Der gelesenste Schriftsteller Frankreichs

Textdaten
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Titel: Der gelesenste Schriftsteller Frankreichs
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 207–208
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[207] Der gelesenste Schriftsteller Frankreichs. In der Rue Lafayette ist soeben ein Prachtbau ausgeführt worden, dessen Fassade durch Sculpturen, Vergoldungen und Verzierungen aller Art die Blicke der Vorübergehenden lebhaft anzieht. Am Giebel dieses Hauses gewahrt man ein Medaillon in Bronze. Das Medaillon ist aber nichts Anderes als ein Sousstück von kolossalem Umfang. Was bedeutet diese Münze? Daß das Haus durch einzelne Soustücke, die von allen Enden und Ecken Frankreichs herbeigeströmt, erbaut worden. In dem neuen Gebäude wird nämlich das Petit Journal gedruckt und von dort täglich in zweimalhunderttausend Exemplaren verbreitet. Treten wir durch den hohen, mit Bildsäulen geschmückten Eingang in den Hofraum, so sehen wir einen fünfstöckigen Hinterbau, in welchem das genannte Tagblatt das Licht der Welt erblickt. Zu ebener Erde befinden sich vier Schnellpressen, von denen jede sechsunddreißigtausend Exemplare in einer Stunde druckt, so daß in weniger als zwei Stunden der Druck des Journals bewirkt wird. Der Satz wird im ersten Stock clichirt; im zweiten Stock arbeiten die Setzer; im dritten befindet sich die Redaction; im vierten wird das Blatt gefaltet, und endlich im fünften befindet sich die Expedition. Der Gründer des Petit Journal ist der Finanzmann Millaud; die außerordentliche Verbreitung dieses Blattes ist aber dem Journalisten Léo Lespès zu verdanken, der unter dem Namen Timothée Trimm seit 1863 täglich den Hauptartikel liefert. Trimm hat seit dem Bestehen des Blattes über achlzehnhundert Artikel geschrieben, und es giebt kein Dorf in Frankreich, in welchem sie nicht gelesen worden. Daß diese Artikel nicht lauter Meisterwerke sind, versteht sich von selbst; ebenso versteht es sich von selbst, daß Trimm sich oft wiederholt und daß ihm sehr häufig das Conversationslexikon aus der Noth helfen muß; allein schon der außerordentliche Erfolg seiner journalistischen Thätigkeit beweist hinlänglich, daß es ihm nicht an Begabung fehlt, um so mehr, als er nicht in den Fehler so vieler seiner Collegen verfällt, um jeden Preis die Leser anzuziehen, und Alles, was das Sittlichkeitsgefühl verletzen könnte, sorgfältig vermeidet. Er hat eine Anzabl kleiner Genrebilder, Erzählungen und Skizzen geschrieben, von denen einzelne in der That vorzüglich sind.

Léo Lespès ist im Jahre 1813 geboren. Er diente als Corporal im fünfundfünfzigsten Linienregiment, ohne sich Lorbeeren zu erobern. Sein Oberst überraschte ihn beim Versemachen und erklärte ihn für einen schlechten Corporal. Lespès selbst sah ein, daß ihm die Natur das Talent zu einem guten Corporal versagt hat; er zog daher die Uniform aus und trat 1840 als Journalist auf. Seit jener Zeit hat er die Schriftstellerfeder nicht mehr niedergelegt. Seine große Popularität datirt indessen erst von dem Erscheinen des Petit Journal, dem er eine solche Verbreitung verschaffe, daß von demselben im Jahre 1866 täglich dreihundert und zwanzigtausend Exemplare abgesetzt wurden. Dieser ungeheure Absatz hat zwar seit jener Zeit durch die Concurrenz des von der Regierung herausgegebenen Petit Moniteur abgenommen, das Petit Journal ist aber noch immer das gelesenste Blatt in Frankreich.

Léo Lespès ist ein ganz eigenthümlicher Kauz und seine äußere Ankündigung höchst auffallend. Ein kurzer, wohlbeleibter Mann, trägt er eine Art sammtner Blouse, sehr weite Beinkleider mit Stegen, ein rothes, lose geknüpftes Halstuch und eine faltenreiche Weste, auf welcher eine dicke, goldene Uhrkette glänzt, so daß man ihn für einen Menageriebesitzer oder den Eigenthümer eines Wachsfigurencabinets halten könnte. Er geht selten und nur eine ganz kurze Strecke zu Fuß, sondern fährt fast immer in [208] einer Droschke und theilt mit Rossini die Furcht vor der Eisenbahn. Die Photographen haben sein rundes, lachendes Gesicht schon so oft vervielfältigt, daß ihn in Paris so ziemlich Jedermann kennt. Von den Journalisten der sogenannten kleinen Presse wird er aus Neid sehr häufig angegriffen; er läßt sich aber mit ihnen wohlweislich in keine Polemik ein. Lespès hat mehrere Bände kleiner humoristischer Schriften veröffentlicht, von denen Manches wohl verdient, in’s Deutsche übersetzt zu werden. Welcher Popularität sich das Petit Journal erfreut, kann man daraus ersehen, daß dem neuen Gebäude gegenüber, in welchem es jetzt gedruckt wird, vor Kurzem eine Weinschenke mit dem Schilde „Au Rendez-vous du Petit Journal“ eröffnet wurde.