Der Untergang des Routledge

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Der Untergang des Routledge
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 260
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[260] Der Untergang des Routledge. Der „New-York Courier and Inquirer“ theilt über einen entsetzenerregenden Schiffbruch, der im Februar das Schiff Routledge betraf, Folgendes mit: Am Bord des Routledge waren, als er an den Eisberg stieß, 144 Seelen. Von dieser Zahl ist, so viel man weiß, nur ein Einziger noch am Leben; alle Uebrigen haben ohne Zweifel ein trauriges Ende gehabt. Der Gerettete, ein Matrose Namens Nye, erzählt: „Der John Routledge verließ Liverpool am 16. Januar. Er war schwer beladen, und in der Fracht befand sich auch eine große Menge Eisen. Die Zahl der Mannschaft, die Offiziere eingeschlossen, betrug 20, die Zahl der Passagiere 120. Das Wetter war äußerst stürmisch und wir verloren einen Matrosen, der vom Clüverbaume in’s Meer stürzte, und einen Passagier, der von der See über Bord gespült wurde. Am 18. Februar trafen wir auf ein Eisfeld. Nur mit Beschwerlichkeit konnten wir jetzt uns Bahn brechen; am nächsten Morgen stieß das Schiff heftig auf einen Eisberg, und bald zeigte es sich, daß es einen furchtbaren Leck bekommen hatte. Zwei Pumpen wurden sofort in Bewegung gesetzt, außerdem warf man eine Menge Gegenstände über Bord und stopfte Kisten und Kleidungsstücke in die entstandene Spalte; aber Alles dies wollte nicht helfen, und bald war es offenbar, daß das Schiff sich rasch mit Wasser füllte. Man traf daher Anstalt, es zu verlassen und in die Boote zu steigen. Der Routledge hatte nur fünf Boote, welche nicht alle am Bord befindliche Personen fassen konnten; es wurden daher 25-30 Personen, welche sämmtlich, der Steuermann und der Schiffsmann ausgenommen, Passagiere waren, auf dem Wrack zurückgelassen, um mit demselben unterzugehen.

„Das Boot, worin ich mich befand, war das letzte, was vom Schiffe abstieß. Bald kam uns letzteres aus dem Gesicht und wir trieben jetzt, 13 an der Zahl, auf dem weiten Ocean, nur mit einer Gallone Wasser und 6 Pfund Brot versehen. Die Gesellschaft im Boote bestand aus dem Bootsmann, einem schottischen Matrosen, fünf Männern, vier Frauen, einem kleinen Mädchen und mir selbst. Das Wetter war empfindlich kalt, in das Boot drang eine Menge Wasser ein, und beide Umstände zusammengenommen setzten uns großen Leiden aus, die für die Passagiere entsetzlich gewesen sein müssen, da sie, mit Ausnahme einer Dame, welche in zwei Decken gehüllt war, nicht warm gekleidet waren. Die Bewegungen des Bootes waren sehr unsicher. Wir machten deshalb auch keinen Versuch, irgend einen bestimmten Punkt zu erreichen; unsere einzige Hoffnung war, von irgend einem vorbeifahrenden Schiffe gesehen zu werden. Mrs. Atkinson, die Frau des Schiffszimmermanns, die sich gerettet hatte, nahm das Wasser und Brot unter ihre Obhut und gab nur wenig davon her.

„Nach meiner Meinung würden die Meisten von uns der bittern Kälte widerstanden haben, wenn wir reichlicher mit Speise und Trank versehen gewesen wären. Aber bei unserm großen Mangel starb schon am dritten Tage ein Passagier. Der arme Teufel war bei dem scharfen Froste nur mit einem dünnen Rocke bekleidet! Am folgenden Tage starb eine Frau, die ihren Mann nur um zwei Tage überlebte. An diesem Tage sahen wir in der Ferne eine Brigg mit frischem Winde segeln. Wie richteten sich unsere Herzen auf bei dieser Aussicht auf Erlösung! Aber ach! da sprang eine Brise auf und vereitelte grausam unsere Hoffnungen. Trotz dieser furchtbaren Enttäuschung suchte ich meinen Muth aufrecht zu erhalten. Am fünften Tage fingen Alle, die mit mir im Boote waren, an, Seewasser zu trinken. Ich warnte sie davor, aber sie ließen sich nicht abhalten. Von dem Wasser, welches wir vom Routledge mitgenommen hatten, bekam ich nur sehr wenig, aber ich trank doch kein Seewasser, sondern, wenn mein Mund sehr trocken wurde, spülte ich ihn mit Seewasser aus, verschluckte aber nichts davon. An einem Tage fiel Schnee, was mir sehr dienlich war, da ich ihn zur Stillung meines Durstes benutzte. Die Andern, welche Seewasser getrunken hatten, starben rasch nach einander, und am siebenten Tage verschied der Letzte und ließ mich als das einzige lebende Wesen im Boote zurück.

„Die Todten, welche zuerst erlagen, wurden über Bord geworfen, aber die Fortschaffung der vier letzten ging über die geringe mir gebliebene Kraft, und mehr als zwei Tage mußte ich bei den entstellten Leichen bleiben, mit wenig Hoffnung, daß mein Loos ein besseres sein werde. Der Passagier, der zuletzt starb, war eine englische Dame, von zarter Gestalt, die Mutter des kleinen Mädchens. Ihre Tochter war ihr wenige Stunden im Tode vorausgegangen. Ich weiß nicht mehr, in welcher Reihenfolge die Andern dahin sanken. Der Bootsmann fing in der Nacht vor seinem Tode zu rasen an. Er fiel über Mrs. Atkinson her, biß sie in den Arm und kratzte sie wüthend. Er warf den Wasserbehälter über Bord und versuchte auch die Ruder über Bord zu werfen. Er stürmte mit einem Flaschenfutteral auf mich ein und versetzte mir in das Gesicht einen Schlag, dessen Spuren ich noch trage. Um Mittag starb er, nachdem er einige Stunden vorher in eine gänzliche Gefühllosigkeit gefallen war. Fast alle Uebrigen raseten vor ihrem Ende. Mrs. Atkinson rief in herzzerreißendem Tone nach Wasser und streckte ihre Hände aus wie um es zu empfangen. Sie endeten Alle wie der Bootsmann, und in vielen Fällen bemerkte ich erst dann, daß ein neues Opfer gefallen war, wenn es nach vorn überstürzte, sobald das Boot einen schweren Stoß bekam. Als alle meine Gefährten todt waren, richtete ich ein Ruder auf, woran ein wollenes Hemd und ein rothes Halstuch als Signal wehten.

„Dies war das erste permanente Signal, das aufgepflanzt worden war. Meine Füße und Beine waren durch den Frost übel zugerichtet, und ich konnte mich kaum bewegen. Ich lag im Bug des Boots. Gelegentlich warf die See Wasser herein, und ich erhob mich, um dasselbe wieder auszuschöpfen. Dann legte ich mich wieder nieder. Am 28. Februar, als ich neun Tage im Boote gewesen war, sah ich ein Schiff, das auf mich zufuhr. Jetzt war ich meiner Rettung gewiß, denn ich befand mich gerade in dem Wege des Schiffes. Als es sich mir näherte, sandte es ein Boot ab, um mich aufzunehmen. Ich und das gebrechliche Fahrzeug, das mich so lange mitten auf dem Ocean getragen hatte, wurden jetzt an Bord gebracht. Die noch übrigen Leichen, die ich in den letzten Tagen nicht mehr über Bord hatte werfen können, wurden in die Tiefe versenkt. Das Schiff war die „Germania,“ Kapitain Wood, das von Havre nach New-York bestimmt war. Die Erhaltung meines Lebens schreibe ich dem Umstande zu, daß ich kein Meerwasser trank. Ich sog aber wohl von dem Eise, das sich am Boot angesetzt hatte. Ich fand es zwar ein wenig bitter, aber es hatte den dem Meerwasser eigenthümlichen widerlichen Geschmack verloren und wirkte auf meinen Zustand nicht nachtheilig ein.“

Soweit die Erzählung des Geretteten. Dem New-York-Herald zufolge betrug die tägliche Ration eines Jeden im Boote nur einen Schiffszwieback und einen Mund voll Wasser. Um ein sparsames Trinken zu erzielen, ward das Wasser durch das Loch eines Korks gesogen. Als dies Experiment zum ersten Male ausgeführt wurde, konnte sich die Gesellschaft trotz ihrer traurigen Lage einer Art Lustigkeit nicht erwehren, die leider nur zu bald dem furchtbarsten Elend weichen sollte. Der Matrose Thomas Nye ist ein Bursche von 19 Jahren, von olivengelber Gesichtsfarbe, schlanker Statur, schwarzem Haar und schwarzen Augen; er war eben erst in den Seedienst getreten. Der John Routledge war ein Schiff von 1000 Tonnen, in Baltimore 1851 gebaut und zu 64,000 Dollars versichert.