Dichter des schwäbischen Zeitalters

Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Dichter des schwäbischen Zeitalters
Untertitel:
aus: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung) S. 207–218
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1793
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Google und Commons
Kurzbeschreibung:
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3.

Sie werden bemerkt haben, daß im Lobgesange auf den St. Anno schon eine biegsamere Sprache herrschte, als bei Ottfried oder dem Siegssänger gegen die Normannen zu finden seyn konnte. Wie wenn ich sie auf einmal in den Garten der feinsten Zucht und Sitte, der Ehre und Liebe einführe, wo jede Blume in der artigsten Sprache genannnt und gepriesen wird?

Ich grüße mit Gesange die süße,
die ich vermeiden nicht will, noch mag.
Da ich sie von Munde selbst konnte grüßen,
ach leider, deß ist mancher Tag! –
Wer nun dies Lied singe vor ihr,
der ich so gar unsanftiglich entbehre;
Es sei Weib oder Mann, der habe sie gegrüsset von mir.

Sie sehen, ich rede von den Dichtern des schwäbischen Zeitalters, und zürne auf mich selbst, daß ich auch diese erste Strophe eines Gesanges Kaiser Heinrichs des siebenden der Lieblichkeit ihres Dialekts entraubt habe. Sie soll auch die einzige seyn: denn man muß diese Poesien nothwendig in ihrer Mundart selbst lesen. Jeden harten Buchstaben oder Vocal, den man aus unsrer rauheren Sprache einschaltet, jedes sanfte Bindewort, das man ausläßt, weil es uns ungeläufig ist, jede Regel der Grammatik und Construction, die man verändert, tödtet eine Grazie des Dichters. Bodmer hatte Recht, daß er diese Sprache so hoch pries, und Umbildungen dieser Gedichte nicht versuchte; sie sind äußerst schwer, ja fast unmöglich, es sei denn, daß man sie blos des Verständnisses wegen in Prose gebe. Sie kennen das schöne Lied König Konrads, (Vaters des unglücklichen Konradin:)

Ich freue mich mancher Blumen roth,
die uns der Meye bringen will u. f.

Sie kennen den ungemein schönen Klagegesang des Herzogs Heinrich von Breßlau, den uns Götz in seiner Manier verkürzt gegeben:

Ich klage dir, May; ich klage dir, Sommerwonne,

Sie kennen ohne Zweifel noch manche, die Gleim und andre in sehr glücklichen Nachbildungen gegeben; das Unmögliche ist aber unmöglich. Lesen Sie die Gedichte selbst und gewöhnen sich an die Mundart dieses Zeitalters, oder vielmehr lassen Sie sich solche von einem zarten Munde, der sich in den Resten des Dialekts jugendlich gebildet hat, vorlesen; und Sie werden über die fließende Anmuth und Süßigkeit der alten Deutschen Sprache erstaunen. Noch mehr werden Sie erstaunen, wenn Sie diesen ganzen Lorbeer- und Myrthenwald allmählich mit Muße durchwandeln. Kaiser, Könige und Fürsten, Fürsten aus allen Gegenden Deutschlands in Böhmen, Schlesien, Brandenburg, Meißen, Thüringen, Brabant, am Rhein u. f. Edle aus den berühmtesten Geschlechtern aller Provinzen Deutschlands und der Schweiz; außer ihnen Bürger und eine Menge Personen, die auf einen Liederstreit als auf ein Abentheuer ausgingen, kommen darinn vor; die Gewächse ihrer Poesie sind zwar sehr verschieden, bald ansehnliche Stämme, schöne, fruchtbare Bäume, bald kleine niedliche Gesträuche, hie und da auch ein verworrenes Gebüsch nicht ohne Unkraut; im Ganzen aber ist und bleibt dies dichterische Zeitalter ein Phänomenon in der Deutschen Geschichte. Wer ist, der es uns erkläre, wie man die Entstehung eines Homers, Oßians, der Skalden erklärt hat? Bodmer hoffte mit seiner Ausgabe der Manessischen Sammlung solcher Dichter einen Commentar darüber aus den Umständen der Geschichte zu veranlassen; 11)[1] dieser Commentar aber ist noch nicht erschienen. Und doch würde ein solches Unternehmen nicht nur das Lesen der Dichter selbst leicht und angenehm machen, sondern auch den lehrreichsten Aufschluß über eine der merkwürdigsten Perioden Deutschlands, ja des menschlichen Verstandes selbst geben.

Denn, m. Fr., warum haben diese merkwürdigen und großentheils angenehmen Gedichte in unserm Vaterlande bisher so wenig Wirkung hervorgebracht, ja selbst so wenig Aufmerksamkeit erreget? Warum liegt Bodmers Ausgabe in unsern Buchläden todt da? Lassen Sie uns, so manche Ursache wir dazu hätten, nicht blos das Klaglied über die Unachtsamkeit der Deutschen gegen alles was vaterländisch ist, anstimmen; etwas dazu möchte immer doch auch in der Art liegen, wie die Sache behandelt ward. Der Verdienstreiche Bodmer gab zuerst Proben dieser Poesie mit einer kleinen Grammatik, einem Gloßarium, und einigen Nachrichten, so weit er sie damals hatte und haben konnte; 12)[2] er war dabei auf einem guten Wege. Bei der ganzen Manessischen Sammlung ward ihm das Werk zu schwer; ergab sie ohne Glossarium, ohne erläuternde Anmerkungen, so gar ohne Unterscheidung der Lieder heraus, blos und genau wie er sie in der Handschrift fand. 13)[3] Das war nun freilich zu einem leichten, angenehmen und nützlichen Gebrauch dieser Gedichte dem Leser zu viel zugemuthet, von ihm zu viel erwartet. Die gedrungene Menge der Verse von hundert und vierzig Dichtern übertäubte; und es mögen wenige in Deutschland seyn, die das intereßante Buch bis zu Ende gelesen, geschweige studirt und sich nutzbar gemacht haben. Diesen schreckt die Einförmigkeit, oder, wie er meint, die Trivialität des Inhalts, in dem so viel von Minne und Weibern, von May und Sommer, von Zucht und Ehre gesprochen wird, ab; jener kommt mit der Sprache nicht fort: Ein unverständliches Wort hindert ihn am Genuß der ganzen Strophe; ein Dritter, der alles gern an Stelle und Ort betrachtet, weiß nicht, wohin er diesen oder jenen erwähnten Umstand bringen soll? wer dieser Wenzel und Konrad, jener Rudolf oder Heinrich sei? er glaubt also, da er diese Gesänge mit der Geschichte nicht verbunden sieht, Stimmen außer aller Zeit, etwa das Erdmännchen zu hören, dem Bodmer in Einem seiner kritischen Briefe einige Strophen dieser Lieder in den Mund leget. 14) [4] Und so bleibt der mit Mühe entdeckte Schatz wie begraben.

Ich wüßte eine fügliche Auskunft. In der Jenaischen Universitätsbibliothek liegt ein nicht unbekannter, schätzbarer Codex, von dem Wiedeburg vor fast vierzig Jahren Nachricht gegeben 15)[5] und zu dessen Ausgabe man neulich Hoffnung gemacht hat. Ich kenne ihn ziemlich genau, und habe mir einen Theil der Gedichte selbst abgeschrieben; er enthält nicht nur einige völlig neue Dichter, die in der Manessischen Sammlung nicht sind, sondern auch von denen in dieser Sammlung vorhandnen neue Stücke, und endlich die schon herausgegebnen (der Manessische Codex ist viel reicher) in einem andern, dem Thüringischen Dialekt. In alle diesem kann er sehr lehrreich werden. Was herausgegeben ist, darf nicht wiederholt werden; eine Vergleichung dieser Stücke aber möchte Materialien zu einer Abhandlung über die allmähliche Bildung der verschiednen Dialekte Deutschlands geben, die manches aufhellte. Eigentliche Minnelieder sind in ihm wenige; die meisten sind moralisch, lobend oder strafend, satyrisch, geistlich. Dies führt von selbst auf die Geschichte der Begebenheiten, Meinungen und Sitten der Zeit. Viele Lieder haben Melodieen, woran es dem Manessischen Codex fehlte; zum Verständniß der Sylbenmaasse und des Versbaues, überhaupt auch zur Geschichte der Declamation und des Tons der Zeiten sind diese ein schätzbares Hülfsmittel, gleichsam ein Aufschluß zur Form der Gedichte. Denn wenn wir unpartheiisch reden wollen, so dünkt uns oft doch, wo das Gedicht nicht eigentliches, muntres Lied ist, die Minnesinger-Weise langweilig; die Strophe ziehet sich in langen und kurzen Zeilen für uns Tonlos und matt dahin, wie sie, in späterer Zeit bei den Meistersängern sich fast unausstehlich schleppte. Ein Aufschluß, der uns hierüber ein Tonkünstler gäbe, wäre niemanden unwillkommen; und nicht unwillkommner die Untersuchung, wie diese, schleichenden Sylbenmaasse in die Deutsche Sprache, gekommen seyn, die ehedem so kurze, rasche Wortschälle liebte. Am willkommensten wäre uns dabei ein erläuternder Commentar dieser Gedichte aus den Gegebenheiten und Sitten des damaligen Zeitalters. Von selbst würde sich dieser auf Bodmers und Müllers Sammlungen 16) [6] erstrecken müssen; und so würde der Commentar den Dichtern selbst aufhelfen. Jenes zu gut würde man diese lesen. Nothwendig käme man dabei der Sprache auch zu Hülfe, welches jetzt nach Oberlins Gloßario leichter ist, als es zu Bodmers Zeit war. Geschähe dieses durch ein Gloßarium, oder durch Noten, oder durch eine prosaische Uebersetzung unter dem Text, wie es dem Herausgeber am Zweckmäßigsten dünkte; auf jede Weise würden diese Gedichte unterrichtend, angenehm, lesbar und lebendig.

Ohne Zweifel wünschen Sie mit mir, daß ein so rühmliches Werk bald erscheine. Es falle aber ja einem verständigen Mann in die Hände, der uns die Schönheit der alten Deutschen Muse nicht vordeklamire. Sie ist bescheiden und züchtig; sie will nicht gelobt, aber verstanden, geschätzt und geliebt seyn.

Dabei wollen wir uns alle Hoffnung vergehen lassen, daß unsre jetzige Deutsche Fürsten, Kaiser, Könige, Herzoge, Grafen und Herren, wie ihre Vorgänger und Urahnen, Gedichte machen sollen und werden; die Zeit ist vorüber. Gnug, wenn sie aus diesem Werk die Sinnesart und den Ruhm ihrer Vorgänger und Urahnen kennen lernen; und dazu könnte für viele der edelsten Geschlechter im obengewünschten Commentar mancher Rath geschafft werden.

Mein heutiger Brief liefert Ihnen keine Poesie: denn was hülfe es, aus einem so reichen Garten ein paar welke, ausgerupfte Blümchen vorzuzeigen? In einer schönen Sommermuße müssen Sie den reichen Garten selbst kennen lernen.

Ueber die langen epischen Gedichte dieses Zeitalters werde ich Ihnen gar nichts schreiben. Die wenigsten habe ich gelesen; es hat mir zu ihnen Lust und Musse gefehlet. Dem Inhalte nach möchte ich sie gern, auch wo ihr Stof aus fremden Sprachen entlehnt ist, in ihrem Deutschen Gewand kennen lernen; und ich wünschte, (denn mein Brief ist einmal auf dem Wege des Wünschens) daß uns ein Deutscher Treßan, angenehm und intereßant wie der Französische, eine Bibliothek dieser epischen Romane gäbe. Er könnte auf seinen glänzenden Französischen Vorgänger verweisen, und nur bemerken, welche neue Gestalt der fremde romantische Stof in Deutschen Köpfen angenommen habe. Dies möchte eine nicht zahlreiche, aber sehr unterrichtende Bibliothek der Deutschen epischen Romane werden; worüber seit einigen Jahren hie und da in Schriften und Journalen manches Gute bereits versucht ist. *)[7] Leben Sie wohl, und erwarten, daß ich Ihnen nächstens eine Deutsche Epopee nennen und sie (proh Dii!) dem Homer unmittelbar zur Seite setzen werde.


  1. 11) Sammlung von Minnesingern aus dem Schwäbischen Zeitalter, Zürich 1758. Vorr. des zweiten Theils.
  2. 12) Proben der alten schwäbischen Poesie des dreizehnten Jahrhunderts, Zürich 1748.
  3. 13) Sammlung von Minnesingern, 4. Zürich 1758.
  4. 14) Neue kritische Briefe Zürich 1749. S. 474.
  5. 15) Wiedeburgs Nachricht von einigen alten Deutschen poetischen Manuscripten in der Jenaischen akademischen Bibliothek, Jena 1754.
  6. 16) Berlin, 1783. 4.
  7. *) Journal von und für Deutschland, im Deutschen Museum u. f. Auch die deutsche Bibliothek der Romane (Riga bei Hartknoch) hat für diese Werke ein eigenes Fach.