Der Vater (Hohenlohe-Langenburg)

Textdaten
Autor: Max Karl zu Hohenlohe-Langenburg
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Titel: Der Vater
Untertitel:
aus: Die Sammlung. 1. Jahrgang September 1933–August 1934, S. 319–324.
Herausgeber: Klaus Mann
Auflage: Nachdruck
Entstehungsdatum: 1933/34
Erscheinungsdatum: 1986
Verlag: Zweitausendeins
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Erscheinungsort: München
Übersetzer:
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scan auf Commons
Kurzbeschreibung:
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DER VATER
VON PRINZ MAX CARL ZU HOHENLOHE-LAUFENBURG [1]

Mein Vater war eine hohe, stattliche Erscheinung. Sein schwerknochiger Körper war schlank und angenehm proportioniert. Seine vornehmen Gebärden standen jedoch in einem gewissen Widerspruch zu diesem natürlich schönen, gleichmässigen Körper. Sie waren unbeholfen und dabei gravitätisch. Sein Kopf war ebenfalls gut durchgebildet, nur die Stirn, übermässig hoch und etwas zu breit, konnte zugleich die noch embrionistische eines neugeborenen Kindes sein, wie auch die Denkerstirne eines Gelehrten. Sie war überdimensional, wie auch der Hinterschädel etwas zu gross. Was sich hinter dieser Stirne verbarg, hat nie jemand erfahren, da der weiche, von einem blonden Spitzbart umrahmte Mund nicht, — oder nur ganz selten — sprach. Nur die immer wie erschreckt aufgerissenen, etwas starren, blauen Augen nahmen bisweilen den gequälten, verstörten Ausdruck im Blicke etwa eines Menschen an, der sich auf seinem Totenbette eines ganz wichtigen, seine Seele beschwerenden Geheimnisses schreiend entledigen möchte, indes die Zunge dem Sterbenden den Dienst versagt. Niemand konnte ihn deuten, da mein Vater nicht nur nicht sprach, sondern auch nicht die Fähigkeit besass, Gemütsbewegungen oder Wünsche in irgendeiner anderen Weise zum Ausdruck zu bringen. Wenn er gefragt wurde, wiederholte er zuerst gedankenlos die an ihn gestellte Frage in ihrem genauen Wortlaut, besann sich dann einen Augenblick, indem er sich nachdenklich an seinen Bart griff und antwortete, so knapp als möglich, kurz bejahend oder verneinend‚ wie es gerade passte. Ein flüssiges Gespräch mit diesem Manne zu führen, war deshalb nicht möglich. Diese Gewohnheit, zur Sammlung der Antwort zunächst die von den anderen gestellte Frage in ihrer ganzen Länge zu wiederholen, scheint überhaupt bei Menschen aus alten Geschlechtern üblich zu sein, und vielleicht eine Folge guter Erziehung.

Vom Innenleben meines Vaters, ja ob er überhaupt eines besass, davon erfuhr freilich auch seine nächste Umgebung, seine Familie, niemals das Geringste. Was in seinem Kopfe vorgehen mochte, wusste man nicht. Das einzige, was man erraten konnte, wenn dieser seltsame Mann manchmal einen besonders verstörten Gesichtsausdruck angenommen hatte, war, dass der Sonderling, der neben seiner Frau und seinen Kindern einsiedlerisch, fast wie ein Fremder lebte, von Zeit zu Zeit von heftigen Kopfschmerzen geplagt wurde. Dann hörte man seinen schweren, gleichmässigen Schritt aus einem fernen Zimmer hallen. Heftig ausschreitend, durchmass er dann unaufhörlich den Raum, wie ein unruhiger Sträfling seine Zelle, mit ausgezählten Schritten. Da er dabei stundenlang aushalten konnte, ergab sich eine Weite des Spazierganges von sehr vielen Kilometern, die Relativität eines „begrenzten“ Raumes beweisend. Das bedauerliche, furchtbare Kopfleiden, dem gegenüber auch die besten Ärzte machtlos waren, schien sich von schlecht verheilten, inneren Schädelverletzungen herzuleiten, die mein Vater durch einen Unfall schon in seiner Kindheit erlitten hatte. Alte Diener auf dem Schlosse erzählten sich heimlich, der ältere Bruder meines Vaters, der heutige Schlossherr, wäre an diesem traurigen, so folgenschweren Unfall meines Vaters nicht ganz schuldlos gewesen; er soll seinen jüngeren Bruder, als dieser acht Jahre alt war, im Streit von der Aufgangsterrasse des Ahnschlosses über die steinerne Treppe so unglücklich hinabgestossen haben, dass der Knabe in seinem Sturz gerade mit dem Hinterkopf auf die unterste Stufe aufschlug und dabei schwere innere Schädelverletzungen erlitten hatte. — Wie dem auch gewesen sein mag, der Unfall als solcher steht fest, er traf meinen Vater in seinem achten Lebensjahr und verwandelte den bis dahin blühendenden, normalen, lebensfrischen Jungen fürs Leben in ein scheues, sonderliches, ängstliches und wortkarges Geschöpf.

Durch die Blutungen, die im Kopfe des Kindes durch jenen Unfall entstanden waren, scheinen gewisse Gehirnteile in ihrer natürlichen Weiterentwicklung gehemmt worden zu sein. So wäre es auch erklärlich, dass dieser Mensch, je älter er wurde, wiewohl sich das übrige Wachstum seines Körpers richtig entwickelte, doch geistig, vom Tage des Unfalls an, in der kindlichen Wesenheit eines achtjährigen Knaben zurückblieb. Ein Jüngling und ein Mann ist dieser Junge geistig niemals geworden. Im grossen, von heissen Trieben bewegten, körperlich ausgereiften Manne, wohnte der Geist und die Seele eines achtjährigen Kindes. Aber ein Kind kann, wenn auch bei weitem nicht alles begreifen, so doch sehr vieles lernen, und, da ja scheinbar die Zellen des Gehirns, die das Gedächtnis meines Vaters enthielten, nicht verletzt waren, sondern möglicherweise sogar auf Grund der anderen geschädigten Gehirnparzellen sich besser entfalten konnten, war es diesem Menschen möglich geworden, mehr gelesenes, gelerntes Wissen in seinem grösseren Gedächtnisschrein unterzubringen, als dies für gewöhnlich einem Menschen möglich ist. Dafür wies freilich sein Gehirn für einen Erwachsenen andere schwerwiegende Mängel auf; es konnte das in sich aufgesogene Wissen zunächst nur in sich behalten und reflektieren, ohne es dabei recht zu verarbeiten und daraus einen wesentlichen Nutzen zu ziehen, wie dies ja auch bei einem Kind der Fall sein müsste. Aber das Gehirn des Menschen ist noch immer der wertvollste und am wenigsten erforschte Mechanismus, sein Uhrwerk arbeitet immer noch feiner und richtiger als die vertrakteste und geistreichste erfundene Maschine. Beschädigte Teile können aneinander heilen und zerbrochene Werkzeuge aneinandergeschweisst wieder zu arbeiten beginnen. Daran mag es liegen, wenn mein Vater in späteren Jahren, wiewohl sein Gehirn im allgemeinen nur sachlich aufgestapeltes Wissen ganz unverarbeitet wiedergab, plötzlich hier und da unvermittelt, aus einem längst verschollen geglaubten Gang seines Gehirns, einen von ihm ganz selbständig ausgearbeiteten Gedanken hervorholen konnte, der oft eine Lebensweisheit oder einen augenblicklichen Umständen treffend angepassten Sinnspruch ergab. Durch eine solche, freilich sehr selten getane Äusserung, durch welche der Sonderling zuweilen doch eine innere Teilnahme an den Gesprächen der ihn umgebenden Menschen verriet, versetzte er seine nächsten Angehörigen, die seine unmittelbare Gegenwart meist schon, wie das unscheinbare Dasein eines Taubstummen vergessen hatten, jedesmal in Erstaunen und oft auch in Verlegenheit.

Die Gestalt meines Vaters, dieses einsamen, wortkargen, stets geistesabwesenden Mannes mit dem leeren und irren Blick, erregte schon früh meine Neugierde und beschäftigte meine kindliche Einbildungskraft. Ich beachtete die unbeholfenen Gesten seiner schweren Glieder, belauerte die langsamen Gebärden seiner unlebendigen Hände. Ich beobachtete ihn heimlich, belauerte ihn, forschte verstohlen nach seinen Gewohnheiten und verfolgte ihn oft vorsichtig und, wie ich glaube, unbemerkt auf seinen einsamen Gängen. Im übrigen fand ich, der Achtjährige, den guten Vater liebenswert und spielbereit. Ich zauste ihm das hochwollige, etwas spröde Haar, hiess ihn auf allen Vieren kriechen, ritt auf seinem breiten Rücken durch das Zimmer, liess ihn wie einen Bären tanzen und brummen. Er gehorchte gerne und duldsam; wie ein gutmütiger Bernhardiner folgte der Vater jedem Wunsch seines Kindes. Ich sah ihn über ein Buch geneigt, gebot ihm mit lauter Stimme zu lesen, hockte mich ihm gegenüber in eine Ecke und betrachtete ihn schweigend. Sein Kopf schien mir sogar für den mächtigen Rumpf, auf dem er sass, noch etwas zu gross; das gewaltige Hinterhaupt im hochwolligen Haarteppich weich, wie das eines neugeborenen Kindes, auch die Stirn war zu hoch und zu breit, die Gesichtszüge wesenlos verschwommen. Seine Stimme klang wie das gleichtönige Gemurmel eines tiefen Brunnens. Unaufhörlich gurgelte die Kehle des Lesers; aus seinem Munde plätscherten im gleichmässigen Tropfenfall Silbe auf Silbe, die Worte sickerten in den Bart, der sie wie ein durstiger Filter aufsog und dann entfärbt, ohne Kraft, ohne Klang verrieseln liess in die endlosen Stunden. Mein Vater liess sich gerne bitten, laut vorzulesen. Er las und las, seine Stimme sprach wie bestellt, sprach wie ein aufgezogenes Uhrwerk, das ungestört weitergeht, bis seine Triebfeder sich abgewickelt hat. Dann brach die Stimme oft nach Stunden des Vorlesens mitten in seinem Satze ab, mein Vater erhob sich unvermittelt, klappte das Buch zu und beschäftigte sich mit anderen Dingen. Aber so lange er las, war es nicht leicht, ihn zu stören. Er merkte es garnicht, wenn ich aus dem Zimmer ging. las ruhig mit lauter Stimme weiter, wenn ihm auch niemand mehr zuhörte. Die Worte, die seine Augen von den Seiten angestrengt auflasen, spie ein Mund gleichgültig wieder aus, verständnislos und fade, wie ein Kind auswendig gelernte Verse gedankenlos herunterhaspelt. Da er ohne jeden Impuls las, seine Stimme ohne jede Formung des Vortrages ganz ohne Bezug auf den Gehalt des Gelesenen sein musste. Trotzdem nahm sein Gedächtnis alles sorgfältig auf: den geistigen Wert der Bücher aber konnte er nicht unterscheiden. Er las gerne und alles was ihm unter die Hände kam: ebenso gerne Shakespeare wie Jules Verne, Goethe, Ganghofer, Dostojewski, Karl May u.s.w.. Während mein Vater laut lesend vor mir sass, beobachtete ich ihn heimlich aus der Ecke. Meine Aufmerksamkeit erlahmte oft bald am Anhören des gleichgültigen Vortrages. Ich konnte dem Sinn der Sätze nicht sehr lange folgen, lauschte allmählich nur noch dem Gleichklang der Stimme. indes sich meine Gedanken mit dem Träger der Stimme, wie er so vor mir sass, zu befassen begannen. Er sass ganz ruhig, den Kopf ein wenig über das Buch geneigt, hätte sich nicht die rechte Hand in gleichmässigen Zeitabständen ein wenig gehoben und gesenkt, um mit der regelmässigen Bewegung eines langsam arbeitenden Schlaghammers umzublättern. so hätte die gleichtönend lesende Stimme allein den Beobachter kaum ausreichend davon überzeugt, dass der Körper, dem sie angehörte und den er vor sich sah, noch lebte. Diese Stimme sprach, — wo war ihr Geist? Irrte der Geist meines Vaters, indes die wesenlose Stimme aus totem Munde weiterlas, vielleicht in den fernen, einsamen Schluchten zwischen den heiter sonnigen Bergen des Lebens und den stillen, finsteren und schweigenden Tälern des Todes? Der Geist hatte den Körper verlassen und schweifte irgendwo in der Ferne. Wie nun, wenn der lebendige Schatten sich heimzukehren verspätete, und ein seit langem wieder fleischeshungriger Schamane, das lauernde Gespenst eines schon längst seines Körpers entkleideten Anderen, indes in den noch lebendigen Leib meines Vaters fahren würde. War dies vielleicht schon geschehen? Schielte mich nicht schon, während die wesenlose Stimme meines Vaters vor mir weiter las, sein Auge, das gläserne, mit einem fremden, lauernden Blicke unter den halbgesenkten Lidern an? Belauerten wir uns beide nicht schon seit Stunden, Tagen, Monaten, seit Jahren? Was würde geschehen? Würde sich nicht die besessene Gestalt vor mir erheben und indes die arme, verirrte Seele meines Vaters ahnungsbange an die verschlossene Pforte seines, von einem fremden Geiste besessenen Herzens pochte, sich plötzlich auf mich stürzen, um mich zu zerreissen? Meine Pulse begannen zu hämmern, ich fieberte, die Stille ringsum, die gleichtönig rieselnde Stimme, war unerträglich. Ich stand aus meinem Winkel auf und trat auf meinen Vater zu. Ich weiss nicht, was für ein Teufel mich in diesem Augenblicke ritt, mag es der letzte Mut gewesen sein, den Bann des Grauens finsterer Ahnungen ringsum zu durchbrechen, war es die unberechenbare‚ meist als Tücke ausgelegte Vorsicht des Kindes, wie des Tieres, plötzlich aus instinktiver Angst vor unsichtbarer Gefahr blindlings auf das Unheil zuzugehen, um sich zu schlagen und zu beissen, — ich trat ganz nahe und behutsam leise an meinen ahnungslosen, noch immer lesenden Vater heran, und stiess ihm ganz unvermittelt, mit aller einem neunjährigen Kinde schon möglichen Kraft, meine kleine Faust in die Rippen. In diesem Augenblicke geschah das Furchtbare, meine Ahnung erfüllte sich. Als hätte der fremde, böse Geist, der sich des Körpers meines Vaters bemächtigt hatte, tatsächlich nur auf diesen Augenblick gelauert, sprang die Gestalt von ihrem Sitze auf und kehrte sich nach mir um. Das Gesicht, das sich mir zuwandte, war nicht mehr das gütige Antlitz meines Vaters. Es war ganz fremd und doch wieder so, als hätte ich es schon irgendwo, vielleicht in einem bösen Traum, gesehen. Es war entstellt und verfärbte sich dauernd, wie eine rot und weiss glühende Maske. Die grossen, gläsernen Augen stachen an langen, weissen Stielen aus ihren Höhlen auf mich zu, als wollten sie mich zangenhaft ergreifen, indes die Zähne der glühenden Maske aneinander zu knirschen begannen, als wollten sie, wie Porzellan im Feuer, bersten. Die entfesselte, entstellte Fratze stiess auf mich zu, unheimlich sich vergrössernd, gleichzeitig fühlte ich mich von eisernen Fäusten zu ihr empor getragen. Ich wagte einen Blick in das dämmerrote Antlitz dieses untergehenden Mondes, erkannte blitzschnell die ausgebrannten Krater erstorbener Gebirge, versiegter Ozeane trostlose Wüsten: zwei Salzseen schillerten mich traurig, wie aus bläulich erloschenen Augen an. Ich schwebte fast in sie hinein. In diesem Augenblicke riss mich die unsichtbare Gewalt wieder vom Monde hinweg, mit tausend Meilen Geschwindigkeit in der Sekunde verringerte sich das flammende Antlitz, verschwand. Die Fäuste schmetterten mich durch den Raum, ich sah auf einmal alle Sterne um mich aufblitzen. Jetzt hörte ich das Krachen meiner Knochen, es wurde dunkel, ich verlor das Bewusstsein.

Als ich erwachte, fielen warme Tropfen, wie Regen auf mein Gesicht; ich schlug die Augen auf und erkannte das tränenüberströmte gütige Antlitz meiner Mutter über das meine gebeugt. Ich lag im Bett. An seinem Ende stand ein Mann, dessen Gesicht ich im Halbdunkel nicht deutlich erkennen konnte. Es war der Arzt. Er wandte sich gerade an meine Mutter und meinte nebenhin: diesmal ist’s ja noch gütlich abgelaufen, der Junge hätte sich das Genick brechen können. — Mein Vater hatte mich an die Mauer geschleudert.

Anmerkungen (Wikisource)

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  1. eig. Max Karl Joseph Maria Prinz zu Hohenlohe-Langenburg (1901–1943)