Deutsches Frauenlos im Ausland

Textdaten
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Autor: Paul Dehn
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Titel: Deutsches Frauenlos im Ausland
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 130–131
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Deutsches Frauenlos im Ausland.

Zur Gründung eines deutschen Frauenheims in Wien.

Ganz Wien sprach unlängst kurze Zeit hindurch vom menschlichen Elend im Allgemeinen und Studentenelend im Besonderen. Ein ergreifender Fall hatte alle Herzen gerührt. Vor Gericht war ein junger Student erschienen, welchen die Polizeimannschaft in der Nacht auf der Straße halberfroren aufgegriffen hatte. Der junge Mann war heimlich aus seiner ärmlichen Kammer gegangen, weil er seiner Wirthin, einer armen Wittwe, gegen 25 Mark schuldig geworden war, ohne zahlen zu können. Es war ihm nicht gelungen, Beschäftigung in Nachhilfestunden oder dergleichen zu finden und sich so etwas Geld zu verdienen; er hatte fast Alles, was er sein Eigen nannte, selbst seine besseren Kleider, verkauft. Keine Hoffnung bot sich ihm, überall wurde er abgewiesen. Da faßte er in seiner Verzweiflung den Entschluß, sich das Leben zu nehmen, und einige Stationen vor Wien legte er sich auf die Schienen, um sich von einem daherkommenden Eisenbahnzuge überfahren zu lassen. Allein man bemerkte glücklicher Weise sein Vorhaben, und um nicht von dem Bahnwärter festgenommen zu werden, flüchtete er nach Wien zurück. Vor Hunger und Müdigkeit fiel er endlich zusammen und wurde so aufgefunden.

Nun stand er vor Gericht unter der Anklage des Betruges an seiner Wirthin. Doch er wurde freigesprochen, da die wackere Frau in der Zuversicht, von dem ihr als fleißig bekannten jungen Mann früher oder später einmal das Geld zu erhalten, dabei beharrte, nicht beschädigt worden zu sein.

Mit warmen Worten der Theilnahme und des Bedauerns mußte der Richter indessen dem Studenten ankündigen, daß ihm wegen gänzlicher Mittellosigkeit die Abschiebung von Wien nach der Heimath bevorstehe. Als am Tage darauf aber durch die Zeitungen der Bericht über diese Gerichtsverhandlung bekannt wurde, da liefen für den armen Studenten alsbald, theils sogar auf telegraphischem Wege, so zahlreiche Spenden von den verschiedensten Seiten ein, daß der junge Mann auf der Polizei erschien um zu bitten, es möchten keine Gaben mehr für ihn angenommen werden, da er Unterstützung und namentlich Verdienst durch Privatstunden vollauf erhalten habe, um seine Studien fortsetzen zu können, und er sprach den Wunsch aus, daß weitere Spenden anderen Studenten, welche hilfsbedürftiger seien, als er jetzt, zugewendet werden möchten.

Wie seltsam ist es doch um das menschliche Herz bestellt! So warm und erregbar es auch empfinden mag, wird es doch inmitten der Hast des modernen Erwerbs- und Verkehrslebens und bei den Tag für Tag sich häufenden Berichten über Verbrechen, Selbstmorde und andere traurige Ausgänge menschlichen Elends in seinem Mitgefühle abgestumpft und scheinbar theilnahmlos für das Geschick der Unglücklichen. Das ist um so beklagenswerther, als der Kampf ums Dasein härter und schwieriger geworden ist denn je zuvor und den Einzelnen zwingt, möglichst ausschließlich das eigene Schicksal im Auge zu behalten. Was Uhland einst vom Kriege gedichtet:

„Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wärs ein Sttttk von mir.
000000
Kann dir die Hand nicht geben“ –

gilt leider in der Gegenwart auch vom Frieden, wenn nicht einmal zufällig der Einzelne aus der Masse „den guten Kameraden“ vor sich liegen sieht und unmittelbar im Angesichte der Noth ihm die Hand reicht. Die das am ehesten können, stehen aber selten an Stellen, wo die Kugeln des Schicksals pfeifen und treffen.

Ein Zufall hat es gefügt, daß im Lichte der Oeffentlichkeit viele tausend Menschen jenen armen braven Studenten haben fallen sehen, daß sie sich beeilten, ihm die Hand zu reichen. Hätte den jungen Mann die Lokomotive erfaßt und getödtet, so hätte man weiter kein Wort gesagt, und nur die Zahl der Selbstmorde wäre um einen Fall vergrößert worden.

Dem armen Studenten ist geholfen worden und mit ihm vielen seiner Leidensgenossen. Es giebt indessen noch andere schicksalsverwandte Kreise, denen Hilfe und Rath nicht minder nöthig sind und – wenn rechtzeitig gebracht – nicht minder wirksam kommen würden. Hierzu gehören in erster Reihe die deutschen Gouvernanten, Erzieherinnen, Gesellschafterinnen etc. im Auslande. Wo da die Noth eintritt, sollte vor Allem geholfen werden, denn dieselbe ist stets mit besonderen Gefahren verbunden, und so organisirt sollte diese Hilfe werden, daß sie zu rechter Zeit und an richtiger Stelle gespendet wird.

Unglück zu ertragen ist hart für einen Mann, härter noch für eine Frau, aber am härtesten für Diejenigen, welche davon [131] in der Fremde, fern von der Heimath, betroffen werden. Da wird oft schon der bloße Mangel an Glück zum trostlosen Mißgeschick, das Unglück aber nicht selten zum sittlichen und geistigen Tod für jene deutschen Mädchen, welche durch ihre Verhältnisse gezwungen werden, sich mit Hilfe ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten im Auslande ihr Brot zu verdienen.

Zahlreiche tüchtige und befähigte deutsche Reichsangehörige finden im Auslande lohnende Beschäftigung. Stockt es damit, so wird der Einzelne bemüht sein, wozu er ja auch in der Heimath genöthigt ist, sich nach einer neuen Stellung umzuschauen. Da muß sich der Mann, mehr oder minder gerüstet und erfahren in den Wechselfällen des Lebens, selbst zu helfen wissen, so gut und so schlecht es eben geht. Aeußersten Falles mag er sich an die deutschen Konsulate und Hilfsvereine wenden, etwa zur Erleichterung der Rückkehr ins Vaterland.

Das genügt dem deutschen Manne, nicht aber auch der deutschen Frau im Auslande, am wenigsten den armen deutschen Mädchen in jüngeren Jahren, welche als Gouvernanten, Erzieherinnen oder Gesellschafterinnen im Auslande stellenlos geworden sind und zeitweise verlassen dastehen.

Man sollte meinen, es sei nicht nöthig, die schwankende gefährliche und bedenkliche Lage dieser Armen mit allen ihren besonderen Anfechtungen zu schildern, dennoch ist es nothwendig, weil es vorerst an jeder organisirten Hilfe dagegen fehlt. Und so mag denn die Wirklichkeit reden, wo die Phantasie schweigt.

Anna B. war ein schönes Mädchen aus Franken, von tüchtiger Schulbildung und musikalischem Talente. Mit Rücksicht auf die dürftige Lage ihrer Mutter hatte sie sich unter Einsendung ihrer Photographie um eine Stelle als Gesellschafterin bemüht und durch ein Wiener Vermittelungs-Bureau so verheißende Zusagen erhalten, daß sie die Reise nach Wien antrat, um dort arg enttäuscht zu werden, denn das Vermittelungs-Bureau erwies sich als ein zweideutiges. Allein Anna hatte Muth und Charakter, blieb allen Verlockungen gegenüber fest und fand endlich eine vortreffliche Stelle als Verkäuferin in einem großen Geschäfte. Hier verliebte sich der Sohn des Hauses so ernstlich in sie, daß dessen Eltern, welche andere Pläne mit ihm hatten, die neue Verkäuferin entließen. Zwar fand sie ein anderes leidliches Unterkommen in ähnlicher Stellung, allein ohne ihr Zuthun verfolgte sie der Sohn jenes ersten Hauses auch dorthin und war auf dem Wege, sich mit seinen Eltern zu entzweien.

Da griffen diese, einflußreich wegen ihres Geldes, wie sie waren, um Anna B. aus Wien zu entfernen, zu folgendem Mittel: Auf Veranlassung dieser Leute wurde Anna B. zunächst aus ihrer neuen Stellung entlassen, sodann der Polizei als unterkunfts- und erwerbslos denuncirt und deßhalb wirklich, auf Grund des sogenannten Schubverfahrens, zur zwangsweisen Abschiebung von Wien verurtheilt. Angesichts der ihr bevorstehenden Schmach, schuldlos inmitten von Vagabunden und Verbrechern nach Deutschland geschickt zu werden, hat sich das schöne, muthige, begabte Mädchen getödtet.

Ist es nicht herzzerreißend, so schuldlos und so jämmerlich in der Fremde zu Grunde gehen zu müssen? Wahrlich, schon um solchen beklagenswerthen Fällen vorzubeugen, allein um dieses armen deutschen Mädchens willen wäre die Errichtung eines allseitig nach außen hin schützenden deutschen Heims für stellenlose und stellensuchende deutsche Erzieherinnen, Lehrerinnen etc. dringend zu fordern.

Doch sehen wir uns noch weiter um!

Bertha D. war die Tochter eines Berliner Großkaufmanns. In glänzenden Verhältnissen aufgewachsen, war sie nicht vorbereitet worden, einen Kampf ums Dasein zu kämpfen, wie er ihr bevorstand, als das alte von findigeren Konkurrenten überflügelte Geschäft ihres Vaters zusammenstürzte. Bertha wollte weit von der Heimath und ihren gewohnten Verhältnissen fort. Zunächst ging sie nach Wien, um eine Stellung zu suchen. Für ein junges, hübsches, alleinstehendes Mädchen ist Wien ein gefährlicher Ort, weit gefährlicher als Paris oder irgend eine andere ausländische Stadt, wo doch schon die fremde Sprache zu größerer Vorsicht mahnt.

Wer das verlockende Leben und Treiben einer Großstadt ein wenig kennt und dazu die Unerfahrenheit und Schwäche eines jungen Mädchens von Berthas Lebensgang in Betracht zieht, wird voraussehen, was da eintreten mußte, als Bertha während ihres Aufenthaltes in Wien zufällig die Bekanntschaft eines gewissenlosen Lebemannes machte. – Allein, ohne Stütze, unter fremden Leuten, anstatt eines wohlwollenden und uneigennützigen einen verführenden falschen Rath, ist Bertha untergegangen in dem Schlamm der äußerlich so schönen Kaiserstadt wie so manche ihrer armen bedauernswerthen Mitschwestern, denen zunächst kein anderer Vorwurf als der allzugroßer Leichtgläubigkeit zu machen ist. – Wir könnten noch eine Menge solcher Beispiele anführen, doch mögen diese wenigen genügen!

Was ist nun in solchen und ähnlichen Fällen, welche weit häufiger vorkommen, als gemeinhin angenommen wird, zu thun, um ihnen nach Möglichkeit vorzubeugen?

Diese Frage ist bereits ebenso zutreffend als glücklich beantwortet worden von den deutschen Gouvernanten und Erzieherinnen in England. Dieselben haben im Jahre 1877 einen Verein gebildet, um sich gegenseitig zu helfen, vor Allem durch die Einrichtung eines eigenen Heims in London in Verbindung mit einem selbständigen uneigennützigen Stellenvermittelungs-Bureau. Für diesen Zweck gingen von den Deutschen in England, besonders aber von den deutschen Fürsten und Städten, so reichliche Spenden ein, daß schon am 1. Juli 1879 in London 16 Wyndham Place das erste deutsche Frauenheim für deutsche Erzieherinnen eröffnet werden konnte.[1]

Was in London so glücklich ausgeführt worden ist, soll nun auch in Wien angestrebt werden. Wie London, so ist Wien ein vielberührter Durchgangspunkt für deutsche Erzieherinnen etc., da über Wien sowohl in Betreff der Reise wie auch der Vermittelung der Weg nach Südrußland, Ungarn, Rumänien, Griechenland und dem Orient führt. So weit von Wien aus über eine kleine Welt zerstreut, können sich die deutschen Mädchen nicht selbst helfen und Vereine organisiren, wie sie es in England gethan, und doch wäre ein fester Rückhalt für dieselben gerade dort ungleich nothwendiger als in England, weil in den genannten Ländern bis in den Orient hinein das alleinstehende Weib überhaupt in Folge der gesellschaftlichen Ueberlieferungen und Anschauungen schutzloser dasteht und sittlichen Gefährdungen leichter und häufiger ausgesetzt ist. Ein junges Mädchen kann eher unangefochten durch ganz England reisen, als z. B. in Bukarest oder Odessa über die Straße gehen. Auch mit dieser noch nicht genügend gewürdigten Thatsache ist zu rechnen.

So ist es denn mit Freuden zu begrüßen, daß der Deutsche Hilfsverein in Wien, welcher unter dem Protektorat des deutschen Botschafters, des Prinzen Heinrich VII. Reuß steht, die Gründung eines „Deutschen Frauenheims in Wien“ in Anregung gebracht hat. In diesem Frauenheim sollen alle Gouvernanten, Erzieherinnen, Bonnen etc. aus Deutschland, welche durch Zufall oder besondere Verhältnisse nach Wien gelangt sind, in den sorgenvollen Tagen der Stellenlosigkeit eine Zufluchtsstätte finden, welche ihnen vorübergehende wohlfeile Unterkunft sichert und zugleich durch ein eigenes kostenfreies Stellenvermittelungs-Bureau unter Leitung der Vorsteherin den Stellenlosen die Aussicht bietet, in achtbaren Familien neues Unterkommen zu finden.

Bereits ist die Organisation des Deutschen Frauenheims in Wien im Einzelnen ausgearbeitet worden. Es fehlt nur noch an den erforderlichen Geldmitteln. Alles in Allem sind zur Einrichtung des Frauenheims vorerst für zehn Personen sowie für den Betrieb desselben zunächst auf drei Jahre etwa 25000 Mark nothwendig, welcher Betrag wesentlich durch freiwillige Gaben aufgebracht werden müßte. Sollte es daran fehlen? Sollte hierfür vergebens an edle Herzen appellirt werden?[2]

Nein, das kann nicht sein, darf nicht sein! Deutsche in unserm schönen und großen Vaterlande, gedenket stets in Freundlichkeit der Landsleute im Auslande, ihrer schwierigen Stellung und Eurer nationalen Pflicht, ihnen das Gefühl der Zusammengehörigkeit und des wirksamen Schutzes der Heimath zu erhalten und zu heben. Namentlich der deutschen Frau im Auslande gegenüber muß dies Bestreben hervortreten, und wo ein Mißgeschick sie gebeugt, da sollte sie Schutz finden, um nicht zu fallen. Diesen zu gewähren, liegt sowohl im Interesse als in den Pflichten der

deutschen Nation.
Paul Dehn.     


  1. Vergl. Nr. 13, Jahrg. 1882 der „Gartenlaube“.
  2. Die Centralsammelstelle für gütige Spenden befindet sich bei dem deutschen Generalkonsul Ritter von Mallmann in Wien, dem Schatzmeister des „Deutschen Hilfsvereins“.