und erfüllte sich nun ganz mit dem Gefühl, daß ihm die ernsteste Entscheidung seines Lebens bevorstehe. Er glaubte in seinem Innersten seine Bestimmung, sein Verhängniß zu spüren. Er dachte wohl auch an Wilhelm’s Schwärmerei in jener Nacht, aber nur, um über diese flüchtigen Wallungen zu lächeln und in der Ueberzeugung, daß er die Flamme völlig ausgebrannt wiederfinden werde. Seine Seele war ohne Sorge, denn er hatte sich ohnehin gelobt, sich nicht eher zu entscheiden, als bis die laute, jugendliche Stimme seiner Brust durch den gelasseneren Ausspruch der Vernunft bestätigt worden sei. Wie ungeduldig hatte er zwar unterwegs zu hundert Malen den beschäumten Hals seines Pferdes geklopft, wie ungestüm den Augenblick des Wiedersehens und den der Wahl in einen vermischt und alles Zuwarten als unerträglich verworfen; aber nach seiner alten Gewohnheit bezwang er sich dennoch und wiederholte immer wieder seinen Entschluß, bei dieser größten Probe der Männlichkeit sich auch als Mann zu bewähren. So ritt er endlich in das Stadtthor hinein, durch die engen und krummen Straßen zum Marktplatz hinaus und auf die Kirche zu, die allein noch im abendlichen Licht erglänzte. Vor Annettens Hause hielt er still, nahm sein ungeberdiges Herz zusammen, und indem er mit scheinbar gleichgültigem Gesicht vorn Pferde stieg, gab er es dem Diener zu halten und schärfte ihm ein, es auf dem Marktplatz, wo nicht der Kirchen-Zugwind blase, langsam umherzuführen und nach dem scharfen Ritt sich abkühlen zu lassen. Dann trat er in’s Haus hinein, fühlte nun erst die ungekühlte Gluth, die ihn selber durchwogte, und blieb eine Weile tief aufathmend stehen, um die Fassung, die er vor der kleinen Thür des Zimmers zu verlieren schien, erst zurückzugewinnen.

Nach einem kurzen Klopfen trat er ein; in einer der Fensternischen saß Annette, die das Geräusch überhört hatte, hielt ein kleines Buch vor sich aufgeschlagen und las bei dem letzten Tagesschein, welcher durch die Gardinen und zwischen den hohen Topfgewächsen auf die weißen Blätter hereinfiel. Ein dunkles Tuch war um ihren Kopf geschlungen, ihre Löckchen spielten in nachlässigster Verwilderung um die schmerzlich gedankenvolle Stirn. Eine schwermüthige Blässe lag auf dem Gesicht, oder das bleiche Licht schien sie so zu färben. Er betrachtete sie still und glaubte zu erkennen, daß sie nur mit den Augen las und mit der Seele hinaus irrte. Das kleine Buch däuchte ihn so wohlbekannt, er meinte, es im Wald auf ihrem Schooß gesehen zu haben. Von der melancholischen Lieblichkeit ihres Anblicks bewegt, blieb er eine Weile lautlos stehen, wo er stand; endlich sagte er mit gefüllter Stimme: „Mademoiselle Annette!“ Das Mädchen fuhr in die Höhe, schlug das Buch zusammen und erschrak heftig, als es ihn erkannte.

„Komm’ ich zur unrechten Zeit?“ fragte er sanft. „Ich wollte so dreist sein, Ihrer freundlichen Einladung zu gehorchen und mich Ihren werthen Eltern zu zeigen. Nicht, weil ich mir gern danken lassen möchte – denn hier ist nichts zu danken – sondern weil es mir eine herzliche Freude wäre, die Eltern von Demoiselle Annette kennen zu lernen.“

Während er noch sprach, bemerkte er, daß eine Aufregung in ihr arbeitete, die sie vergebens bekämpfte und die, da er sich ihr allein gegenüber sah, ihn selber ergriff. Ihre Pulse flogen, ihre Farbe begann hastig zu wechseln, und die etwas gerötheten Augen suchten seinen Blicken auszuweichen. Sie deutete, während sie ein bewillkommnendes Lächeln erzwang, auf einen Stuhl, wie wenn er sich setzen solle, stammelte mit vieler Mühe, daß es ihr leid thue – daß ihre Eltern nicht zu Hause seien und ob er nicht einstweilen hier warten wolle. Karl starrte sie in wachsender Verwunderung und Unruhe an, er wußte nicht, wie er sich diesen Empfang zu deuten hätte. Indem er es mit einer Handgeberde ablehnte, Platz zu nehmen, erwiderte er, daß sie das offenbar nur aus Höflichkeit sage; also sollte er lieber gehen. „Ich kann ja auch,“ setzte er hinzu, „an einem der folgenden Tage wiederkommen!“

„Freilich können Sie das,“ erwiderte Annette und suchte wieder zu lächeln, aber auf eine so unwahrscheinliche und fast schmerzliche Weise, daß er erschrak. Er trat endlich, um seiner bangen Unruhe ein Ende zu machen, näher auf sie zu und fragte mit lebhafter Stimme:

„Was ist Ihnen, Mademoiselle? Hab’ ich Sie so sehr zur Unzeit gestört? Leiden Sie, Annette?“

„Ich leide nicht,“ antwortete sie matt. „Ich habe wohl ein wenig Schmerzen hier oben,“ und damit deutete sie auf ihren Kopf und das dunkle Tuch, „aber das thut ja nichts. Ich bin ja dennoch – so glücklich. Sie kommen, um mir zu sagen –“ hier verstummte sie wieder und schien mit dumpfer Ergebung zu erwarten, was er zu sagen habe.

Eine tiefe Stille entstand, und Karl sah sie mit neuer Befremdung an. „Ich habe Ihnen nichts Besonderes zu sagen, Mademoiselle Annette,“ gab er endlich zur Antwort; „ich kam nur um Sie wiederzusehen – um Ihre werthen Eltern zu begrüßen. Ich höre mit Kummer, daß Sie wieder leiden. Mein erster Gang war zu Ihnen, liebe Mademoiselle,“ fuhr er herzlicher fort; „ich komme in diesem Augenblick hier an, ich habe noch Niemand gesehen. Es war mir ein Bedürfniß, zu hören, ob jenes kleine Sturzbad im Wald keine Folgen zurückgelassen.“

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Verwirrung wuchs. „Sie haben noch Niemand gesehen?“ stammelte sie. „Aber Sie wissen doch –?“

„Was soll ich wissen?“ fragte Karl verwundert.

„Mein Gott, Sie wissen es nicht!“ Das Mädchen erblaßte wie die weiße Tünche an der Wand und verlor alle Fassung. Es schien, als ob sie sich nicht aufrecht halten würde; der erschrockene Karl sprang hinzu, um ihr beizustehen, um sie in seine Arme aufzufangen. Aber die erste Berührung seiner Hand gab ihr auf einmal alle Besinnung zurück. Sie wehrte ihn mit einer hastigen Bewegung ab, that einen Schritt nach rückwärts und sah ihn mit seltsam entschlossenen Augen an. „Lassen Sie mich, es ist nichts,“ sagte sie in fast herbem Ton. „Es war nur – ein Anfall. Dorette!“ rief sie hinaus, den Blick auf die halb offene Thür des Nebenzimmers gerichtet, „bringen Sie das Licht! Sie sehen, es wird dunkel! – Ich bitte, setzen Sie sich, setzen Sie sich;“ und ihre aufgeregt glänzenden Augen kehrten zu Karl zurück. „Sie wollten ja meine Eltern begrüßen. Es wird ihnen lieb sein, wenn Sie sie erwarten.“

„O nein, Mademoiselle, ich will gehen,“ erwiderte Karl, der mit steigender Beklommenheit ihrem rätselhaften Gebahren gegenüberstand. „Ich bin Ihnen zur Last. Es muß etwas vorgefallen sein, was ich nicht verstehe. Ich bitte Sie, Mademoiselle Annette, haben Sie die Güte, es mir zu sagen und mich von einer unerträglichen Unruhe zu befreien, oder gestatten Sie, daß ich mich entferne.“

Annette sah ihn an, aber schien ihn nicht zu hören. Ihre ganze Seele war aus den Augen zurückgewichen und mit dem Kampf in ihrem Busen beschäftigt; alle Kindlichkeit aus ihren Zügen ausgelöscht. Sie athmete schwer. Endlich kam das Mädchen mit dem Licht und setzte es auf den Tisch, der mitten im Zimmer stand. Annette fuhr aus ihren Gedanken auf, die Helligkeit schien sie zu erschrecken. Mit einer Anstrengung, welche die lieblichen Lippen verzog, rief sie die ganze lächelnde Verschlossenheit ihrer Züge zurück. „Sie sollen es nun endlich hören,“ sagte sie und blickte mit unruhiger Heiterkeit zu ihm hinüber. „Ich habe eine große wunderbare Ueberraschung für Sie! Errathen Sie’s nicht?“ Karl schüttelte ungeduldig den Kopf. Das Mädchen war still hinausgegangen; sie waren wieder allein. Der Tisch mit der Kerze stand zwischen ihnen, mit Büchern und Blättern und Schreibheften der Kinder bedeckt. Annette setzte sich hin; „nehmen Sie den Stuhl!“ wiederholte sie fast mit Heftigkeit.

„Was soll ich hören?“ fragte Karl verstört und setzte sich ihr gegenüber.

„Ich hoffe, es wird Sie freuen,“ sagte sie, und ihre Stimme fing an, leise zu zittern. „Ich dachte, Sie wüßten es –“ Sie hielt wieder inne; die Angst überkam sie, daß sie nicht gelassen endigen, daß ihre Kraft sie verlassen werde. Mit einer plötzlichen Bewegung ergriff sie ein Blatt, das auf dem Tisch lag, das eines der Kleinen mit Figuren, Häusern und Bäumen bekritzelt halte, und nahm einen Stift in die Hand. „Ich will es Ihnen aufschreiben,“ sagte sie mit wilder Heiterkeit, ohne ihn anzusehen. „Sie sollen es mit den Augen hören!“ Sie schrieb ein paar Worte in hastig ungleicher Schrift, dann schob sie dieselbe ihm mit einem zitternden Lächeln hinüber.

Karl nahm das Blatt mit beiden Händen und las. „Ich habe mich mit Ihrem Bruder verlobt,“ las er und las es von Neuem. Sie starrte in sein Gesicht; sie sah sein Entsetzen, sein langsames, unheimliches Erbleichen, wie wenn er den Sinn der [516] Worte erst allmählich begriffe. Ihr Lächeln verwandelte sich, eine namenlose Angst ergriff alle ihre Züge. Sie stand auf.

„Annette!“ rief er mit halberstickter Stimme. „Annette!“ Das Blatt noch immer in der Hand, fuhr er in die Höhe und stierte sie an.

„Um Gotteswillen, was ist Ihnen?“ sagte sie ohne Besinnung. „Erschreckt Sie das?“

Er sah über sie weg und griff nach seinem Hut. „Nichts, nichts,“ stammelte er; „nur daß ich fort muß – daß ich Sie verlasse. Leben Sie wohl!“ wollte er hinzusetzen und brach mitten drin ab und trat auf die Schwelle, keines Wortes mehr mächtig.

„Mein Gott – wo wollen Sie hin?“ rief Annette ihm nach.

Aber er schien sie nicht mehr zu hören; er hatte die Thür schon aufgerissen und trat hinaus. Von ihrer Angst getrieben, eilte sie ihm nach, die Thür flog in’s Schloß, und sie stand da und hörte draußen seine hastigen Schritte.

Sie eilte an’s Fenster zurück; mit fliegenden Blicken sah sie ihn vorüberstürmen, dem Marktplatz zu. Ihre Sinne wollten sie verlassen. An der Ecke hielt sein Diener mit den beiden Pferden; sie sah Karl einen Augenblick stille stehen und nach ihrem Fenster zurückblicken, dann wieder weiter eilen, bis er die Pferde erreichte. Im Scheine der Laterne, die dort an der Ecke hing, schwang er sich vor ihren Augen in den Sattel hinauf, schien dem Diener zu winken, und in derselben Richtung, in der er gekommen war, sahen ihre sich umflorenden Blicke ihn verschwinden.




5.

Seit diesem unglückseligen Abend war etwa eine Woche vergangen; die schönen Maitage waren dahin, der Juni hatte kalten Weststurm und rauhen Regen gebracht, und die ganze Melancholie, die über einer weiten, starren Fläche unter einem sonnenlosen Himmel liegen kann, lag über der hügeligen Ebene vor Karl’s einsamen Augen ausgebreitet. Er saß in seinem ländlichen Herrenhaus am Fenster und starrte in die graue Luft hinaus und zu den fernen, niedrigen, von Pappeln umstellten Gebäuden auf dem Landsitz seines Bruders hinüber. Der treue Caro kauerte zu seinen Füßen und schien mit sorgenvoller Befremdung zu ihm hinaufzusehen. Der Tisch, neben dem er saß, war unter Büchern und Papieren begraben, die Stühle um ihn her mit Folianten bedeckt, alte vergilbte Hefte und Actenstöße lagen auf der Erde. Die Gutsrechnungen der früheren Jahre, die Wirthschaftsbücher, Pläne und Zeichnungen hatte er in diesen Tagen, wo er nur ging und stand, in dem großen Zimmer ausgebreitet und umhergestreut, wie wenn ein[WS 1] ganzes Collegium hier gearbeitet hätte. Aber müde, wie er der ewigen Arbeit war, und von seinen schmerzlichen Empfindungen übermannt, hielt er die Augen, die sich über den Papieren bei Tag und Nacht abgemattet hatten, nun einzig auf jene Häuser in der Ferne gerichtet und auf den Rauch, der dort aufstieg. Er sagte sich, daß nun bald Annette dort als junge Herrin einziehen werde. Er rief sich in’s Gedächtniß zurück, wie seine unseligen Gefühle für das Mädchen in ihm entstanden seien, wie sie so schnell, so übermächtig hätten wachsen können und wie es nur möglich gewesen, daß er sich über ihre Empfindungen getäuscht hätte. „Sie zeigte dir Güte und Vertrauen,“ sagte er sich mit kummervoller Seele, „aber ihn liebte sie! Wie eine Schwester kam sie dir entgegen –und nun ist sie dir geworden, was sie dir werden wollte! Dich ließ sie in ihren früh erwachten Geist ein wenig hineinblicken – ihm gab sie ihr Herz!“

Indem er das dachte, stieg wider seinen Willen die ganze Bitterkeit in ihm auf, die ihn diese Tage in Traum und Wachen verfolgt, gegen die er umsonst gerungen hatte. Er erinnerte sich jenes Abends, wo ihn Wilhelm auf der Bank unter dem Sternenhimmel aufgesucht und ihm in Tönen, die nur vom flüchtigsten Rausch zu zeugen schienen, den ersten Hymnus auf Annette vorgesungen. Alle die schwärmerischen Ausbrüche des Bruders, über die er damals gelächelt hatte, fielen ihm nun in unglückseliger Wörtlichkeit wieder ein: wie acut er sich verliebt habe, wie viel sie mit einander gelacht hätten, wie bereit er sei, sie auf dem Fleck zu heirathen. „Und in dieser trunkenen Wallung,“ sagte er sich, „ging ihr Wilhelm entgegen, und während ich in meiner stillen Seligkeit, mit all’ meinen Hoffnungen und ahnungsvollen Gefühlen, durch die Mondnacht dahindämmerte, entschloß er sich wie im Kartenspiel, sie zu gewinnen – und kam, sah und siegte! Und ich, der ich auf ihre holdseligen Augen vertraute – – O Karl! Karl!“ rief er sich selber an und fuhr sich über die glühend heiße Stirn, wie wenn er ihr helfen müßte, diese unaussprechliche Täuschung zu begreifen. „Sie dachte nicht mehr an dich. Sie sah ihn an und sah, daß er sehr schön war und daß er so warme, verliebte Augen hatte, und der Bund war geschlossen! Und ich Ahnungsloser mußte nun kommen und ihr mein Gefühl verrathen – –“

Sein ganzer Stolz wallte auf, sein Mund schloß sich in wilder Herbigkeit, er erhob sich, um sich leichteren Athem zu verschaffen, und ging im Zimmer umher.

Er glaubte ihr sein Herz wie ein Knabe preisgegeben zu haben. Er wiederholte sich zu seiner Genugthuung Wort für Wort den Brief, den er am nächsten Morgen an Annette geschrieben; wie er ihn sich in diesen Tagen schon hundert Mal wiederholt hatte. Als wenn sie vor ihm dasäße und er zu ihr spräche, sagte er Alles von Neuem an sie hin: daß er sie an jenem Abend durch seine Bestürzung ohne Zweifel befremdet habe; daß er bei der Nachricht von ihrer Verlobung aus einem Grunde erschrocken sei, den er ihr nicht anvertrauen dürfe; daß es sich dabei um einen Freund gehandelt habe, der ihm am Herzen liege; daß er über diesen ersten Schreck, in einer Unhöflichkeit, die er selber unbegreiflich finde, so ganz vergessen habe, ihr seine eigene Freude über das glückliche Ereigniß und seine brüderlichen Gefühle auszusprechen; daß er um jenes Freundes willen sie bitte, von diesem aufklärenden Brief und von seinem seltsamen Benehmen am Abend zuvor, ja von dieser Begegnung überhaupt, auch gegen Wilhelm, zu schweigen, und daß er das Gleiche thun werde. Jedes Wort dieses Briefs, mit bitterer, künstlicher Berechnung ausgedacht, klang in seiner gequälten Seele wieder, aber es gab ihm nicht die Erleichterung, die er hoffte.

Er ging nun unruhiger im Zimmer umher; die Lüge beschämte ihn, mit tiefer Beklemmung sah er sich in ein gemeines Gewebe von Unwahrheiten verstrickt und fühlte, daß er es nie mehr werde zerreißen können. „So beginnt nun,“ dachte er, „dieser neue Bund! Vor Annetten mußt du dein Herz verhüllen, gegen Wilhelm giebt es für dich keine Offenheit mehr – Verstellung i ist von nun an deine einzige Rettung! – Fort von hier, fort! Fort aus ihrer Nähe! bis ich das Aergste überstanden, bis ich mich abgetödtet, bis ich diese grauenhafte Ruhelosigkeit verwunden habe! bis es mir möglich ist, ohne beständige Lüge mit diesen Menschen zu leben! Warum hatte ich noch nicht den Muth, zu fliehen? Warum saß und saß ich hier Tag für Tag, als könnte etwas Plötzliches mich überraschen, mich befreien, als könnte es widerrufen werden, als könnte irgend ein unerwarteter Zufall noch dazwischentreten? Es ist keiner gekommen – und noch immer geh’ ich hier umher und hoffe auf irgend ein Wunder! O Kind! o Kind!“ – Er legte sich die geballten Fäuste vor die Stirn, er fuhr sich in’s braune Haar und zog daran, als müsse er das ganze Gehirn mit ihnen herauszerren. Alle Leidenschaft war auf einmal in ihm erwacht. Er hatte gehofft, sich zur Ruhe zu sprechen, sein Blut wallte statt dessen fieberhaft, seine Schläfen zitterten und schmerzten; er warf sich in einen hohen Sessel, über Bücher und Papiere hin und begrub sein Gesicht in beide Hände.

[529] Das Geräusch eines Wagens, der auf der Vorderseite des Hauses anzufahren schien, klang Karl dumpf im Ohr, ohne ihn aufzustören; nur sein Windspiel, das ihm bis an den Sessel nachgeschlichen war und wieder still zu seinen Füßen lag, hob den Kopf in die Höhe. Im Hause, auf dem Flur schien es unruhig zu werden. Caro sprang auf, näherte sich der Thür und kam dann wieder zurück, um seinen scheinbar entschlafenen Herrn durch ein leises Bellen zu wecken.

Eben richtete er sich in die Höhe und suchte für das, was seiner harren mochte, Fassung zu gewinnen, als die Thür sich schon aufthat und eine hohe, rasche Gestalt in ihr erschien. Wilhelm’s leuchtende Auge spähten neugierig herein, und sein treuherziges Lächeln folgte ihnen. Er hatte den Hut noch auf dem Kopfe, den braunen, nassen Mantel hoch herauf geknöpft, sein Haar war dennoch durchfeuchtet, und selbst aus seinen Augenbrauen schien der Regen zu tropfen.

„Muß man Dich aufsuchen, Karl!“ sagte er mit hastiger, aber nicht unfreundlicher Stimme. „Bei diesem Wetter, das zum Ofenhocken gemacht ist, muß ich selber herauskutschiren, um mir von meinem einzigen Bruder meine Glückwünsche einzufordern! Da sitzt er, wie ein Canzleidirector in der Registratur, und denkt darüber nach, wie man seine Felder und seine Finanzen verbessert.

Und während ich vor Glück nicht mehr seh’ und höre und nur immer horche und harre, ob nun nicht endlich dieser Mensch da kommen wird, damit ich mich in sein Bruderherz ausschütten kann, – währenddessen vergräbt er sich in die gleichgültigsten Schreibereien und thut, wie wenn es keine Brüder und keine glücklichen Menschen mehr gäbe!“

„Lieber Wilhelm,“ erwiderte Karl mit der herzlichsten Miene, deren er fähig war, und drückte ihm die Hand, „ich war – – Hab’ ich Dir nicht auf Deinen Verlobungsbrief meine Glückwünsche geschrieben?“

„Geschrieben! – Wenn ich dieser andere Bruder gewesen wäre, von Paris wär’ ich herbeigereist, um Dir in meiner Mitfreude um den Hals zu fallen. Aber ihr kalten, chronischen Menschen! Ihr Vernunftmenschen! Bei ,kalt’ fällt mir ein, daß heut’ ein recht schöner Wintertag ist, Karl, heut’, am dritten Juni! Ein nichtswürdiger Regen! Aber es ließ mir in der Stadt keine Ruhe mehr, ich mußte Dich sehen. Ich mußte Dir persönlich sagen, daß ich Dich für einen schlechten Menschen halte. Warum siehst Du so übel aus, Karl? Dein Verwalter behauptete eben, als ich aus dem Wagen stieg, daß Du nicht wohl seiest. Davon hast Du ja nichts geschrieben! Weißt Du denn nicht, daß ich trotz aller Bräutigamsherrlichkeit auf der Stelle herausgeritten wäre, um mich nach meinem Patienten umzusehen und ihm Gesellschaft zu leisten?“

„Ich danke Dir, Liebster,“ erwiderte Karl gerührt und gequält. „Es ist nur so ein Unwohlsein, von dem man nicht spricht; eine Erkältung, ein wenig Fieber. Aber es war mir besser, mich damit einzusperren und mit all’ den verschleppten Arbeiten etwas aufzuräumen, als – als ein paar selige Brautleute in ihrem Duett zu stören.“

„Zu stören! – Was das nun wieder ist! – Und wenn jeder Mensch auf der Welt uns stören würde, – Du doch nicht? Aber blaß bist Du, Karl. Du hast ja Ringe um die Augen wie Brillen! Nimmst Du etwas ein? Du hast Dir doch den Doctor kommen lassen? – Was ich noch sagen wollte: meine kleine Braut“ – Karl zuckte zusammen – „die ist auch nicht die Beste. Sie sieht recht jämmerlich aus; seit jenem Ballabend hat sie noch keinen guten Tag gehabt, es sind ihre alten Kopfschmerzen. O Karl, wenn wir die erst hier draußen auf dem Lande haben! Da soll sie aufleben, da soll sie alle die städtischen Nerven mit der Wurzel ausrotten!“

Er sah zum Fenster hinaus, nach seinem Landsitz hinüber, schob dann die Bücherhaufen von der nächsten Tischecke zurück und setzte sich auf den Tisch. „Ich habe schon große Pläne gemacht, Karl,“ fuhr er mit seinem herzlichsten Lächeln fort, „wie wir Drei miteinander leben wollen! Alles gemeinsam! Du sollst sehen, sie versteht sich darauf, mit uns zu leben! Wie sie sich in Alles hineinzufügen weiß, wie sanft sie ist – und wie Alle im Hause sie vergöttern! Ihr Papa will sie gar nicht hergeben, sagt er, – ein lustiger, guter, alter Herr. Annette ist sein Augapfel. Aber ich will sie glücklich machen, Karl,“ rief er mit lebhafterer Empfindung aus und sprang wieder auf. „Glaube mir, Herzenskarl, ich mache sie glücklich!“

Er hatte seines Bruders Hand ergriffen und sah ihm mit einem vollen Blick in’s Gesicht. Karl, in tiefster Pein, erwiderte den Blick mit einem mühsamen Lächeln, und um in diese treuherzigen Augen nicht länger starren zu müssen, schloß er ihn heftig in die Arme. Wilhelm umfaßte ihn gleichfalls und hielt ihn voll der freudigsten Bewegung umschlungen. „Ach, Karl!“ sagte er gerührt, „wenn meine Liebe Deinen Beifall nicht hätte, was hätte [530] ich dann? was wäre sie dann noch werth? Es soll noch schöner werden, als es war, Karl, glaube mir das. Alle Welt soll uns um unsere Dreieinigkeit beneiden. Sie sollen uns noch für ein Muster-Kleeblatt ausposaunen. Weißt Du, ich glaube, Annette ist auch mehr chronisch als acut, da wirst Du um so besser mit ihr auskommen. Ich weiß ja auch, daß Du sie lieb hast. Wenn sie eine erwachsene Schwester hätte – – Aber die zweite, Friederike, ist noch ein kleines Ding. Sie wird wohl auch einmal hübsch werden; doch allerdings, darauf kannst Du nicht warten!“ Er stand noch immer vor Karl, hielt seine linke Hand und sah ihm mit strahlender Heiterkeit in die Augen. Auf einmal ergriff er ihn an einem seiner Rockknöpfe, und indem er daran zu drehen anfing, fragte er: „Uebrigens sollst Du ja einmal in der Stadt gewesen sein; Mensch, wie verhält sich das?“

„Wer hat Dir das gesagt?“ fragte Karl zurück und sah an ihm vorbei in die Luft hinaus.

„Man will Dich zu Pferde gesehen haben, – irgendwo auf der Straße!“

„Das ist ein Irrthum,“ erwiderte Karl mit plötzlichem Erröthen und wandte sich ab, wie wenn er ein auf der Erde liegendes Blatt aufheben wollte. „Wann wollen die Leute mich gesehen haben? Ich müßte im Traum nach der Stadt geritten sein. Ich habe das Gut nicht verlassen.“

„Das dachte ich gleich, daß es ein lächerliches Mißverständniß sein mußte! Du wärst doch gewiß nicht wieder davongeritten, ohne mich zu sehen, – was die Leute nur reden! Aber jetzt, lieber Karl, jetzt mußt Du mit, jetzt rettet Dich nichts mehr. Ich habe Dich alle diese Tage stündlich erwartet, wie wenn sich das eben ganz von selbst verstünde –“

„Lieber, ich konnte nicht.“

„Nun ja, es mag wohl sein, ich will auch nicht mit Dir zanken. Aber wie ich auf Dich gewartet habe! Darum hab’ ich Dir auch gar noch nicht geschrieben, daß schon morgen die Hochzeit ist –“

Karl fühlte sich bei diesen Worten von seiner Selbstbeherrschung verlassen, er fuhr zusammen, wie durch einen Krach erschreckt, und um den Aufruhr in seinem Gesicht zu verbergen, stürzte er von Wilhelm hinweg auf das Fenster zu. Er hatte nur noch Besinnung genug, an das Verwunderliche dieses Benehmens zu denken und schnell, mit einer gewissen Hast, auf die Scheiben zu trommeln, als hätte ihn nur eine äußerliche Unruhe angewandelt. Wilhelm kam ihm nach. „Ist es Dir nicht recht, Karl,“ sagte er herzlich, „daß ich so eilig heirathe? Ich weiß, Du hast schon damals, bei der Tante Merling, dagegen gepredigt. Du fandest es unrecht, daß unser Vater das von uns verlangte. Aber laß es gut sein, Karl, ich thu’s ja freiwillig. Bei Gott, ich bin sehr froh, daß ich mich gegen ihre Eltern auf dieses Testament berufen kann! Ich denke in diesem Punkte ganz wie unser Vater, – nicht nur in der Praxis, Karl, auch in der Theorie! Es hat seine großen Vorzüge, frischweg zu Hochzeiten, – wie unser alter Doctor sagte – weißt Du noch? – daß der Brautstand nichts sei, als ein nothwendiges Uebel. Aber jetzt komm, liebster Menschlich lasse Dir nun keine Ruhe mehr, Du mußt nun alle die häßlichen Arbeiten da stehen und liegen lassen und sogleich in den Wagen! Unser Zweisitziger, mit dem großen Familienschirm, hält vor der Thür, neue Pferde sind vorgespannt, Deinem Inspector hab’ ich’s schon angekündigt, und es giebt keine Ausrede.“

„Weißt Du,“ sagte Karl und versuchte in all’ seinen Qualen wieder zu lächeln, „ist es nicht genug, wenn ich morgen zur Hochzeit komme?“

„Ich traue Dir nicht mehr,“ erwiderte Wilhelm und sah dem Bruder mit einem arglos scheltenden Blick in die glühenden Augen. „Mit Deinen Arbeiten hat’s auch keine Eile, Du willst vor der Zeit ein Pedant werden, pfui! Deine Hochzeitskleider sind in der Stadt; also kannst Du so mitfahren, wie Du dastehst. Was soll unsere neue Familie denken, wenn Dir das Wetter zu schlecht ist, um sie auch nur einen Tag vor der Hochzeit zu begrüßen! Ein Wort an Deinen Inspector, und Alles ist abgemacht. Wir hüllen Dich tüchtig ein, mit einer Flasche Wein heizen wir nach, die Pferde lassen wir laufen, was sie können – und es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich Dich nicht gesünder, als Du bist, in dem kleinen Haus an der Marienkirche ablieferte.“

Er hatte den rechten Arm um Karl’s Schulter geschlungen und zog ihn mit sanftem, liebkosendem Druck der Finger zur Thür hinaus; es war kein Widerstand möglich. Mit Gefühlen, die sich nicht beschreiben lassen, ergab sich der Unglückliche in sein Schicksal, und während er in seinem zerrissenen Innern beschloß, sogleich nach der Hochzeitsfeier das Land zu verlassen und nach Frankreich zu gehen, ertheilte er im Haus mit gewohnheitsmäßiger Ruhe die letzten Befehle, ließ den Auftrag zurück, in seinem Zimmer völlig aufzuräumen, stahl sich noch einmal hinweg, um aus seinem Geldschrank Alles zu sich zu stecken, was er vorräthig hatte, und trieb dann selber zur Abfahrt. Der graue, triefende Himmel, der sie draußen empfing, die kühle, nasse Luft that seinen Empfindungen wohl. Die schmutzige, oft abgrundtiefe Landstraße, nachdem sie den Gutshof verlassen hatten, das zitternde Laub der vom Wind geschüttelten Pappeln über ihm, die sich am Wege hinzogen, die endlose Oede der verregneten Welt gaben ihm den Eindruck einer trübseligen Harmonie, an die er sich festsog. Aller Vogelgesang nah und fern war verstummt, nur die schwarzen Krähen bewegten sich mit schwerem Flügelschlag durch die graue Luft, und einzelne Goldammern flatterten unlustig über die Schmutzlachen der Straße. Auf den Feldern rechts und links war kein Arbeiter, kein Gespann zu sehen, die Kirchthürme der nächsten Dörfer verschwammen im Regendunst; eine einzige Sonntagsglocke hallte melancholisch über den Waldstreifen, an dem sie dahinfuhren, herüber. Karl mußte jenes Maiabends gedenken, an dem er sich im glühenden Sonnenschein berauscht, sich in Liebeshoffnungen gewiegt hatte, und der unaussprechliche Gegensatz erstickte ihm fast die Brust. Er war unfähig, ein Wort der Liebe zu seinem Bruder zu sprechen, der in den Regen hinein fröhliche Lieder sang und seine Glücksgefühle in ahnungsloser Beredsamkeit ausströmte. Verzweiflung an Allem legte sich ihm dumpfer und dumpfer auf’s Gehirn; alles Blut drängte sich um sein Herz, er fragte sich, ob er nicht zum Wagen hinausstürzen, ob er nicht Wilhelm’s Hand ergreifen solle und ihm mit der Stimme der Verzweiflung zurufen, daß er Annetten liebe. Aber dann leuchteten ihn wieder die Augen des Bruders an, und er sagte sich unter unerträglichen Empfindungen: sie liebt ihn! sie liebt ihn! und dieser eine Gedanke machte ihn wieder stumm. Regungslos ließ er den Bruder weiter schwärmen. Er faßte nicht den Muth, ihm zu sagen, daß er fort, daß er ihn verlassen wolle. Das Geheimniß umschnürte ihn wie ein Netz, sein Stolz, seine Treue, seine Bitterkeit verschlossen ihm die Lippen, er gelobte sich, diesen Kelch zu leeren, ohne sich zu verrathen.

So kamen sie, in der Zeit der Dämmerung, nach der Stadt zurück, und wie im Traum stieg Karl der hohen Marienkirche gegenüber aus, um in dasselbe Haus zu treten, aus dem er vor einer Woche so stürmisch geflohen war. Die Kinder empfingen das Brüderpaar schon auf dem Flur, im Zimmer kamen ihnen sogleich die Eltern entgegen. Sie nahmen Karl in zutraulichster Freude bei der Hand, sprachen ihm ihr Entzücken aus, in dem Bruder ihres zukünftigen Schwiegersohns zugleich den Lebensretter ihrer Tochter zu begrüßen. Karl blickte sie an, ohne sie zu sehen, nickte zu ihren halbverstandenen Reden, und starrte zu Annetten hinüber, die mit mehreren Freundinnen um den Tisch saß, an dem er damals sein Schicksal erfahren hatte, und ihren Hochzeitsschmuck mit ihnen zurüsten half. Sie war ihm entgegengetreten ihn zu begrüßen, hatte dem Bruder ihre Hand zum Kuß gereicht, und kehrte dann hastig zu den Freundinnen zurück. Ihre blassen Wangen fingen an sich zu röthen, sie bewegte sich lebhafter, gerieth in eine fieberhafte, unruhige Heiterkeit, von Zeit zu Zeit hörte man ihr gewaltsames Auflachen. Sie setzte den noch unfertigen Kranz, der für sie bestimmt war, einem der Mädchen auf’s Haupt, führte es vor den Spiegel, beleuchtete es, neckte es ausgelassen, während sie es mit hastigen Bewegungen vermied, den Blicken Karl’s zu begegnen. Ihre weiche Stimme wurde lauter und heller, ihre Augen glänzten und flackerten umher. Endlich nahm sie wahr, daß Wilhelm, der neben der Mutter stand, sie verwundert betrachtete, sie gerieth darüber in Verwirrung, wandte sich ab, flüsterte einer der Freundinnen etwas in’s Ohr und zog sie eilig hinaus.

Karl sah ihr mit Gefühlen nach, die sich aus Erleichterung und Erschütterung mischten. Er fühlte einen neuen Krampf in seiner Brust; es schien ihm unmöglich, ihre Rückkehr zu erwarten und diese unsichtbare Folter noch Stunden lang zu ertragen. Indem er seine wachsende Blässe fühlte und im Spiegel gegenüber sah, nahm er sie zum Vorwand, sich zu entfernen, faßte Wilhelm’s [531] Hand, sagte ihm hastig, daß sein Unwohlsein mehr, als erlaubt sei, zunehme, und bat ihn, sich in’ nichts dadurch stören zu lassen, daß er sich zurückziehe. Der erschrockene Wilhelm folgte ihm hinaus. Er erklärte ihm, trotz allen Sträubens, daß er ihn unter diesen Umständen nicht verlassen werde. Er klagte sich an, daß er ihn so rücksichtslos aus seiner nothwendigen Ruhe aufgeschreckt habe, führte ihn den ganzen Weg bis an ihr Haus, schickte den Diener zum Arzt und gab sich nicht eher zufrieden, als bis sich Karl wie ein Kranker in’s Bett gelegt hatte. Dann saß er neben ihm und sah ihn zuweilen mit dem Blick einer Wärterin an und sagte kein Wort. Karl’s tiefe Beklemmung wuchs. Endlich, nachdem der Arzt erschienen war, ein leichtes Fieber erkannt und eine Kleinigkeit verordnet hatte, richtete der Tiefgequälte sich auf und betheuerte dem Bruder, daß er allein zu sein wünsche; daß er von ihm verlange, zu seinen Schwiegereltern – er brachte Annettens Namen nicht über die Zunge – auf der Stelle zurückzugehen und unterdessen ihn sich gesund schlafen zu lassen. Wilhelm nahm seine Hand und fragte, indem er ihn zärtlich ansah, ob er die Hochzeit aufschieben solle? dann, da der Andere heftig den Kopf schüttelte: ob er ihm wenigstens versprechen wolle, bis zur Trauung ganz stille zu bleiben, wo er sei, und sich allen ceremoniellen Pflichten zu entziehen, außer der einen, ihn am Nachmittag zur Kirche zu geleiten? Karl nickte mit einem flüchtigen Blick und drückte ihm die Hand, und Wilhelm, nachdem er den Bedienten in’s Nebenzimmer gesetzt hatte, winkte noch einmal liebevoll zurück und ging davon.

Die Nacht verwachte der Einsame in wirklichen Fieberschauern und trostlosen Gedanken. Er hielt die Augen geschlossen, als der Bruder zurückkam, that wie wenn er schliefe, und während er laut und wie in tiefen Träumen athmete, kämpfte er mit den mörderischsten Wünschen und wiederholte sich den einzigen Trost, daß er wenigstens fliehen könne und die Welt weit sei. Gegen Morgen fand er endlich Schlaf, und erst die Mittagssonne, die durch’s Fenster hereindrang und auf sein Bette schien, weckte ihn auf. Der Bediente kam, um ihm zu sagen, daß es nun Zeit sei, sich für den Gang zur Kirche anzukleiden, wenn er sich wohl genug fühle. Er nickte ihm zu, stand auf und warf sich in die goldgeschmückten, glitzernden Festkleider, die man ihm zurechtgelegt hatte und die ihn unnatürlich zu verhöhnen schienen. Seine Empfindung indessen war betäubt; er ging in einer gewissen dumpfen Erstarrung – der Diener hinter ihm drein - dem Haus an der Kirche zu, das man mit Maien und Blumengebinden geschmückt hatte und das eine Volksmenge neugierig umstand. Die Sonne schimmerte etwas feucht durch das Gewölk, der Regen hatte aufgehört, die Luft begann sich wieder zu erwärmen. Er empfand es mit einer Art von stumpfem Behagen, und dachte an weiter nichts, als er im Haus über die Schwelle trat. Ihm war, als schliefen die Gedanken hinter seiner Stirn und als müsse er sich nur hüten, sie zu erwecken. Indessen die lebhaften Stimmen durcheinander, die er in den vorderen Zimmern summen und lachen hörte, rissen ihn plötzlich ans seiner Versunkenheit auf. Er erkannte die hellen Töne der Demoiselle Merling, ein widriges Gefühl flog über ihn hin, und um nicht alle Fassung auf einmal zu verlieren, ging er hastig an den Thüren vorbei, trat auf den Hof hinaus, und ließ die erwärmten, weichen, stillen Luftwellen beruhigend um sich fließen.

Hinter dem sah er den Garten offen, das Grün lockte ihn an, er ging die wenigen Schritte weiter, um sich in jener stillen Ecke in die verhängnißvolle Laube zu setzen. Der Geist Annettens kam hier über ihn, seine Augen füllten sich mit den ersten Thränen, die er um sie weinte. Er glaubte sie zwischen diesen duftenden Beeten als zierliche Gärtnerin auf und nieder schweben zu sehen, als die feinste aller dieser Blüthen; er dachte sie sich wieder in jenem ersten Kleid, wie eine weiße Rose unter diesen feurigen Nelken und den absterbenden Tausendschönchen, – und Alles, was in seiner Seele weich war, warf sich ihm mit der ganzen Ueberschwänglichkeit des Schmerzes in die überfließenden Augen. So mochte er schon eine Weile dagesessen haben, gegen den Tisch gelehnt und die nassen Wimpern in tiefer Schwermuth geschlossen, als über den Kiesweg her rasche Schritte herankamen und seine Besinnung erwachte. Er fuhr sich mit der Hand über die Lider und Wangen, um sie hastig zu trocknen, und sah dann mit einem halben Blick der Gestalt, die sich näherte, entgegen.

Die Schönheit dieser Gestalt überraschte ihn. Es war sein Bruder, – heute zum ersten Mal in anderer Kleidung als er, in blauem Sammet und silbergestickter Weste; dazu in der ganzen freien, selbstgewissen Haltung, die ihn so unwiderstehlich machte und die dieser Tag noch erhöhte; die Haare an den Seiten zierlich gelockt und nach hinten gebunden, die blauen Augen voll Feuer, die vollen Lippen wie von Lebensfreude geschwellt und wie Blutnelken glühend. Er trat auf Karl zu, ohne ihn in’s Auge zu fassen, mit dem Gang eines Prinzen, der zur Thronfolge berufen wird, und indem er vor dem Jasminbusch neben der Laube stehen blieb, um einen Zweig voll eben aufgesprungener Blüthen abzupflücken, sagte er hastig: „Hier find’ ich Dich, Karl? Ich suchte Dich im ganzen Hause; hat Dir noch Niemand gesagt, daß wir in zwei Minuten zur Kirche gehen?“

„Ich werde kommen,“ erwiderte Karl tonlos und stand auf.

Wilhelm betrachtete den blühenden Zweig mit glücklichen Augen, versuchte, ob er ihn in’s Knopfloch stecken könne, und sagte dann hinaushorchend: „Ich glaube, sie ordnen sich schon! – Karl, Du kannst Dir mit all Deiner Phantasie nicht vorstellen, was dies für ein Augenblick ist! So unmittelbar an der Thür zu stehen, durch die man in’s größte Lebensglück hineintritt – es macht schwindlig, Karl. Es überstürzt Einen so! Es ist ganz unaussprechlich!“ – Er hielt den Jasminzweig noch immer in der Hand, da die großen Regentropfen noch an ihm hingen, und schüttelte ihn, um ihn abzutropfen, sah dabei zu Karl hinüber und erschrak. „Mein Gott, was ist Dir?“ sagte er. „Du siehst so elend, – was ist Dir geschehen?“

„Mir? Was sollte nur geschehen sein? – Komm, laß uns gehen,“ setzte Karl hinzu und versuchte ein scherzhaftes Gesicht zu machen, „damit der Bräutigam nicht die Trauung versäumt!“

„Du hast geweint, Karl!“ rief Wilhelm aus und blieb wie angenagelt vor ihm stehen.

„Meine Farbe, meine angegriffenen Augen täuschen Dich, Lieber. Was denkst Du? Ich habe einen schlechten Kopf, das ist Alles. Komm’, laß uns gehen!“

„Du, Karl, willst mich täuschen! Warum steckst Du hier so allein? Was macht Dich so melancholisch? – Seit Du unwohl bist, erkenn’ ich Dich gar nicht mehr; Du hast so traurige Augen, Du bist so gedrückt – Karl, Karl, was sollen wir mit Dir thun?“ – Er trat an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter: „Warte nur, warte! Sobald die Hochzeitfeier vorüber ist, nehm’ ich Dich mit hinaus; ich erkläre Dich für meinen Patienten, wir überwachen Dich, Annette soll Dich pflegen, und ich gebe Dich nicht eher heraus, als bis Du wieder helle Augen und ein leichteres Blut hast!“

Er suchte dabei den Bruder zärtlich an sich zu ziehen; aber Karl, unfähig, ihm auf diese liebreiche Drohung in’s Gesicht zu blicken, machte sich unwillkürlich von ihm los und wandte sich ab. „Lieber Thor!“ sagte er nach einer Weile mit gekünstelter Heiterkeit, indem er an dem Gezweig der Laube herumpflückte. „Ich denke nicht daran, Eure Flitterwochen zu stören. Das war wieder einer Deiner drolligen Einfälle! – Ich wollte Dir übrigens schon sagen, mein Alter,“ fuhr er mit zitternd scherzender Stimme fort, „daß ich verreise.“

„Was – ?“ fragte Wilhelm und starrte ihn an, wie wenn er nicht richtig gehört hätte. „Was wolltest Du, Karl?“

„Nach Paris,“ erwiderte Karl noch immer abgewandt, „sagte ich es Dir noch nicht? Es ist ein alter Gedanke –“

„Karl!“ rief Wilhelm außer sich ihn an, „wann wolltest Du fort?“

„Du wirst ja so stürmisch,“ sagte Karl und fing an zu erschrecken. „Es ist wahr, ich hätte es Dir schon früher schreiben sollen –“

„Wann willst Du fort?“

„Ich denke, bald,“ sagte Karl in plötzlicher Angst und riß ein paar Blätter vom Gerank herunter. „Warum fragst Du so? Nach Deiner Hochzeit, Liebster morgen –“

„Morgen!“ wiederholte Wilhelm tonlos und ließ seinen Jasminzweig zur Erde fallen. „Und das sagst Du mir – –“

Die Stimme gehorchte ihm nicht mehr, er brach ab und drehte sich um.

Karl faßte endlich den Muth, ihn mit seinen Blicken aufzusuchen; da sah er, wie Wilhelm sich mit großen Schritten entfernte.

„Wilhelm!“ rief er ihm nach.

„Schon gut, schon gut!“ rief dieser aus und sah mit einem [532] wilden Lächeln nach der Laube zurück. Er riß die Gartenthür auf und schwankte hinweg. Die unseligste Ahnung schien ihn zu durchfahren. Mit einem Gesicht, in dem auf einmal alle Lebensfarbe ausgelöscht war, taumelte er hastig über den Hof und trat in das Haus, ohne den Bruder zu erwarten, der fassungslos hinter ihm herlief.

Auf dem Flur hatte sich schon ein Theil der Gäste aufgestellt, die lebhaftesten Wohlgerüche schwammen ihm entgegen. Annette trat eben mit der Demoiselle Merling aus dem Zimmer hervor.

Ihr weißes Atlaskleid, der Kranz mit den weißen Blüthen in ihrem Haar hob noch ihre Blässe. Sie schien viel geweint zu haben, aber die matten Augen gaben sich nun alle Mühe, zu lächeln. Mit aufgeregter Freudigkeit kam sie auf ihn zu, indem sie die Alte stehen ließ. Jetzt bemerkte sie seine Verstörtheit und fragte: „Was fehlt Ihnen, Wilhelm?“

„Annette,“ sagte er außer sich, „wissen Sie schon, daß Karl uns verlassen will? daß er morgen davongeht?“

„Will er das?“ antwortete sie und suchte nach dem Ton, in dem sie diese Mittheilung bedauern müßte. „Das ist traurig!“ setzte sie nach einigem Stocken hinzu und wandte sich hastig ab. Der plötzliche Schreck drohte ihr in die Kniee zu fahren, ihr Blick sie zu verrathen. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, und als hätte sie sich nur nach ihrer Mutter umgewandt, die eben den Flur heraufkam, eilte sie auf sie zu und legte ihre beiden Arme um deren Nacken. „Karl will uns verlassen!“ stieß sie hervor, mit einem Ausdruck der Ueberraschung, der ihr Gefühl verbarg.

Die gute Mutter wiegte bedauernd den Kopf. „Was bedeutet das?“ fragte sie arglos. Der verstörte Wilhelm starrte vor sich hin.

In diesem Augenblick erschien der Vater, mit ungeduldiger Miene und Geberde, um daran zu erinnern, daß Alles bereit sei, daß der Geistliche warte. Und damit nahm er den Arm seiner Tochter und ging mit ihr voran, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Wilhelm blickte nach dem Hof zurück; er sah seinen Bruder oben auf der Schwelle erscheinen. Unfähig wie er war, ihn anzusehen, wandte er sich wieder um und schritt langsam hinter Annette her, unter den Blumengewinden der Hausthür hindurch, in die Sonne hinaus, dem hohen Portal der Marienkirche entgegen. Er fühlte, wie die Blicke der Menschenmenge, Kopf an Köpf, auf ihm ruhten; ihm war, als ginge er auf dem letzten Gange und als sähe sie es ihm an. Nur an dem Schatten, der an seiner Seite erschien und sich langsam bewegte, erkannte er, daß sein Bruder neben ihm ging; er blickte auf diesen Schatten und hob die Augen nicht auf. Auf einmal stand er vor dem Altar, Annette in ihrem weißen Kleide neben ihm, das große, röthliche Gesicht des Pfarrers ihm gegenüber, dahinter die Kerzen auf den Silberleuchtern, das hohe Bild mit der Kreuztragung; in seinem Rücken hörte er die Zuschauer hüsteln, die Kleider rauschen, und wie wenn er sich aus einem Traum erwecken müßte, sagte er sich: Das Alles gilt dir! Das da ist deine Braut! In einer Viertelstunde wird dieser Mensch euch vermählen! Und hinter dir steht dein Bruder, den du unglücklich gemacht hast, und läßt sich das Herz zerreißen und sehnt sich hinweg – um dich nicht wiederzusehen! Ein grausamer Schmerz, ein unbestimmtes Bangen feuchtete ihm die Stirn; die feierliche Rede des Geistlichen begann, er verstand kein Wort, er suchte nur in athemloser Hast sich das ganze Unglück, das über sie Beide hereinbrach, auszudenken. Du hast sie ihm weggenommen, dachte er, und da steht er nun hinter dir! Hast du dein Gelübde gehalten, keinen Herzensbund ohne sein Ja und Amen zu schließen? Bist du nicht an Allem schuld, – du, du allein? – Eine plötzliche Angst überfiel ihn, er sah mit einem halben Blick zur Seite nach Annetten, die lautlos wie eine Bildsäule dastand, und fragte sich ganz verwirrt: Und bist du so gewiß, daß sie dich liebt? Ist sie dir freiwillig um den Hals gefallen, um dir zu sagen, daß sie ohne dich nicht leben kann? Hat sie ihr ganzes Herz vor dir ausgeschüttet? Mein Gott – woher weißt du, daß ihr euch heirathen müßt – daß sie – daß Karl – Die Angst schlug ihm plötzlich über dem Kopfe zusammen; ihm war einen Augenblick, als müßte er, da nun der Pfarrer seine Stimme hob und den Blick auf ihn richtete, ausrufen: Halt ein, halt ein! Die Frage kommt noch zu früh – hier stehen drei Menschen, die sich erst vor Gottes Angesicht entschließen müssen! Aber jetzt hörte er seinen Namen, und die Frage: willst du diese Jungfrau zum Weibe nehmen? – und mit einem Schmerz, in den kein Jubel sich mischen wollte, sagte er sich, daß Alles entschieden sei, und hörte ein deutliches, tönendes Ja seinen Lippen entquellen. Er hörte Annetten das gleiche Wort fast unvernehmlich hervorhauchen; er sah sie an, als er den Ring mit ihr wechselte, er kniete neben ihr nieder, um den priesterlichen Segen zu empfangen, – eine feierliche Bewußtlosigkeit senkte sich über ihn, er nahm es hin, als müßt’ es eben so sein. Die Füße trugen ihn endlich mechanisch wieder hinaus, er trat in die Sonne. Er kam in Annettens Haus zurück, legte seinen Mund auf ihre Lippen, umarmte ihre Eltern, nahm die Glückwünsche und Umarmungen der Anverwandten hin, ließ Alles mit sich geschehen. Er suchte endlich mit den Augen seinen Bruder, um auch ihn zu umfassen. Aber Karl war verschwunden. Bei dieser Entdeckung erst wachte der ganze Jammer in seiner Brust wieder auf; der Schmerz, den er dem Bruder angethan, trat ihm in voller Größe vor die Seele, und mit schwerster Anstrengung ging er auf die Hochzeitstafel zu, um hier, in den verworrensten Gefühlen, obenan neben seiner Neuvermählten zu sitzen.

[545] Karl’s Platz zu ihrer Rechten war leer; Wilhelm hörte Annettens Eltern sagen, daß der Arme wegen seines Kopfleidens nach Hause gefahren sei. Betrübt starrte er auf die leere Stelle und nickte vor sich hin. Auf einmal hörte er, aus dem Nebenzimmer hervor, fröhliche Tafelmusik; die Geigen und Trompeten setzten jauchzend und schmetternd ein, und ein Chor von männlichen Stimmen erhob sich, um einzufallen. Diese unerwarteten Töne überwältigten ihn. Er fühlte, wie ihm die Thränen nach den Augen drängten, stand auf und ging hinaus. Ueber den Flur hinweg, ohne der Menschen zu achten, die ihm entgegenkamen oder sich neugierig zusammengedrängt hatten, eilte er auf die Treppe zu, die engen Stufen hinauf, um oben in ein Kämmerlein zu treten, das offen stand, und sich in den Sessel neben dem Bette zu werfen. Es war Annettens Schlafgemach; er wußte es nicht. Es that ihm nur wohl, endlich einsam zu sein und seinen Thränen ihren Lauf zu lassen. Die Musik drang nur dumpf zu ihm herauf, gedämpftes Licht kam durch die verhängten Scheiben, die kältere Luft kühlte seine Schläfen. Er weinte vor sich hin: „Dahin ist es mit euch gekommen, mit dir und ihm! und ihr liebtet euch so! Mein Gott, mein Gott, mein Gott, wie war es möglich!“ – Seinem Herzen versagte alle Freudigkeit, sein Gewissen schlug ihn, er sprang auf, ging umher, warf sich wieder hin, drückte den Kopf in Annettens Kissen und rief kummervoll von Neuem ans: „Mein Gott, wie war es nur möglich!“

Er lag dann eine Weile still; auf einmal berührte ihn eine Hand, er fuhr empor und sah in Annettens Gesicht. Das junge Weib, dessen Augen gleichfalls von stillen Schmerzen gefeuchtet waren, lächelte ihn dennoch sanft und lieblich an und fragte mit ihrer weichen Stimme: „Wo bleiben Sie, Wilhelm? Wo bleibst Du?“ wiederholte sie leicht erröthend; „warum muß man Dich suchen? Was sollen die Gäste denken – und mein Vater und meine Mutter?“

„Wo ist Karl?“ unterbrach er sie mit einer hastigen Frage.

„Er ist fort,“ antwortete sie mit Fassung. „Er hat einen Zettel an Dich und mich zurückgelassen, ein offenes Blatt. Sein Kopf halte es nicht aus, mit beim Fest zu sein. Er sagt uns Lebewohl, er denkt schon heute zu verreisen.“

„Und Du?“ sagte Wilhelm und richtete sich auf. „Hast Du – hast Du mich lieb?“ – Er sah ihr unruhig und wehmüthig in die Augen und suchte ihre Antwort zu errathen.

Annette reichte ihm still ihre Hand und nickte ihm zu. „Komm’!“ sagte sie leise. „Du weißt es –“

Wilhelm hielt ihre Hand, und plötzlich getröstet drückte er sie an die Lippen und stand wieder aufrecht da. „Meine holde, theure Frau!“ sagte er gerührt. Karl wird es verwinden, dachte er; er ist der Starke, er wird es ja bald verwinden! Alles wird noch gut, Alles wird sich noch lösen! – „Vergieb mir, Annette,“ sagte er gefaßt. „Ich habe Dich vorhin verlassen, habe geweint wie ein Kind, weil Karl uns verläßt. Er muß reisen, ich weiß es ja; er hat die Pflicht, es zu thun. Ich weiß, daß es kindisch ist, darum zu weinen. Aber wenn man sich so lieb hat, Annette, wenn man sich im ganzen Leben noch nie getrennt hat – –“

Seine Stimme erstickte wieder, und er fing heftig an wie ein Knabe zu schluchzen.

„Lieber Wilhelm!“ sagte sie erschüttert. Seine Liebe zu dem Bruder rührte sie tief; sie faßte seine Hand, sie umschlang ihn, von schwesterlicher Empfindung hingerissen, und drückte den ersten freiwilligen Kuß auf seinen Mund. Und so hielten die beiden Menschen sich in Thränen umschlungen, die in bangen verhehlten Schmerzen in die Zukunft hinaussahen.

Er fühlte ihren Kuß, ein unaussprechlich holder Balsam schien ihn zu erquicken und zu stärken. „Komm’,“ sagte er mit weicher Stimme und ließ sie aus den Armen, „komm’, gehen wir, Annette, – fahren wir bald; mir wird besser werden, wenn wir aufbrechen, wenn wir diese lustigen, jubelnden Menschen verlassen!“

Sie nickte ihm zu und wandte sich gleich, um zu gehen.

Auf der Treppe stand er noch einmal still, sah sie an und fragte: „Hast Du mich lieb, Annette?“ – Sie nickte wieder. Er lächelte zufrieden. Dann stiegen sie hinab, ohne weiter zu reden. Mit etwas erleichterter Seele ging er in den Hof hinaus und gab seine Befehle, den Wagen bereit zu machen und den Kutscher zu rufen. Er fragte nach Karl; man sagte ihm, der junge Herr habe die Stadt schon verlassen.

Nach einer Stunde rollte der Wagen mit Wilhelm und seinem jungen Weibe unter dem Thor hindurch ihrem Landsitze zu. Noch war es heller, abendlich sich röthender Tag; die gefärbten Wolken hingen tief herunter. Die Fenster zu beiden Seiten waren mit Blumenkränzen und Gewinden geschmückt; ein Postillon saß vor ihnen zu Pferd und blies auf seinem Horn die fröhlichsten Weisen in die Luft hinaus. Den Beiden klangen sie melancholisch in’s Ohr; ihre stillen Trübsale wachten wieder auf, Thränen flossen über Annettens und seine Wangen. Er suchte, ohne sie anzublicken, ihre Hand. Sie gab sie ihm willig hin, er fühlte [546] die kühlen, weichen Finger zwischen den seinen, aber er dachte an Karl und wagte nicht, sie zu drücken. So fuhren sie in ihr neues Leben hinein, dem Abend entgegen.




6.

Der Sommer war mit Sonnenschein und Regen über das Land gegangen, das Laub fing an sich zu röthen, die letzten Fruchtgelände und Kornbreiten hatten sich in Stoppelfelder verwandelt. Ein herbstlicher Wind schüttelte die verstummten Wälder, und der warme Glanz der Wolken, der an Sommerabenden so beseligend herunterleuchtet, kühlte sich schon. Aber ein anderer Glanz hatte sich über das Land gebreitet: die weite, sanft gehügelte Fläche zwischen den Herrenhöfen und Dörfern der Brüder war, mit den silbernen Fäden des „Mariengarns“ übersponnen und schimmerte im schrägen Sonnenlicht, wie wenn ein ungeheurer Schleier sie durchsichtig bedeckte. In der Ferne blitzte hier und da der Fluß in seinen Windungen auf, ein feiner Nebeldunst schien über seinem Lauf zu schweben, bis er sich hinter den fernsten Wäldern verlor. Die reine Luft zitterte nicht mehr, wie in den heißen Sommertagen, wenn sie schwer über dem Kornmeer lagert; wie aus dem dünneren Aether herabgeweht, durchgeistigte sie die warmen Dünste, die dem Boden entstiegen, und trug wie im Spiel den leichten Rauch hinweg, der, im Abendschein sich golden bräunend, von den Strohdächern aufstieg.

Um diese Zeit der sinkenden Sonne saß Frau Annette auf der grünen Bank vor ihrem Hause, unter dem Kastanienbaume, der sie ganz mit seinem Schatten bedeckte, und träumte vor sich hin. Sie hatte den Kopf auf die Hand, den Arm auf die Lehne gestützt, ein Häubchen im Haar, eine blaßrothe Schleife auf der Brust; die etwas matten Augen ruhten in ihrem Schooß, glitten zuweilen über den abendstillen, sonnigen Hof hinweg und kehrten dann, bald gesenkt, zu ihrem hellen Kleide, zu ihrem Busen zurück. In Gedanken verloren, von denen sie selber nichts wußte, hörte sie nichts um sich her, vernahm auch nicht, wie Wilhelm vom Hausflur auf die Thürschwelle trat, und sah nicht, wie seine Blicke über sie hinfuhren. Alle ihre Sinne schienen sacht zu schlafen; sie saß so unbeweglich da, wie die Bank, an die sie sich lehnte, und als wäre sie auf der Welt mit sich allein.

Wilhelm stand in einem wamsähnlichen dunklen Hausrock, in hohen Stiefeln, eine Reitpeitsche in der Hand, an der Thür und betrachtete Annette eine Weile, ohne sich zu rühren. Endlich trat er auf sie zu, und der Klang seiner Stiefeln auf den Steinen schreckte sie aus ihren Gedanken.

„Annette,“ sagte er sanft, „es wird kühl, und Du bist so leicht gekleidet; wirst Du Dich nicht erkälten?“

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf.

„Das Clavier,“ fing er nach einer Weile wieder an, „das Clavier ist auch angekommen. Nun kann das alte Spinett endlich in die Rumpelkammer gesteckt werden, und Du kannst recht nach Herzenslust spielen, liebe Annette.“

„Ich danke Dir,“ sagte sie mit einem freundlichen Blick.

„Ich muß Dich auch noch um Verzeihung bitten, Annette,“ setzte er nach einer neuen Pause mit schmerzhaftem Lächeln hinzu. „Du willst zwar nicht, daß ich Dir noch mit neuen Geschenken kommen soll, aber diesmal konnt’ ich nicht bis Weihnachten warten! Die große silberne Stutzuhr, die ich Dir zum Geburtstag mitbrachte, hat Dir so gar nicht gefallen. Nein, nein – streite nicht. Ich hab’ es wohl gemerkt. Du ziehst sie nicht einmal auf. Ich habe Dir eine andere kommen lassen, Annette, die nicht von so plumpem Geschmack ist.“

Annette richtete sich auf. „Lieber Wilhelm –!“ sagte sie im Ton eines sanften Vorwurfs und sah dann gequält vor sich hin.

„Ich bin ein Verschwender, ich weiß es,“ sagte er und suchte wieder zu lächeln. „Schilt, so viel Du willst. Wenn ich nur – Wenn ich Dir nur einmal eine wahre, herzliche Freude machen könnte,“ fuhr er mit zitternder Stimme fort, „was läge am Gelde?“ – Er starrte in das dichte Kastanienlaub, das bis zu seiner Brust herunterhing und sich ein wenig bewegte; dann wandte er sich wieder zu ihr: „Ich soll Dir noch sagen, Annette, daß der Doctor – ich bin ihm vorhin zu Pferde begegnet – daß er Dich für gesünder hält, als Du selber glaubst. Er meint, es fehle Dir eigentlich nichts. Du werdest uns noch Alle überleben, sagte er. Er hat alle Schuld auf Deine Nerven geschoben – und auf ein wenig Hypochondrie, liebe Annette; Du weißt, wie die Aerzte sind! – Es hat mich recht sehr gefreut,“ setzte er in gepreßtem Ton hinzu, „daß er Dich von allen körperlichen Leiden freispricht.“

Annette blickte zu ihm hinauf und nickte mit aller Heiterkeit, die sich ihren müden Zügen auszwingen ließ; dann starrte sie wieder auf den Boden und schwieg.

„Es ist auch ein Brief von Demoiselle Merling gekommen,“ fing er nach längerem Verstummen wieder an. „Sie stellt uns für den nächsten Monat ihren Besuch in Aussicht. Ich habe ihr geantwortet, sie wäre uns schon in diesem Monat willkommen, und wir würden sie von nun an täglich erwarten.“

Annette starrte ihn befremdet und beunruhigt an. „Warum hast Du ihr das so eilig geschrieben?“ fragte sie mit einem leisen Vorwurf im Ton. „Wenn Du mich erst gefragt hättest!“ wollte sie hinzusetzen, aber sie brach ab und fiel wieder in ihr entschlossenes Schweigen.

„Hätte ich es etwa nicht thun sollen?“ erwiderte er hastig. „Dir wird’s ja doch recht sein, Annette! Ich habe mir’s nicht anders gedacht, als daß es Dir recht wäre. Uebrigens – übrigens kommt sie nicht allein,“ setzte er plötzlich hinzu und begann mit großen Schritten auf und ab zu gehen.

„Sie kommt nicht allein? Wer noch sonst?“ – Annette stand unruhig auf.

„Wir leben hier zu einförmig, liebe Annette,“ sagte er, indem er stehen blieb, doch ohne sie anzusehen. „Das thut Dir – das thut uns Beiden nicht gut. Weißt Du noch, wie wir es uns eigentlich vor der Hochzeit gedacht hatten? Ich hatte im Sinn, wir wollten so recht – zu Dreien leben, Annette. Das ging ja im Anfang nicht. Karl hatte ja in Frankreich zu thun; es ließ sich nicht ändern. Es war auch wohl gut so; wir haben nun wenigstens –“ setzte er mit stockender Zunge hinzu, „unsere Flittermonate für uns allein gehabt. Aber ist es Dir recht, Annette, wenn wir dieser Flitterzeit ein Ende machen? Einmal muß es ja sein. Und es wird auch Dir ein Vergnügen sein, mit Karl zu leben. Es lebt sich so gut mit ihm. Er hat Sinn für Alles, er weiß Alles, – und was wird er nun erst zu erzählen haben, Annette, wenn er aus Frankreich zurückkommt!“

Annette blickte ihn in verstohlener Bangigkeit an, aber erwiderte nichts. Er hatte sich gegen den Baum gelehnt und starrte eine Weile in die Ferne hinaus; endlich kehrte er sich wieder zu ihr und fragte: „Ist es Dir recht, daß ich ihn gebeten habe, wieder nach Hause zu kommen? und daß ich Dich damit überrasche? Er hat mir geantwortet, Annette, er kann heute schon da sein. Ja, er kann in dieser Stunde kommen – und ich sterbe schon vor Erwartung.“

Indem er das sagte, hatte er Annetten im Auge, aber ihr blasses Gesicht, nur von einer schwebenden Röthe überflogen, zeigte nicht, was sie dabei empfand. „Ich dachte mir’s wohl, daß Du ihn erwartetest,“ sagte sie ruhig lächelnd. „Meinst Du, ich hätte nichts davon gemerkt, diese Wochen her? Hast Du nicht sogar im Traum davon gesprochen? Und Deine Unruhe bei Tage – Deine andeutenden Fragen – denkst Du, ich kennte Dich nicht?“

Sie sagte das mit ihrer sanften, fast elegischen Stimme, und Wilhelm starrte ihr überrascht in’s Gesicht. „Du wußtest –“ sagte er. Zu diesem Augenblick klang ein lautes Bellen vom Hofthor herüber, und er brach ab. Er drehte sich dorthin, ohne weiter auf Annette zu achten, und sah und horchte hinaus. Das fröhliche Bellen wiederholte sich. „Caro! Caro!“ rief er und trat ein paar Schritte vor. Karl’s silbergraues Windspiel sprang in leichten Sätzen über den Hof heran, schmiegte und wand sich in den leidenschaftlichsten Bewegungen zu Wilhelm’s Füßen, kroch an ihm hinauf, legte sich wieder hin und schüttelte die Blechkapsel an seinem Halse.

„Ein Brief, ohne Zweifel!“ rief Wilhelm und beugte sich nieder, um die Kapsel zu öffnen. Der Hund lag ganz still. Aber sowie er den Brief in Wilhelm’s Händen sah, schnellte er wie eine Feder in die Höhe und sprang auf Annette zu, um sie liebkosend zu umwedeln. Die junge Frau, während sie mit verhaltener Unruhe auf ihren Gatten blickte, was der Brief ihm wohl sage, streichelte den Boten mit Zärtlichkeit, und Karl’s Bild stand ihr lebhaft vor Augen. Aber auf einmal hielt sie inne, und wie wenn sie sich über einer Schuld ertappt hätte, erröthete sie und zog ihre Hand von Caro’s Nacken zurück. „Was verdrießt [547] Dich?“ fragte sie mit halber Stimme. Wilhelm hatte das Blatt zusammengedrückt und stand mit dem Ausdruck der Enttäuschung da. „Er kommt nicht heut’, sondern morgen,“ sagte er verstört. „Er ist angelangt – aber es eilt ihm nicht, Annette, uns schon heute zu sehen. Er hat Geschäfte. Er ist – weise, wie immer.“

„So muß man sich gedulden,“ sagte Annette mit freundlicher Ruhe und fühlte, wie ihr selber das Herz die Brust bedrängte.

„Geduld!“ wiederholte Wilhelm. „Ich hatte mich so sehr auf diesen Abend gefreut! Aber Du wirst blasser, Annette,“ setzte er hinzu, „die Sonne geht unter – Du erkältest Dich. Du sitzest hier schon zu lange. Ich bitte Dich, geh’ hinein.“

„Ich erkälte mich nicht,“ erwiderte sie mit leisem Kopfschütteln. Aber sie sah seine ungeduldigen, fordernden Augen und stand fügsam auf. Mit stummem Gesicht ging sie an ihm vorbei, zur Thür hinein. Ihre leichten Schritte verhallten sogleich im Hause.

Wilhelm blickte ihr nach. Er lehnte sich wieder gegen den Baum, und der erste Zug aufrichtigen Kummers ging über sein Gesicht. Er hatte sein Taschenmesser gezogen, schnitt damit gedankenlos in die Rinde, und seufzte still vor sich hin. „Es ist Alles vergebens!“ seufzte er. „So geht es nun Tag für Tag. Sie ist so still – doch sie verwelkt. Sie ist so sanft, so ergeben, aber kann das mich glücklich machen? In ihrem Blut ist kein Leben; sie freut sich über nichts so aus vollem Herzen; – sie ist so anders, als ich! – Und wenn ein Mensch auf Erden wüßte, was ihr fehlt!“

Er sah wieder auf das Blatt, das er noch in der Hand hatte, die hastige Schrift Karl’s fiel ihm in die Augen, er empfand, wie unruhig, wie ungeduldig ihn nach diesem Bruder verlangte, daß er nicht ohne ihn leben könne; daß er so ganz Sehnsucht sei, ihm wieder seine Liebe zu beweisen. Er hat’s verwunden, dachte er voll Zuversicht; er hat sie vergessen! Er schrieb ja schon so ruhige, so behagliche Briefe. Wie scherzhaft hat er nicht von den Pariserinnen geschrieben – wie heiter und unterhaltend! Vielleicht, daß er schon eine Andere im Sinn hat; vielleicht nahm ich es damals überhaupt zu schwer. Und wenn Einer es verwinden kann, kann er’s verwinden! – Er hielt sich diese Hoffnungen recht lebhaft vor Augen und fühlte, wie dabei seine Sehnsucht wuchs. Er blickte nach dem Thor, als müßte er ihn doch noch heute kommen sehen, trat dann vor Ungeduld fast schwermüthig in’s Haus und zerknitterte den Brief in seinen Händen.

Indessen war er kaum hinter der Thür verschwunden, als auf dem Hofraum, von der Landstraße her, ein Wanderer auftauchte, den Wilhelm trotz seiner fremdartigen Tracht auf den ersten Blick erkannt hätte. Zu grauen Reisekleidern, einen ausländischen, sehr bestaubten Hut auf dem Kopf, auch die Stulpenstiefeln mit Staub überdeckt, kam Karl eben durch das Hofthor eilig herangeschritten. Er verrieth in Allem, auch in seinem arg verwilderten Haar, daß er sich noch nicht die Zeit genommen hatte, an sich selber zu denken. Mit lebhaften Augen spähte er vor sich her, als fürchtete er zu früh entdeckt zu werden. Sein Windspiel sprang ihm mit einem kurzen Bellen entgegen; er drohte ihm, daß es schweigen solle, sah unruhig nach den Scheunen und Ställen, nach den Fenstern unter den Kastanien, die sich im Schatten versteckten. Endlich trat er in den dämmerigen, gewölbten Hausflur, ohne erkannt zu sein.

An der Thür zur Linken stand er still; blickte die großen Schränke, die tiefen Nischen des Vorplatzes, die Gespielen seiner Kinderjahre, mit der Empfindung eines Heimkehrenden an, suchte durch die weiß verhängten Glasscheiben links in das Gemach hineinzublicken. Doch in dem überdämmerten Raum war nichts zu erkennen. In diesem Raum hatte er so lange Jahre verlebt; hier hatte seine Mutter Tag für Tag an ihrem Arbeitstischchen, und er als Kind zu ihren Füßen gesessen; – und nun stand er an derselben hohen Fensterthür, um da drinnen Annette als Herrin des Hauses zu begrüßen. Er fühlte, wie der Gedanke ihm den Athem versetzte, aber dennoch lächelte er furchtlos vor sich hin. Ich werde sie wiedersehen, dachte er; mußt’ es nicht einmal sein? Und wenn das erste thörichte, schaudernde Bangen überwunden ist, – wird es mich nicht abkühlen, sie als die zufriedene Frau meines Bruders zu wissen? Bin ich nicht auf Alles gefaßt, hab’ ich mich nicht auf Alles vorbereitet?

Er stand noch und zögerte hineinzugehen, als drinnen ein Lichtschein auftauchte und, wie er nun erkannte, aus dem Nebenzimmer eine Magd mit zwei brennenden Kerzen erschien. Sie bewegte sich dunkel durch den erhellten Raum, stellte die Kerzen auf den Tisch neben dem Sopha, und jetzt entdeckte der Lauscher dort am Tisch Annettens Gestalt. Sie saß, wie es schien, von ihm abgewandt; ihr zierlicher Umriß verschwamm vor seinen Augen, so sehr dämpfte der weiße Fenstervorhang das Licht. In diesem Augenblick fiel ihm ein, wie seltsam ähnlich das Schicksal sie ihm am ersten Abend gezeigt und verhüllt hatte. So saß sie damals hinter dem Clavier, dachte er, nur ihre Stirn hatte sich mir flüchtig wie ein fallender Stern gezeigt; und wie war ich geschäftig, mir die noch geheimnißvolle Gestalt nach meinen Wünschen zu denken! Wie stellte ich mir die tiefsinnigen, beredten Augen, den schwermüthigen Mund, die ganze räthselvolle, bezaubernde Seele vor! Und dann – Ach, sie war reizend, doch wie anders, wie anders! Ein liebliches Kind, mit einem lachenden Herzen, für einen ganz Andern geboren, als für mich; - aber mich blendeten noch immer meine ersten phantasirenden Gedanken! Und wenn ich nun diese Thür hier öffne und der kleinen, freundlichen Gestalt gegenübertrete, so werd’ ich sie endlich sehen, wie sie ist, wie sie war, – und diese ewigen Qualen, die ich draußen mit mir herumtrug, werden mir vor der beruhigenden Wirklichkeit vom Herzen fallen! – Warum fürcht’ ich mich noch? redete er sich zu, da ihm das Herz doch heftig klopfte, und drückte auf die Thür, um ein Ende zu machen. Er öffnete und sah nun auf einmal Wilhelm sich gegenüberstehen, den er bisher durch das Fenster nicht bemerkt hatte. Der Bruder mochte ein Geräusch vernommen haben. Seine Arme breiteten sich hastig aus, sowie er den Eintretenden erblickte, und mit einem lauten Ausruf schloß er ihn an die Brust.

„Bist Du da! bist Du da!“ rief er ein Mal über das andere mit halb erstickender Stimme. „Verräther! Uns überraschen! Und den Brief vorausschicken! Diese Teufelskünste!“ Er küßte ihn auf die Backen, drückte ihn von sich und starrte ihm mit zärtlichster Neugierde in’s Gesicht. „Es ist noch der Alte,“ rief er aus; „nur das Haar sehr vernachlässigt – ist das die neueste Mode in Paris, Karl, so zu verwildern? Und da an den Schläfen – was ist das? Die braunen Haare silbergrau geworden? Fängst Du schon so früh an, – oder ist das auch der neueste republikanische Styl? – Karl, Karl!“ rief er in plötzlicher Bewegung aus und umschlang ihn von Neuem mit seinen Armen; „wie haben wir’s nur so lange ausgehalten, uns nicht zu sehen? Wie konnten wir nur – Jetzt mach’ Dir’s bequem, mein Liebster, leg’ ab, setze Dich – oder nein, Du mußt ja erst die neue Hausfrau begrüßen! – Ich will nur gleich in den Keller,“ setzte er hinzu und suchte mit den Augen heiter zu lachen; „Du kennst diese Frau ja schon, ich brauche Dir nicht zu sagen, wer sie ist – unterdessen hol’ ich den Wein!“ damit drehte er sich weg und schwankte eilig hinaus, und Karl stand Annetten gegenüber.

Sie hatte sich in ihrem hellen Sommerkleid vom Sopha erhoben und reichte ihm die Hand. „Seien Sie uns willkommen,“ sagte sie leise. Der erste Schreck der Ueberraschung hatte ihre gefärbten Wangen wieder verlassen, und sie stand in ihrer stetigen Blässe da. Ihre großen, erregten Augen strebten ihn recht gelassen anzusehen, sie ließ ihre Hand ruhig in der seinem „Es ist schön von Ihnen, daß Sie kommen,“ setzte sie hinzu. „Sie machen Wilhelm sehr glücklich. Er war so ungeduldig, so außer sich, daß Sie uns noch bis morgen wollten warten lassen! Wie viel werden Sie uns zu erzählen haben!“ fuhr sie nach einer Weile etwas befangener fort, da er noch immer schwieg, ihre Hand hielt und sie großäugig anstarrte. „Warum stehen Sie noch? warum setzen Sie sich nicht? Sie werden – Sie werden müde sein, Karl. Sie scheinen mich nicht mehr zu kennen,“ sagte sie endlich und gab sich Mühe, zu lächeln, „denn Sie betrachten mich, wie wenn Sie eine ganz neue und unerwartete Erscheinung entdeckten.“

„Verzeihen Sie,“ erwiderte er, ließ sie schnell aus den Augen und fuhr sich über die Stirn. „Es war – – es war nichts. Aber dieser Anblick – –“ Er brach ab, und lief erschüttert starrte er sie wieder an. Sie war nicht das weiche, zierliche, glücklich lächelnde Kind, das er wiederzufinden erwartet hatte. Um ihre Lippen hatte sich ein schwermüthiger Ernst gelagert, ihre geheimnisvollen, tiefen, beseelten Augen, ihre vergeistigten Züge erschreckten ihn. Sie war wie um Jahre gereift, – wie in das [548] Bild, das er sich damals von ihr schuf, hineingewachsen. Die sanfte Schüchternheit hatte sich in stille, schmerzliche Entschlossenheit, der harmlose Mädchenblick in tiefes, gedankenvolles Schweigen verwandelt. Der nachdenkliche, gespannte Zug zwischen den dunklen Brauen war der Stirn noch tiefer eingedrückt und schien von bitterlichen Kämpfen, von frühen Leiden zu sprechen. Im Innersten ergriffen, wandte Karl sich mit einer plötzlichen Bewegung von ihr ab, ganz unfähig zu reden. Alle seine Fassung war dahin. Er nahm einen Stuhl, aber statt sich zu setzen, umklammerte er dessen Lehne mit den Händen, stierte auf die Blumen, die in das Polster gestickt waren, und, ohne ein Glied zu bewegen, stand er da und schwieg.

„Sie haben sich auch verändert, Karl,“ stammelte Annette nach einer langen Pause, wie wenn sie etwas von seinen Gedanken errathen hätte. „Sie haben in dem hastigen Paris wohl auch zu hastig gelebt!“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu, aber verharrte in seinem Schweigen. „Verzeihen Sie, daß ich das sage,“ fing sie wieder an, „da ich doch wohl nichts davon verstehe. Aber es wird Ihnen gut thun, denk’ ich mir, wieder in der Heimath und auf dem Lande zu leben. Wie Wilhelm sich darauf freut, das kann ich Ihnen nicht sagen! Und ich, lieber Schwager,“ und sie trat auf ihn zu und suchte ihre unsichere Stimme zu beherrschen, „und ich freue mich auch. Die Tage werden nun etwas lebendiger werden, wir werden Vieles mitgenießen, was Sie genossen haben. Und,“ fuhr sie fort, indem sie den Kopf senkte, „ich werde mir nicht mehr sagen müssen, daß ich Ihr Zusammenleben gestört habe – daß ich schuld bin – – Nein, Sie werden nun da bleiben, hoff’ ich. Sie werden da bleiben und Wilhelm ganz zum glücklichen Menschen machen.“

„Nein, Annette,“ sagte er und schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht.“

„Warum nicht?“ fragte sie und sah ihm erschrocken in die finsteren Augen.

Er ließ die Stuhllehne fahren, und indem er vor sie hintrat, antwortete er: „Ich will es Ihnen sagen, Annette. Weil ich hier zu Grunde ginge. Weil – weil ich Sie liebe.“

Annette erschrak in den Tod und blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. Ihre Hände lagen ihr im Schooß, sie saß regungslos da, wie wenn sie irgend eine Elementargewalt über sich hereinströmen ließe. „O mein Gott!“ seufzte sie endlich.

Karl stand, die Hände an: Tisch, die Augen auf die Schleife an ihrer Brust geheftet, und fuhr fort: „Sie begreifen nun, Annette, daß ich hier zu Lande nicht bleiben kann, und Sie werden mich nicht mehr darum bitten! Ich war ein Narr, daß ich kam. Ich bildete mir ein, daß ich Alles verwunden hätte. Es war ein Wahnsinn, nichts weiter. Ich weiß nun wenigstens die Wahrheit!“ setzte er mit wilder Zufriedenheit hinzu, „ich kann diese Narrheit nicht zum zweiten Male begehen. Was ist Ihnen, Annette? Warum verstört Sie das so? Ich habe Sie damals belogen, als ich Ihnen den Brief schrieb, ich will Sie nicht mehr belügen – will wahr gegen Sie sein. Schweigen und Lügen rettet nicht, – fort muß ich, fort! Morgen – morgen denk’ ich darüber nach, wohin. Wilhelm wird kommen –“ und er horchte nach der Thür – „machen Sie ihn glücklich, Annette; seien Sie glücklich und überlassen Sie mich meinem – denkwürdigen Schicksal.“

Er starrte mit düsterer Entschlossenheit zu ihr hinüber und machte eine Bewegung, wie um zu gehen, aber nun sah er erst die ganze trostlose Verzweiflung in ihren Zügen, und in der heftigsten Ueberraschung stand er still. Sie schwieg noch immer, doch ihre Thränen fingen an zu fließen. Ein Blick flog zu ihm hin, aus Allem gemischt, was ihre aufgelöste Seele bewegte. „Annette!“ sagte er, von einer plötzlichen gramvollen Seligkeit erfüllt, und sah und horchte bang nach der Thür, „o Annette, Annette!“ Sie stand auf, sie legte sich die Hände vor die Augen und suchte ihm ihr überströmtes, verrätherisches Gesicht zu verbergen. „Sie sind nicht glücklich, Annette!“ stammelte er.

Auf einmal sah sie ihn an, und mit dem bittersten Lächeln, über das die langen Thränen hinwegflossen, sagte sie: „Warum verwundert Sie das? Warum sollte ich glücklich sein? Warum sagen Sie mir erst heute, daß Sie mich lieben?“

[561] „Gerechter Gott!“ rief Karl fassungslos aus, „so sind wir Alle betrogen! Annette – Mein Kopf, mein Kopf! – Was ist geschehen, daß dieses Bekenntniß – daß diese Stunde – –“ Er sah und hörte nicht mehr, es tanzte ihm vor den Augen. Er lehnte sich an den Tisch; „Annette,“ hob er wieder an, „warum – warum gaben Sie ihm Ihre Hand? Warum erfuhr ich es erst, als Alles zu spät war?“

Annette antwortete nicht, sie setzte sich langsam wieder nieder und saß aufrecht da, aber all ihr Blut schien sich entfärbt zu haben und ihr Busen flog. „O mein Schicksal!“ sagte sie endlich, und ihr Gefühl brach ihr über die Lippen, „so täuschte sie mich, so hat sie mich betrogen!“

„Wer hat Sie getäuscht?“ rief Karl mit überlauter Stimme. Sie sah voll Angst zu ihm auf, ihr Blick flehte ihn an, sich und sie nicht durch so laute Töne zu verrathen. „Ich habe Ihrer Tante geglaubt,“ flüsterte sie, „der Demoiselle Merling – sie sagte mir, daß Sie mit keinem Gedanken – daß Sie mich nur wie eine Schwester – –“ Die Zunge versagte ihr, und ein lautes Weinen drang ihr ans der Brust.

Karl stand in allen Gliedern erschüttert da, von dieser Entdeckung betroffen. Er ergriff endlich Annettens Hand, um ihr gemeinsames Schweigen wenigstens durch eine Bewegung zu unterbrechen; er drückte sie trostlos, ließ sie wieder fahren, und plötzlich bestürzt wich er einen Schritt zurück, als hätte er fremdes Eigenthum angerührt. Die widersprechendsten Gefühle, schaudernde Wonne und freudetrunkene Verzweiflung warfen sich auf sein Herz. „Annette!“ sagte er endlich mit zerschmelzender Stimme, „wie war es möglich? Wie konnten Sie so schnell an mir verzagen?“ Er beugte sich über sie, und der unendliche Schmerz, der um seine Lippen lag, drang ihr in die Augen.

„O meine Eltern!“ weinte sie, „– mein Vater – sie Alle drängten so sehr – und ich, in meiner Einsamkeit, in meinem Jammer – ich hoffte auch es zu überwinden, zu vergessen – aber niemals, niemals! – Niemals!“ wiederholte sie in trostlosem Schluchzen und warf sich in’s Sopha zurück, um dieses Bekenntniß und ihre aufglühende Scham in den Kissen zu begraben.

„Stehen Sie auf, Annette,“ sagte Karl erschüttert und suchte sich zu fassen. „Richten Sie sich auf, trocknen Sie Ihre Thränen; Wilhelm, Wilhelm wird kommen! So gilt es denn also, sich zu trennen, Annette, sich für immer zu trennen. Es ist ein trauriges Loos, – weinen Sie nicht, Annette! Wenn Ihre Thränen Sie verrathen, so ist’s auch um Wilhelm geschehen; lassen Sie ihn nicht erfahren, wie unglücklich wir sind wir und er. O mein Gott!“ Er horchte wieder, ob der Bruder noch nicht komme, aber Alles war still. Annette hatte sich aufgerichtet, die letzten Thränen flossen ihr noch über die Wangen. „Ich will Ihnen etwas geloben, Annette!“ fuhr er mit düsterem, melancholischem Lächeln fort, „aber ich weiß nicht, ob ich es halten werde. Ich will Sie nur wie meine Schwester lieben, – ich will’s versuchen. Vielleicht, daß es mit der Zeit gelingt, wenn man’s bei Zeiten beschließt! Geben Sie mir die Hand, Annette – meine theure Annette. Geben Sie mir Ihre schwesterliche Hand.“ Er hatte sich ihr mit ruhiger Miene, in stiller Wehmuth genähert; er fühlte die warme Hand, weich wie Sammet, in der seinen, ihr feuchter Blick voll elender, selbstvergessener Liebe flog zu ihm hinauf, – seine Sinne, seine Gedanken verwirrten sich. Mit einem bangen Seufzer zog er ihre Hand an seine Brust, zog sie selber nach, und wie Sterne, die unwiderstehlich zusammenfallen, lagen sie sich in den Armen.

Ein dumpfes Geräusch nahe der Thür, die zum Vorplatz führte, schreckte die Unglücklichen auf. Es klang wie ein Fall, doch mit schwachem, gedämpftem Ton. Annette flog zurück, ihre Lippen glühten, ihre Augen sagten mit einem Blick ihr ganzes Entsetzen über das, was sie gethan. Sie starrte Karl in’s Gesicht, und die Beiden standen sich in schrecklicher Verstörtheit gegenüber. „Annette!“ murmelte Karl fassungslos, legte sich die Hand vor die Stirn und horchte hinaus. Endlich, da es draußen still blieb, trat er an die Thür; „wer ist da?“ fragte er laut. Es kam keine Antwort Er faßte sich ein Herz, die Thür zu öffnen, indessen draußen auf dem Flur war nichts Lebendiges zu sehen. Er kam zurück; Annette, leichenblaß, fragte ihn mit den Augen. „Nichts,“ antwortete er und schüttelte den Kopf. „Ich glaubte da draußen etwas gehört zu haben, was - was in mir selbst war! – O Annette, wohin ist es mit uns gekommen! So sollte dieser Tag enden, an dem ich meine Ruhe wiederzufinden hoffte! – Fasse Dich, – nun ist ja Alles vorbei - Alles entschieden. Du wirst mich nicht wiedersehen, ich versuch’ es wieder draußen in der Welt, ein Vorwand wird sich ja finden. Sei stumm gegen ihn, Annette, laß ihm, – was er noch hat. Was hilft es, die Hände ringen, fasse Dich und vergieb mir!“

Er starrte sie mit Augen voll Verzweiflung an, es trieb ihn, vor ihr hinzustürzen, aber ein Rest von Besinnung hielt ihn zurück. Von der Thür her, die in die inneren Gemächer führte, [562] glaubte er Schritte herankommen zu hören, er winkte Annetten, deren Züge noch ihr ganzes Schicksal verriethen, und um sich selber zu fassen, trat er an’s Fenster und sah in die inzwischen dunkel gewordene Nacht hinaus.

Wilhelm öffnete die innere Thür; hinten ihm, im großen Saal, war es hell, die Kerzen brannten auf den Spiegeltischen, und rückwärts sah man noch in andere erleuchtete Räume hinein.

Er selber hielt in jeder Hand ein paar Flaschen zwischen den Fingern. Sein überaus blasses Gesicht flackerte von unruhiger Heiterkeit, und er blickte die Beiden an, wie wenn er sie eben über dem Gähnen ertappt hatte. „Es scheint, Ihr unterhaltet Euch schlecht,“ sagte er mit lauter, gesteigerter Stimme, „wahrscheinlich“ - indem er die Flasche hob – „weil es am Besten gefehlt hat? Aber jetzt zum Abendessen, zum Wein; ich habe im Clavierzimmer decken lassen, vielleicht läßt Karl nachher unser altes Spinett noch einmal arbeiten, ehe es abgedankt wird, und spielt uns ein paar von meinen alten Leibstücken. Kommt!“ sagte er, ohne sie weiter anzusehen, und ging voran, durch den hellen Saal auf das Clavierzimmer zu. Annette, in unbeschreiblicher Erregung, folgte ihm langsam, Karl schritt stumm hinterdrein. Drinnen war auf der kleinen Tafel Alles aufgetragen, was die ländliche Speisekammer nur irgend enthielt; die alte Wirthschafterin, die Mägde liefen ab und zu, es sah aus, als sollte ein großes Fest gefeiert werden. Nun stellte Wilhelm auch die Flaschen auf den Tisch, und in dem Augenblick rannen ein paar rothe Tropfen unter seinem Haar hervor und fielen auf die weiße Decke. „Was ist das?“ fragte Karl, indem er erschrocken näher trat, „Wein oder Blut?“

„Blut, Blut!“ erwiderte Wilhelm mit wilder Laune, indem er sein Taschentuch an die rechte Schläfe hielt; „Bruderblut, Karl! Ich habe einen kleinen Fall gethan – drunten im Keller. Ich wollte selber hinunter, weil ich die besten Sorten unter besonderem Verschluß habe, und auf den feuchten, schlüpferigen Stufen glitt ich aus –“

„So solltest Du Dich waschen,“ unterbrach ihn Karl, „und jedenfalls solltest Du mich nach der Wunde sehen lassen –“

„Nichts da! Nichts da!“ riefs Wilhelm mit gewaltsamem Lachen aus und trat einen Schritt zurück. „Eine ganz kindliche Schramme, weiter nichts. Das Beste ist, die paar rothen Tropfen sogleich wieder zu ersetzen.“ Und damit öffnete er eine der Flaschen, füllte die Gläser hastig mit dunklem Wein und goß das seine auf der Stelle hinunter. „Auf recht – glückliche Tage!“ setzte er hinzu und füllte sein Glas von Neuem, um mit Annetten und dem Bruder anzustoßen. „Auf fröhliche Nachbarschaft, Karl!“ Er trank aus, schenkte wieder ein, stürzte es hinunter und stellte dann das Glas mit einer so hastigen Bewegung auf den Tisch, daß es zerbrach. „Wer ist abergläubisch?“ sagte er und lachte und rief der eben hinausgehenden Dienerin nach, ihm ein anderes Glas zu bringen. „Iß und trink, Karl! Stärke Dich, Du siehst nicht gut aus, – die lange Reise steckt Dir in den Gliedern. Wir wollen Dich heute nicht lange festhalten; Ausschlafen thut Dir noth, aber auch Essen und Trinken!“ Er fuhr mit den Händen auf dem Tisch herum, um ihm Alles zu reichen, nöthigte ihm jede Speise auf, pries sie ihm an und stürzte unterdessen Glas aus Glas hinunter. Annette sah ihm in heimlichem Bangen zu.

Endlich, als die unerträgliche Tafelstunde vorüber war und die Mägde den Tisch wieder abgeräumt hatten, ging Wilhelm mit großen Schritten im Zimmer umher, versuchte zu singen, lachte selber laut darüber auf, ergriff dann auf einmal Karl, der bei der Berührung zusammenfuhr, am Arm, um ihn ohne Worte an das Spinett zu ziehen. Er schlug die großväterisch alten, vergilbten Noten auf, die Karl in ihrer Knabenzeit ihm so oft zu seiner Erbauung vorgespielt hatte, und drückte ihn auf den Sessel nieder. Es waren feierliche Kirchenmelodien, im alten Stil, auf das Spinett übertragen. Karl setzte sich hin, im Innersten aufgelöst, und mit unsicheren Händen fing er an zu spielen. Sowie er begonnen hatte, wandte Wilhelm sich ab und ging in den Saal hinaus. Annette hörte seine leisen, langsamen Schritte auf und nieder. Sie hatte sich an das Fenster gesetzt, wo üppig niederhängender Epheu sich mit ihren Locken mischte; sie sah in die Nacht hinaus und lauschte, sie blickte zu Karl hinüber, der ihre Augen vermied, ein unendliches Wehgefühl hob ihre Brust, und die bittersten Thränen flossen ihr über die Wangen.

So hatten sie sich eine Weile gegenüber gesessen, als Karl plötzlich mitten in einer Melodie, wie von einem Geist ergriffen, abbrach und in die Höhe fuhr. Er warf sich das verwilderte Haar aus der Stirn, legte sich die rechte Hand über die feuchten Augen, die andere auf’s Herz, er schien in fürchterlicher Bewegung zu sein. „Annette!“ sagte er mit halblauter Stimme, „leben Sie wohl!“ Ein letzter Blick begleitete diese Worte, der ihr durch die Seele ging; dann kehrte er sich ab und trat in den Saal hinaus. „Wilhelm!“ sagte er laut. Die Lichter waren ausgelöscht, aber in dem Halbdunkel erkannte er, daß der Raum leer war, daß sich der Bruder entfernt hatte. Er durchschritt den Saal, trat auf den Flur, rief seinen Namen, und da er nichts von ihm sah noch hörte, auch kein Anderer statt seiner kam, so stieg er die Treppe hinan, um, einer Ahnung folgend, ihn in seinem eigenen Zimmer aufzusuchen. Er kam an die Thür und glaubte drinnen Geräusch, glaubte halblaut gesprochene Worte zu hören. Mit zitternden Fingern klopfte er; Niemand rief „Herein!“ Nun versuchte er zu öffnen, aber die Thür war verschlossen. „Wilhelm!“ rief er; „Wilhelm!“ es kam keine Antwort. „Wilhelm!“ wiederholte er mit lauter, ängstlicher Stimme.

Nun endlich antwortete es von drinnen: „Was willst Du?“

„Ich bitte Dich, öffne mir!“ erwiderte Karl und pochte von Neuem. „Oeffne mir, Wilhelm, in des Himmels Namen!“ Auf diese Worte rührte es sich drinnen, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und indem Karl sogleich die Thür mit den Händen aufstieß, trat er hastig hinein.

Es war dasselbe Zimmer, in dem sie Beide als Knaben miteinander gehaust hatten; noch hing das Bild ihrer Mutter an derselben Stelle, an der es damals gehangen, noch standen dieselben alten, verschossenen Polsterstühle in den Winkeln umher. Auf einem von ihnen, neben der Thür, saß Wilhelm regungslos und sah den Bruder wie ein Abwesender an. Eine Pistole lag neben ihm auf dem Tisch in der Ecke. Er hatte ein Blatt Papier im Schooß, einen Stift in der Hand, als hätte er eben schreiben wollen. Diese Anstalten, dieser Anblick des Bruders und die Erinnerungen, die der Raum im ihm wachrief, erschütterten Karl vollends bis in’s Mark. Es flirrte ihm vor den Augen. Er lehnte sich gegen die Thür. „Was wolltest Du, Wilhelm?“ brachte er mit Mühe über die Lippen. „Was wolltest Du mit der Pistole dort? Treibt es Dich, auch zu sündigen, so wie ich an Dir gesündigt habe?“

„Was hättest Du an mir gesündigt?“ fragte Wilhelm, indem er des Bruders Augen vermied, und suchte ungläubig zu lächeln.

„Was ich an Dir gesündigt habe?“ erwiderte Karl und lehnte seinen Kopf gegen die Wand. „Ich liebe Deine Frau wie ein Wahnsinniger; ich hab’ es ihr gesagt, ich habe sie geküßt; – das ist es, Wilhelm, was ich Dir gethan habe. Um Dir das zu sagen, kam ich her; mit einer Lüge wollt’ ich nicht von Dir scheiden. Aber ich sehe nun, Du hast Alles gewußt. Du bist nicht auf den Kellerstufen gefallen, Wilhelm, sondern auf dem Flur an der Thür. Du bist dann heraufgegangen, um Dir das Leben zu nehmen. Auf diesem Blatt da hast Du uns sagen wollen, sinnloser Mensch, daß Du um unserer Schuld willen Dich in den Tod gestürzt hättest.“

Wilhelm erwiderte nichts und stierte mit ödem, verschlossenem Gesicht vor sich hin. Seine weiße Stirn röthete sich heftig, die Wunde unter seinem Haar fing wieder an zu fließen, und wie blutige Thränen rannen ihm die Tropfen langsam an der Wange herab. Karl, sowie er das sah, von einem Schauder geschüttelt, griff nach einem Schwamm, der nicht weit von ihm auf Wilhelm’s Waschtisch lag, tauchte ihn in Wasser und eilte auf den Bruder zu, um das Blut zu stillen. Er hob das Haar hinweg, eine kurze, schmale Wunde erschien, nur das wilde Pochen des Herzschlags schien die quellenden Tropfen hervorzutreiben. Er drückte das kühlende Wasser auf die heiße Stelle, wusch ihm das Blut von der Schläfe, von der Wange und füllte den Schwamm von Neuem, um den tröpfelnden Purpur aufzufangen. Wilhelm ließ Alles mit sich geschehen, ohne sich zu rühren.

„Warum hast Du Dich so gar nicht drum gekümmert?“ sagte Karl mit sanftem Vorwurf.

„Wozu auch!“ erwiderte Wilhelm und starrte noch immer in die leere Luft.

„Setze Dich!“ fing Karl nach einer Weile wieder an, „ich [563] glaube, Du zittert,“ und führte ihn an den alten Divan unter der Mutter Bild. „Ruhe Dich aus!“ Wilhelm setzte sich still. Bruder! Bruder!“ rief Karl endlich mit dem hervorbrechenden Ton der bittersten Verzweifelung, „wie soll das enden? Was soll aus uns werden, wenn wir so auseinandergehen? Wenn ich – wenn ich unser Aller Leben zerstört habe? – Wilhelm, Wilhelm, – ich kann nicht ohne Dich leben! Und nun soll ich von dannen gehen wie ein Missethäter, um mir ewig zu sagen, daß ich dem theuersten, geliebtesten Menschen das Herz gebrochen! Und ich soll Dich verlassen – Dich verlassen! Wilhelm, ich kann’s nicht!“

Er hatte die beiden Hände seines Bruders ergriffen; mit einem Blick voll trostloser, unendlicher Liebe sah er ihn an, und ohne Thränen in den Augen fing er an wie ein Kind zu schluchzen. Wilhelm sprang auf und stürzte ihm an die Brust. „Karl, liebst Du mich noch?“ rief er außer sich; „liebst Du mich wirklich? O mein Bruder, mein Bruder!“ Er umschlang ihn, als dürft’ er ihn nie wieder aus den Armen lassen, er küßte ihn auf die Wangen, auf die Lippen, er streichelte ihn, vor Glückseligkeit seufzend, und umschlang ihn von Neuem. „O Karl, Karl, was denkst Du! Du ein Missethäter? Du hättest die Schuld? Während ich Dir Dein Glück gestohlen habe – Dir und ihr und nie, nie mehr ruhig werden kann! Und doch liebst Du mich noch!“ Er sah ihm mit nassen, aber strahlenden Augen so nah in’s Gesicht, daß sie sich fast berührten, küßte ihn wieder und gab ihm die liebkosendsten Namen. „Ich weiß Alles, Karl“ flüsterte er an ihn hin. „Ja, ich habe gehorcht. Es ließ mir erbärmlichem Menschen keine Ruhe. Ich weiß, daß Tante Merling – O Karl, dieses Weib! Und in ihre Hände hatt’ ich meine Sache gegeben! Und als Du nun die alten Lieder spieltest, – da hielt ich es nicht mehr aus. Ich meinte, Du müßtest mich hassen – ich wollte Dich nicht wieder sehen ich dachte mir: wenn Du nur todt wärst und sie Beide weinten über Deiner Leiche und könnten sich dann befreit in die Arme sinken und Dich begraben, vergessen! – Aber sei ruhig, Karl; daran denk’ ich nicht mehr! Du hast mich noch lieb, und nichts, nichts ist verloren! Wenn Du mir nur vergiebst – In diesem Zimmer hier, weißt Du noch? haben wir uns als Knaben ewige Liebe geschworen; hier sind wir groß geworden, Karl – und haben Altes getheilt – und uns nie getrennt, als dieses eine Mal nach der unseligen Hochzeit – und Du hast Recht, wir können uns nicht verlassen.“

„O Bruder,“ sagte Karl mit dumpfer Stimme, „was sollen wir thun?“

„Ich will es Dir sagen, Karl,“ erwiderte Wilhelm und legte ihm die Hand auf die Schulter, „mir ist ganz klar, was wir thun sollen! Weißt Du noch, wie wir damals bei der alten Merling das Gespräch über die Ehe hatten und was Du Alles gesagt hast? und wie Du den Fall erzähltest von dem unglücklichen Menschen, der ein Mädchen heirathete, das einen Andern liebte? Da fragtest Du noch Annette, was sie in solchem Fall für das Rechte hielte und ob es besser wäre, drei Menschenherzen durch die Regel zu brechen, als durch die Ausnahme zu retten? Weißt Du das noch? Und wie drauf Annette antwortete, daß der Mensch dazu da sei, alle Schickungen Gottes mit Ergebung zu tragen? Aber was heißt das, Karl? Sagt man das nicht so oft, nur um sich vor einem neuen, schweren Entschluß zu retten? Und, wie Du ihr damals mit Recht zur Antwort gabst: ,Wenn wir eine Thorheit begangen haben, muß denn das immer Gottes Wille sein?’ O Karl, wie ein rechter Knabe bin ich in dieses Unglück hineingerannt; ich hatte keinen, keinen Begriff davon, was es heißt, einen Bund für’s ganze Leben zu schließen! Aber Gott sei Dank, noch ist ja nicht Alles verspielt; noch kann ich ein Mann werden, und noch kann ich es gut machen!“

Er sagte das, während ihm die Lippen vor Bewegung bebten, ließ, mit einem Blick voll der innigsten Liebe, Karl’s Schulter los und trat einen Schritt zurück. „Was wolltest Du thun?“ fragte Karl ihn gerührt und folgte ihm mit den Augen. Wilhelm trat an den Schreibtisch. „Du bist so viel klüger als ich,“ antwortete er in Thränen lächelnd, „aber das siehst Du nicht ein!“ Und indem er sich in seiner hastigen Weise setzte und nach der Feder griff: „Lieber Karl, willst Du nicht so gut sein und mir das Blatt Papier da herüberreichen?“

„Was soll das?“ stammelte Karl und gab es ihm hin.

„Laß mich, laß mich nur!“ erwiderte Wilhelm und begann schon in seiner gleichmäßigen, großen Handschrift zu schreiben. „Ich bin nicht eher ruhig, als bis es gethan ist! War ich damals so rasch, warum soll ich heute nicht noch rascher sein!“

„Allmächtiger Gott!“ rief Karl aus und trat an ihn heran, „errathe ich, was Du willst? Wilhelm, bist Du von Sinnen?“ Und er beugte sich über das Blatt und las den Anfang, und nahm dem Bruder die Feder aus der Hand. „Du bist außer Dir!“ sagte er. „Du willst Dich wieder übereilen wie damals; Du willst ebenso unbedacht lösen, wie Du geknüpft hast.“

Wilhelm stand auf und schüttelte den Kopf. „O nein, glaube das nicht. Ich bitte Dich“ und er ergriff seine Hand – „beirre mich nicht; rede mir nicht ein! Ich weiß, daß ich das nicht für Annette fühle, was Du für sie fühlst. Ich kann ohne sie leben – Du nicht. Dein Herz – Dein Herz, Karl, ist viel größer als meines; in meinem flackert es mehr – Deins verzehrt sich. Ich hab’s ja vorhin da drunten angehört, wie Du fühlst, wie Du bist. Sage kein Wort mehr! Ich liebe keinen Menschen auf der Welt so sehr, wie Dich, und ich will Alles verlieren, wenn ich Dich behalte.“

Karl erwiderte nichts, er warf sich dem Bruder an die Brust und hielt ihn lange umschlungen. Ihre überfüllten Herzen schlugen in der heftigsten Bewegung gegen einander. „Geh’ nun, laß mich allein!“ stieß Wilhelm endlich hervor. „Geh’ heim lege Dich schlafen! Und wenn Du nicht willst, daß ich wieder zu jener – Pistole greifen soll, so widersprich mir nicht mehr, so laß mich thun, was ich Dir schuldig bin, was ich mit Seligkeit thue, um Dir und ihr und mir das Leben zu retten.“

„O Bruder!“ stammelte Karl, küßte ihn auf den Mund und wankte zur Thür. Wilhelm geleitete ihn, einen Arm um seinen Leib geschlungen, und führte ihn hinaus’. Dann trennten sie sich mit herzlichem Gutenacht. Eine Weile hörte Wilhelm noch die verhallenden Schritte; als es endlich ganz stille war, kehrte er in sein Gemach zurück, mit zufriedenem Antlitz, mit einem unbeschreiblichen Feuer in den Augen, und setzte sich wieder auf seinen Platz und schrieb. Die Wanduhr hinter ihm schlug Mitternacht, als er die letzte Zeile vollendet hatte und sich erhob. Er ging eine Weile ruhelos im Zimmer umher; endlich trieb es ihn hinaus, er öffnete die Seitenthür, die in die anstoßenden Gemächer führte, er schritt durch das erste hindurch und stand im zweiten, in seinem und Annettens Schlafgemach, vor dem Bett seiner Frau.

Annettens Licht brannte noch; sie lag in dein großen Himmelbett, bei offener Gardine, den Kopf auf den Arm gestützt, und starrte ihm mit wachen Augen entgegen. „Du schläfst noch nicht?“ sagte er sanft und setzte sich neben sie auf das weiße Linnen. Sie schüttelte bang den Kopf. „Annette!“ fuhr er fort, „willst Du mir verzeihen, daß ich Dich unglücklich gemacht habe? So wahr ich lebe, Annette, ich habe es nicht gewollt. Sieh’ mich nicht so verwundert an; ich weiß, wie es steht. Ihr liebt Euch, Gott hat Euch für einander geschaffen; willst Du mir nun die Liebe thun, Annette, und mir mein Wort wieder zurückgeben? Ich muß Dir bekennen,“ und er blickte mit wehmüthig scherzenden Augen in die ihren – „ich habe nicht mehr Herz genug für Dich, um Dein Gatte zu sein; nur noch Herz genug für einen Bruder, und der könnte ich Dir ja werden. Es hat sich diesmal Alles so seltsam gefügt, Annette; Du glaubtest, Karl habe Brudergefühle für Dich, ich glaubte, ich müßte Dich um jeden Preis zur Frau haben – und umgekehrt wäre Alles in Ordnung gewesen! Ich bitte, unterbrich mich nicht; laß mich ausreden, schweige noch ein wenig. Da drinnen in meinem Zimmer, Annette, liegt meine Bitte an den Landesherrn und Landesbischof um Dispens, um Lösung unserer Ehe. Wir haben zwar keinen andern Grund, uns zu trennen, als daß wir Drei uns zu lieb haben, um uns zu Grunde zu richten, und die Welt erkennt ja eigentlich dergleichen Gründe nicht an, aber ich glaube, Annette, sie werden da oben in der Residenz gnädig gegen uns sein! Wenn Du mir einwilligst, – ich habe schon Mittel, unsere Sache zu betreiben. Ich fahre dann selber hin, mein Papier in der Tasche, um mit Allem, was helfen kann, für uns zu wirken. Und wenn sie dann endlich in ihrer Weisheit begreifen, daß es gut ist, uns von einander zu trennen und wenn Du dann frei bist, meine arme Annette, die Du so geduldig und so unaussprechlich viel gelitten hast – und wenn Ihr mir dann auch das Letzte noch zu Liebe thut, was ich von Euch verlange, und meine unglückselige Thorheit wieder gut macht [564] und an demselben Altare Euch verbindet, wo wir Beide damals uns so grausam versprachen –“ Er schwieg, seine Erinnerungen an jenen Tag überfielen ihn mit aller Gewalt, und seine Augen schlossen sich mit schmerzlichem Zittern.

„Wilhelm,“ sagte Annette und faßte seine Hand, „was sprichst Du nur Alles, was ist Dir?“

Sie hatte sich völlig aufgerichtet und sah ihn großäugig und erröthend an.

„Ich habe Dir gelobt, Dich glücklich zu machen,“ erwiderte er, indem er die Augen wieder voll Empfindung aufschlug, „und das will ich nun halten. Und was die Welt auch dazu sagen mag, Annette, – wir Drei wissen ja, daß es sein muß, und das ist uns genug. Wie wir dann dereinst mit einander leben wollen, Annette! Du und er, und ich hier Euer Nachbar, Euer Bruder! Wie die Welt uns dann beneiden soll! – Ich bin sehr glücklich, sehr zufrieden, Annette. Es thut noch ein wenig weh, – aber das würzt mir meine Freude, das macht sie mir wunderbar süß. Hier hast Du meine Hand, Schwester: ich gelobe Dir meine brüderliche Liebe. Gute Nacht! – Dieses Zimmer betrete ich nun nicht mehr!“ setzte er mit sanftem Lächeln hinzu und stand auf. „Gute Nacht, meine Schwester!“

Er hob ihre kleine Hand an seine Lippen und küßte sie, Annette aber, in fassungsloser Rührung, ergriff die seine, zog sie an ihre Brust und bedeckte sie mit ihren Küssen und Thränen.

„Genug, genug!“ sagte er verwirrt und zog sie zurück. „Es war ein wunderliches Schicksal, Annette! Es war“ – und er lächelte sie wieder an – „es war eine recht acute Ehe; die zweite, liebe Annette, soll desto chronischer werden! – Gute Nacht; fasse Dich bis morgen! Ich werde da drinnen auf meinem Divan noch ein wenig ruhen; in aller Frühe geht’s fort. Du weißt, ich muß Alles geschwind, Alles eifrig betreiben; diesmal, denk’ ich, wird der Himmel es segnen.“

Er machte sich von ihr los, da sie seine Hand von Neuem in der ihren hielt, und ging eilig hinaus. Annette sah ihm nach, und ihre Thränen flossen von tausendfachen Gefühlen.




Wie lange nach dieser ereignißvollen Nacht – zu großem Erstaunen der Welt – die öffentliche Trennung der Vermählten erfolgte, weiß ich nicht zu sagen, nur, daß sie wirklich erfolgte. Was ich hier erzählt habe, ist eine wahre Geschichte; ohne Zweifel nicht in jeder Einzelheit getreu, in allem Wesentlichen aber wirklich erlebt. Annette und Karl schlossen nach einiger Zeit ihre neue Ehe; indessen, wie man sagt, nicht eher, als bis sie Wilhelm in jedem Sinne getröstet sahen und er eine andere Lebensgefährtin gefunden hatte, die er gefahrlos und mit ruhigem Herzen lieben konnte. Seit dieser Zeit kehrte die ganze Ruhe und Glückseligkeit ihres brüderlichen Beisammenlebens zurück, und in der Gegend, in der ihre nachbarlichen Güter lagen, ist es noch heute nicht vergessen. Es mag unnütz sein, zu erwähnen, daß Demoiselle Merling auf den neuen Hochzeiten nicht zugegen war und daß sich Annette zwar nach einiger Zeit, Wilhelm aber nie wieder mit ihr versöhnte. Der Ehe Karl’s und Annettens aber entsprang eine Reihe blühender Nachkommen, die fast alle noch leben und gedeihen und die sich des Glücks und der unerschöpflichen Liebe ihrer Eltern erinnern.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine