Deutschlands jüngste Stadt

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Autor: F. Heine
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Titel: Deutschlands jüngste Stadt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 396–398
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Die Stadt Wilhelmshaven
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Deutschlands jüngste Stadt.

Von F. Heine. Mit Zeichnungen von Fritz Stoltenberg.

Wasserturm und Park.

Der 17. Juni ist der fünfundzwanzigste Jahrestag der Eröffnung des ersten deutschen Kriegshafens und der damit verbundenen Taufe der jüngsten Stadt Deutschlands – der Taufe von Wilhelmshaven. Die Notwendigkeit, einen befestigten Hafen an der heimischen Küste anzulegen, konnte nach der 1848 erfolgten Gründung der preußischen Marine nicht mehr von der Hand gewiesen werden. In richtiger Erkenntnis, von welcher Wichtigkeit der Besitz einer Seemacht für ein meerbespültes Land sei, hatte Kaiser Wilhelms I. Bruder Prinz Adalbert des Großen Kurfürsten Pläne wieder aufgenommen und sich die Schaffung einer preußischen Flotte zur Aufgabe gemacht. Auch für den nötigen Hafen sorgte der Prinz, indem er das Augenmerk seines königlichen Bruders auf das schon von Napoleon I. in seiner strategischen Bedeutung erkannte Gebiet der Jade hinlenkte. Dies in der Nähe des oldenburgischen Dorfes Heppens an der Westküste des Jadebusens gelegene Gelände trat Oldenburg am 20. Juli 1853 für 1½ Millionen Mark an Preußen behufs Erbauung eines Kriegshafens ab. Nach Ausarbeitung der Pläne begann der einer besonderen Kommission übertragene Bau des Hafens unter unsäglichen Mühen und Schwierigkeiten. Weder eine Eisenbahn noch eine ordentliche Straße verband das unwirtliche, nur 4 ärmliche Bauerngehöfte tragende Gebiet mit dem Hinterland. In aller Eile gezimmerte Baracken mußten den massenweise aus allen Gauen Deutschlands zu strömenden Arbeitern die notdürftigste Unterkunft bieten, während die Beamten nur mit Mühe und unter Verzicht auf jede Bequemlichkeit in dem für Bureauzwecke errichteten sogenannten „Kommissionshaus“ Aufnahme finden konnten und gezwungen waren, unter Entbehrungen aller Art ihren keineswegs leichten Auftrag zu erfüllen. Wege gab es anfangs nicht. In hohen Wasserstiefeln bis über die Knie im Schlamme watend, legten die wackeren Pioniere den Weg zur Baugrube zurück, und nicht selten geschah es, daß das Sumpffieber unter ihnen seine Opfer forderte. Dazu war die Beschaffenheit der aus allen vier Richtungen der Windrose zusammengewürfelten, vom schnellen Erwerb angelockten Arbeiter nicht die beste, so daß die in der Entstehung begriffene Marinekolonie sich anfangs allerlei boshafte Bemerkungen gefallen lassen mußte.

Die Flaggenstation bei der neuen Hafeneinfahrt.

Im Jahre 1859 konnte die vom preußischen Staat nach dem Hafengebiet erbaute Straße Sande-Heppens dem Verkehr übergeben werden. An ihr wuchsen unweit der Hafengruben die ersten Ansiedlungen aus dem Boden, und so entstand die heutige Bismarckstraße. Der Segen einer Eisenbahnverbindung wurde der jungen Kolonie erst im Herbst 1867 zu teil. Inzwischen hatte auch der Fiskus, zunächst um seinen Beamten Wohnstätten zu schaffen, das südlich der zukünftigen Werftanlagen liegende Gebiet zur Bebauung in Aussicht genommen und einen regelrechten Plan ausgearbeitet, nach welchem wenigstens die Anfänge des heutigen Stadtteils Wilhelmshaven angelegt wurden. Behufs Bekämpfung des Fiebers mußte auf luftige und hochliegende Räume Bedacht genommen werden. Dazu war eine bedeutende Erhöhung des Geländes erforderlich, zu welcher das nahe Jeverland in täglich 10 Sandzügen den nötigen Boden hergab.

Endlich im Frühjahr 1869 war das Riesenwerk vollbracht, das noch heute die Bewunderung und das Staunen der Besucher hervorruft. Die deutsche Nordseeküste hatte einen den Anforderungen der Neuzeit entsprechenden Kriegshafen. Die feierliche Einweihung erfolgte am 17. Juni 1869 in Gegenwart des Königs Wilhelm, der bei diesem Anlaß dem Hafen und der werdenden Stadt seinen Namen verlieh. Am Nachmittag wohnte der königliche Taufpate der Grundsteinlegung zur Garnisonkirche (Elisabethkirche) bei.

Die junge Gemeinde wuchs zusehends heran, gleichen Schritt haltend mit den gewaltig sich entwickelnden Marineanstalten aller Art. Handel und Verkehr begannen sich zu regen, und bald machte sich das Bedürfnis nach einem Handelshafen geltend. Der Reichstag bewilligte auch hierfür die Mittel, und nun begannen aufs neue die Kämpfe der Wasserbaumeister mit den schwierigen Stromverhältnissen und den Unbilden des Klimas, wenn auch unter weit günstigeren Umständen als bei der ersten Anlage. Der Bau des zweiten Hafens wurde unter Leitung des Baurats Rechtern so eifrig gefördert, daß am 13. November 1886 in Gegenwart des damaligen Chefs der Admiralität General v. Caprivi die Eröffnung vorgenommen werden konnte. Die überaus schnelle Ausdehnung der kaiserlichen Marine ist indessen die Veranlassung geworden, daß auch dieser zweite Hafen, dessen Signal-, bezw. Flaggenstation wir unsern Lesern im Bilde vorführen, fast ausschließlich für die Zwecke der Kriegsmarine benutzt wird.

Die Adalbertstraße.

Die innere Entwicklung der Stadt hat sich naturgemäß dem Fortschreiten der Marineanlagen anpassen müssen. Von einer Verwaltung im heutigen Sinne konnte in den ersten Jahren [397] so gut wie keine Rede sein. Die wenig umfangreichen Verwaltungsgeschäfte der Kolonie versah das Admiralitätskommissariat für das Jadegebiet, eine eigens für die Zeit des Hafenbaus geschaffene Behörde. Bezüglich der kirchlichen und Schulangelegenheiten waren die ersten Ansiedler auf die Nachbardörfer angewiesen. Postwesen und Justizpflege wurden von dem nahen Kiebitzstädtchen Jever aus besorgt.

Erst am 1. April 1873 erhielt Wilhelmshaven nach Einverleibung der an die Stadt grenzenden oldenburgischen Vorstädte „Elsaß“ und „Lothringen“ städtische Verfassung. Ein im wesentlichen der hannoverschen Städteordnung folgendes Verfassungsstatut dient als Richtschnur für die städtische Verwaltung, die aus dem Bürgermeister und vier Ratsherren besteht, denen sich wiederum zwölf Bürgervorsteher zugesellen. Die Stadt wurde dem Amt(Kreis) Wittmund bezw. dem Regierungsbezirk Aurich zugeteilt.

Trockendock.

Heute hat die jüngste Stadt Deutschlands gar viele ihrer älteren Nachbarinnen um ein Bedeutendes überflügelt. Wer jetzt Wilhelmshaven betritt, glaubt sich in eine Großstadt versetzt. Durch die breiten, sauberen, geradlinigen Straßen, denen im Sommer saftiggrüne Alleen kühlenden Schatten spenden, flutet fast unablässig ein ansehnlicher Menschenstrom, der sich bald in die reich ausgestatteten Läden der Roonstraße, bald in die hübschen, in schmucke Gärten gebetteten Landhäuser der Adalbertstraße, bald auch in die drei oldenburgischen Arbeitervororte Bant, Heppens und Neuende ergießt. Mit diesen darf Wilhelmshaven, das heute über 20000 Seelen zählt, seine Einwohnerzahl auf beinahe 50000 beziffern. Das Herz der Stadt bildet die nach Osten mit dem Jadebusen in Verbindung stehende Werft, mit ihren großartigen Schwimm- und Trockendocks und ihren zahllosen Werkstätten. Im Westen breitet sich vor der Werft der schönste Schmuckplatz aus, der Friedrich Wilhelmsplatz, umsäumt von einem Kranze stattlicher Bauten: dem Amtsgericht, dem Landratsamt, dem Gasthof zur Burg Hohenzollern, dem Gymnasium, der Elisabethkirche, der Ratsapotheke, dem Postgebäude und daran anstoßend weiter zurück dem erst vor Jahresfrist bezogenen, stilvollen Rathaus. Nach Norden öffnet sich der Platz zur vornehmsten Straße, der Adalbertstraße, mit dem Denkmal des Prinzen Adalbert am Eingang und dem Stationschefgebäude (Kommandantur) im Hintergrund. Jenseit des letzteren dehnt sich der weite, gleichfalls vom Staat für seine Offiziere und Beamten geschaffene, jetzt aber allgemein zugängliche Park nebst Wasserturm. Der letztere liefert das Wasser für die staatliche Leitung, deren Mitbenutzung den Bürgern im Frieden gegen ein geringes Entgelt gestattet wird. Zwischen Park und Hafen ziehen der Werft entlang zwei Straßenzüge, die lediglich aus staatlichen Arbeiter- oder Beamtenhäusern bestehen. Vier bis zwölf Familien wohnen hier vereint in freundlichen, sauberen, alle Bequemlichkeiten gewährenden billigen Räumen. In der Verlängerung der beiden Straßen nach dem Hafen zu ragen die Kasernen für die Matrosendivision, und vor ihr die sogenannte „Tausend-Mann-Kaserne“, in welcher die Matrosenartillerie und das Seebataillon untergebracht sind, aus dem Häusermeer empor. Jenseit der Werft, zwischen dieser und der Jade, ist der Stadtteil Wilhelmshaven nach den Plänen der Admiralität erbaut.

Blick auf die Werft.

Hier finden sich hervorragende Prachtbauten, die jeder Großstadt zur Zierde gereichen würden. In den Nebenstraßen begegnet man wieder staatlichen Bauten. Trotz der regen Bauthätigkeit der letzten Jahre übertreffen diese noch immer an Zahl die Privatbauten. Nach Westen wird die Stadt durch die früher oldenburgischen Viertel „Elsaß“ und „Lothringen“ abgegrenzt, die beide unmittelbar und ohne äußerlich erkennbare Grenze in das zum größten Teil aus staatlichen Arbeiter-Einfamilienhäusern bestehende oldenburgische Dorf Bant mit 9000 Seelen übergehen. Auch nach Norden berührt die oldenburgische Landesgrenze das Weichbild Wilhelmshavens. Dieses zählt heute zu den gesündesten und saubersten Städten im Deutschen Reich, und man [398] sollte es nicht für möglich halten, daß das alles in dem überaus kurzen Zeitraum eines einzigen Vierteljahrhunderts aus trostlos ödem Sumpf und Sand erstanden ist. Die Gründung und das Wachstum von Deutschlands jüngster Stadt ist ein Werk von zielbewußter Kühnheit und zugleich ein Beispiel von zäher Ausdauer unter unerhörten Schwierigkeiten, ein Beispiel, welches wohl verdient, vom deutschen Volke im Gedächtnis behalten zu werden.