Der unterirdische Gang in Stendal

Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Der unterirdische Gang in Stendal
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 9, S. 234–236
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[234] Der unterirdische Gang in Stendal. – Im Jahre 1782 wurde in Stendal in der Altmark ein Soldat namens Breitling wegen wiederholter Desertion vom Standgericht zum Tode durch den Strang verurteilt. Am Abend vor der Hinrichtung ließ sich der Bürgermeister von Stendal bei dem Vorsitzenden des Militärgerichts melden und machte ihm den Vorschlag, dem Manne unter bestimmten Bedingungen das Leben zu schenken. Aus dem Keller eines alten Hauses der Vorstadt führte nämlich ein langer unterirdischer Gang bis zum Annenkloster, und in diesem Gang sollte nach alten Überlieferungen ein Kriegsschatz aus früheren Zeiten verborgen sein. Vergebens hatte man jedoch bisher versucht, in den Gang einzudringen. Er war mit giftigen Gasen angefüllt, und schon mehrere Neugierige hatten ihren Wagemut beinahe mit dem Leben bezahlt. Der Bürgermeister schlug dem Oberst nun vor, den verurteilten Soldaten in den gefährlichen Gang hineinzuschicken [235] und ihn zu begnadigen, falls er den Gang bis zum Annenkloster glücklich passierte. Dafür sollte der Militärbehörde die Hälfte des Kriegsschatzes zufallen, falls der Soldat diesen wirklich auffände.

Breitling wurde herbeigeholt und war einverstanden. Am 4. Mai 1782 trat er seinen Weg von dem Keller jenes Vorstadthauses aus an, in der einen Hand eine brennende Laterne, in der anderen eine Trompete, die er fortgesetzt blasen sollte, damit man deren Tönen folgen und so feststellen konnte, welche Biegungen der Gang machte. Bis zur Hallstraße – 500 Meter weit – vernahm man die Töne des Hornes denn auch ganz deutlich. Dann verstummten sie plötzlich. Man wartete und wartete, aber alles blieb still. Breitling schien also den giftigen Gasen ebenfalls zum Opfer gefallen zu sein.

Trotzdem ließ der vorsichtige Oberst die Mündung des unterirdischen Ganges noch zwei Wochen lang bewachen, da er den Verdacht hegte, der schlaue Bursche könnte sich vielleicht nur deswegen so ruhig verhalten, um später, ohne den gefährlichsten Teil seiner Aufgabe zu Ende geführt zu haben, zu entschlüpfen. Als aber auch die zwei Wochen vergingen, ohne daß der Mann zum Vorschein kam, zog man die Wachen wieder ein, und die Angelegenheit geriet bald in völlige Vergessenheit.

Sie wurde erst wieder in der Erinnerung bejahrter Stendaler Bürger im Jahre 1829 aufgefrischt. Im Herbst dieses Jahres starb nämlich in Straßburg im Elsaß ein reicher, hochbetagter Kaufmann, der auf seinem Sterbebett das Geständnis abgelegt hatte, er sei jener Soldat, den man in Stendal vor siebenunddreißig Jahren[ws 1] in den unterirdischen Gang geschickt habe, damit er dort nach einem Schatze suche. Diesen Schatz habe er in einer Nische des Ganges in einer verrosteten eisernen Kiste wirklich gefunden, gleichzeitig aber auch die Entdeckung gemacht, daß aus dieser Nische ein Seitengang sich abzweigte, der nach einem unweit von Stendal gelegenen Steinbruch führte. Unter Mitnahme des Schatzes, der aus mehreren mit Goldstücken gefüllten Beuteln bestand, sei er durch diesen Seitengang glücklich entkommen und habe dann später in [236] Straßburg mit Hilfe jenes Fundes einen Handel mit Getreide angefangen, der seinen Reichtum schnell vermehrte.

Bei der Eröffnung des Testamentes Breitlings stellte es sich heraus, daß er einen großen Teil seines Vermögens der Stadt Stendal vermacht hatte. So stattete er den Stendaler Bürgern seinen Dank für seine einstige Errettung vom Galgen und für sein vom Glück begünstigtes ferneres Leben ab.

W. K.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Von 1782 bis 1829 sind es aber 47 Jahre.