Die Blinde (Rilke)
Du bist nicht bang, davon zu sprechen?
Die Blinde:
Nein.
Die damals sah, die laut und schauend lebte,
die starb.
Der Fremde:
Und hatte einen schweren Tod?
Sterben ist Grausamkeit an Ahnungslosen.
Stark muß man sein, sogar wenn fremdes stirbt.
Der Fremde:
Sie war Dir fremd?
– Oder: sie ist’s geworden.
Der Tod entfremdet selbst dem Kind die Mutter. –
Doch es war schrecklich in den ersten Tagen.
Am ganzen Leibe war ich wund. Die Welt,
war mit den Wurzeln aus mir ausgerissen,
mit meinem Herzen (schien mir) und ich lag
wie aufgewühlte Erde offen da und trank
den kalten Regen meiner Thränen,
und leise strömte wie aus leeren Himmeln,
wenn Gott gestorben ist, die Wolken fallen.
Und mein Gehör war groß und allem offen.
die Stille, die in zarten Gläsern klang, –
und fühlte: nah bei meinen Händen ging
der Athem einer großen weißen Rose.
Und immer wieder dacht ich: Nacht und: Nacht
der wachsen würde wie ein Tag;
und glaubte auf den Morgen zuzugehn,
der längst in meinen Händen lag.
Die Mutter weckt ich, wenn der Schlaf mir schwer
der Mutter rief ich: „Du, komm her!
Mach Licht!“
Und horchte. Lange, lange blieb es still,
und meine Kissen fühlte ich versteinen, –
das war der Mutter wehes Weinen,
an das ich nicht mehr denken will.
Mach Licht! Mach Licht! Ich schrie es oft im Traum:
Der Raum ist eingefallen. Nimm den Raum
Du mußt ihn heben, hochheben,
mußt ihn wieder den Sternen geben;
ich kann nicht leben so, mit dem Himmel auf mir.
Aber sprech ich zu dir, Mutter?
Wer ist denn hinter dem Vorhang? – Winter?
Oder: Tag? … Tag!
Ohne mich! Wie kann es denn ohne mich Tag sein?
Fragt denn niemand nach mir?
Sind wir denn ganz vergessen?
Wir? … Aber du bist ja dort;
du hast ja noch alles, nicht?
ihm wohlzuthun.
Wenn deine Augen ruhn
und wenn sie noch so müd waren,
sie können wieder steigen.
Meine Blumen werden die Farbe verlieren.
Meine Spiegel werden zufrieren.
In meinen Büchern werden die Zeilen verwachsen.
Meine Vögel werden in den Gassen
Nichts ist mehr mit mir verbunden.
Ich bin von allem verlassen. –
Ich bin eine Insel.
Der Fremde:
Die Blinde:
Wie? Auf die Insel? … Hergekommen?
Der Fremde:
Ich bin noch im Kahne.
an Dich. Er ist bewegt:
seine Fahne weht landein.
Die Blinde:
Ich bin eine Insel und allein.
Zuerst, als die alten Wege noch waren
in meinen Nerven, ausgefahren
von vielem Gebrauch:
da litt ich auch.
ich wußte erst nicht wohin;
aber dann fand ich sie alle dort,
alle Gefühle, das, was ich bin,
stand versammelt und drängte und schrie
Alle meine verführten Gefühle …
Ich weiß nicht, ob sie Jahre so standen,
aber ich weiß von den Wochen,
da sie alle zurückkamen gebrochen
Dann wuchs der Weg zu den Augen zu.
Ich weiß ihn nicht mehr.
Jetzt geht alles in mir umher,
sicher und sorglos; wie Genesende
durch meines Leibes dunkles Haus.
Einige sind Lesende
aber die Jungen
Denn wo sie hintreten an meinen Rand
ist mein Gewand von Glas.
Meine Stirne sieht, meine Hand las
Gedichte in anderen Händen.
meine Stimme nimmt jeder Vogel mit
aus den täglichen Wänden.
Ich muß nichts mehr entbehren jetzt,
alle Farben sind übersetzt
Und sie klingen unendlich schön
als Töne.
Was soll mir ein Buch?
In den Bäumen blättert der Wind;
und wiederhole sie manchmal leis.
Und der Tod, der Augen wie Blumen bricht,
findet meine Augen nicht …
Der Fremde leise: