Der Zopfabschneider vor Gericht

Textdaten
Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Der Zopfabschneider vor Gericht
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aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 9, Seite 284–292
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Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Der Zopfabschneider vor Gericht.

Im Mittelalter wurden bekanntlich die Verrückten geprügelt, um den Teufel, von dem sie angeblich besessen waren, aus dem Körper zu treiben. Im Sommer 1895 erfuhr man durch den wider Mellage und Genossen vor der Strafkammer zu Aachen geführten Prozeß wegen Beleidigung der Brüder des Alexianerklosters „Mariaberg“ (Siehe erster Band)[WS 1], daß in diesem Kloster noch in der Neuzeit Verrückte geschlagen wurden, weil die Klosterbrüder von der mittelalterlichen Anschauung beherrscht waren, die Verrückten seien vom Teufel besessen und der Teufel müsse durch heftige Prügel aus dem Körper getrieben werden. Allmählich gelangt man aber, auch selbst in den ungebildeten Laienkreisen, zu der Überzeugung, daß Geisteskrankheiten keine Schande seien, sondern eine ebensolche natürliche Grundlage haben wie die körperlichen Krankheiten. Daß den verschiedenen menschlichen Leidenschaften ein gewisser Grad von Geistesgestörtheit zugrunde liegt, ist wissenschaftlich längst nachgewiesen. Der bekannte Nervenarzt Dr. Magnus Hirschfeld (Berlin) hat in seinem Buche: „Die Transvestiten“ in sehr eingehender Weise den erotischen Verkleidungstrieb als eine nicht selten vorkommende unwiderstehliche Leidenschaft nachgewiesen. Weniger harmlos als die Transvestiten sind zweifellos die Leute, die den unwiderstehlichen Trieb haben, Frauen zu stechen oder deren Kleider mit Tinte oder einer ätzenden Flüssigkeit zu bespritzen. „Jack der Aufschlitzer“, der vor einer Reihe von Jahren in Withshapel, einer Vorstadt Londons, sein Unwesen trieb, dürfte ebenso noch in Erinnerung sein, wie der Messerstecher, der Anfang 1909 in den Straßen Berlins eine große Anzahl Frauen und Mädchen, zum Teil ganz erheblich, durch Messerstiche verletzte. Im August 1912 wurden bekanntlich in einem Eisenbahnwagen auf dem Wege von Nauen nach Berlin einige Damen von einem Messerstecher in so erheblicher Weise verletzt, daß sie sämtlich längere Zeit in ärztlicher Behandlung waren und eine ältere Dame infolge der Verletzungen gestorben ist. Nach längeren Bemühungen gelang es dem Berliner Kriminalkommissar Artur Klinghammer den unheimlichen Messerstecher in der Person des 20jährigen Bäckergesellen Franz Nettelstroth zu verhaften. Allein Nettelstroth befand sich bei Drucklegung dieses Bandes noch immer in ärztlicher Beobachtung und es war sehr zweifelhaft, ob gegen diesen Menschen wird verhandelt werden können. Er wird wahrscheinlich, wie mir der Gerichtsarzt, Herr Medizinalrat Dr. Störmer, mitteilte, als gemeingefährlich geisteskrank erklärt und dauernd einer Irrenanstalt überwiesen werden. Die meisten menschlichen Leidenschaften liegen zweifellos auf erotischem Gebiete. Wenn es wahr ist, daß der vierzigjährige Diener Josef Ritter, der am Pfingstsonnabend 1913 den 12jährigen Knaben Klähn in der Hohenzollernstraße in Berlin ermordete, an den Qualen des armen Kindes wollüstige Befriedigung empfunden hatte, dann scheint auch dieser Mann geistesgestört zu sein. Anfang März 1906 saß ein hübscher junger Mann auf der Anklagebank des Schöffengerichts Berlin Mitte. Der Mann, namens Robert Stoß, war 1883 in Valparaiso geboren. Er war Student an der Technischen Hochschule in Charlottenburg und ungemein talentvoll und fleißig. Der sehr träumerisch aussehende, bartlose junge Mann lebte sehr zurückgezogen. Er war Mitglied eines studentischen „Vereins zur Aufrechterhaltung des Keuschheitsprinzips“. Er hatte, obwohl er bereits 23 Jahre alt war, noch niemals mit einem weiblichen Wesen verkehrt. Er besaß aber den unwiderstehlichen Drang, jungen blonden Mädchen die Zöpfe abzuschneiden. Er lief, mit einer scharfen Schere bewaffnet, hurtig durch die Straßen Berlins, und sobald sich ihm Gelegenheit bot, schnitt er auf offener Straße blonden Damen die Zöpfe ab. In seiner Behausung soll ein ganzes Arsenal schöner blonder Zöpfe gefunden worden sein, die er sämtlich fein säuberlich mit rotseidenen Bändchen gebunden hatte. Als er eines Tages in Berlin in der Leipzigerstraße einem jungen Mädchen, Tochter eines Hauptmanns der Armee, einen Zopf abschnitt, wurde er von dem Hauptmann gefaßt und der Polizei übergeben. Er wurde deshalb wegen Diebstahls, körperlicher Mißhandlung und tätlicher Beleidigung angeklagt. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Gerichtsassessor Dr. Förster. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Rhode, die Verteidigung führte Justizrat Dr. Richard Wolff. Als medizinische Sachverständige waren geladen die Gerichtsärzte Geh. Medizinalrat Dr. Leppmann, Medizinalrat Dr. Hoffmann und Dr. med. Magnus Hirschfeld. – Auf Antrag des Staatsanwalts[WS 2] wurde wegen Gefährdung der Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen, den Vertretern der Presse aber der Zutritt gestattet. – Der Angeklagte äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei 1888 nach Deutschland gekommen und habe in Thorn, Bergedorf und Hamburg das Gymnasium besucht. In Hamburg habe er das Abiturientenexamen gemacht und ein sehr gutes Abgangszeugnis erhalten. Er habe stets hervorragende Begabung für Mathematik gezeigt; er habe ein Semester in München studiert und stehe jetzt im sechsten Semester. Er studiere Schiffsbautechnik und habe sehr fleißig gearbeitet. Er gebe zu, in 16 Fällen in den Straßen Berlins Mädchen die Zöpfe abgeschnitten zu haben. In seiner Wohnung seien 31 Zöpfe gefunden worden. – Vors.: Haben Sie schon in früheren Jahren solche Neigungen gehabt? – Angekl.: Einmal, im Alter von 16 Jahren, habe ich abends meiner dreizehnjährigen Schwester heimlich Haare abgeschnitten und sie behalten. Die Neigung für schönes langes Haar habe ich immer gehabt, schließlich ist diese so stark aufgetreten, daß ich ihr nicht widerstehen konnte. Zum ersten Male habe ich am Tage des Einzuges der Kronprinzessin einem Mädchen einige Haare abgeschnitten. Ich weiß nicht, weshalb ich plötzlich dem Triebe nicht mehr widerstehen konnte. Der Trieb wurde heftiger, als ich von einer Reise nach Südamerika, die ich als Maschinenvolontär gemacht hatte, zurückkehrte. Die Reise hatte fünf Monate gedauert; ich hatte an Bord stark gearbeitet, war auf der ganzen Reise in mißmutiger Stimmung, und als ich zurückkehrte, wurde die Anfechtung immer größer. – Vors.: Wie kam denn die Anfechtung über Sie? – Angekl.: Ich lief öfter kleinen Mädchen nach, ohne daß ich den Wunsch, ihr Haar zu besitzen, ausführen konnte. Da gelang es mir in dem Gedränge der Einzugsfeierlichkeiten Unter den Linden einem Mädchen ihr loses Haar mit einer Schere abzuschneiden, ohne daß das Mädchen davon etwas merkte. – Vors.: Was machten Sie mit dem Haar? – Angekl.: Gar nichts. – Vors.: Was dachten Sie sich denn dabei? – Angekl.: Gar nichts. Ich habe das Haar einfach in die Tasche gesteckt. – Vors.: Und weiter? – Angekl.: Ich habe dann noch mehrere Male Unter den Linden loses Haar abgeschnitten. – Vors.: Wann fingen Sie an, ganze Zöpfe abzuschneiden? – Angekl.: Im November bei dem Einzug des Königs von Spanien. Da habe ich beim Opernplatz einem Kinde den Zopf abgeschnitten; das Mädchen merkte nichts davon, und ich blieb ruhig stehen. Der Zopf war mit einem Bändchen versehen. – Vors.: Was haben Sie mit dem Zopf gemacht? – Angekl.: Ich habe ihn zu Hause ausgeflochten, ausgekämmt und in einem Kästchen im Schreibtisch, das die Aufschrift „Erinnerungen“ trug, aufbewahrt. Ich habe das Haar dann manchmal

hervorgeholt und geküßt,

bisweilen es auch auf mein Kopfkissen gelegt und meinen Kopf darauf ruhen lassen. – Vors.: Waren Sie sich denn nicht bewußt, etwas Böses und Übles zu tun, und daß Sie einen tiefen Eingriff in die Rechtssphäre eines anderen ausübten? – Angekl.: Daran habe ich nicht gedacht. – Vors.: Wenn nun etwa heute die Untersuchungshaft aufgehoben würde und Sie in die Freiheit zurückkehrten, würden Sie dann dasselbe wieder tun? – Angekl.: Ich glaube nicht, daß ich es noch einmal tun würde, da ich jetzt erfahren habe, was für Folgen dies hat. – Vors.: Können Sie die Bürgschaft übernehmen, daß in Zukunft bei Ihnen der Wille stärker ist als der Trieb? – Angekl.: Eine Garantie könnte ich nicht übernehmen. – Vors.: Haben Sie nie gelesen, daß die Berliner Bürgerschaft über das Zopfabschneiden sehr beunruhigt war? – Angekl.: Ich hatte nichts gelesen. – Vors.: Wann wurden Sie verhaftet? – Angekl.: Am 27. Januar d. J. hatte ich einem Mädchen, das zwei Zöpfe hatte, den einen abgeschnitten. Als das Mädchen wieder in meine Nähe kam, wollte ich den anderen Zopf abschneiden, und dabei wurde ich verhaftet. – Vors.: Ist es richtig, daß Sie jeden einzelnen Zopf mit einem Bändchen und dem Datum des Abschneidens bezeichneten? – Angekl.: Zum Teil habe ich es getan. – Vors.: Haben Sie einmal mit einer Frau Beziehungen gehabt? – Angekl.: Nein, niemals. Ich habe nur einen starken Trieb, schönes langes Haar in Besitz zu bekommen. – Vors.: Würde Ihnen auch langes schönes Männerhaar genügt haben? – Angekl.: Ja. – Vert. Justizrat Dr. Wolff: Haben Sie nicht schon in ganz früher Jugend diesen krankhaften Trieb gehabt? Sie haben mir gesagt, Sie erinnerten sich noch des Haares mancher Mädchen aus Ihrer Thorner Zeit. Damals waren Sie acht Jahre alt. Sie haben mir gesagt, daß Sie an die Trägerinnen des Haares gar nicht mehr gedacht haben, um so mehr aber an deren Haar. – Angekl.: Das ist richtig. Mir ist es auch gleichgültig, ob die Trägerin des Haares jung und schön oder alt und häßlich ist. Ich hatte nur Interesse an dem Haar. – Vors.: Auch an weißem Haar? – Angekl.: Ich habe nur eine Vorliebe für blondes Haar. – Auf eine weitere Frage des Vorsitzenden erklärte der Angeklagte, daß er im Akademischen Turnverein aktiv gewesen und einem studentischen Keuschheitsbunde angehöre. – Vert. Justizrat Dr. Wolff: Der Angeklagte hat sich auch dahin ausgesprochen, daß ihm während seiner Arbeit oftmals plötzlich Zöpfe vor seinem Auge zu schwirren schienen. Er sei auch oft in Träumereien verfallen, daß ihm in allen Ländern Frauen und Mädchen mit schönen Haaren dienstbar seien und er sie ihres Haarschmuckes berauben könne. Der Angeklagte hat sich unter seinen Kollegen stets zurückgesetzt gefühlt. Er hatte das Gefühl, daß er

zu Großem bestimmt

sei und seine Kameraden dies nicht anerkennen wollten. Der Angeklagte, dessen Vater gestorben ist, wird in seinem Studium von dritter Seite unterstützt. Sein Bruder ist Seeoffizier, eine Schwester ist geisteskrank. – Hauptmann v. W., dessen Tochter bei einem Spaziergang in der Leipzigerstraße gleichfalls durch den Angeklagten eines Teiles ihres Haarschmuckes beraubt worden ist, bekundete als Zeuge: Der Vorfall habe für das Mädchen sehr unangenehme Folgen gehabt. Das Kind ist seitdem von einem großen Angstgefühl beherrscht, hat einen Nervenchoc erlitten und schreit in der Nacht wiederholt ängstlich auf, da es von dem Zopfabschneider träumt. – Zeugin Frau Gall, eine alte Bekannte der Familie des Angeklagten, schilderte seinen Charakter als außerordentlich gut. Von seiner Tat seien alle, die ihn kannten, völlig überrascht gewesen; eine Vorliebe für fremdes Haar sei ihr bei ihm nie aufgefallen. In der letzten Zeit war er offenbar geistig überanstrengt und sehr zerstreut, im übrigen sei er nie lustig und fröhlich wie andere junge Leute gewesen. Nach weiteren Mitteilungen der Zeugin aus der Familiengeschichte ist der Angeklagte erheblich erblich belastet. – Studiosus Schmeding, Vorsitzender des Vereins zur Aufrechterhaltung des Keuschheitsprinzips, war mit dem Angeklagten, infolge gleicher Anschauungen, näher bekannt geworden. Er schilderte ihn als einen guten Charakter, aber als träumerischen, schwermütigen und verschlossenen Menschen, der harmlose Fröhlichkeit und Freude nicht kannte. – Medizinalrat Dr. Hoffmann: Es handelt sich hier um eine eigenartige Betätigung des Geschlechtstriebes. Wenn auch eine solche durchaus nicht der Verantwortung enthebt, so ist doch in diesem Falle die normale Sphäre schon von Jugend an zurückgedrängt. Der Angeklagte ist ein Phantast, der sich nicht anerkannt glaubt. Er ist der Ansicht, er könne sich unsichtbar machen, sich ein großes Schloß bauen und die Zimmer darin mit unzähligen Zöpfen ausstatten. Dazu ist er

erblich belastet,

und die körperliche Untersuchung zeigt eine Menge Degenerationszeichen. Der Schutz des § 51 des Strafgesetzbuches dürfte also hier Platz greifen. Da der Angeklagte schwerlich die Kraft haben dürfte, seine Neigung zu unterdrücken, so würde eine Behandlung in der Irrenanstalt notwendig erscheinen. – Medizinalrat Dr. Leppmann: Der hier vorliegende Fall ist ein äußerst seltener. Der Angeklagte ist erblich schwer belastet und hat eine Reihe von Entartungszeichen. Der Angeklagte war bei seinen Taten sicher gemütskrank und ist auch jetzt noch krank. Krafft-Ebing kennt nur wenige derartige Fälle, ebenso Dr. Moll. Die freie Willensbestimmung des Angeklagten war ausgeschlossen; er ist auch jetzt noch nicht gesund und muß wie ein Kranker behandelt werden. – Der dritte Sachverständige, Dr. med. Magnus Hirschfeld, schloß sich diesen Gutachten vollinhaltlich an. – Staatsanwalt Dr. Rohde: Wenn der Angeklagte geistig gesund wäre, so würde er außerordentlich scharf bestraft werden müssen, denn es liegt eine ungeheure Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vor. Es ist nicht richtig, daß das Strafrecht bezüglich solcher Tat eine Lücke enthält. Man kann im einzelnen darüber streiten, unter welchen Paragraph die Tat zu subsummieren ist, aber es kann keine Rede davon sein, daß sie straflos bleiben müßte. Objektiv liegt unzweifelhaft Beleidigung vor, ebenso zweifellos wird der Begriff der Körperverletzung erfüllt, auch Diebstahl würde vorliegen können. Nähere Erörterungen in dieser Beziehung erübrigen sich infolge des Gutachtens der Sachverständigen, das den Antrag auf Freisprechung notwendig macht. – Der Vert. Justizrat Dr. Wolff schloß sich den Ausführungen des Staatsanwalts im wesentlichen an. – Auf Befragen des Vorsitzenden gaben die Angehörigen des Angeklagten die Versicherung, daß sie den Angeklagten, wenn er freigesprochen werden sollte, sofort der Maison de Santé zuführen werden. – Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende: Das öffentliche Rechtsgefühl erheische natürlich strenge Sühne für die vorliegende Tat. Sie ist aber dem Angeklagten nicht anzurechnen. Nach den Ausführungen der Sachverständigen muß der Angeklagte freigesprochen werden in der Erwartung, daß er sofort durch die Familie einer Anstalt zugewiesen wird. Dieses Ergebnis wird vielleicht nicht überall befriedigen, ein anderes war aber auf Grund der Beweisaufnahme nicht möglich.

Der Angeklagte wurde darauf von seinen Angehörigen sofort in der Maison de Santé in Schöneberg untergebracht. Einige Zeit nach seiner Entlassung aus dieser Anstalt wurde er in Hamburg festgenommen, weil er dort einem Mädchen den Zopf abschnitt. Der Kranke wurde daraufhin in der Nervenheilanstalt Friedrichsberg bei Hamburg interniert und später noch in verschiedenen anderen Sanatorien untergebracht. Scheinbar geheilt, bestand Stoß im Jahre 1910 mit Auszeichnung das Ingenieurexamen und wurde Hochschulassistent in Braunschweig. Von dort wurde er nach Argentinien berufen.

Vor einigen Monaten wurde er in Buenos Aires verhaftet, weil er in der Straße Santa Fé der argentinischen Hauptstadt der Tochter eines in Argentinien akkreditierten Ministers den blonden Zopf abgeschnitten hatte. Der 29jährige Mann gestand ein, daß er bereits 21 Zöpfe in Buenos Aires geraubt habe. Auf die Frage, was er mit den Zöpfen mache, erklärte er, daß er das Haar zu Hause immerfort küsse, es an Wange und Nase drücke und sich an dem Duft des Haares berausche. Er sei ungemein unglücklich über seine krankhafte Veranlagung und bitte dringend, ihn dauernd in einer Anstalt zu internieren.

In dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren bekundeten die als Sachverständige geladenen argentinischen Ärzte, daß der Angeklagte an einem vorgerückten Grade von Fetischismus leide. Sie traten für die Internierung des Kranken ein, da ihn unleugbar seine Neigung, obgleich sie mit einer hervorragenden Intelligenz zusammengehe, nichtsdestoweniger ungeeignet mache, sich in der Gesellschaft zu bewegen. Außerdem sei er gegen seine Krankheit widerstandslos. Das Gericht in Buenos Aires schloß sich den Gutachten der Sachverständigen an und sprach die Überführung des Ingenieurs Stoß nach dem Hospiz de las Mercedes aus.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe Die Geheimnisse des Alexianer-Klosters Mariaberg. Bruder Heinrich aus Friedländers Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung (Band I) von 1910 (S. 91–135).
  2. Vorlage: Staatsanwalt