Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Der himmlische Schäfer
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aus: Zerstreute Blätter (Dritte Sammlung) S. 223-225
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Erscheinungsdatum: 1787
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
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[223]
Der himmlische Schäfer.


In der Nacht vor jenem Frühlingsfeste, an welchem die beiden ersten Zwillingssöhne des Menschengeschlechts dem Schöpfer ein Dankopfer bringen sollten, sah ihre Mutter Eva im Schlaf einen wunderbaren Traum. Die weißen Rosen, die ihr jüngerer Sohn um seinen Altar gepflanzet hatte, waren in Blutrothe vollere Rosen verwandelt, die sie auf der Erde noch nicht kannte. Sie wollte sie brechen, aber jede Rose zerfiel unter ihren Händen. Und auf dem Altar, auf welchem sonst nur Milch geopfert ward, lag jetzt ein blutiges Lamm. Weinende Stimmen erhuben sich rings umher und eine Stimme der Verzweiflung war unter ihnen, bis endlich alle sich in süße Töne verlohren, in Töne die sie noch nie gehöret hatte auf der Erde. Und eine schöne Aue lag vor ihr, schöner als selbst die Aue des Paradieses; und auf ihr weidete [224] in ihres Sohnes Gestalt, ein weißgekleideter Schäfer. Die rothen Rosen waren um sein Haar und in der Hand hielt er ein Saitenspiel, aus welchem jene süßen Töne kamen. Er kehrte liebreich sich zu ihr, wollte sich ihr nahen und verschwand. Der Traum verschwand und Eva erwachte. Sie sah die Morgenröthe blutig aufgehn, und ging mit schwerem Herzen zum Opferfeste.

Die Brüder brachten ihre Opfer und die Eltern gingen heim. Am Abend aber kam Abel nicht wieder. Angstvoll suchte die Mutter ihn rings umher und fand nur seine zerstreute, traurige Heerde. Er selbst lag, wie ein Opferlamm, erschlagen am Altar: die Rosen um denselben waren mit seinem Blute gefärbet und Kains Aechzen schallte laut aus einer nahen Höle.

Ohnmächtig sank sie auf ihres Sohnes Leichnam, als ihr zum zweitenmal das Traumgesicht erschien. Ihr Sohn war jener schöne Schäfer, den sie in diesem neuen Paradiese sah. Die rothen [225] Rosen waren um sein Haar und liebliche Töne entflossen seiner Harfe; also sang er ihr zu. „Schaue hinauf gen Himmel zu den Sternen; weinende Mutter, schaue hinauf. Da sind noch andere Auen, schönere Paradiese, als du in Eden sahst; wo die Blutgefärbte Rose der Unschuld voller blüht, und alle Seufzer sich in süsse Töne wandeln.“ – Das Gesicht verschwand; und gestärkt stand Eva vom blassen Leichnam ihres Sohnes auf. Und da sie Morgens ihn mit ihren Thränen gewaschen und mit den Rosen von seinem Altar bekränzet hatte, wie sie ihn im Traume gesehn, begruben Vater und Mutter ihn an Gottes Altar, vorm Angesicht einer schönen Morgenröthe. Oft aber saßen sie an seinem Grabe zu Mitternacht und sahen gen Himmel und suchten ihren Schäfer unter den Sternen.