Der Wunderglaube vor Weihnacht

Textdaten
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Autor: Alexander Tille
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Titel: Der Wunderglaube vor Weihnacht
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 826–827
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Wunderglaube der Weihnacht.

Von Alexander Tille.0 Mit einer Zeichnung von H. Engl.

Wenn sich am Heiligen Abend die Dunkelheit herniedersenkt, alt und jung sich in die Häuser zurückzieht, um den Weihnachtsabend zu feiern, und bald allenthalben die Fenster vom hellen Lichterscheine wiederglänzen, dann bricht nach altem Glauben draußen unter freiem Himmel eine Nacht an, die anders ist als andere Nächte. Wohl scheinen auch in ihr die Sterne freundlich nieder auf die Erde, die im weißen Festkleide daliegt, wohl streicht auch in ihr der Wind dahin über Feld und Wald, wohl such auch in ihr Mensch und Thier Ruhe nach der Arbeit des Tages, und die Pflanze schläft still unter der bergenden Schneedecke den Winterschlaf.

Aber es geht noch ein anderer Hauch durch die Natur, und die Bäume des Waldes knarren und stöhnen anders, als sie sonst zu thun pflegen unter dem Drucke des Sturmwindes, der sie von ihrer Schneelast befreit; denn noch etwas andres zieht neben dem Sturm durch die Lüfte. Das sind die alten germanischen Götter, die eine neue Lehre aus ihrer alten Himmelsburg Asgard vertrieben hat und die nun als Unholde in brausendem Jägerzug, als „wilde Jagd“ „wüthendes Heer“ oder „Wodans Gejaid“ durch die Lande brausen. Unter wildem Gejohle, in das sich das Brausen des Sturmwinds, das Bellen der Hunde, das Schnauben und Wiehern der Rosse und die Wehrufe der Weiber mischen, reitet an der Spitze des Zuges der wilde Jäger auf schwarzem Rosse, in der Hand den Jagdspeer schwingend. Ihm folgt das Jagdgesinde nebst der Meute; Fru Gode oder Frau Holle darf auch nicht fehlen. So geht’s dahin auf dem Rennste1g Thüringens, über Berge und Höhen, über Wald, Thal, Fluß und See, über Fahrstraßen und über die Hütten der Dörfer, die in festlichem Glanze schimmern; Bäume werden entwurzelt, Grenzsteine ausgerissen, Zäune niedergebrochen und selbst die Schornsteine gefährdet.

Ein kluger Mann kann die Bahnen der tollen Jagd leicht vorauswissen. Er braucht nur alle Kreuzwege aufzusuchen, denn das ist Gesetz in jener Welt, der das wilde Gejaid angehört, daß jeder Kreuzweg besucht werden muß. Aber man hüte sich, zu lange zu verweilen! Denn wer sich von Wodans Jagd überraschen läßt, für den giebt es nur noch eine Rettung: sich platt auf den Boden zu werfen und mit geschlossenen Augen, das Gesicht nach der Erde gewendet, den unheimlichen Zug vorüberbrausen zu lassen. Wer das versäumt, wird mitgenommen und muß mitjagen bis zum letzten Tage, oder er erfährt irgend einen Schaden an seinem Leibe.

Bei Moosburg in Oberbayern stand dereinst ein Mann am Kreuzweg, als die wilde Jagd vorüberzog. Da fuhr ihm ein Messer in seine Achsel, und weder er noch ein anderer vermochte dasselbe berauszuziehen. Ein Jahr lang ging er damit umher. Da rieth ihm die Dorfesalte, sich in der Weihnacht wieder auf den Kreuzweg zu stellen. Der das Messer hineingestoßen habe, werde es schon wieder herausziehen. Er ging dahin und harrte lautlos des Kommenden. Da vernahm er in der Ferne ein Brausen, als ob das Meer über Bayern hereinbreche. Gleich darauf hörte er einen sprechen. „Gestern habe ich mein Messer in diesen Holzblock gesteckt; nun nehm’ ich’s wieder mit!" Dann stürmte es über seinem Leibe dahin, daß ihm die Sinne vergingen. Als er wieder zu sich kam, so endet die Sage, da war er des Messers ledig.

Nur in seltenen Fällen erweist sich die wilde Jagd als freigebig. Einst lauerte ein Knecht auf dem Heuboden auf den nächtlichen Zug und schaute zur Dachluke hinaus. Als die Unholde anlangten, rief er kecken Muthes: „Gebt mir auch was!“ Da flog ihm aus der Luft ein gewaltiger Pferdeschenkel zu.

So verhängnißvoll die wilde Jagd dem einzelnen werden kann, der ihr vorwitzig oder wohl gar aus reiner Neugier entgegentritt, so segensreich wirkt ihr Umzug draußen in der Natur. Ihre Bahnen kann man im Frühjahr leicht erkennen: wo das Gras und das Korn am reichlichsten sprießt, wo die Fruchtbäume voller blühen und in den Gärten der Salat am kräftigsten aufschießt, da ist der wilde Jäger drüber gefahren. Oft geht mitten durch ein Grundstück ein Streifen, wo die Wintersaat üppigere Halme ansetzt oder die Kartoffeln doppelt so groß gerathen wie rings umher. Das sind die Stellen, über welche die Rosse der wilden Jagd dahingebraust sind.

Es giebt aber auch stille Weihnachtsnächte, in denen sich kaum ein Lüftchen rührt und keine Flocke Schnee fällt. Das kommt daher, weil das wilde Heer die Gegend verlassen hat und dieses Jahr auf andern Bahnen streift. Dann stehen die Aussichten fur den Landmann schlecht und er macht sich bittere Sorgen um den Ausfall der kommenden Ernte. Wenn aber zur Weihnachtszeit ein starker Wind geht, dann schließt man auf ein fruchtbares Jahr. Wenn’s in der Christnacht schneit, so geräth der Hafer; das Grüne zu Weihnachten aber bedeutet Osterschnee.

„Wie sich das Wetter von Christtag bis heiligen Dreikönig hält,
So ist es das ganze Jahr bestellt.“

Jeder Tag entspricht dabei einem Monat und ist vorbedeuteud für ihn. Ist die Christnacht vor Mitternacht trüb und finster, so gedeiht das vor dem Christtag geborene Vieh nicht wohl. Ist die Christnacht nach Mitternacht klar, so gedeiht das nach dem Christtag geborene Vieh gut und umgekehrt.

In der Mitternachtsstunde erreicht die Heiligkeil der Zeit ihren Höhepunkt, und wenn es vom Thurm zwölf Uhr schlägt, dann ist es aus mit der Herrschaft und den Gesetzen der Zeit, dann ist es zeitlos wie die Ewigkeit. Tausende von Jahren vergehen im Nu und ein Menschenleben erscheint kaum einen Augenblick lang. In der Pflanzenwelt sind in der Mitternachtsstunde der Christnacht die Naturgesetze aufgehoben, und mitten in Schnee und Eis blüht um diese Stunde ein Frühling, mit dessen Duft und Pracht sich kein irdischer Lenz zu messen vermag.

Den Lesern der „Gartenlaube“ ist es wohl bekannt,[1] daß seit dem fünfzehnten Jahrhundert auf deutschem Boden die Sage geht von Apfelbäumen, die in einer Stunde Knospen und Blüthen hervorbringen und Aepfel zeitigen, aus deren Gestalt man die Zukunft zu erkennen vermag. Ueber das ganze Abendland verbreitet ist die Sage von der Rose von Jericho, welche sich in der Christnacht öffnet und dem Lande, in dem sie sich befindet, seine künftigen Geschicke vorhersagt.

In einem elsässischen Dorfe, unweit Mariastein, steht ein „Rosenknopf“ (Rosenknospe), welcher nie verblüht. Das Jahr über ist er geschlossen, in der Christnacht aber entfaltet er sich und wirft weithin duftend einen lichten Schein. Er stammt von dem „Rosenhurste“ ab, an welchem die Jungfrau Maria auf der Flucht nach Aegypten die Windeln ihres göttlichen Kindes getrocknet hat. Je länger die Rose blüht, desto fruchtbarer wird das Jahr.

Vor dem Oberthore des in Lothringen gelegenen Dorfes Diemeringen liegt ein großer Hopfengarten. Wer sich mäuschenstill und unbeschrien zwischen elf und zwölf Uhr in der Christnacht an den Ort begiebt, der sieht, wie fingerlange und saftige Hopfensprossen aus dem Boden herausbrechen, die Leute sagen dann: „Der Hopp (Hopfen) kommt.“ Sowie es vom Kirchthurm Zwölfe geschlagen hat, ziehen sich die Sprossen wieder in die Erde zurück, und auch das schärfste Auge vermag in dem gefrorenen Boden nicht die Stelle zu erkennen, wo sie gestanden hatten.

Auch außerhalb Deutschlands, doch noch auf germanischem Boden, findet sich dieser Glaube. Noch unter Karl I. wurde in England an [827] jedem Weihnachtsfeiertag dem König und der Königin in feierlicher Prozession als Gabe ein Zweig von dem berühmten Weißdornstrauch in Glastonbury überreicht, der beim Volke in dem Rufe stand, daß er in der Christnacht ausschlage und am Christtag über und über blühe. Auch um ihn hatte sich schon früh das Epheugrün der Sage geschlungen und ihn zu einem Sprößling des Stabes gemacht, den Joseph von Arimathia eigenhändig am Christabend in die Erde steckte und der sogleich Wurzeln schlug, Blätter trieb und am nächsten Tage mit milchweißen Blüthen bedeckt war. In jeder Christnacht blühte er, und alle seine Abkömmlinge besaßen die gleiche Fähigkeit. So ging es lange Jahrhunderte. Als aber 1753 in Quainton in Buckinghamshire ein Ableger des Glastonburyer Dornstrauches in der Weihnacht keine Sprossen trieb, während Tausende von Zuschauern mit Fackeln und Laternen an Ort nud Stelle versammelt waren, da behauptete das Volk, der 25. Dezember des neuen, eben damals auch in England eingeführten Gregorianischen Kalenders sei nicht der wirkliche Christtag; es weigerte sich, ihn als Fest zu begehen, und diese Weigerung behielt scheinbar recht, als der Weißdorn am 5. Januar wie gewöhnlich blühte, und das Volk war nicht eher beruhigt, als bis eine Verordnung erschien, welche befahl, den alten Christtag gleich dem neuen zu feiern.

Der Segen, den die Weihe der Nacht der athmenden und der leblosen Natur bringt, ist tausendfach: aber um ihn festzuhalten und ihn sich dienstbar zu machen, bedarf es doch des Eingreifens der Menschenhand.

Der Schwabe wie der Schwede windet in der Julnacht ein Strohseil um seine Obstbäume, der Aargauer ein Strohband, das er zur Zeit des Osteraufläutens geflochten hat; in Böhmen und Tirol schlägt und schüttelt man die Fruchtbäume, während es zur Christmette läutet, und in Pillersee ging man ehedem zur gleichen Stunde in den Obstanger, klopfte mit krummem Finger an jeden Baum und rief: „Aus, Baum; heut’ ist heilige Nacht, bring’ wieder viel Aepfel und Birnen!“ In Alpach (Tirol) läßt man jeden Baum von der Dirne umfassen, welche den Teig zum Weihnachtszelten geknetet und die Arme noch voller Teig hat; in Reichenberg (Böhmen) ladet man die Bäume höflich zum Abendessen ein und schüttet ihnen dann, da sie dieser Einladung gemeinhin nicht Folge leisten, die Reste davon hin, und am Rhein hing man vor Zeiten Epheuranken, Mistelkränze und Strohbüschel an den Fruchtbäumen auf – die letzten Reste des alten Opfers für die Wachsthumsgeister.

Aber der Zauber der Mitternachtsstunde erstreckt sich noch weiter. Die Glocken aller versunkenen Kirchen und Kapellen lassen ihr Geläut ertönen, die Gräber öffnen sich und geben den Toten für eine Stunde Leben und Bewegung wieder, Berge thun sich auf und lassen den, der im Besitz der „blauen Blume“ ist, den Eingang finden zu den Pforten der Unterwelt, wo Schätze auf Schätze gehäuft liegen und wo jeder zulangen und mitnehmen darf, soviel er will. Aber auch in diesem Reiche giebt es keine Zeit, und was dem Sterblichen als eine Minute erscheint, sind achtzig lange Erdenjahre. Ein Augenblick – er besinnt sich, daß er umkehren müsse; er schreitet zur Schwelle, die Pforte öffnet sich, und er tritt ans Tageslicht. Aber statt der blonden Locken deckt spärliches graues Haar seinen Scheitel, vom Kinn wallt ihm ein langer weißer Bart hernieder, und um ihn ist alles anders geworden. Seinen Heimathort erkennt er kaum wieder, die Menschen tragen andere Kleider und sehen ihn scheu an – es bleibt ihm nichts übrig, als nach der Kirche zu schreiten, dem einzigen Orte, der unverändert geblieben ist, und dort – in Staub zu zerfallen.

Wo ein Fluß, ein Bach durchs Thal rauscht, zwischen dessen Ufern fließt nicht mehr Wasser in der Weihestunde, sondern lauterer kostbarer Wein, und wer ihn schweigend trinkt, dem giebt er Schaffenskraft und Lebensfreude, Liebesglück und blühende Kinder und Enkel. Ein Mann in Gainfahrn in Niederösterreich glaubte das nicht. Er besaß viel Muth, und so ging er nach der Sage nachts zwölf Uhr an den Bach und schöpfte. Dabei sagte er: „Ich hab’ gehört, in der Christnacht wird Wasser zu Wein.“ Da erscholl hinter ihm eine tiefe Stimme: „Und ich habe gehört, Dein Kopf, der wäre mein.“ Damit riß es ihm rückwärts den Kopf ab, und am nächsten Morgen fand man den kopflosen Leichnam liegen.

Auch auf die Thierwelt wirkt die Weihe der Nacht. Wenn die Sonne um Mitternacht unter dem Horizonte, in dem Augenblicke, wo sie ihren neuen Jahreslauf anfängt, ihre beiden Freudensprünge macht, dann sinkt alles Vieh in den Ställen und alles Wild im Walde nieder auf die Kniee und betet. So geht in Schwaben die Sage. In Kärnten und Tirol reden die Pferde und Kühe der Bauern in derselben Stunde. Sie erzählen sich dann, was im kommenden Jahre geschehen wird, und wenn mancher wüßte, was sie plaudern, so könnte er daraus großen Vortheil ziehen. Manchmal freilich muß er auch kommendes Unheil hören. So ging es einem neugierigen Bauern, der sich am Christabend in die Raufe legte und horchte. Eben hob die Thurmglocke zum Schlage aus, da hörte er, wie der Grauschimmel zur Liese sagte: „Dies Jahr machen wir noch mit unserem Bauer los!“ Der Schreck warf ihn aufs Krankenlager, und bald zogen ihn die eigenen Rosse nach dem Friedhof.




  1. Vergl. „Gartenlaube“ 1889, Halbheft 27, „Noch einmal auf den Spuren des Weihnachtsbaums“.