Der protestantische Reformverein

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Titel: Der protestantische Reformverein
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 772
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[772] Der protestantische Reformverein. Am 17. April 1879 war es, als in Berlin in einer vertraulichen Versammlung von siebenundzwanzig freisinnigen Männern die Gründung eines „Protestantischen Reformvereins“ beschlossen wurde. Es war die höchste Zeit; denn die erste ordentliche Generalsynode der evangelischen Landeskirche, auf welcher die orthodoxe Partei die entscheidende Majorität besaß, sollte demnächst eröffnet werden, und wenn sich auch keine Aussicht eröffnete, die Angriffe einer unduldsamen Hierarchie auf die Freiheit der wissenschaftlichen Theologie abzuwehren und Eingriffe in die Gewissensfreiheit durch Kirchenzuchtgesetze zu verhindern, so war doch wieder ein Banner aufgepflanzt, um welches sich alle Diejenigen, welche dem verknöcherten Kirchenglauben fremd gegenüberstehen, zu einem energischeren Widerstande gegen das Hereinbrechen der kirchlichen Reaction schaaren konnten, als es bisher möglich war.

Der „Protestantische Reformverein“, welcher gewissermaßen den secessionistischen und fortschrittlichen Flügel innerhalb der protestantischen Kirche repräsentirt, erkor zunächst den Prediger Dr. Kalthoff, den unerschrockenen märkischen Kämpfer für Religionsfreiheit (unsern Lesern aus den geistreichen Artikeln „Der Culturkampf in der protestantischen Kirche“, vergl. Nr. 17, 20,24 d. J., bekannt) zu seinem Diaconus, richtete in dem Concertsaale der Reichshalle einen regelmäßigen sonntäglichen Gottesdienst ein und veranstaltete zahlreiche Wanderversammlungen in den verschiedenen Stadttheilen Berlins. In allen diesen Versammlungen und in zahlreichen Broschüren vertritt der Reformverein die Grundsätze der Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Rechte der Gemeinde gegenüber den Kirchenbehörden und Synoden. Gleichzeitig bekämpft er den religiösen und kirchlichen Indifferentisums, indem er den Sinn für die religiösen und sittlichen Ideale zu wecken sucht.

Mit den freisinnigen Elementen der übrigen Religionsgesellschaften sucht der Reformverein freundschaftliche Beziehungen zu unterhalten und ist bemüht, die gegenseitige Achtung und Werthschätzung unter den Confessionen zu fördern, indem er von der Ueberzeugung ausgeht, daß die historischen Eigentümlichkeiten, durch welche die Confessionen sich unterscheiden, ein gemeinsames Arbeiten an den humanen Aufgaben der Religion nicht hindern, und daß das Wahre der Religion in der Gesinnung, nicht aber in den dogmatischen Vorstellungen und kirchlichen Ceremonien zu suchen sei; daneben hält der Verein daran fest, daß eine gesunde Weiterentwickelung des kirchlichen Lebens nur möglich sei auf der Grundlage des historisch Gegebenen. Er tritt deshalb ebensowenig aus der Landeskirche, wie er den Zusammenhang mit der religiösen Ueberlieferung abbricht, für die er nur die volle Freiheit der Kritik fordert. Die Grundsätze des Vereins sind in einem Programm zusammengefaßt, welches seiner Zeit auch die „Gartenlaube“ (vergl. „Blätter und Blüthen“ von Nr. 11 d. J.) zum Abdruck gebracht hat.

Das Berliner Consistorium nahm selbstverständlich von Anfang an eine feindliche Stellung gegenüber dem Vereine ein. Es versuchte wiederholt, wenn auch vergeblich, die Mitglieder des Reformvereins von den kirchlichen Gemeindeämtern auszuschließen und drohte sogar einem Geistlichen, der dem Vereine beigetreten war, mit Amtsentsetzung, wie auch eine Petition, welche der Reformverein an die Generalsynode um Abänderung des Ordinationseides der Geistlichen richtete, abschlägig beschieden wurde.

Trotz der Ungunst der Zeit findet der Reformverein in liberalen Kreisen immer mehr Sympathie, und wenn auch seine Mitgliederzahl nicht weit über zweihundert hinaus geht, so hat er doch außerhalb des Kreises seiner unmittelbaren Angehörigen sich viele thätige Freunde erworben. Auch besteht in Berlin ein Frauenverein, der in Frauenkreisen die Grundsätze des Reformvereins zu vertreten und auszubreiten sucht, und außerdem in Züllichau und Umgegend ein etwa hundert Mitglieder zählender Zweigverein.

Der Vorsitzende des Hauptvereins ist gegenwärtig Dr. med. Greve in Tempelhof bei Berlin. Mit Beginn dieses Jahres hat der Reformverein ein eigenes Organ erscheinen lassen, das „Correspondenzblatt für kirchliche Reform“, aber zu einer ausgedehnteren Thätigkeit bedürfte er noch bedeutender Geldmittel, die ihn in den Stand setzten, auch in den Provinzen Gesinnungsgenossen zu sammeln und die Theilnahme für die Reformbewegung zu wecken. Wir zweifeln indeß nicht, daß diese Bewegung trotz ihrer unscheinbaren Anfänge den Sieg erringen wird; denn ihr Ziel ist das gemeinsame Ziel jedes wahren kirchlichen Fortschritts: die Beseitigung der Hierarchie, des unfehlbaren Autoritätsglaubens in der evangelischen Landeskirche und die Herbeiführung einer auf echter Religiosität basirenden, die individuelle Gewissensfreiheit wahrenden, freien Gemeindekirche, also die Rückkehr zu der allein wahren Grundlage des Protestantismus.

Zuversichtlich sehen wir dem Siege der Idee entgegen, welcher der „Protestantische Reformverein“ dient, dazu bedarf es aber in weitesten Kreisen der Beherzigung jener Worte, mit welchen Dr. Kalthoff unsere Artikel über die protestantische Kirche im Culturkampf schließt, der Worte:

„Der Protestantismus ist verloren, sobald er im Geringsten zurückweicht und mit der Unwahrheit, der Unfreiheit gemeinsame Sache macht. Er wird siegen, sobald er sich rückhaltlos hingiebt an die Sache der Wahrheit, der Freiheit, der Menschlichkeit. Er wird siegen, nicht durch Polizeischutz und hohe Gönnerschaft, sondern durch das schlichte unverdorbene Gewissen des deutschen Volkes.“