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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Die Anmaßung des sogenannten „natürlichen Verstandes“ oder des „gesunden Menschen­verstandes“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 372–374
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Belehrung, wissenschaftliche Urteile Fachleuten zu überlassen
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[372]
Die Anmaßung
des sogenannten „natürlichen Verstandes“ oder des „gesunden Menschenverstandes“.


„Das sagt mir mein natürlicher Verstand!“ hört man unendlich oft behaupten und in der Regel von Personen, die sich sehr klug dünken und meinen, daß, weil sie über die gewöhnlichen Ereignisse des täglichen Lebens, besonders über Geld- und Geschäftsangelegenheiten, besser als viele Dummköpfe zu urtheilen verstehen, ihnen auch ein Urtheil in Fällen zustände, welche außer dem Bereiche ihres Hauses und Comptoirs, ihrer Schreibstube oder Werkstatt liegen. Besonders gern stellen obige Behauptung Frauen auf, welche, weil sie in der einen oder andern Richtung Anerkennenswerthes leisten, nun glauben, daß sie auch in Dingen miturtheilen können, zu deren bloßem Verständniß ihnen das ABC abgeht. Bei den allermeisten dieser sich selbst überschätzenden Klugen, welche sich, weil sie nicht gerade auf den Kopf gefallen sind, mit ihrem sogenannten natürlichen, für ihren Wirkungskreis hinreichenden praktischen Verstande brüsten, ist dieser Verstand aber meistens „Unverstand“, der sich ganz ungenirt an die Beurtheilung von Vorkommnissen wagt, bei denen eine genaue Kenntniß von bestimmten Thatsachen und Gesetzen (vorzugsweise von Naturgesetzen) ganz unerläßlich ist, die ihnen abgeht und über die sie wegen unzureichenden Wissens gar nicht zu denken vermögen. So ist es zum Beispiel grenzenlos anmaßend, wenn Leute, was so oft geschieht, nur mit ihrem sogenannten natürlichen Verstande über Kindererziehung und Schulangelegenheiten, über Phrenologie, thierischen Magnetismus, Spiritismus, Heilkunst, Materialismus, Darwinismus u. s. f. zu urtheilen sich unterstehen, da dies ohne bestimmtes und gründliches Wissen doch gar nicht möglich ist. Daß ihnen ihr natürlicher, für Begriffe der gemeinen Erkenntniß zulangender Verstand sagte: „Hiervon verstehe ich nichts, und darum will ich lieber schweigen und mich von Sachverständigen belehren lassen“ – ja, das kommt fast gar nicht vor. Viele sind wirklich der Ansicht: Wem Gott ein Amt giebt, Dem giebt er auch Verstand; dieser ist aber meistens auch darnach. Deshalb hört man denn so oft den neunmalklugen Gevatter Schuster, Schneider und Handschuhmacher – womit übrigens alle Sachunverständigen bezeichnet werden sollen, die sich als Sachverständige dünken und in Dinge hineinreden, die sie nicht verstehen, mögen es nun Professoren oder Doctoren, Räthe oder wirkliche Schuster sein – nicht nur im gewöhnlichen Leben, sondern auch in Versammlungen, Collegien, Parlamenten etc., sowie in Schriften, ganz unverständige Urtheile und haarsträubenden Unsinn zu Tage fördern.

Verstand bringt der Mensch nicht mit auf die Welt, nur die Anlage dazu und diese von verschiedener Güte. Der Verstand wird erst in den geborenen Menschen ganz allmählich hineinerzogen, leider zur Zeit aber nicht in der Weise und in dem Grade, wie es sein könnte und sein sollte. Die Möglichkeit, verständig werden zu können, hängt nun aber davon ab, daß der Mensch einen Apparat besitzt, dessen Arbeit der Verstand ist, und der mehr oder weniger gut arbeiten lernen kann, je nachdem er mehr oder weniger vollkommen construirt (beanlagt) ist und in seinem Baue und seiner Ernährung naturgemäß erhalten wird. Dieser Verstandesapparat ist das Gehirn (in der Schädelhöhle des Kopfes) mit den Sinnesorganen, den Zubringern der Verstandesspeise. Die Verstandesarbeit, deren Zustandekommen uns zur Zeit noch ganz unaufgeklärt ist, kann nun aber das Gehirn nicht etwa ohne Weiteres so ganz von selbst verrichten, sondern es muß dieselbe, wenn sie etwas werth sein soll, erst und zwar nach bestimmten Regeln (durch Gewöhnung, Erziehung) erlernen, geradeso wie die Beine das Tanzen und die Finger das Clavierspiel. Zur Erlernung des Verstandes sind aber die Eindrücke, welche durch die Sinne, besonders durch Auge und Ohr, von der Außenwelt her in das Gehirn eingeführt werden, ganz unentbehrlich, und man sagt deshalb auch: „Durch der Sinne Pforten zieht der Geist (Verstand) in unseren Körper (Gehirn) ein.“ Wir können nichts wissen, noch erfahren als Das, was uns zuvor sinnlich (objectiv) erschienen ist, und aus diesen Erscheinungen leiten wir erst (subjectiv) Verstandesbegriffe ab; deshalb müssen sich alle unsere Vernunftschlüsse auch auf Thatsachen (objective Erkenntniß) stützen. Die einzige Wahrheit ist die empirische, durch die Sinne erworbene und auf Thatsachen beruhende.

Ebenso unentbehrlich wie die Sinneseindrücke ist aber auch eine regelrechte Anleitung zur richtigen Verarbeitung und Benutzung dieser Sinneseindrücke, um innerhalb des Gehirns der Verstandesbildung dienen zu können. Die Fähigkeit, richtig zu denken, muß mit vieler Mühe und vermittelst vieler Kenntnisse erlernt werden, denn der Verstand besteht aus Erlerntem und Begriffenem und es kann Niemand über sein Wissen hinaus urtheilen. Eine richtige Anleitung zur Verstandesbildung kann nun aber blos von Sachverständigen gegeben werden und sie muß sich natürlich mit den Fortschritten im Wissen und Können der Menschheit fort und fort ändern, bessern und mehren. So wird dann alles Verständige durch Schrift, Wort und That von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt. Die Menschheit wird aber dadurch immer klüger, daß die Nachkommen auf den Errungenschaften ihrer Vorfahren fortbauen. Dem Fortschritt fällt dann die Aufgabe zu, in neuen Jahrhunderten die Dummheit der früheren zu beseitigen.

Leider werden, wie früher so auch jetzt noch, von verschiedenen Seiten her die zeitgemäßen Fortschritte in der Verstandescultur aufgehalten und dem Menschengehirne systematisch eine falsche Anleitung zum Arbeiten in Verstandesangelegenheiten aufgezwungen, so aber der Aufklärung mächtige Hindernisse in den Weg gelegt. Dies beweist recht deutlich der auffallend große Mangel an naturwissenschaftlicher Bildung, an Urtheilsfähigkeit und sittlicher Grundlage im jetzigen Volke, während den Menschenverstand entwürdigender Aberglaube und Unverstand, sowie Selbst- und Genußsucht in voller Blüthe stehen. Würde in den Schulen (und zwar ebenso in den Seminaren und Gymnasien, wie in den Real- und Volksschulen) weniger Gedächtniß- und philosophischer Wortkram getrieben, und dafür das Denken mit Hülfe von Naturgegenständen zeitgemäß gelehrt, dann sähe es sicherlich besser um den Menschenverstand und die Menschenwürde aus. Denn um Urtheile fällen und die Stellung des Menschen in der Natur begreifen zu können, müssen wir über die Natur genau unterrichtet sein und es dürfen uns, dem alten unantastbaren Herkommen zu Liebe und um eine mißliebige Aufklärung zu verhindern, nicht schon in der Jugend die Naturgesetze falsch eingeimpft oder deren Kenntniß ganz vorenthalten werden.

Daß der Verstand eine dem Gehirn mehr oder weniger gut angelernte Arbeit ist, muß Jedem klar werden, der die verschiedenartige Erziehung der Kinder und deren Resultate beobachtet. Was aber aus einem Kinde wird, welches von Geburt an der menschlichen Erziehung entzogen ist, hat Caspar Hauser bewiesen. Es beweisen dies ferner Fälle, wo Kinder unter Thieren aufwuchsen und sich deren Manieren angewöhnten. Solche verwilderte Individuen oder Thiermenschen konnten nicht sprechen, unterschieden nicht Recht und Unrecht, und von Vernunft war keine Spur vorhanden; an körperlicher Gewandtheit übertrafen sie aber die meisten Thiere. So holte das wilde Mädchen, welches 1730 in der Champagne gefangen wurde, selbst nachdem sie ein Jahr in einem Kloster zugebracht, einen Hasen auf freiem Felde ein und sog ihm das Blut aus. Der wilde Knabe, welcher 1847 in Ostindien in Gesellschaft von Wölfen gefangen wurde, verweigerte Kleidung und gekochte Nahrung, nahm nur rohes Fleisch, heulte und biß um sich, lächelte und lachte nie, lief auf Händen und Füßen.

Wie fest die Eindrücke, welche in der frühen Jugend auf den Menschen einwirken, für’s ganze Leben im Gehirne haften bleiben, zeigen recht deutlich die Anhänger der verschiedenen Religionssecten (deren es über tausend giebt), von denen fast ein jeder nur deshalb der festen Ansicht ist, daß sein Glaube der richtigste und von natürlichem Verstande eingegeben sei, weil er ihn von Jugend auf dafür anzusehen gelernt hat und nun fest überzeugt ist, er habe ihn mit auf die Welt gebracht. Und wie geduldig sich die Menschheit von Jugend auf zu Allem abrichten läßt, davon hat man Beweise darin, daß der Glaube Menschen dazu dressirt hat, sich unter einander zu hassen und [373] zu tödten. – Alle diese Beispiele sollen nun aber dazu dienen, den Beweis zu führen, daß der Verstand nicht mit auf die Welt kommt, sondern eine Arbeit des Gehirns ist, welche erlernt werden muß und nur nach vorheriger richtiger (das heißt dem jedesmaligen Standpunkte des Wissens angepaßter) Belehrung auch richtig vor sich gehen kann. Würden z. B. die sogenannten Spiritisten oder Geisterklopfer in der Schule gelernt haben, oder würden sie sich noch in ihren alten Tagen darüber belehren lassen, daß es eine Kraft ohne Stoff gar nicht giebt, am allerwenigsten aber eine geistige Kraft, einen Geist, der in ein Tischbein oder in einen Storchschnabel hineinfahren und daraus hervororakeln kann, so würden sie sich von schlauen Medien nicht an der Nase herumführen lassen und sich bei wirklich gebildeten Menschen nicht so lächerlich machen. Würde, wie sich gehörte, in den Schulen Anthropologie und Gesundheitslehre ordentlich getrieben, dann würden sich Kranke nicht an Afterärzte und Geheimmittelschwindler wenden, welche wohl etwas von der schamlosesten Reclame und Geldschneiderei, aber nichts vom menschlichen Körper verstehen.

Der Verstand selbst als Hirnarbeit kann sich nun zwar nicht, wie die sicht- und greifbaren Producte des Verstandes, vererben, wohl kann dies aber der durch vieles und richtiges Denken besser gewordene Verstandesapparat, nachdem das Gehirn sich seinen mit kräftigerer Ernährung verbundenen Arbeiten angepaßt und dadurch an Masse und Kraft zugenommen hat. Daher kommt es denn auch, daß mit vorschreitender Cultur des Menschengeschlechts das Gehirn und mit diesem der Schädel der Menschen immer größer (zumal in der vordern Kopfgegend) geworden ist und daß, wenn bis jetzt der Schädel der Frau kleiner als der des Mannes geblieben ist, dies eben darin liegt, daß schon in der Vorzeit der Mann der Hausfrau und Mutter die geistige Arbeit abnahm und so deren Gehirn weniger arbeiten ließ. Sicher aber werden in Zukunft die Frauen, wenn sie noch mehr als jetzt geistig thätig sind, sich nach und nach eines größeren Gehirnes und also auch eines größeren Schädels erfreuen und diese auf ihre Töchter vererben.

Die Egoisten des natürlichen Verstandes, welche mit der größten Arroganz und Ignoranz über ihnen ganz fremde Gegenstände zu raisonniren und von Unwissenheit strotzende Meinungen aufzustellen sich erlauben, denken und urtheilen nur mit ihrer regellosen Einbildungskraft und ihrem Glauben, statt mit dem auf Realität und Wissen sich stützenden Verstande. Sie meinen, das Wissen fliege ihnen nur so geradezu in den Kopf hinein und dieses brauche nur auf Glaubens- und nicht, wie es doch sein muß, auf Erfahrungsgrundsätzen zu beruhen. Sie mögen sich hiermit gesagt sein lassen, daß ohne hinlängliche naturwissenschaftliche Kenntnisse, besonders ohne Vertrautheit mit dem menschlichen Körper, der Verstand keines richtigen Urtheils, weder über sein eigenes Selbst, noch über seine Verhältnisse zu der Natur und seinen Mitmenschen, fähig ist. Es kann zwar der sogenannte natürliche Verstand noch durch Belehrung mit vielen Begriffen bereichert werden, allein Urtheilskraft kann niemals gelehrt, sie kann nur durch Uebung gewonnen werden.

Am widerwärtigsten sind die Urtheile, welche die Gevattersleute über Spiritismus und Materialismus, sowie über Darwinismus, trotz ihrer positiven Wissensleere, nur mit Hülfe ihres in früher Jugend schon eingeimpften Aberglaubens und ihres angeblich gesunden Menschenverstandes fällen. Sie mögen sich merken, daß über Materialismus nur Der mitreden darf, welcher mit Bau, Leben und Leiden des Gehirns, und zwar ebenso des thierischen wie menschlichen, genau vertraut ist. Auch der philosophischste Kopf darf ohne diese Kenntniß des Gehirns nicht mitreden, denn mit diesem Organe steht alle geistige (spirite) Thätigkeit im innigen Zusammenhange. Und wenn die Wissenschaft zur Zeit auch noch nicht die Art und Weise kennt, wie diese Hirnthätigkeit zu Stande kommt, so steht doch so viel fest, daß ohne richtig gebautes und richtig chemisch zusammengesetztes Gehirn alle geistige Kraft eine Unmöglichkeit ist. Der Materialist – den die unwissende Menge, weil er „gar nichts glaubt und nur zu wissen sich bestrebt“ und weil er alle kirchlichen Glaubenssatzungen nicht anerkennt, für ein zu jeder Schandthat bereites Subject hält, dessen Denken und Thun nur auf materielle Genüsse gerichtet sei, – behauptet nun, daß nach den von Ewigkeit an herrschenden und unveränderlichen Naturgesetzen mit dem Untergange der Materie des Gehirns (daher Materialismus) auch dessen geistige Kraft (der Geist, Spiritus) aufhören muß. Für ihn existirt also eine persönliche Fortdauer, sowie ein Jenseits mit Himmel und Hölle nicht. Für ihn schließt darum das Diesseits schon das Jenseits ein und sein Streben ist deshalb darauf gerichtet, sich schon hier auf der Erde seinen Himmel zu bereiten. Dies hält er aber nur dann für möglich, wenn er sich durch das Princip der Humanität und sein Ehrgefühl in allen seinen Handlungen leiten laßt. Für den Materialisten giebt es daher nur eine Verpflichtung und zwar die, der menschlichen Gesellschaft nützlich zu sein, ihr Wohl sich noch mehr als sein eigenes angelegen sein zu lassen, da er, als der Einzelne, ihr natürlich mehr zu verdanken hat, als sie ihm. Für ihn giebt es keine andere Sünde, als die Verletzung des Eigenthums, der Ehre, der Freiheit und des Friedens seiner Mitmenschen, überhaupt Alles dessen, wobei der Menschen Wohl betheiligt ist. So denkt und thut der echte, d. h. der wissenschaftliche Materialist und ein solcher dürfte, da seine Moral durch Belohnung und Bestrafung im Jenseits nicht beeinflußt wird, einem guten Christen nicht nachstehen. Mit Häckel müssen wir den Wunsch aussprechen, „daß unsere sogenannten ‚gebildeten Kreise‘ endlich einmal aufhören mögen, sich durch die Zweideutigkeit dieses Stichwortes (‚Materialismus‘) täuschen und irre führen zu lassen. Es ist doch wahrlich nicht schwer, bei einem unbefangenen Blicke in Leben und Geschichte gewahr zu werden, daß der gewiß ganz verwerfliche ‚ethische oder sittliche Materialismus‘ ganz und gar nichts mit dem von den echten Materialisten vertretenen ‚wissenschaftlichen oder naturphilosophischen Materialismus‘ zu thun hat. Im Gegentheil schließen sich Beide gewöhnlich geradezu aus. Die praktisch-materialistischen Tendenzen, das hastige Streben nach materiellen Glücksgütern und raffinirtem Lebensgenuß, und die daraus folgende sittliche Entartung findet sich gerade in denjenigen Kreisen der Gesellschaft am stärksten entwickelt, welche am breitesten ihre religiöse Frömmigkeit zur Schau tragen und welche dagegen von der Natur und ihrem Wesen nichts wissen, sich also auch keine philosophisch-materialistischen Gedanken darüber machen können. Umgekehrt findet sich dieser ethische Materialismus gerade am wenigsten bei den materialistischen Philosophen ausgebildet. Wenn diese wirklich materiellen Vortheilen und Genüssen nachjagten, könnten sie wahrlich etwas Zweckmäßigeres und Vortheilhafteres thun, als ihre innersten Ueberzeugungen ehrlich auszusprechen und ihre sociale Stellung denselben zum Opfer zu bringen; denn sie wissen im Voraus, daß sie den herrschenden Vorurtheilen gegenüber nur materielle Nachtheile und persönliche Angriffe dafür zu erwarten haben.“ Daß mit dem Materialismus der Idealismus zu Grunde ginge, kann nur Der behaupten, welcher vom Materialismus nichts versteht. Gerade der Materialist ist mehr als jeder Andere Idealist, denn sein Ideal ist es, die Menschheit ohne Mitwirkung des Glaubens allmählich für die höchste Höhe der Sittlichkeit zu erziehen.

Ueber Darwinismus – d. h.: über die Abstammungs- oder Umbildungslehre (Lamarck’sche Descendenztheorie), nach welcher auf der Erde eine fortschreitende Umbildung der organischen Wesen stattfindet, und über die Züchtungslehre (Darwin’sche Selectionstheorie), welche die mechanisch-wirkenden Ursachen (das Warum und Wie) erforschte, durch welche jene Umbildung zu Stande kommt, – darüber erfrechen sich gelehrte und ungelehrte Crethi und Plethi in einer Weise zu urtheilen, die geradezu bemitleidenswerth ist. Die ungelehrten urtheilen mit Hülfe ihres natürlichen Verstandes, welchen sie dem in der Jugend eingeimpften Glauben an eine ganz unnatürliche Schöpfungsgeschichte, sowie der Arroganz des Menschen verdanken, nach welcher er als Herr der Schöpfung doch nicht mit dem Affen verwandt sein könne. Die gelehrten Verurtheiler der Abstammungslehre sind meistens einseitige und zopfige Zunft- und Fachgelehrte und principielle Feinde dieser Lehre. Für sie existiren die beweisenden Thatsachen einfach gar nicht und sie steifen sich immer und immer wieder auf die angebliche Unzulässigkeit der Beweise für den Darwinismus, ohne es aber zu versuchen, ihre Behauptung wissenschaftlich zu begründen. Sie wollen sich eben nicht von derjenigen Anschauungsweise der Natur trennen, mit welcher sie alt geworden sind. Wenn nun gar gelehrte Sachunverständige (Philosophen) sich erdreisten, den Darwinismus als eine reine Fiction zu bezeichnen, [374] so beweist dies nur, daß sie denselben entweder gar nicht kennen, oder daß derselbe nicht in ihren Kram paßt.

Wenn von Manchen die Befürchtung ausgesprochen wird, daß der Darwinismus der Religion Eintrag thun könnte, so ist diese Behauptung geradezu kindisch, denn deshalb, weil er die Entstehung organischer Wesen auf natürlichere Weise erklärt, wird die Moral in der Menschheit ebensowenig angetastet, wie durch Galilei’s „Und sie bewegt sich doch“. Und wie die Inquisition trotz der Folter die Erde nicht wieder zum Stillstehen zwingen konnte, ebenso können naturunkundige Philosophen und orthodoxe Theologen das „In der Natur geht Alles natürlich zu“ nicht wegdecretiren. Uebrigens wird ja auch der Gläubige an seinem Gott und seinem Glauben ebensowenig gekränkt, wenn ihn die Wissenschaft zwingt anzuerkennen, daß alles Vorhandene aus dem Vorhergegangenen (der Mensch aus einem affenartigen Thiere) allmählich hervorgegangen ist, wie durch die Thatsache, daß sich die Erde um die Sonne bewegt. Ja, er muß eigentlich die Weisheit eines gütigen und zweckmäßig thätigen Schöpfers noch weit mehr verehren, wenn dieser gleich beim Beginne der Erdschöpfung den Grund für alle kommenden Schöpfungsproducte in das Einfachste legte, als wenn er erst jedes Einzelne neu erschaffen müßte. – Wenn einige Schriftsteller bei Besprechung des Darwinismus gleichzeitig ihre einander (wie bei Strauß und Büchner) geradezu widersprechenden politischen, socialen, ästhetischen und religiösen Ansichten mit kundgeben, so steht dies mit dem Darwinismus in gar keinem Zusammenhange und dieser sollte dafür nicht verantwortlich gemacht werden. – Weiteres und Ausführlicheres über die Abstammungslehre, welche von allen Männern der Wissenschaft als eine der größten Eroberungen des menschlichen Geistes und als der glänzendste Sieg über das blinde Vorurtheil bezeichnet wird, sowie über die täglich sich mehrenden Beweise (zu denen Häckel’s großartige Forschungen über die Kalkschwämme und Würtenberger’s Entwickelungsgeschichte der Ammoniten gehören) und über die täglich sich mindernden Gegner dieser Lehre soll in einem späteren Aufsatze mitgetheilt werden. Schließlich sei aber Jedem, der nicht eigensinnig im blinden Vorurtheile über Darwinismus verharren will, angerathen, Häckel’s natürliche Schöpfungsgeschichte (3. Auflage) ordentlich durchzustudiren.

Bock.