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aus: Der Todesgang des armenischen Volkes
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Erster Teil.


Die Tatsachen.


Die Zahlen im Texte verweisen auf die Ergänzungen des Nachtrages.


Die Deportation.


Die Deportation der armenischen Bevölkerung vollzog sich auf drei verschiedenen Gebieten und in drei aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten.1) Die drei Gebiete, in denen die Armenier dichter angesiedelt waren und einen bedeutenden Bruchteil der Bevölkerung (10 bis 40 v. H.) bildeten, sind:

I.
Cilicien und Nordsyrien.
II.
Ost-Anatolien.
III.
West-Anatolien.

Das Siedelungsgebiet in Cilicien umfaßt das Wilajet Adana und die höheren, im Taurus und Amanus gelegenen Bezirke des Wilajets Aleppo (Sandschak Marasch). In Nordsyrien und Mesopotamien sind es die Gebiete von Aleppo, Antiochia, Sueidije, Kessab, Alexandrette, Killis, Aintab und Urfa.

Die sieben ostanatolischen Wilajets sind:

1. Trapezunt, 2. Erzerum, 3. Siwas,
4. Kharput(Mamuret-ül-Asis), 5. Diarbekir,
6. Wan, 7. Bitlis

Vom westanatolischen Gebiet kommen in Betracht das Mutessariflik Ismid und die Wilajets Brussa (Khodawendikjar), Kastamuni, Angora und Konia.

Die Deportation der armenischen Bevölkerung von Cilicien beginnt Ende März und wird während der Monate April und Mai systematisch durchgeführt. Die Deportation aus den östlichen Wilajets (mit Ausnahme des Wilajets Wan) setzt Ende Mai ein und wird systematisch vom Ende Juni ab durchgeführt.

Die Deportation aus den westanatolischen Bezirken beginnt Anfang August und zieht sich in den September hinein.

In Nordsyrien und Mesopotamien beschränken sich die Maßregeln anfänglich auf Verhaftung einzelner Notabeln. Die Deportationen beginnen Ende Mai und setzen sich bis in den Oktober fort.


I. Cilicien.


Die Deportation der armenischen Bevölkerung von Cilicien (Wilajet Adana und Sandschak Marasch) begann mit Vorfällen, die sich in der Stadt Zeitun im Taurus abspielten.


1. Zeitun,


50 km nördlich von Marasch, liegt in einem Hochtal des Taurus. Die starke armenische Bevölkerung der Stadt hatte bis in die siebziger Jahre eine gewisse Unabhängigkeit und Selbstverwaltung, ähnlich wie noch heute die kurdischen Aschirets (Stämme) in Kurdistan. Zur Zeit der Massakers unter Abdul Hamid gelang es den Einwohnern von Zeitun, sich gegen die umwohnenden Türken zur Wehr zu setzen und sich gegen türkische Truppen, die herangezogen wurden, mehrere Wochen zu behaupten, bis die Konsuln der Mächte intervenierten und den Bewohnern von Zeitun eine Amnestie verschafften. Dieser Erfolg des Widerstandes der Zeituner Bevölkerung bewirkte, daß sie von dem allgemeinen Massaker von 1895/96 verschont blieben, richtete aber den dauernden Argwohn der Behörden gegen sie. Schon seit Ausbruch des europäischen Krieges scheint der Wunsch bei den Behörden bestanden zu haben, das Bergnest von Zeitun bei guter Gelegenheit auszuheben.

Bei der allgemeinen Mobilmachung im August 1914 wurden auch die wehrfähigen Armenier von Zeitun eingezogen, ohne daß sich irgend ein Widerstand dagegen erhob. Als aber im Oktober der Vorsteher der Gemeinde von Zeitun, Nazaret Tschausch,2) mit einem Geleitsbrief des türkischen Kaimakam (Landrat) nach Marasch kam, um dort amtliche Fragen zu ordnen, wurde er trotz freien Geleits ins Gefängnis geworfen, wo er gefoltert wurde und starb. Gleichwohl verhielten sich die Leute von Zeitun ruhig. Es schien aber, als ob die Behörden Anlaß zum Einschreiten suchten. Saptiehs (türkische Gendarmen), die in der Stadt den Sicherheitsdienst hatten, belästigten die Einwohner, drangen in die Häuser ein, plünderten Magazine, mißhandelten harmlose Leute und entehrten Frauen. Die Einwohner von Zeitun bekamen den Eindruck, daß man etwas gegen sie vorhabe, blieben aber ruhig. Im Dezember 1914 wurde die Auslieferung aller Waffen angeordnet, was ohne Zwischenfall erfolgte. Hätten in irgend einem späteren Zeitpunkt die Armenier von Zeitun noch an Widerstand gedacht, so wären sie nach der Entwaffnung dazu nicht mehr imstande gewesen. Es blieb denn auch den ganzen Winter über ruhig in Zeitun. Da geschah es im Frühjahr, daß türkische Gendarmen armenische Mädchen entehrten, wobei es zu einer Schlägerei kam, an der sich etwa 20 armenische Hitzköpfe beteiligten und auf beiden Seiten einige getötet wurden. Die beteiligten Armenier, unter denen sich einige Deserteure befanden, flohen, um der Bestrafung zu entgehen, in ein Kloster, das dreiviertel Stunden nördlich von der Stadt liegt, wo sie sich verbarrikadierten.

Zum Erstaunen und Schrecken der Bewohner von Zeitun kam bald darauf, es war Anfang März 1915, ein großes militärisches Aufgebot, – man sprach von vier bis sechs Tausend Soldaten – von Aleppo nach Zeitun. Das Aufgebot von Militär gegen Zeitun erregte in ganz Cilicien die größte Besorgnis.

Der armenische Katholikos von Sis schreibt unter dem 3./16. März an das Patriarchat: „Die Regierung hat Maßregeln gegen Flüchtlinge aus Zeitun getroffen. Da diese Maßregeln mit einer außergewöhnlich umfangreichen militärischen Aktion verbunden sind, die in keinem Verhältnis zu dem geringfügigen Anlaß steht, fürchten wir, daß es sich um einen Schlag gegen die loyale Bevölkerung von Zeitun handelt. Wir sind sicher, daß uns ein großes Unglück erwartet. Der aus Offizieren zusammengesetzte Kriegsgerichtshof ist vor zwei Tagen über Marasch nach Zeitun abgereist. Wir kennen die näheren Umstände nicht. Aber wir sehen deutlich, daß der Kaimakam mit dem Kommandanten von Zeitun aus Anlaß einiger Desertationen unerhörte Repressalien gegen die Einwohner von Zeitun vorbereitet. Die Einwohner von Zeitun haben sich an mich gewendet und sagen, daß die benachbarten türkischen Dörfer von der Lage Nutzen ziehen und mit Herausforderungen und Lügen auf den Kommandanten, den Kaimakam und das Militär einzuwirken suchen. Da wir diese Leute und den Mutessarif von Marasch kennen, haben wir gebeten, Seine Exzellenz Djelal Bey, den Wali von Aleppo, mit der Prüfung der Vorkommnisse zu beauftragen. Er kennt alle Verhältnisse, und wir vertrauen ihm unbedingt. Wird er mit der Untersuchung beauftragt, so sind wir sicher, daß er nach Gerechtigkeit verfahren wird.“

Der Wali Djelal Bey wurde nicht mit der Untersuchung beauftragt, sondern abberufen, weil er sich den Anordnungen der Zentralregierung in bezug auf die Behandlung der Armenier nicht fügte.

Zeitun wurde zerniert. Beim Anblick der zahlreichen Truppen wurden in der Stadt weiße Fahnen aufgezogen, zum Zeichen, daß man an keinen Widerstand denke. Die Flüchtlinge im Kloster verteidigten sich einen ganzen Tag und töteten, da sie in guter Deckung waren und gut schossen, eine größere Anzahl von Soldaten, während sie selbst nur einen Verwundeten hatten.3) Die Leute von Zeitun baten ausdrücklich den Kommandanten, die Flüchtlinge nicht entschlüpfen zu lassen, damit sie nicht für deren Missetaten haftbar gemacht würden. Gleichwohl gelang es den Flüchtlingen, da die Bewachung in der Nacht eine ungenügende war, zu entkommen. Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr, ehe noch ihr Entkommen in der Stadt bekannt war, ließ der Kommandant 300 Notable der Stadt zu einer Besprechung in das Lager rufen. Da man bis dahin in gutem Einvernehmen mit den Behörden gelebt hatte, erschienen die Zusammengerufenen, ohne einen Verdacht zu hegen. Die meisten kamen in ihrem gewöhnlichen Arbeitsanzug, nur einige hatten etwas Geld bei sich und hatten sich besser gekleidet. Zum Teil kamen sie von ihren Herden in den Bergen herein. Als sie in das türkische Lager kamen, waren sie nicht wenig erstaunt, als sie hörten, daß sie nicht in die Stadt zurückkehren dürften und ohne weiteres verschickt werden würden. Sie durften sich nicht einmal mit dem Notwendigen für die Reise versehen. Einigen wurde noch gestattet, sich Wagen kommen zu lassen, die meisten gingen zu Fuß. Wohin, wußten sie nicht.

Darauf erfolgte stoßweise die Deportation der gesamten armenischen Bevölkerung von Zeitun, etwa 20 000 Seelen.4) Die Stadt hat vier Quartiere. Eins nach dem anderen wurde abgeführt, die Frauen und Kinder meist getrennt von den Männern. Nur 6 Armenier mußten zurückbleiben, von jedem Handwerk einer.

Die Deportation dauerte Wochen. In der zweiten Hälfte des Mai war Zeitun vollständig ausgeleert. Von den Einwohnern von Zeitun wurden 6 bis 8 Tausend in die Sumpfdistrikte von Karabunar und Suleimanie zwischen Konia und Eregli, im Wilajet Konia, 15 bis 16 Tausend nach Deir-es-Sor am Euphrat in die mesopotamische Steppe verschickt. Endlose Karawanen zogen durch Marasch, Adana und Aleppo. Die Ernährung war eine ungenügende. Für ihre Ansiedlung oder auch nur Unterbringung am Ziel ihrer Verschickung geschah nichts.

Ein Augenzeuge, der in Marasch die Deportierten durchkommen sah, beschreibt in einem Brief vom 10. Mai einen solchen Zug:

„Ich sah sie auf dem Wege. Ein endloser Zug, begleitet von Gendarmen, die sie mit Stöcken vorwärts trieben. Halb bekleidet, entkräftet, schleppten sie sich mehr als daß sie gingen. Alte Frauen brachen zusammen und rafften sich wieder auf, wenn der Saptieh mit erhobenem Stock sich nahte. Andere wurden vorwärts gestoßen wie die Esel. Ich sah, wie eine junge Frau hinsank; der Saptieh gab ihr zwei, drei Schläge, und sie stand mühsam wieder auf. Vor ihr ging ihr Mann mit einem zwei- oder dreijährigen Kind auf dem Arm. Ein wenig weiter stolperte eine Alte und fiel in den Schmutz. Der Gendarm stieß sie zwei- oder dreimal mit seinem Knüttel. Sie rührte sich nicht. Dann gab er ihr zwei oder drei Fußtritte, aber sie blieb unbeweglich liegen. Zuletzt gab ihr der Türke noch einen kräftigeren Fußtritt, so daß sie in den Straßengraben rollte. Ich hoffe, sie war tot. Die Leute, die hier in der Stadt ankamen, haben seit zwei Tagen nichts gegessen. Die Türken erlaubten ihnen nicht, irgend etwas außer etwa einer Decke, einem Maultier, einer Ziege mitzunehmen. Alles, was sie noch hatten, verkauften sie für so gut wie nichts, eine Ziege für 6 Piaster (90 Pfg.), ein Maultier für ein halbes Pfund, um sich Brot dafür zu kaufen. Die noch Geld hatten und Brot kaufen konnten, teilten es mit den Armen, bis ihr Geld zu Ende war. Das meiste war ihnen schon unterwegs gestohlen worden. Einer jungen Frau, die erst vor acht Tagen Mutter geworden war, hat man schon in der ersten Nacht der Reise ihren Esel genommen. Man zwang die Deportierten, alle ihre Habe in Zeitun zu lassen, damit die Muhadjirs (Einwanderer), muhammedanische Bosniaken, die man an ihrer Stelle ansiedeln will, sich gleich damit versehen können. Es müssen jetzt etwa 20 000 bis 25 000 Türken in
Zeitun sein. Der Name der Stadt wurde in Sultanieh verändert. Die Stadt und die Dörfer um Zeitun sind vollständig ausgeleert. Von den ungefähr 25 000 Verschickten wurden 15 bis 16 000 nach Aleppo dirigiert, aber sie sollen von dort weiter gehen in die arabische Wüste. Will man sie dort Hungers sterben lassen? Die hier Durchgekommenen gehen ins Wilajet Konia. Auch da gibt es Wüsten. Zwei, drei Wochen blieben sie am Endpunkt der anatolischen Bahn bei Bosanki liegen, weil die Bahn durch Truppentransporte in Anspruch genommen war. Als die Verschickten in Konia ankamen, hatten sie seit drei Tagen nichts gegessen. Die Griechen und Armenier der Stadt taten sich zusammen, um sie mit Geld und Lebensmitteln zu unterstützen, aber der Wali von Konia weigerte sich, den Verschickten etwas zukommen zu lassen: „sie hätten alles, was sie brauchten“. So blieben sie noch weitere drei Tage ohne Nahrung. Dann erst hob der Wali sein Verbot auf, und unter der Überwachung von Saptiehs durften Nahrungsmittel an sie verteilt werden. Mein Berichterstatter erzählte mir, daß auf dem Wege von Konia nach Karabunar eine junge Armenierin ihr neugeborenes Kind, das sie nicht mehr nähren konnte, in einen Brunnen warf. Eine andere hätte ihr Kind durch das Fenster aus dem Zuge geworfen.“

Am 21. Mai schreibt derselbe Augenzeuge:

„Der dritte und letzte Zug von Leuten aus Zeitun ist durch unsre Stadt gekommen, am 13. Mai gegen 7 Uhr, und ich konnte einige von ihnen in dem Chan, wo sie untergebracht waren, sprechen. Sie waren alle zu Fuß und hatten zwei Tage lang, an denen es heftig regnete, nichts gegessen. Ich sah eine arme Kleine, die länger als eine Woche barfuß marschiert und nur mit einer zerfetzten Schürze bekleidet war. Sie zitterte vor Kälte und Hunger, und die Knochen standen ihr buchstäblich aus dem Leibe. Ein Dutzend Kinder mußten auf dem Wege liegen bleiben, da sie nicht weitermarschieren konnten. Ob sie vor Hunger gestorben sind? Wahrscheinlich. Aber man wird niemals etwas davon erfahren. Ich sah auch zwei arme Greisinnen aus Zeitun. Sie gehörten zu einer reichen Familie, aber sie durften außer den Kleidern, die sie am Leibe trugen, nichts mit sich nehmen. Es gelang ihnen noch 5 oder 6 Goldstücke in ihrer Perrücke zu verbergen. Unglücklicherweise spiegelte sich auf dem Marsch die Sonne in dem Metall, und der Glanz zog die Blicke eines Saptiehs an. Er verlor keine Zeit damit, die Goldstücke herauszuholen, und machte kurzen Prozeß, indem er ihnen die Perrücken abriß.

Noch einen anderen charakteristischen Fall sah ich mit meinen Augen. Ein ehemals reicher Bürger von Zeitun führte als Trümmer seiner Habe zwei Ziegen mit sich. Kommt ein Gendarm und greift in die beiden Zügel. Der Armenier bittet ihn, er möge sie ihm lassen, und fügt hinzu, er habe so schon nichts mehr, wovon er leben könne. Statt jeder Antwort schlägt ihn der Türke krumm und lahm, bis er sich im Staube wälzt und der Staub sich in blutigen Schlamm verwandelt. Dann gab er dem Armenier noch einen Fußtritt und zog mit den beiden Ziegen ab. Zwei andere Türken betrachteten sich dies Schauspiel ohne mit der Wimper zu zucken. Keiner von ihnen kam auf den Gedanken, sich einzumischen.“

Über das Schicksal der Verbannten in Karabunar wird unter dem 14. Mai geschrieben:

„Ein Brief, den ich aus Karabunar erhielt, und dessen Wahrheit nicht anzuzweifeln ist, da der Verfasser mir bekannt ist, versichert, daß von den Armeniern, die in der Zahl von 6 bis 8 Tausend von Zeitun nach Karabunar verschickt worden sind, einem der ungesundesten Orte des Wilajets, dort täglich 150 bis 200 Hungers sterben. Die Malaria richtet Verheerungen unter ihnen an, da es vollkommen an Nahrung und Unterkunft fehlt. Welche grausame Ironie, daß die Regierung vorgibt, sie zu verschicken, damit sie dort eine Kolonie gründen; sie besitzen weder Pflug noch Saat, weder Brot noch Unterkunft, denn sie sind mit völlig leeren Händen verschickt worden.“


2. Dört-Jol.5)


Als der Abtransport von Zeitun bereits im Gange war, begann man gegen Dört-Jol (Tschok Merzimen), in der Issus-Ebene am Golf von Alexandrette, vorzugehen. Nachdem fünf Armenier von Dört-Jol öffentlich in Adana gehängt waren, wurde die männliche Bevölkerung des volkreichen Ortes abgeführt, um an den Straßen zu arbeiten. Man hörte bald, daß vielfältig die wehrlosen Arbeiter von ihren bewaffneten muhammedanischen Kameraden erschlagen wurden. Als sich darauf die Männer von Dört-Jol weigerten, mit Muhammedanern zusammenzuarbeiten, sandte die Regierung Militär und schickte sie alle in die Gegend von Hadjin, um dort auf den Straßen zu arbeiten. Nur ein Armenier leistete Widerstand und tötete einen Gendarmen; darauf töteten die Gendarmen 6 Armenier. Von den zum Straßenbau verschickten Männern von Dört-Jol hat man nichts mehr gehört. Man fürchtet, daß sie sämtlich erschlagen wurden. Nachdem die Männer fort waren, wurden die Frauen und Kinder nach Deir-es-Sor deportiert und das Dorf völlig ausgeleert. Dört-Jol war außer Zeitun die einzige Ortschaft, die zur Zeit der Abdul Hamidischen Massakres sich mit Erfolg verteidigt hat. Dem hat sie wohl ihr jetziges Schicksal zu danken.


3. Die Taurus- und Amanus-Dörfer.


Nach der Ausleerung von Dört-Jol wurden im Laufe der Monate April, Mai, Juni und Juli nach und nach alle armenischen Distrikte des Wilajets Adana und des Sandschaks Marasch ausgeleert. Vom Wilajet Adana sind besonders zu nennen: im Sandschak Kozan die Städte Sis, Hadjin, Karsbasar, die Ortschaften Schehr und Rumlu; im Sandschak Djebel-Bereket die Ortschaften Osmanijeh, Hassanbeyli, Dengala, Harni, Drtadli, Tarpus, Ojakli, Enserli, Lapadschli. Im Sandschak Marasch außer Zeitun die Städte Albistan, Geben, Göksun, Furnus und die Ortschaften Taschuluk, Djiwikli, Tundatschak und sämtliche Alabaschdörfer. Bis Ende Juni betrug die Zahl der Deportierten aus diesem Gebiet schon 50 000.

Zum Zwecke der Einschüchterung wurden in Adana, Aleppo, Marasch gegen dreißig Armenier öffentlich gehängt. Unter den Gehängten befanden sich auch zwei Priester.

Die Dörfer erhielten in der Regel am Abend den Befehl, daß sie am nächsten Morgen abzumarschieren hätten. In Geben mußten die Einwohner am Waschtage aufbrechen, waren gezwungen, ihre nassen Kleider im Wasser zu lassen und barfuß und halbbekleidet, wie sie gingen und standen, sich auf den Weg zu machen. Die Männer standen meist im Felde. Wer zum Islam übertrat, durfte bleiben. Leute aus Alabasch erzählten, ihr Ort sei von Soldaten umzingelt und mit Platzpatronen beschossen worden. Die Leute von Schehr berichteten, daß, als sie kaum das Dorf verlassen hätten, der Mollah vom Dach der christlichen Kirche die „Gläubigen“ zum Gebet rief. Die Kirche wurde in eine Moschee verwandelt. Die Regierung sagte den Leuten, wenn sie ihr Hab und Gut zurücklassen mußten, der Wert würde abgeschätzt und ihnen später ausgezahlt werden. Eine Inventarisierung ist aber bei der Plötzlichkeit des Aufbruchs selbstverständlich nicht vorgenommen worden, noch dachte die Regierung daran. Die Habe der Armenier ging an die ortsansässigen Muhammedaner, die Häuser und Äcker an neuangesiedelte „Muhadjirs“ (Einwandrer) über.

„Die Türken sind in einem vollkommenen Delirium“, schreibt ein Berichterstatter. „Es ist unmöglich, die Schrecken zu beschreiben, die die Deportierten zu erdulden haben. Schändung, Raub von Frauen und Mädchen und gewaltsame Bekehrungen sind an der Tagesordnung. Eine große Anzahl von Familien sind zum Islam übergetreten, um dem sicheren Tode zu entgehen.“

Während von den cilicischen Städten und Dörfern keine verschont wurden, sind aus Adana nur 196 Familien deportiert worden, die merkwürdigerweise – man nimmt an auf Veranlassung des Oberkommandierenden in Syrien, Djemal Pascha, der früher Wali von Adana war – zum größten Teil wieder zurückgebracht wurden. Die Verschickung von Tarsus und Mersina verzögerte sich ebenfalls. Mersina wurde am 7. August deportiert. Nach neueren Nachrichten ist zuguterletzt auch die armenische Bevölkerung von Adana, ca. 18 000 Seelen, deportiert worden.

Die Transporte gingen nach Deir-Es-Sor und Konia, nach Rakka am Euphrat, sodann der Bagdadbahn entlang über Urfa und Weranscheher in die mesopotamische Wüste bis in die Nachbarschaft von Bagdad.

Ein anderer Bericht gibt aus dem Text des Regierungsbefehles den folgenden Passus wieder:

„Art. 2. Die Kommandeure der Armee von unabhängigen Armeekorps und von Divisionen dürfen im Fall militärischer Notwendigkeit und für den Fall, daß sie Spionage und Verrat vermuten (!), einzeln oder in Massen die Einwohner von Dörfern oder Städten fortschicken und sie an anderen Orten ansiedeln.“

Der Bericht fährt fort:

„Die Befehle der Kommandeure der Armee mögen noch leidlich human gewesen sein. Die Ausführung ist zum größten Teil sinnlos hart gewesen und in vielen Fällen von grauenhafter Brutalität gegen Frauen und Kinder, Kranke und Alte. Ganzen Dörfern wird die Deportation nur eine Stunde vorher angesagt. Keine Möglichkeit, die Reise vorzubereiten. In einigen Fällen nicht einmal Zeit, die zerstreuten Familienglieder zu sammeln, so daß kleine Kinder zurückblieben. In einigen Fällen konnten sie einen Teil ihrer dürftigen Haushaltungseinrichtung oder landwirtschaftliche Geräte mitnehmen, aber meistenteils durften sie weder etwas mitnehmen noch etwas verkaufen, selbst wenn Zeit dazu war.

In Hadjin mußten wohlhabende Leute, die Nahrung und Bettzeug für den Weg zurechtgemacht hatten, es auf der Straße liegen lassen und hatten nachher bitter unter dem Hunger zu leiden.

In vielen Fällen wurden die Männer – die in militärpflichtigem Alter waren fast alle in der Armee – mit Seilen und Ketten fest aneinander gebunden. Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm oder in den letzten Tagen der Schwangerschaft wurden wie Vieh mit der Peitsche vorwärts getrieben. Drei verschiedene Fälle sind mir bekannt geworden, wo die Frau auf der Landstraße niederkam und an Verblutung starb, weil ihr brutaler Führer sie weiterhetzte. Ich weiß auch von einem Fall, wo der wachhabende Gendarm human war, der armen Frau ein paar Stunden Ruhe gönnte, und dann einen Wagen für sie besorgte, daß sie fahren konnte. Einige Frauen wurden so vollständig erschöpft und hoffnungslos, daß sie ihre kleinen Kinder an der Straße liegen ließen. Viele Frauen und Mädchen sind vergewaltigt worden. In einem Ort hat der Gendarmerieoffizier den Männern, denen er eine ganze Schar Frauen zuwies, gesagt, es stände ihnen frei, mit den Frauen und Mädchen zu machen, was sie wollten.

Was den Lebensunterhalt betrifft, so war der Unterschied an den verschiedenen Orten groß. In einigen hat die Regierung sie verköstigt, in anderen den Einwohnern erlaubt, es zu tun. In manchen hat sie ihnen weder selbst etwas zu essen gegeben noch andern erlaubt, es zu tun. Viel Hunger, Durst und Krankheit gab es und auch wirklichen Hungertod.

Die Leute werden hier in kleine Gruppen verteilt, 3 oder 4 Familien an einem Ort unter einer Bevölkerung anderer Rasse und anderer Religion, die eine andere Sprache spricht. Ich spreche von ihnen als Familien, aber vier Fünftel sind Frauen und Kinder, und was an Männern da ist, ist zum größten Teil alt und krank.

Wenn keine Mittel gefunden werden, ihnen durch die nächsten paar Monate durchzuhelfen, bis sie in ihrer neuen Umgebung eingerichtet sind, werden zwei Drittel oder drei Viertel von ihnen an Hunger und Krankheit sterben.“

Die Zahl der aus Cilicien deportierten Armenier beträgt mehr als 100 000.


4. Wilajet Aleppo.


Im Wilajet Aleppo wurden bis zum Mai Massakers und weitere Deportationen durch den Wal Djelal Bey, der das allgemeine Vertrauen bei Christen und Muhammedanern genoß, verhindert. Ihm ist es zu danken, daß, solange er im Amte war, aus den Städten seines Wilajets keine größeren Verschickungen stattfanden.

Im Verein mit dem Wali hat der deutsche Konsul in Aleppo Herr Rößler sein Äußerstes getan, um das Vorgehen gegen die Armenier aufzuhalten und Maßregeln zur Linderung der Not zu treffen. Von armenischer Seite wird ihm bezeugt (im Gegensatz zu völlig unbegründeten Beschuldigungen der englischen Presse), daß er ein geplantes Massaker durch seinen Besuch in Marasch verhindert und sich in jeder Beziehung den Dank der Gefährdeten und Notleidenden verdient habe.

Der Wali von Aleppo, Djelal Bey, der sich den Anordnungen der Zentralregierung, die die Deportation aller Armenier des Wilajets verlangte, nicht gefügt hatte, wurde nach Konia versetzt. An seine Stelle kam der frühere Wali von Wan, Bekir Sami Bey.

Dieser führte dann die Maßregel der Deportation auch für die noch verschonten Städte und Ortschaften des Wilajets durch.

Die armenische Bevölkerung von Marasch wurde Ende Mai, die von Aintab Ende Juli deportiert. In Urfa scheint ein Teil der Armenier sich der Deportation widersetzt zu haben. Zwischen dem 29. September und 16. Oktober kam es zu militärischem Einschreiten. Nähere Nachrichten liegen noch nicht vor.6)

Über Marasch wird geschrieben:

„Am Donnerstag den 24. Mai wurde den Armeniern mitgeteilt, sich bereit zu halten, am Sonnabend den 26. Mai aufzubrechen. Die Armenier wagen nicht, ihre Häuser zu verlassen. Über 2000 Armenier sind verschickt worden, unter ihnen der Leiter des amerikanischen Kolleges.“ In Aintab wurden Ende Mai dreißig Häuser ohne Erfolg durchsucht, 28 Notabeln verhaftet und wieder freigelassen bis auf ein Mitglied der Daschnakzagan.

Dies war aber nur das Vorspiel.

Dr. Shepherd, der im ganzen Lande bekannte hervorragende amerikanische Chirurg, Chef der ärztlichen Missionsinstitute in Aintab, der seit Jahrzehnten in der Türkei lebt und bei Muhammedanern und Christen gleich angesehen ist, hat über das Schicksal von Aintab die folgenden Nachrichten gegeben, die einem Auszuge seines Berichts entnommen sind.

„In Aintab wurde am 21. Juli der Deportationsbefehl für 60 Familien gegeben. Einige Tage danach kam ein zweiter Befehl für weitere 70 Familien. In der Folge wurden noch 1500 und darauf noch 1000 Personen verschickt, so daß die armenische Bevölkerung
von Aintab vollständig ausgeräumt ist. Alle Bemühungen, die amerikanischen Institute (ihre armenischen Lehrerfamilien und Angestellten, Schüler und Schülerinnen) von dieser Maßregel auszunehmen, sind ohne Erfolg geblieben. Den Deportierten wurde verboten, auch nur die allernötigsten Sachen, außer einem Lasttier, mitzunehmen.

Schwache Versuche eines Widerstandes haben nur bei Marasch stattgefunden infolge der Tötung eines Gendarmen, der nach Fendenjak (einem armenischen Dorf im Amanusgebirge) gesandt wurde, um dort die Austreibung vorzunehmen. Die Regierung schickte sofort 3 Abteilungen Soldaten, die das Dorf in Asche legten.

In Cilicien vollzog sich die Deportation verhältnismäßig noch unter den günstigsten Bedingungen. Zwar steht fest, daß alle Verbannten von Briganten geplündert worden sind, aber der Raub und die Mordtaten nahmen nicht einen so großen Maßstab an wie in den hocharmenischen Provinzen.

Der größte Teil der aus Cilicien Verschickten befindet sich in Deir-es-Sor, wo bereits 15 000 Armenier angekommen sind. Die ausgedehnten und von der Trockenheit verbrannten Wüsten von Deir-es-Sor bis Djerabulus und Ras-ul-Ajin und bis nach Mosul sind mit deportierten Armeniern angefüllt. Einige Überbleibsel sind in türkische und arabische Dörfer zerstreut worden.“

Die Deportierten von Aintab und Killis wurden über Damaskus nach dem Hauran transportiert.

Wir schließen das Kapitel der cilicischen und nordsyrischen Deportationen mit den Berichten von Mr. Jackson, dem amerikanischen Konsul von Aleppo. Der Bericht sagt nichts, was nicht auch durch deutsche Quellen feststeht.

Der amerikanische Konsularbericht.
Aleppo, den 3. August.

„Die Methode der direkten Angriffe und Massakers, die in früheren Zeiten üblich war, ist heute etwas abgeändert worden, insofern man die Männer und Knaben in großer Zahl aus ihrer Heimat deportiert und unterwegs verschwinden läßt, um später die Frauen und Kinder folgen zu lassen. Eine Zeitlang wurden von Reisenden, die aus dem Innern kamen, vorwiegend dahinlautende Berichte gegeben, daß die Männer getötet worden seien, daß eine große Anzahl Leichen längs der Reiseroute liege und im Euphratwasser schwimme, daß die jüngeren Frauen und Mädchen und die Kinder von den begleitenden Gendarmen den Kurden ausgeliefert würden, und daß von denselben Gendarmen und den Kurden unsagbare Verbrechen verübt worden seien. Anfangs schenkte man diesen Berichten wenig Glauben, aber da jetzt viele der Flüchtlinge in Aleppo ankommen, herrscht über die Wahrheit der berichteten Dinge nicht länger Zweifel. Am 2. August kamen etwa 800 Frauen in mittleren Jahren sowie alte Frauen und Kinder unter 10 Jahren zu Fuß von Diarbekir an, in denkbar jammervollstem Zustand, nachdem sie 45 Tage unterwegs gewesen waren. Sie erzählen, daß alle jungen Mädchen und Frauen von den Kurden entführt wurden, daß selbst der letzte Heller Geld und was sie sonst noch mit hatten, geraubt worden ist, erzählen von Hunger, Entbehrung und Elend jeder Art. Ihr jammervoller Zustand bürgt vollkommen für ihre Aussagen.

Ich habe erfahren, daß 4500 Personen von Sogert[1] nach Ras-ul-Ajin geschickt worden sind, über 2000 von Mesereh nach Diarbekir, und daß weit und breit alle Städte, Bitlis, Mardin, Mosul, Sewerek, Malatia, Besne usw. von Armeniern evakuiert worden sind, daß die Männer und Knaben und viele der Frauen getötet und der Rest über das Land zerstreut worden ist. Wenn dies wahr ist, woran man kaum zweifeln kann, müssen die letzteren natürlich auch vor Hunger, Krankheit und Übermüdung zugrunde gehen. Der Gouverneur von Deir-es-Sor am Euphrat, der jetzt in Aleppo ist, sagt, daß gegenwärtig 15 000 armenische Flüchtlinge in Deir-es-Sor seien. Kinder werden häufig verkauft, um sie vor dem Hungertode zu schützen, da die Regierung tatsächlich keinen Unterhalt gewährt.

Die folgende Statistik zeigt die Zahl der Familien und Personen, die in Aleppo ankamen, die Ortschaften, von denen aus sie deportiert wurden, und die Zahl derer, die weiter geschickt wurden[2] bis zum 30. Juli einschließlich:

Deportationsort: Familien: Personen: Weiter-
verschickte:
Tschok–Merzimen (Dört–Jol) 200 2 109 734
Ojakli 115 537 137
Enserli 116 593 173
Hassanbeyli 187 1 118 514
Harni 84 528 34
Karsbasar 351 340
Hadjin 592 3 988 1 025
Rumlu 51 388 296
Schehr 150 1 112 357
Sis 231 1 317
Baghtsche 13 68
Dengala 126 804
Drtadli 12 104
Zeitun 5 8
Tarpus 22 97
Albistan 10 44
Total 2 265 13 155 3 270

2100 weitere Personen waren schon angekommen, bevor die obigen Zahlen zusammengestellt waren.“

Im Ganzen waren also bis zum 30. Juli allein durch Aleppo 15 255 Deportierte durchgekommen.

Aleppo, den 15. August.
„Es sollen jetzt alle Armenier von Aintab, Antiochia, Alexandrette, Kessab und all’ den kleineren Städten in der Provinz Aleppo – schätzungsweise 60 000 Personen – deportiert worden sein. Es ist natürlich anzunehmen, daß sie ein gleich hartes und betrübendes Schicksal erdulden werden, wie diejenigen, die vorangegangen sind.…[3]

Die wichtigen amerikanischen Missionsinstitute in dieser Gegend verlieren ihre Professoren, Lehrer, Gehilfen und Studenten, und selbst aus den Waisenhäusern werden Hunderte von Kindern entfernt und damit die Früchte einer unermüdlichen Anstrengung von 50 Jahren auf diesem Gebiet vernichtet. Die Regierungsbeamten fragen in scherzendem Ton, was die Amerikaner nun mit diesen Instituten anfangen wollen, jetzt, wo man den Armeniern den Garaus mache!

Die Situation wird von Tag zu Tag kritischer, da das Ende nicht abzusehen ist.“


II. Die ostanatolischen Wilajets.


Die Deportation der armenischen Bevölkerung aus den ostanatolischen Provinzen betraf die Wilajets Trapezunt, Erzerum, Siwas, Kharput, Bitlis, Diarbekir. Das Wilajet Wan, dessen Geschick durch die russischen Kriegsoperationen in Mitleidenschaft gezogen wurde, ist das einzige armenische Gebiet, dessen Bevölkerung nicht deportiert wurde. Doch auch diese mußte den heimischen Herd verlassen, als sie beim Rückzug der russischen Truppen gezwungen wurde, in den Kaukasus zu flüchten. Von den Ereignissen im Wilajet Wan wird besonders zu reden sein. Da die Vorgänge im Wilajet Bitlis durch die Vorgänge in Wan mitbestimmt wurden, werden wir das Wilajet Bitlis zuletzt behandeln.

Die Deportation der armenischen Bevölkerung aus den ostanatolischen Wilajets verläuft in zwei Etappen.

Drei Tage vor der Verhaftung der armenischen Intellektuellen von Konstantinopel, die am 24./25. April stattfand, wurde in einer großen Zahl von Städten des Innern mit der Verhaftung der armenischen Notabeln begonnen. Diese Verhaftungen wurden in den vier Wochen vom 21. April bis zum 19. Mai systematisch durchgeführt So wurden schon am 21. April in Ismid 100, Bardesak (Baghtschedjik) 80, Brussa 40, Panderma 40, Valikesri (Karasi) 30, Adabasar 80 Notable verhaftet und abtransportiert. Es folgten Ende April und Anfang Mai Marsowan mit 20, Diarbekir mit ebenfalls 20 Notabeln. In den ersten Wochen des Mai wurden in Erzerum 600, in Siwas 500, in Keri 50, in Schabin-Karahissar 50, in Chinis 25 Notable verhaftet und deportiert. In der zweiten Hälfte des Mai kam an die Reihe Diarbekir mit erst 500, dann 300 Notablen, Kaisarije mit 200. Dasselbe geschah in Baiburt und Josgad. Ebenso wurden einzelne Notable von Marasch und Urfa verhaftet. Von 28 Notabeln, die man in Aintab verhaftete, wurden alle, bis auf einen, wieder frei gegeben. Da die genannten Städte, von denen Nachrichten vorliegen, sich über alle armenischen Gebiete verteilen, ist anzunehmen, daß es sich um eine generelle Maßregel handelte, die den Zweck hatte, das armenische Volk seiner Häupter und Wortführer zu berauben, damit die Deportation sich lautlos und ohne Widerspruch vollziehen könne. Auch sollte verhindert werden, daß Nachrichten aus dem Innern zu früh an die Öffentlichkeit und nach Europa gelangten. Seit Anfang Juni wurden auch alle armenischen Beamten aus dem Staatsdienste entlassen, und die armenischen Ärzte, welche seit Anfang des Krieges pflichttreu in den türkischen Militärlazaretten gearbeitet hatten, wurden ins Gefängnis geworfen.

Alle diese Verhaftungen, die sich auf Tausende von Armeniern von Ansehen und Bildung, Deputierte, Publizisten, Schriftsteller, Dichter, Rechtsanwälte, Notare, Beamte, Ärzte, Großkaufleute, Bankiers und alle besonders wohlhabenden und einflußreichen Elemente erstreckten, wurden vorgenommen, ohne daß ein geordnetes Rechtsverfahren vorherging oder nachfolgte. Nicht einmal die Beschuldigung, daß sie sich an irgendwelchen staatsfeindlichen Handlungen beteiligt oder solche geplant hätten, wurde geltend gemacht. Man wollte den Kopf des armenischen Volkskörpers abschlagen, ehe man die Glieder zerschlug. Über den Ursprung all dieser Maßregeln und die Gründe, welche die leitenden Kreise bestimmten, wird gesondert zu reden sein. Die Befehle an die Behörden kamen aus Konstantinopel, und wurden, trotz des Widerstandes, den einzelne Regierungbeamte, ja hier und da auch die türkische Bevölkerung der Ausführung entgegensetzten, rigoros und unerbittlich durchgeführt.

Die zweite Etappe der Maßregeln, die der Gesamtdeportation vorhergingen, betraf den männlichen Teil der Bevölkerung, der bereits zur Armee ausgehoben war oder noch im Verlauf der Ereignisse ausgehoben wurde. Die zum Heeresdienst eingezogenen Armenier, die sich, nach dem Zeugnis des Kriegsministers tapfer geschlagen hatten, und zwar nicht nur an den Dardanellen, sondern auch in den Kaukasuskämpfen gegen Rußland, wurden zum größten Teil entwaffnet und als Lastträger und Straßenarbeiter im Heeresdienst verwendet. Aus fast allen Provinzen liegen Nachrichten vor, daß nicht nur in einzelnen Fällen die armenischen Arbeiter von ihren muhammedanischen Kameraden erschlagen wurden, sondern daß ganze Abteilungen in Gruppen von 80, 100 oder mehr Mann auf Anordnung von Offizieren und Gendarmen von Militär und Gendarmerie erschossen wurden. In welchem Umfange die Ermordung der zur Armee eingezogenen Armenier vor sich gegangen ist, wird man vielleicht niemals, jedenfalls aber erst nach dem Kriege in Erfahrung bringen können.

Unter dem Vorwande der Aushebung wurden in zahlreichen Städten und Dörfern auch alle übrigen männlichen Bewohner schon vom 16. bis hinauf zum 70. Jahre abgeführt, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie sich bereits in gesetzlicher Weise losgekauft hatten oder dienstuntauglich waren. Die abgeführten Kolonnen wurden in die Berge geführt und füsiliert, natürlich ohne irgend ein vorhergehendes Rechtsverfahren, für das weder Zeit noch Umstände Raum gaben.

Die Maßregeln sind nicht überall in gleichmäßiger Weise ausgeführt worden; sie waren zum Teil dem Belieben der Lokalbehörden überlassen, die dafür Sorge zu tragen hatten, daß die nachfolgende Gesamtdeportation bequem und gefahrlos und ohne daß ein Widerstand gefürchtet zu werden brauchte, vor sich ging. Diesem Zwecke diente auch die fast überall schon geraume Zeit vorher durchgeführte Entwaffnung der armenischen Bevölkerung. Da die allgemeine Unsicherheit im Innern der Türkei es mit sich bringt, daß jedermann zu seinem persönlichen Schutze bewaffnet ist und bei Reisen oder Wegen über Land Waffen mit sich führt, ist in Friedenszeiten der Besitz und das Tragen von Waffen erlaubt. Auf Veranlassung des jungtürkischen Komitees war die konstitutionelle Organisation des armenischen Volkes, die Partei der Daschnakzagan[4], in den Zeiten drohender Reaktion verschiedentlich mit Waffen versehen worden, damit sie im Falle von Umsturzversuchen, wie sie zweimal, 1909 und 1912, den Alttürken und der liberalen türkischen Opposition gelangen, die Sache ihrer jungtürkischen Freunde mit bewaffneter Hand unterstützen könnten. Nur in einzelnen Fällen, von denen noch die Rede sein wird, weigerten sich die Armenier, ihre Waffen abzuliefern, da sie Grund hatten, ein Massaker zu befürchten. So in Wan und Schabin-Karahissar. Die Entwaffnung ging in den Städten – die obengenannten Fälle ausgenommen – ohne Zwischenfall vor sich. In Konstantinopel fand die Entwaffnung vom 29. April bis zum 9. Mai in ordnungsmäßiger Weise statt. Es wurden sogar Empfangsscheine von den Behörden ausgestellt. Auf dem Lande führte die Maßregel der Entwaffnung, wie zahlreiche Nachrichten beweisen, zu brutalen Repressalien. Die Ablieferung wurde nicht behördlich angesagt, noch wartete man das Ergebnis der freiwilligen Ablieferung ab, sondern Gendarmen kamen in die Dörfer und verlangten eine beliebige Anzahl von Gewehren, 200, 300 oder wieviel dem Gendarmen gut schien. Wurden diese nicht sofort zur Stelle geschafft, so wurden der Dorfschulze und die Ältesten verhaftet und unter dem Vorwande, daß sie Waffen versteckt hätten, mißhandelt. Oft wurde die Folter angewendet. Besonders beliebt bei Gendarmen und Gefängnismeistern ist die Bastonnade, die, in unmenschlicher Weise angewendet, oftmals den Tod der Opfer verursacht. Aber auch Haare und Nägel wurden ausgerissen, glühende Eisen eingebrannt und jede Art von Schändlichkeit an Frauen und Kindern verübt. Oft waren die Dorfbewohner gezwungen, von ihren türkischen Nachbarn oder von Kurden und Tscherkessen zu hohen Preisen oder gegen Schafe und Kühe Waffen zu kaufen, um durch ihre Ablieferung die Requisition der Gendarmen zu befriedigen.

Gleichzeitig mit der Entwaffnung der armenischen Bevölkerung erfolgte die Bewaffnung des türkischen Pöbels. Durch die jungtürkischen Klubs, die in allen Städten des Innern das Heft in Händen haben und mehr bedeuten, als die höchsten Regierungsbeamten, waren Banden, sogenannte Tschettehs gebildet, zum Teil aus entlassenen Sträflingen. Berüchtige kurdische Räuber wurden mit ihren Banditen in den Heeresdienst eingestellt. Diesen Banden wurde Freiheit gegeben, die armenischen Dörfer zu überfallen, sie zu plündern, die Männer zu erschlagen, die Frauen und Mädchen wegzuschleppen. Auf Klagen reagierten die Behörden nur scheinbar. Die Verwüstungsarbeit begann in den östlichen Wilajets Wan, Erzerum und Bitlis sofort nach dem Ausbruch des Krieges und wurde während des ganzen Krieges bis in die jüngste Zeit fortgesetzt. Sie lief neben der offiziellen Deportation her und förderte dieselbe durch Überfälle der Karawanen, die durch die einsamen Gebirgstäler von Anatolien zogen. Viele Karawanen von Deportierten wurden von derartigen Banden halb oder ganz aufgerieben. Durch Verschleppung von Mädchen, Frauen und Kindern in türkische Harems und kurdische Dörfer sind Zehntausende von Christen nicht nur der Schande, sondern auch gewaltsamer Konvertierung zum Islam ausgeliefert worden.

Als die allgemeine Deportation, das heißt die vollständige Austreibung der armenischen Bevölkerung aus allen armenischen Städten und Dörfern einsetzte, waren die armenischen Familien zum großen Teil schon des männlichen Schutzes beraubt. Wo es nicht der Fall war, wurden meist die Männer beim Beginn der Deportation von den Frauen getrennt, abgeführt und erschossen. Wo Männer mit Frauen und Kindern zusammen auf den Weg gebracht waren, wurden sie oft noch auf dem Transport abgesondert oder bei organisierten Überfällen in erster Linie abgeschossen. Die Folge dieser Maßregeln war, daß, was von den deportierten Menschenmassen an den Bestimmungsorten ankamen, auf mehr als die Hälfte reduziert war. Die Karawanen, die im Norden aufbrachen, bestanden, wenn sie im Süden anlangten, größtenteils nur aus Kindern unter 10 Jahren und aus älteren Frauen, Kranken und Greisen. Die Männer und Knaben waren getötet, die Mädchen, jungen Frauen und zahllose Kinder geraubt. Der Rest ist ein hilfloses, dem Elend preisgegebenes Bettlervolk, das in den mesopotamischen Wüsten und Sumpfgebieten durch Hunger und Krankheit zu Grunde geht.

Seit dem 21. April, au dem die Verhaftung der Notabeln einsetzte, wurde die Gesamtdeportation vorbereitet. Die Ausführung der Deportation in größerem Stil begann um die Mitte des Mai. Die ersten Deportationen fanden im Wilajet Erzerum, in den Gebieten von Baiburt, Terdjan und Chinis statt. Verschiedene Ursachen scheinen in einzelnen Wilajets noch einen Aufschub herbeigeführt zu haben. Einzelne Walis und Mutessarifs sträubten sich gegen den Befehl. Selbst die türkische Bevölkerung erhob hie und da Einspruch. Da die Zentralregierung entschlossen war, die Maßregel der Deportation durchzuführen, wurden widerstrebende Beamte, selbst Walis, Mutessarifs und Kaimakams abberufen und durch willigere Werkzeuge, meist Mitglieder der jungtürkischen Komitees, ersetzt. Ende Juni und Anfang Juli setzt a tempo die Massendeportation in den Wilajets Siwas, Trapezunt und Kharput ein. Der Wali von Erzerum, der ebenso wie der Wali von Aleppo die Deportationsmaßregel mißbilligte, lehnte es nach anfänglichen Verschickungen, die die Vernichtung der Deportierten zur Folge hatten, ab, weitere Deportationen auszuführen, und verlangte Schutz für die Deportierten. Endlich mußte auch er dem Druck von Konstantinopel weichen. Im Wilajet Bitlis scheint es nur in der ersten Zeit zu Deportationen gekommen zu sein. Später wurde die armenische Bevölkerung, soweit sie nicht in die Berge flüchtete, durch Massakers an Ort und Stelle vernichtet. Auch die in die Berge Geflüchteten wurden verfolgt und, bis auf wenige, die sich auf russisches Gebiet durchschlugen, getötet. Ähnlich scheint es im Wilajet Diarbekir hergegangen zu sein.

Die Berichte aus den einzelnen Wilajets werden ein deutlicheres Bild von den Hergängen geben.


1. Wilajet Trapezunt.


Das Wilajet Trapezunt gehört nicht zu den ursprünglich armenischen Provinzen. Die Gesamtbevölkerung des Wilajets Trapezunt betrug nach Cuinet rund 1 047 700. Davon entfallen ein Viertel auf die christliche Bevölkerung, auf die Griechen allein wenigstens 200 000. Die muhammedanische Bevölkerung besteht aus Türken, Lasen, Tscherkessen und türkischen Nomadenstämmen. In den Küstenstädten überwiegt das griechische Element. Während sich in den übrigen ostanatolischen Wilajets Erzerum, Wan, Bitlis, Kharput, Siwas die armenische Bevölkerung zwischen 165 000 und 215 000 Seelen pro Wilajet bewegte, und auch im Wilajet Diarbekir noch 105 000 erreichte, zählte sie im Wilajet Trapezunt nur 53 500, davon 2500 Katholiken und 1000 Protestanten. Die armenische Bevölkerung verteilt sich folgendermaßen: 10 000 lebten in der Stadt Trapezunt und Umgebung, 12 700 in andern Küstenorten, wie Ordu, Kerasunt und den Dörfern in ihrer Nachbarschaft. Auf das Sandschak Samsun und seine Küstenstädte Samsun, Therme, Unia kamen 30 800.

Der Wali von Trapezunt ebenso wie der Militärkommandant waren den Armeniern freundlich gesinnt. Auch die muhammedanische und griechische Bevölkerung lebte in gutem Frieden mit ihnen. Als unter Leitung des jungtürkischen Klubs in Trapezunt Banden (Tschettehs) gebildet wurden, die sich Ausschreitungen gegen die Armenier zu schulden kommen ließen, wollte der türkische Militärkommandant die Banden wieder auflösen. Auch der Minister des Innern Taalat Bey telegraphierte nach Trapezunt, man solle die Armenier schützen und kein Blut vergießen.

Als die Entwaffnung der Armenier begann und Haussuchungen stattfanden, tat der armenische Aradschnort (Metropolit) Turian Schritte beim Wali, um offiziell festzustellen, daß die Armenier ihre Waffen abgeliefert hätten, und daß sich keine Bomben in ihrem Besitz befanden. Der Prälat Turian ist ein hochgebildeter Mann, der seine Bildung in Deutschland erworben und in Berlin Theologie und Philosophie studiert hat. Am 12. Juni wurde er ohne Grund verhaftet, nach Erzerum transportiert und dort eingekerkert. Unruhen irgendwelcher Art hatten in Trapezunt nicht stattgefunden. Irgendwelche Beschuldigungen sind, soviel man weiß, gegen die Bevölkerung nicht erhoben worden.

Das nun folgende ist der Wortlaut des Konsularberichts des amerikanischen Konsuls von Trapezunt Oskar S. Heizer, vom 28. Juli 1915. Der Inhalt wurde in allen Teilen aus katholischen und griechischen Quellen bestätigt.

Amerikanischer Konsularbericht.
Trapezunt, den 28. Juli 1915.

„Am Sonnabend den 26. Juni wurde der Befehl, die Deportation der Armenier betreffend, in den Straßen angeschlagen. Am Donnerstag den 1. Juli wurden alle Straßen von Gendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten bewacht, und das Werk der Austreibung der Armenier aus ihren Häusern begann. Gruppen von Männern, Frauen und Kindern mit Lasten und Bündeln auf dem Rücken wurden in einer kleinen Querstraße in der Nähe des Konsulats gesammelt, und, sobald etwa 100 zusammengekommen waren, wurden sie von Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett am Konsulat vorüber in Hitze und Staub auf der Straße nach Erzerum hingetrieben. Außerhalb der Stadt ließ man sie halten, bis etwa 2000 beisammen waren; dann schickte man sie weiter. Drei solcher Gruppen, zusammen etwa 6000, wurden während der ersten drei Tage von hier verschickt, und kleinere Gruppen aus Trapezunt und der Umgegend, die später deportiert wurden, beliefen sich auf weitere etwa 4000. Das Weinen und Klagen der Frauen und Kinder war herzzerreißend. Einige dieser Armen stammten aus reichen und vornehmen Kreisen. Sie waren Reichtum und Wohlstand gewöhnt. Da waren Geistliche, Kaufleute, Bankiers, Juristen, Mechaniker, Handwerker, Männer aus allen Lebenskreisen. Der Generalgouverneur sagte mir, sie dürften Anordnungen für Fuhrwerke treffen, aber niemand schien irgend etwas vorzubereiten. Doch weiß ich von einem Kaufmann, der 15 türk. Pfd. (270 Mk.) für einen Wagen bezahlte, der ihn und seine Frau nach Erzerum bringen sollte; doch als sie an dem Sammelplatz ankamen, etwa 10 Minuten von der Stadt entfernt, wurde ihnen von den Gendarmen befohlen, den Wagen zu verlassen, der nach der Stadt zurückgeschickt wurde. Die ganze muhammedanische Bevölkerung wußte von Anfang an, daß diese Leute ihnen zur Beute fallen würden, und sie wurden behandelt wie Verbrecher. In Trapezunt wurde, vom 25. Juni, dem Datum der Proklamation, an, keinem Armenier gestattet, etwas zu verkaufen, und bei Strafe wurde jedem verboten, etwas von ihnen zu kaufen. Wie sollten sie da die Mittel für die Reise beschaffen? 6 oder 8 Monate lang war in Trapezunt keinerlei Geschäft betrieben worden, und die Menschen hatten ihr Kapital verzehrt. Warum hat man sie verhindern wollen, Teppiche oder irgend etwas zu verkaufen, um das für die Reise nötige Geld zu beschaffen? Viele Leute, die Besitztümer hatten, die sie hätten verkaufen können, wenn sie die Erlaubnis gehabt hätten, mußten zu Fuß gehen, mittellos und nur mit dem versehen, was sie in ihren Häusern zusammenraffen und auf dem Rücken tragen konnten. Sie wurden, wenn sie in Folge von Erschöpfung zurückbleiben mußten, mit dem Bajonett erstochen und in den Fluß geworfen. Ihre Leichen wurden an Trapezunt vorüber ins Meer getrieben, oder hingen im seichten Flusse an den Felsen, wo sie 10 bis 12 Tage blieben und verwestem, zum Entsetzen der Reisenden, die diesen Weg nehmen mußten. Ich habe mit Augenzeugen gesprochen, die bestätigten, daß man viele nackte Leichen an Baumstümpfen im Fluß gesehen habe, 15 Tage nach dem Geschehnis, und daß der Geruch fürchterlich gewesen sei.

Am 17. Juli, als ich mit dem deutschen Konsul ausgeritten war, trafen wir 3 Türken, die ein Grab im Sande gruben für einen nackten Leichnam, den wir dicht dabei im Flusse sahen. Die Leiche sah aus, als habe sie 10 Tage oder länger im Wasser gelegen. Die Türken sagten, sie hätten soeben weiter oben im Flußlauf andere 4 begraben. Ein anderer Türke sagte uns, daß, kurz bevor wir erschienen, eine Leiche den Fluß hinab ins Meer getrieben sei.

Mit Dienstag dem 6. Juli waren alle armenischen Häuser in Trapezunt, etwa 1000, geleert und ihre Bewohner deportiert worden. Es wurde nicht festgestellt, ob jemand der Teilnahme an irgend einer gegen die Regierung gerichteten Bewegung schuldig war. Wenn jemand Armenier war, so genügte das, um als Verbrecher behandelt und deportiert zu werden. Zu Anfang hieß es, es sollten alle außer den Kranken gehen, welch letztere in das städtische Krankenhaus gebracht wurden, bis sie wohl genug seien. Später wurden die alten Männer und Frauen, schwangere Frauen und Kinder, solche die bei der Regierung beschäftigt waren, und die katholischen Armenier ausgenommen. Schließlich wurde entschieden, daß auch alte Männer und Frauen und auch die Katholiken gehen müßten, und sie alle wurden dem letzten Transport nachgeschickt. Eine Anzahl Leichterschiffe wurde nacheinander mit Leuten beladen und nach Samsun geschickt. Der Glaube ist allgemein, daß sie ertränkt wurden. Während der ersten Tage der allgemeinen Deportation wurde ein großes Kajik-Boot mit Männern[5] beladen, die man für Mitglieder der armenischen Komitees hielt, und nach Samsun gesandt. Zwei Tage später kam ein bekannter russischer Untertan, namens Wartan, der mit jenem Boot abgefahren war, über Land nach Trapezunt zurück, am Kopfe stark verwundet und so verwirrt, daß er sich nicht verständlich zu machen vermochte. Alles was er zu sagen vermochte, war: „Bum, Bum!“ – Er wurde von den Behörden festgenommen und ins Krankenhaus gebracht, wo er am nächsten Tage starb. Ein Türke berichtete, daß jenes Boot nicht weit von Trapezunt einem anderen mit Gendarmen besetzten begegnet wäre, welche daran gegangen wären, alle Männer zu töten und sie über Bord zu werfen. Sie glaubten, alle getötet zu haben, aber dieser Russe, der groß und stark war, war nur verwundet worden und schwamm unbemerkt ans Land. Eine Anzahl solcher Kajik-Boote, mit Männern beladen, verließ Trapezunt. Meist kehrten sie nach einigen Stunden leer zurück.

Toz, ein Dorf, etwa 2 Stunden von Trapezunt, wird von gregorianischen und katholischen Armeniern und Türken bewohnt. Ein reicher und einflußreicher Armenier, Boghos Marimian, wurde, wie ein zuverlässiger Augenzeuge berichtet, mit seinen beiden Söhnen getötet. Sie wurden hintereinander aufgestellt und erschossen. 45 Männer und Frauen wurden eine kurze Strecke vom Dorfe entfernt in ein Tal geführt. Die Frauen wurden zuerst von den Gendarmerieoffizieren vergewaltigt und dann den Gendarmen zur Verfügung überlassen. Diesem Augenzeugen zufolge wurde ein Kind dadurch getötet, daß man ihm an einem Felsen den Schädel einschlug.

Auch der Plan, die Kinder zu retten, mußte aufgegeben werden. Man hatte sie in Trapezunt in Schulen und Waisenhäusern untergebracht, unter Aufsicht eines Komitees, das von dem griechischen Erzbischof organisiert und unterstützt wurde, dessen Präsident der Wali, Vizepräsident der Erzbischof und dessen Mitglieder 3 Christen und 3 Muhammedaner waren. Jetzt werden die Mädchen ausschließlich in muhammedanische Familien gegeben und dadurch auseinandergerissen. Das Ausheben der Waisenhäuser und die Verteilung der Kinder war eine große Enttäuschung für den griechischen Erzbischof, der für diesen Plan so eifrig gearbeitet und sich die Unterstützung des Wali gesichert hatte, aber dem Leiter des „Komitees für Einheit und Fortschritt“[6], der den Plan mißbilligte, gelang es, ihn sehr bald zu durchkreuzen. Viele Knaben scheinen fortgesandt worden zu sein, um unter die Farmer verteilt zu werden. Die hübschesten unter den älteren Mädchen, die in den Waisenhäusern als Pflegerinnen zurückbehalten worden waren, wurden in Häuser aufgenommen, die dem Vergnügen der Mitglieder der Klique dienen, die hier die Dinge zu regieren scheint. Aus guter Quelle habe ich gehört, daß ein Mitglied des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ hier 10 der schönsten Mädchen in einem Haus im Zentrum der Stadt hat, für seinen und seiner Freunde Gebrauch. Einige kleinere Mädchen sind in anständigen muhammedanischen Familien untergebracht worden. Einige frühere Schülerinnen der amerikanischen Mission sind jetzt in muhammedanischen Familien in der Nähe der Mission untergebracht worden, aber natürlich hat die Mehrzahl nicht dieses Glück gehabt.

Die 1000 armenischen Häuser werden, eins nach dem andern, von der Polizei geleert. Möbel, Bettzeug und alles Wertvolle wird in großen Gebäuden in der Stadt aufbewahrt. Es wird kein Versuch gemacht, die Sachen zu ordnen, und der Gedanke, das Eigentum in „Ballen“ aufzubewahren, „unter dem Schutze der Regierung, um es den Eigentümern bei ihrer Heimkehr zurückzuerstatten“, ist einfach lächerlich. Die Besitztümer werden aufgeschichtet, ohne jeglichen Versuch, sie zu registrieren oder ein System in die Speicherung zu bringen. Ein Haufen türkischer Frauen und Kinder folgen den Polizeibeamten auf Schritt und Tritt wie eine Schar Geier und ergreifen alles, dessen sie habhaft werden können. Werden die wertvolleren Sachen von der Polizei aus einem Haus getragen, so stürzt die Meute hinein und holt, was noch da ist. Ich sehe diesen Vorgang jeden Tag mit eigenen Augen. Ich glaube, es wird mehrere Wochen in Anspruch nehmen, die Häuser alle zu leeren, und dann werden die armenischen Läden und Kaufhäuser ausgeräumt werden. Die Kommission, die die Sache in der Hand hat, spricht jetzt davon, die große Sammlung von Haushaltungsgegenständen und anderem Eigentum zu verkaufen, „um die Schulden der Armenier zu bezahlen“. Der deutsche Konsul sagte mir, er glaube nicht, daß die Armenier nach Trapezunt zurückkehren dürften, nicht einmal nach Beendigung des Krieges.

Ich sprach eben mit einem jungen Mann, der seiner Militärpflicht im „Inscha’at-Taburi“ (Armierungstruppen) genügt und auf den Straßen nach Gümüschhane arbeitete.

Er erzählte mir, daß vor 14 Tagen alle Armenier, ca. 180, von den übrigen Arbeitern getrennt worden seien. Er hörte den Knall der Büchsen und war nachher einer von denen, die geschickt wurden, um die Leichen zu begraben. Er konstatierte, daß sie alle nackend waren; man hatte sie ihrer Kleider beraubt.

Eine Anzahl von Frauen- und Kinderleichen sind von den Wellen an den sandigen Strand angespült worden, unterhalb der Mauern des italienischen Klosters hier in Trapezunt. Sie wurden von hiesigen griechischen Frauen am Strand begraben, wo man sie gefunden hatte“.

Soweit der amerikanische Konsularbericht[7].


2. Wilajet Erzerum.


Das Wilajet Erzerum zählte unter 645 700 Einwohnern 227 000 Christen, nämlich 215 000 Armenier und 12 000 Griechen und andere Christen. Von der muhammedanischen Bevölkerung sind 240 700 Türken resp. Turkmenen, 120 000 Kurden (45 000 Seßhafte, 30 000 Sasakurden und 45 000 Nomadenkurden); 25 000 Kisilbasch (Schi’iten), 7000 Tscherkessen und 3000 Jesidis (sogenannte Teufelsanbeter). In den Städten Erzerum, Erzingjan, Baiburt, Chinis, Terdjan machten die Armenier ein Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung, in einzelnen Landdistrikten mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus.

Seit Ausbruch des Krieges wurden bei den Armeniern Requisitionen vorgenommen, die das Vielfache von dem betrugen, was die Türken hergeben mußten. Man führte Lasttiere vor die Magazine und lud wahllos alle Waren auf, von denen der größte Teil für Militärzwecke unbrauchbar war. Bei den Türken wurden die Requisitionen vorher angesagt, so daß sie Zeit hatten, die Waren aus ihren Magazinen in ihre Häuser zu holen und dort zu verstecken. Alle Lagervorräte an Manufakturwaren, die im Herbst aus dem Auslande eintrafen, wurden den Kaufleuten weggenommen. Die Beamten benützten die Requisitionen zu Erpressungen. Der Garnisonssekretär von Erzingjan, Hadji Bey, kam in das Magazin von Sarkis Stepanian, ließ einige armenische Kaufleute dort hinkommen und sich von ihnen 300 türk. Pfund auszahlen. Um den Schein zu wahren nahm er auch von türkischen Kaufleuten eine geringfügige Summe. Nach der Plünderung des Bazars kamen die Häuser an die Reihe. Unter dem Vorwande, Waffen zu suchen, durchwühlten die Gendarmen alle Kisten und Kasten und nahmen mit, was ihnen behagte. Niemand durfte gegen derartige Requisitionen ein Wort sagen. Auf den geringsten Verdacht oder irgend eine Denunziation hin wurden harmlose Leute ins Gefängnis geworfen, gefoltert und vor das Kriegsgericht gestellt.

Wie im Wilajet Trapezunt, so waren auch im Wilajet Erzerum von junktürkischen politischen Klubs Banden, sog. Tschettehs, aus den schlechtesten Elementen der Bevölkerung gebildet und bewaffnet worden. Diese Banden sahen ihre Hauptaufgabe darin, armenische Dörfer zu überfallen und zu plündern. Fanden sie keine Männer, so wurden die Frauen vergewaltigt und unter Mißhandlungen gezwungen, alles, was sie noch an Geld oder Geldeswert hatten, herauszugeben. Die Daschnakzagan beklagten sich bei Tahsin Bey, dem Wali von Erzerum, als in den Dörfern Dwig, Badischin und Targuni derartiges vorgekommen war. Er versprach, die Missetäter zu bestrafen, aber nach 10 Tagen geschah genau dasselbe in den Dörfern Hinzk und Zitoth. So sah es schon Anfang Januar auf dem Lande aus.

Dem Wali Tahsin Bey, der den besten Willen hatte, gelang es vorübergehend, die Ausschreitungen der Tschettehs und der Gendarmen zu unterdrücken, so daß es Anfang Februar erheblich besser in der Provinz aussah. Zwar fielen die Requisitionen immer noch mit ihrer ganzen Schwere auf die Armenier, aber im Interesse der nationa­len Verteidigung fand man sich auch in das ungleiche Maß, mit dem Muselmanen und Nichtmuselmanen gemessen wurden. Auch dagegen wurde nichts eingewendet, daß 15 armenische Dörfer in der Umgegend von Erzerum von ihren Einwohnern geräumt werden mußten, um kranke Soldaten aufzunehmen. Im März fing das Banden­unwesen, das von jungtürkischen Kreisen gegen den Willen des Walis unterstützt wurde, von neuem an; ebenso wurden gegen wohlhabende Armenier in den Städten unter Androhung des Todes die schlimmsten Erpressungen aus­geübt. In Terdjan ließ der Polizeimüdir von Erzerum einen angesehenen Armenier mit seiner 10jährigen Tochter zu sich kommen und beide auf der Stelle erschießen.

Im März des Jahres wurden die Armenier von be­freundeten Türken in Erzerum gewarnt und davon benachrichtigt[WS 1], daß die Mitglieder des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ ein Massaker planten. Der später an Typhus verstorbene Dr. Taschdjan, ein bei Türken und Armeniern gleich angesehener Mann, teilte dies zwei deutschen Rote-Kreuzschwestern mit, die im Militärlazarett von Erzerum türkische Soldaten pfleg­ten und bat sie, den damaligen Festungskommandanten von Erzerum, den deutschen General Posselt–Pascha, davon zu benachrichtigen, damit er seinen Einfluß geltend mache und dem Unheil vorgebeugt werde. Man erzählte, daß es General Posselt gelungen sei, die Gefahr abzuwenden. Er wurde aber bald darauf genötigt, seinen Abschied zu nehmen und durch einen türkischen Offizier ersetzt. Auch der deutsche Konsul in Er­zerum, Herr von Scheubener-Richter, tat sein Möglichstes, um den bedrängten Armeniern beizustehen und eine Verschlimmerung der Lage zu verhindern. Von armenischer Seite wurde ihm das beste Zeugnis aus­gestellt. Während der Wali Tahsin Bey sich lange Zeit gegen die von Konstantinopel geforderten Maßregeln sträubte, arbeiteten die Häupter der jungtürkischen Partei um so energischer daran, die Muhammedaner gegen die Armenier aufzureizen. Sie erklärten, es sei ein Fehler Abdul Hamids gewesen, daß er die Massakers vor zwanzig Jahren nicht gründ­licher veranstaltet und alle Armenier ausgerottet habe.

Das Verhältnis der armenischen zur türkischen Be­völkerung in Erzerum war ein ausgezeichnetes gewesen. Erst durch jungtürkische Agitatoren wurden die Muham­medaner aufgestachelt und die Regierung verhindert, gegen Gewalttaten einzuschreiten. Die Jungtürken bestanden darauf, den Rest der männlichen Bevölkerung an die Front zu schicken, um dann freie Hand zu haben. Von ihren türkischen Freunden wurden die Armenier gewarnt, ihre Häu­ser zu verlassen.

Zur Zeit der Konstitution waren von den Jungtürken Waffen auch an die armenischen Dörfer verteilt worden, auf deren Hilfe sie im Falle einer Reaktion rechneten. Diese Waffen wurden ihnen jetzt unter sinnlosen Torturen wieder abgenommen.

In dem Hause eines Armeniers namens Humajak in Erzingjan befand sich ein Tonnür, ein in den Boden ge­grabener Backofen. Unter dem Backofen entdeckten die Gendarmen einen Brunnen, der längst außer Gebrauch und verschlossen war. Die Gendarmen vermuteten Waffen in dem Brunnen, fanden aber keine und schlugen deshalb den Humajak so fürchterlich, daß er krank wurde. Der arme Mann hatte das Haus erst seit einem Monat gemietet und hatte keine Ahnung, daß sich unter dem Tonnür eine Zisterne befand. Als der Mann wieder laufen konnte, wurde er verhaftet und im Gefängnis gefoltert. Die Nägel und Bündel von Haaren wurden ihm mit Zangen herausgerissen. Wenn er das Bewußtsein verlor, wurde er mit einem kalten Wasserguß wieder zur Besinnung gebracht und die Folterung fortgesetzt. Man wollte von ihm wissen, was er in der Zisterne verborgen habe. Der Unglückliche konnte nichts angeben, da er von der Zisterne nicht einmal etwas gewußt hatte. Darauf wurde ihm ein Dokument vorgelegt, in dem er zu bezeugen hatte, daß er unter dem Tonnür Bomben und Waffen verborgen habe. Unter Foltern wurde er gezwungen, das Schriftstück zu unterschreiben. Alsdann wurde er nach Erzerum deportiert. Derartige Dokumente hatten den Zweck, einen Vorwand für die Deportation herzugeben. Die Armenier, die von dieser Sache hörten, wußten jetzt, was ihnen drohe. Als die Requisitionen und Haussuchungen in der Stadt be­endet waren und nichts gefunden worden war, wurden die Gendarmen auf die Dörfer geschickt.

Am 14. März kam ein Leutnant der Gendarmerie, Suleiman Efendi, mit 30 Gendarmen in das Dorf Minn im Sandschak Erzingjan. Zuerst ließ er sich 100 türkische Pfund (ca. 1900 M.) auszahlen, ohne zu sagen, wer ihn beauftragt habe und wofür die Summe zu zahlen sei. Dann vergnügten sich die Gendarmen die Nacht hindurch in dem Dorfe. Am Morgen begannen die Haussuchungen. Es gab einige Waffen im Dorf, die zur Zeit der Reaktion von Jungtürken verteilt worden waren. Ein gewisser Oteldji Hafis war damals der Überbringer dieser Waffen, die die Leute gegen einen guten Preis hatten kaufen müssen. Der Priester des Dorfes nannte die Namen derer, die Waffen hatten. Die Leute wurden verhaftet und ihnen die Waffen abgenommen. Der Gendarmerie-Leutnant wollte aber noch Bomben haben und fing an, Männer, Frauen und Kinder zu schlagen. Als sie keine Bomben fanden, ließ er dem Priester fünfmal hintereinander die Bastonnade verabreichen. Als er mit dem Schlagen genug hatte, schloß er den Priester in ein Zimmer ein und notzüchtigte seine Frau. Dann fingen die Gendarmen an, zum Spaß auf die Dorfbewohner zu schießen. Als sie auch damit genug hatten, bewaffneten sie den Priester und einige Bauern bis an die Zähne, so daß sie wie Banditen aussahen, und führten diese künstlich bewaffnete Bande in die muhammedanischen Quartiere der Kreishauptstadt Kemach, um diese gegen die Armenier aufzureizen. Dann wurden sie ins Gefängnis geworfen und endlich nach Erzerum abgeführt.

Die Bewohner des Dorfes Minn, das jetzt in Asche liegt, hatten nicht weniger als 7000 türk. Pfund Steuern gezahlt. Die Bauern wandten sich an den armenischen Aradschnort (Metropoliten), ließen ihn eine Eingabe aufsetzen und gingen mit ihm zum Kaimakam (Landrat).

Der Kaimakam schnauzt sie an: „Wer gibt euch das Recht, solche Rapporte zu machen?“ Die Bauern: „Haben wir nicht durch die Gnade der Regierung das Recht, in Gemeindeangelegenheiten Eingaben zu machen?“ Der Kaimakam: „Das war die alte Regierung. Die neue Regierung hat euch keinerlei derartige Rechte gegeben. Alle solche Rechte sind hinfällig. Ihr habt keine Eingaben zu machen und Beschwerde zu führen. Die Regierung tut von selbst, was nötig ist. Wenn ihr wollt, werde ich euch mit diesem Dokument zum Staatsanwalt schicken, und er wird euch ins Gefängnis werfen.“ Die Bauern: „Wir wollen uns nicht in die Angelegenheit der Regierung mischen; wir wollen nur wissen, mit welchem Recht ein Gendarm fünfmal einen Priester bastonnieren und Frauen und Kinder foltern darf, unter dem Vorwande, Bomben zu finden. Diese Bauern wissen nicht einmal, was eine Bombe ist. Warum hat man diese Leute bewaffnet und unter die Moslems geschickt, da man sie nicht mit den Waffen attrapiert hat?“ Der Kaimakam: „Wir sind völlig frei, jedes Mittel zu gebrauchen, das uns paßt.“ Die Bauern: „Warum läßt man die Gendarmen Erpressungen machen?“ Der Kaimakam: „Das geht euch gar nichts an. Bis jetzt war der Handel in eurer Hand. Von jetzt ab werdet ihr nichts mehr mit dem Handel zu tun haben. Und was hast du hier zu tun?“ Der Aradschnort (Metropolit): „Ich bin der Aradschnort und habe das Recht, für diese Leute zu sprechen.“ Der Kaimakam: „Ich kenne weder Aradschnort noch seine Rechte. In anderen Angelegenheiten als religiösen kenne ich dich nicht.“

In den andern Dörfern verfuhren die Gendarmen ebenso. Zuerst verlangten sie Geld, dann kamen die Haussuchungen an die Reihe. Im Dorfe Merwatsik arbeitete der Polizeileutnant Suleiman mit dem Müdir des Dorfes Adil Efendi zusammen. Als sie keine Waffen fanden, wurden die Bauern gefoltert und gezwungen, von ihren türkischen Nachbarn Waffen zu kaufen. Alsdann wurden sie nach Erzerum ins Gefängnis gebracht. Von da gingen sie in das Dorf Arkan, erpreßten 60 türk. Pfd., plünderten das Dorf, nahmen den Frauen die Ohrringe und Armbänder weg und schlugen alle, die sich weigerten. Ein Gendarm setzte sich auf die Füße, ein anderer auf den Kopf des Opfers, dann ging die Peitscherei los, mit nicht unter 200 Schlägen. Die Frauen wurden unter den Torturen bewußtlos. Als sich keine Waffen fanden, schrie der Unterleutnant Suleiman die Leute an: „Bis jetzt hattet ihr das Recht, Waffen zu haben. Das hört jetzt auf. Ich habe eine Iradé in der Hand und kann mit allen Mitteln, die mir belieben, von euch Waffen fordern.“ Darauf ließen die Gendarmen die Bauern aus dem Nachbardorfe Mollah herführen, schlugen sie, schmierten ihnen Exkremente ins Gesicht und warfen sie in den Fluß. Eine Frau starb unter den Mißhandlungen des Müdir Adil. Dann gingen sie in das Dorf Mollah, unterbrachen die Messe – es war Osterfest – und folterten den Priester in der Kirche. Die Frauen und Mädchen flüchteten sich vor den Gendarmen in die Berge. Im Dorf Mez Akrak erpreßten sie 92 türk. Pfd. und folterten die Bewohner. Im Dorf Machmud Bekri verlangten die Gendarmen erst Geld und, nachdem sie das Verlangte erhalten hatten, verhafteten sie 3 Bauern, und führten sie in ein Haus, wo sich der genannte Suleiman, Oteldji Hafis, Djelal Oglu und Schakir befanden. Diese vier bastonnierten die Bauern bis zur Bewußtlosigkeit. Durch kalte Wassergüsse wurden sie wieder aufgeweckt und weiter geschlagen. Darauf sperrte man sie in die Aborte. Dann werden sie aufs neue vorgeführt und gefoltert. Dem einen reißt man zwei Finger aus. Er soll den Ort angeben, wo Waffen verborgen sind, und die Liste der Daschnakzagan ausliefern. Als sie nichts erreichen, fangen die Gendarmen an, die Frauen zu schänden.

Dem Kaimakam wurde Anzeige erstattet. Als aber der Aradschnort aufs neue Schritte tat wegen einer Frau, die man zu Tode geprügelt hatte, und verlangte, der Kaimakam sollte sich selbst von den Tatsachen überzeugen, schrie er ihn an und wollte nichts mehr hören. Der Aradschnort verlangte, er solle höheren Orts Anzeige erstatten. Der Kaimakam: „Hier bin ich die Regierung.“ Der Aradschnort: „Ihr macht Unterschiede zwischen Christen und Muhammedanern“. Der Kaimakam: „Jetzt sende ich dich gefesselt nach Erzerum“. Der Kaimakam läßt ihn schließlich gehen und verspricht, die Gendarmen zu bestrafen.

In seiner Verzweiflung entschließt sich der Aradschnort, mit einigen Priestern zu den Ulemas und muhammedanischen Begs zu gehen, um sie um ihre Hilfe zu bitten. Diese hatten Mitleid mit den Armeniern, aber sie fürchteten sich vor dem Kaimakam. Ein geistlicher Scheich riet, man möge nur Geduld haben, bis die Dinge anders würden.

Der Kaimakam forderte die Gendarmen vor, die gestanden, daß sie 300 türkische Pfd. erpreßt und nur 180 davon abgeliefert hatten. Sie mußten das Geld herausgeben. Trotzdem blieben sie im Amt und fuhren mit ihren Schändlichkeiten fort. Alle Versprechungen des Kaimakams die Gendarmen zu bestrafen, blieben leere Worte.

Das war im März des Jahres.

Es ist notwendig, solche Dinge mit allen Einzelheiten zu schildern, damit man sich eine Vorstellung davon machen kann, wie es auf den Dörfern herging.

Seit der Erklärung der Konstitution und bis in die jüngste Zeit hinein waren die jungtürkischen Führer mit den Führern der Daschnakzagan ein Herz und eine Seele gewesen. Die Daschnakzagan hatten die Jungtürken bei allen Wahlen durch ihre Organisation unterstützt, und zwischen den beiderseitigen Klubs bestand der freundschaftlichste Verkehr. Seit das Zentralkomitee in Konstantinopel das allgemeine Vorgehen gegen die Armenier beschlossen hatte, benützten die jungtürkischen Führer ihre Kenntnis der ihnen verbündeten armenischen Parteiorganisation dazu, um alle Daschnakzagan verhaften zu lassen. Schon am 12. April saßen die meisten Daschnakzagan hinter Schloß und Riegel. Bald darauf drangen die ersten Gerüchte von den Ereignissen in Wan nach Erzerum. Die armenischen Führer wurden nach unbekannten Gegenden deportiert. Ende April wurden 25 gefesselte Armenier von Erzingjan nach Erzerum gebracht. Bald darauf wurde von der Polizei in Erzerum ein gefälschter Brief publiziert, in dem gesagt war, daß die Partei der Daschnakzagan beschlossen habe, den Wali Tahsin Bey zu ermorden. Der Betrug wurde aufgedeckt, so daß die Polizei in beschämender Weise bloßgestellt wurde.

Als im Mai der türkischen Bevölkerung von Erzerum bekannt wurde, daß von Konstantinopel die allgemeine Deportation der armenischen Bevölkerung angeordnet sei, machte sie eine Eingabe an die Regierung, in der aufs dringendste verlangt wurde, daß im Wilajet Erzerum von der Maßregel abgesehen werden solle, weil sie im Falle der Eroberung des Gebietes durch die Russen für die an den Armeniern begangenen Untaten bestraft werden würden.

Mitte Mai begannen die Deportationen aus den Dörfern in der Ebene von Erzerum und aus der Gegend von Terdjan und Mamachatun. In den ausgeleerten Dörfern wurden muhammedanische Bauern, die aus den von den Russen besetzten Gebieten geflüchtet waren, angesiedelt. Um jeden Widerstand bei der Deportation im voraus unmöglich zu machen, hatte man im Erzerumgebiet noch 15 000 Männer zur Armee ausgehoben. In den Hauptplätzen Baiburt, Erzingjan, Chinis, Keri usw. wurden, ehe die Deportation begann, die Notabeln verhaftet und nach Erzerum transportiert. Die Jungtürken waren in Erzerum zusammengekommen, um die Sache zu organisieren.

Bis zum 15. Mai waren bereits alle Dörfer aus Passin, der Ebene von Erzerum, ausgeleert und mit muhammedanischen Einwohnern besetzt worden. In Erzerum selbst wurden zuerst 600 Notable verhaftet und verschickt. Alle Ittihadisten (Mitglieder des Komitees „für Einheit und Fortschritt“) waren in Erzerum zusammengekommen und leiteten von dort aus die Maßregeln in der Provinz. Der Wali Tahsin Bey, der die Maßregeln nur widerwillig ausführte, sagte zu seiner Rechtfertigung: „Was kann ich tun? Die hohe Pforte hat es befohlen.“

Als Ende Mai Beha-Eddin Schakir, Mitglied des Komitees für Einheit und Fortschritt, nach Erzerum kam, trat die Verfolgung der Armenier in das akute Stadium. Die Tschettehs und Gendarmen schlugen am hellen lichten Tage Frauen und Kinder tot, um die Armenier zu provozieren und den Anlaß zu einem allgemeinen Massaker zu finden. Von den dreihundert Personen, die von Chinis nach Erzerum eskortiert wurden, wurde die Hälfte unterwegs erschlagen. Die letzten armenischen Soldaten und Ärzte wurden von der Front geholt, ein Teil getötet, der Rest deportiert. Jetzt wurde vom Kommandanten der Armee der Befehl zur allgemeinen Deportation gegeben.

Von Mitte Juni an begann die Deportation der gesamten Stadtbevölkerung von Erzerum und zog sich durch den Juli hin. Am 31. Juli telegraphierte der armenische Erzbischof von Erzerum, Kütscherian, an das Patriarchat in Konstantinopel, daß er sowie alle in Erzerum lebenden Armenier ausgewiesen seien. Wohin sie gebracht würden, wüßten sie nicht. Der Bruder des Erzbischofs wurde auf der Reise, die er in Begleitung eines Deutschen unternahm, durch die Behörden von diesem gewaltsam getrennt und ermordet.

Es wird erzählt, daß Tahsin Bey, der Wali von Erzerum, als er gehört hatte, daß der erste Transport der Armenier von Erzerum unterwegs abgeschlachtet worden sei, sich geweigert hätte, weitere Transporte von Erzerum wegzuschicken. Er habe verlangt, daß die Deportierten mit militärischer Bedeckung unter Aufsicht höherer Offiziere an ihr Verschickungsziel gebracht würden, damit ihnen wenigstens das nackte Leben gesichert würde.

Sein Verlangen hatte keinen Erfolg.

In

Erzingjan

wurden über 2000 Armenier, ohne daß irgend eine Beschuldigung gegen sie erhoben worden wäre, arretiert. Bei Nacht wurden sie verhaftet, bei Nacht aus dem Gefängnis geführt und in der Nachbarschaft der Stadt getötet. Sodann wurde den Armeniern der Stadt, etwa 1500 Häusern, angekündigt, daß sie in einigen Tagen die Stadt zu verlassen hätten. Sie könnten ihre Sachen verkaufen, müßten aber vor dem Abzug die Schlüssel ihrer Häuser den Behörden abliefern. Am 7. Juni ging der erste Transport ab. Er bestand hauptsächlich aus Wohlhabenderen, die sich einen Wagen mieten konnten. Später wurde ein Telegramm vorgezeigt, daß sie ihr nächstes Reiseziel Kharput erreicht hätten. Am 8., 9. und 10. Juni verließen neue Scharen die Stadt, im ganzen 20 bis 25 000 Personen. Viele Kinder wurden von muhammedanischen Familien aufgenommen, später hieß es, auch diese müßten fort. Auch die Familien der im Lazarett diensttuenden Armenier mußten fort, sogar, trotz des Protestes des deutschen Arztes Dr. Neukirch, eine typhuskranke Frau. Ein im Lazarett diensttuender Armenier sagte zu der deutschen Krankenschwester, „Nun bin ich 46 Jahre alt, und bin doch, trotzdem jedes Jahr Freilassungsgeld für mich gezahlt worden ist, eingezogen worden. Ich habe nie etwas gegen die Regierung getan, und jetzt nimmt man mir meine ganze Familie, meine 70-jährige kummergebeugte Mutter, meine Frau und 5 Kinder; ich weiß nicht, wohin sie gehen.“ Er jammerte besonders um sein 1½ jähriges Töchterchen. „So ein schönes Kind hast du nie gesehen, es hatte Augen wie Teller so groß. Wenn ich nur könnte, wie eine Schlange wollte ich ihr auf dem Bauche nachkriechen.“ Dabei weinte er wie ein Kind. Am anderen Tage kam derselbe Mann ganz ruhig und sagte: „Jetzt weiß ich es, sie sind alle tot.“ Es war nur zu wahr.

Die Karawanen, die am 8., 9. und 10. Juni Erzingjan in scheinbarer Ordnung verließen (die Kinder vielfach auf Ochsenwagen untergebracht), wurden von Militär begleitet. Trotzdem sollte nur ein Bruchteil das nächste Reiseziel erreichen. Die Straße nach Kharput verläßt die Ebene von Erzingjan östlich der Stadt, um in das Defilé des Euphrat, der hier die Tauruskette durchbricht, einzutreten. In vielen Windungen folgt die Straße, zwischen steilen Bergwänden am Strom entlang laufend, dem Euphrat. Die Strecke bis Kemach, die in der Luftlinie nur 16 Kilometer beträgt, verlängert sich durch die Windungen auf 55 Kilometer. In den Engpässen der Straße wurden die zwischen Militär und herbeigerufenen Kurden eingekeilten wehrlosen Scharen, fast nur Frauen und Kinder, überfallen. Zuerst wurden sie völlig ausgeplündert, dann in der scheußlichsten Weise abgeschlachtet und die Leichen in den Fluß geworfen. Zu Tausenden zählten die Opfer bei diesem Massaker im Kemachtal, nur zwölf Stunden von der Garnisonstadt Erzingjan, dem Sitz eines Mutessarifs (Regierungspräsidenten) und des Kommandos des vierten Armeekorps entfernt. Was hier vom 10. bis 14. Juni geschah, ist mit Wissen und Willen der Behörden geschehen. Die deutschen Krankenschwestern erzählen:

„Die Wahrheit der Gerüchte wurde uns zuerst von unserer türkischen Köchin bestätigt. Die Frau erzählte unter Tränen, daß die Kurden die Frauen mißhandelt und getötet und die Kinder in den Euphrat geworfen hätten. Zwei junge, auf dem amerikanischen Kollege in Kharput ausgebildete Lehrerinnen zogen mit einem Zug von Deportierten durch die Kemachschlucht (Kemach-Boghasi), als sie am 10. Juni unter Kreuzfeuer genommen wurden. Vorn sperrten Kurden den Weg, hinten waren die Miliztruppen eines gewissen Talaat. In ihrem Schrecken warfen sie sich auf den Boden. Als das Schießen aufgehört hatte, gelang es ihnen und dem Bräutigam der einen, der sich als Frau verkleidet hatte, auf Umwegen nach Erzingjan zurückzukommen. Ein türkischer Klassengefährte des jungen Mannes war ihnen behilflich. Kurden, die ihnen begegneten, gaben sie Geld. Als sie die Stadt erreicht hatten, wollte ein Gendarm die eine von ihnen, die Braut war, mit in sein Haus nehmen. Als der Bräutigam dagegen Einspruch erhob, wurde er von den Gendarmen erschossen. Die beiden jungen Mädchen wurden nun durch den türkischen Freund des Bräutigams in vornehme muhammedanische Häuser gebracht, wo man sie freundlich aufnahm, aber auch sofort aufforderte, den Islam anzunehmen. Sie ließen durch den Arzt Kasassian die deutschen Krankenschwestern flehentlich bitten, sie mit nach Kharput zu nehmen. Die eine schrieb, wenn sie nur Gift hätten, würden sie es nehmen.“

Am folgenden Tage, dem 11. Juni, wurden reguläre Truppen von der 86. Kavalleriebrigade unter Führung ihrer Offiziere in die Kemachschlucht geschickt, um, wie es hieß, die Kurden zu bestrafen. Diese türkischen Truppen haben, wie es die deutschen Krankenschwestern aus dem Munde türkischer Soldaten, die selbst dabei waren, gehört haben, alles, was sie noch von den Karawanen am Leben fanden, fast nur Frauen und Kinder, niedergemacht. Die türkischen Soldaten erzählten, wie sich die Frauen auf die Knie gestürzt und um Erbarmen gefleht hätten, und dann, als keine Hilfe mehr war, ihre Kinder selbst in den Fluß geworfen hätten. Ein junger türkischer Soldat sagte: „es war ein Jammer. Ich konnte nicht schießen. Ich tat nur so“. Andere rühmten sich gegenüber dem deutschen Apotheker, Herrn Gehlsen, ihrer Schandtaten. Vier Stunden dauerte die Schlächterei. Man hatte Ochsenwagen mitgebracht, um die Leichen in den Fluß zu schaffen und die Spuren des Geschehenen zu verwischen. Am Abend des 11. Juni kamen die Soldaten mit Raub beladen zurück. Nach der Metzelei wurde mehrere Tage in den Kornfeldern um Erzingjan Menschenjagd gehalten, um die vielen Flüchtlinge abzuschießen die sich darin versteckt hatten.

In den nächsten Tagen kamen die ersten Züge von Deportierten aus Baiburt durch Erzingjan.

Baiburt.

In der Stadt Baiburt und den umliegenden Dörfern lebten 17 000 Armenier. In verschiedenen aufeinanderfolgenden Transporten wurde die Bevölkerung in den ersten beiden Juniwochen aus den Dörfern und der Stadt ausgetrieben. Zuerst kamen die Dörfer an die Reihe, in denen viele Einwohner schon den Gendarmen und den plündernden Bauern zum Opfer gefallen waren. Drei Tage vor dem Aufbruch der Armenier von Baiburt wurde der armenische Bischof Wartabed Hazarabedjan nach achttägiger Gefangenschaft mit noch sieben angesehenen Armeniern gehenkt. Sieben oder acht andere vornehme Armenier, die sich weigerten, die Stadt zu verlassen, wurden in ihren Häusern getötet, 70 oder 80 andere im Gefängnis geschlagen, in die Wälder geschleppt und dort getötet.

Die Stadtbevölkerung wurde in drei großen Haufen verschickt. Den zweiten Haufen fand man als Leichen an der Straße liegen. Sie waren von türkischen Banden überfallen worden, die die Frauen und Mädchen mitnahmen, die größeren Kinder und die älteren Frauen töteten und die kleinen Kinder an die türkischen Dorfbewohner verteilten. Die Witwe eines angesehenen Armeniers, die bei einem letzten Schub von 400 bis 500 Deportierten war, erzählte von ihren Erlebnissen folgendes:

„Mein Mann starb vor acht Jahren und hinterließ mir, meiner achtjährigen Tochter und meiner Mutter einen ausgedehnten Besitz, von dem wir behaglich leben konnten. Seit Beginn der Mobilisation hat der Kommandant mietfrei in meinem Hause gewohnt. Er sagte mir, ich würde nicht zu gehen brauchen, aber ich fand, daß ich verpflichtet sei, das Schicksal meines Volkes zu teilen. Ich nahm drei Pferde mit mir, die ich mit Vorräten belud. Meine Tochter hatte einige Goldmünzen als Schmuck am Halse, und ich hatte etwa zwanzig Pfund und vier Diamanten bei mir. Alles übrige mußten wir zurücklassen. Unser Trupp brach am 14. Juni auf. Er zählte 400 bis 500 Personen, 15 Gendarmen begleiteten uns. Der Mutessarif (Regierungspräsident) wünschte uns eine „glückliche Reise“. Wir waren kaum zwei Stunden von der Stadt entfernt, als Banden von Dorfbewohnern und Banditen in großer Zahl mit Büchsen, Gewehren, Äxten usw. uns auf der Straße umzingelten und alles dessen beraubten, was wir mit uns hatten. Die Gendarmen selbst nahmen meine drei Pferde und verkauften sie an türkische Muhadjirs. Das Geld dafür steckten sie ein. Sie nahmen weiter mein Geld und das, was meine Tochter am Halse trug, dazu alle unsere Nahrungsmittel. Darauf trennten sie die Männer von uns. Im Verlauf von sieben bis acht Tagen töteten sie einen nach dem andern. Keine männliche Person über 15 Jahre blieb übrig. Zwei Kolbenschläge genügten, um einen abzutun. Neben mir wurden zwei Priester getötet, der aus Terdjan stammende Ter-Wahan und der über 90 Jahre alte Ter-Michael. Die Banditen ergriffen alle gutaussehenden Frauen und Mädchen und entführten sie auf ihren Pferden. Sehr viele Frauen und Mädchen wurden so in die Berge geschleppt, unter ihnen meine Schwester, deren ein Jahr altes Kindchen sie fortwarfen. Ein Türke hob es auf und nahm es mit, wohin, weiß ich nicht. Meine Mutter lief, bis sie nicht mehr laufen konnte. Am Wegrand auf einer Höhe brach sie zusammen. Wir fanden auf der Straße viele von denen, die in den früheren Trupps von Baiburt fortgeführt worden waren. Unter den Getöteten lagen einige Frauen bei ihren Männern und Söhnen. Auch alten Leuten und kleinen Kindern begegneten wir, die noch am Leben waren, aber in jammervollem Zustande. Von vielem Weinen hatten sie die Stimme verloren.

Wir durften nachts nicht in den Dörfern schlafen, sondern mußten uns außerhalb derselben auf der bloßen Erde niederlegen. Um ihren Hunger zu stillen, sah ich die Leute Gras essen. Im Schutze der Nacht wurde von den Gendarmen, Banditen und Dorfbewohnern Unsagbares verübt. Viele unserer Genossen starben vor Hunger und durch Schlaganfälle. Andere blieben am Wegrande liegen, zu schwach, um weiter gehen zu können.

Eines Morgens sahen wir 50 bis 60 Wagen mit 30 türkischen Witwen, deren Männer im Kriege gefallen waren, die von Erzerum kamen und nach Konstantinopel fuhren. Eine dieser Frauen gab einem Gendarmen einen Wink und zeigte auf einen Armenier, den er töten solle. Der Gendarm fragte, ob sie ihn nicht selbst töten wolle, worauf sie antwortete: Warum nicht? Sie zog einen Revolver aus der Tasche und erschoß ihn. Jede dieser türkischen Frauen hatte 5 oder 6 armenische Mädchen von 10 Jahren oder darunter bei sich. Knaben wollten die Türken niemals nehmen; sie töteten alle, und zwar jeden Alters. Diese Frauen wollten mir auch meine Tochter nehmen, aber sie wollte sich nicht von mir trennen. Schließlich wurden wir beide in ihren Wagen genommen, als wir versprachen, Muhammedaner zu werden. Sobald wir in die Araba (Wagen) gestiegen waren, fing sie an, uns zu lehren, was man als Moslem zu tun hat, und änderte unsere christlichen Namen in muhammedanische.

Die schlimmsten und unsagbarsten Greuel blieben uns aufgespart, als wir in die Ebene von Erzingjan und an das Ufer des Euphrat kamen. Die verstümmelten Leichen von Frauen, Mädchen und kleinen Kindern machten jedermann schaudern. Auch den Frauen und Mädchen, die mit uns waren, fügten die Banditen Entsetzliches zu. Ihr Schreien stieg zum Himmel empor. Am Euphrat warfen die Gendarmen alle noch übrigen Kinder unter 15 Jahren in den Fluß. Die schwimmen konnten, wurden erschossen, als sie mit den Wellen kämpften. Als wir Enderes auf der Straße nach Siwas erreichten, waren die Abhänge und Felder besät mit angeschwollenen und schwarz gewordenen Leichen, die die Luft mit ihrem Geruch erfüllten und verpesteten.

Nach 7 Tagen erreichten wir Siwas. Dort war nicht ein Armenier mehr am Leben. Die türkischen Frauen nahmen mich und meine Tochter mit ins Bad und zeigten uns viele andere Frauen und Mädchen, die den Islam hatten annehmen müssen. Auf dem Wege nach Josgad trafen wir 6 Frauen, die den Feredjé (Schleier) trugen, mit ihren Kindern auf dem Arm. Als die Gendarmen die Schleier lüfteten, fanden sie, daß es als Frauen verkleidete Männer waren und erschossen sie auf der Stelle. Nach einer Reise von 32 Tagen erreichten wir Konstantinopel.“

Über den Zustand und das Schicksal der Karawanen von Deportierten, die aus der Gegend von Baiburt und Erzerum durch Erzingjan durchkamen, liegt noch ein weiteres Zeugnis der beiden deutschen Krankenschwestern aus Erzingjan vor:

„Am Abend des 18. Juni gingen wir mit unserem Freunde, Herrn Apotheker Gehlsen, vor unserem Hause auf und ab. Da begegnete uns ein Gendarm, der uns erzählte, daß kaum zehn Minuten oberhalb des Hospitals eine Schar Frauen und Kinder aus der Baiburtgegend übernachtete. Er hatte sie selber treiben helfen und erzählte in erschütternder Weise, wie es den Deportierten auf dem ganzen Wege ergangen sei. Kessé, Kessé sürüjorlar! (Schlachtend, schlachtend treibt man sie!) Jeden Tag, erzählte er, habe er zehn bis zwölf Männer getötet und in die Schluchten geworfen. Wenn die Kinder schrien und nicht mitkommen konnten, habe man ihnen die Schädel eingeschlagen. Den Frauen hätte man alles abgenommen und sie bei jedem neuen Dorf aufs neue geschändet. „Ich selber habe drei nackte Frauenleichen begraben lassen“, schloß er seinen Bericht, „Gott möge es mir zurechnen.“ Am folgenden Morgen in aller Frühe hörten wir, wie die Totgeweihten vorüberzogen. Wir und Herr Gehlsen schlossen uns ihnen an und begleiteten sie eine Stunde weit bis zur Stadt. Der Jammer war unbeschreiblich. Es war eine große Schar. Nur zwei bis drei Männer, sonst alles Frauen und Kinder. Von den Frauen waren einige wahnsinnig geworden. Viele schrien: „Rettet uns, wir wollen Moslems werden, oder Deutsche, oder was ihr wollt, nur rettet uns. Jetzt bringen sie uns nach Kemach und schneiden uns die Hälse ab.“ Dabei machten sie eine bezeichnende Geberde. Andere trabten stumpf und teilnahmslos daher, mit ihren paar Habseligkeiten auf dem Rücken und ihren Kindern an der Hand. Andre wieder flehten uns an, ihre Kinder zu retten. Als wir uns der Stadt näherten, kamen viele Türken geritten und holten sich Kinder oder junge Mädchen. Am Eingang der Stadt, wo auch die deutschen Ärzte ihr Haus haben, machte die Schar einen Augenblick halt, ehe sie den Weg nach Kemach einschlug. Hier war es der reine Sklavenmarkt, nur daß nichts gezahlt wurde. Die Mütter schienen die Kinder gutwillig herzugeben, und Widerstand hätte nichts genützt.“

Als die beiden deutschen Rote-Kreuz-Schwestern am 21. Juni Erzingjan verließen, sahen sie unterwegs noch mehr von dem Schicksal der Deportierten.

„Auf dem Wege begegnete uns ein großer Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in guter Verfassung waren. Wir mußten lange halten, um sie vorüber zu lassen, und nie werden wir den Anblick vergessen. Einige wenige Männer, sonst nur Frauen und eine Menge Kinder. Viele davon mit hellem Haar und großen blauen Augen, die uns so toternst und mit solch unbewußter Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts. In lautloser Stille zogen sie dahin, die Kleinen und die Großen, bis auf die uralte Frau, die man nur mit Mühe auf dem Esel halten konnte, alle, alle, um zusammengebunden vom hohen Felsen in die Fluten des Euphrat gestürzt zu werden, in jenem Tal des Fluches Kemach-Boghasi. Ein griechischer Kutscher erzählte uns, wie man das gemacht habe. Das Herz wurde einem zu Eis. Unser Gendarm berichtete, er habe gerade erst einen solchen Zug von 3000 Frauen und Kindern von Mamachatun (aus dem Terdjan-Gebiet zwischen Erzerum und Erzingjan) nach Kemach gebracht: „Hep gitdi bitdi!“ „Alle weg und hin!“, sagte er. Wir: „Wenn ihr sie töten wollt, warum tut ihr es nicht in ihren Dörfern? Warum sie erst so namenlos elend machen?“ – „Und wo sollten wir mit den Leichen hin, die würden ja stinken!“, war die Antwort.

Die Nacht verbrachten wir in Enderes in einem armenischen Haus. Die Männer waren schon abgeführt, während die Frauen noch unten hausten. Sie sollten am folgenden Tage abgeführt werden, wurde uns gesagt. Sie selbst aber wußten es nicht und konnten sich deshalb noch freuen, als wir den Kindern Süßigkeiten schenkten. An der Wand unseres Zimmers stand auf Türkisch geschrieben:

„Unsere Wohnung ist die Bergeshöhe,
Ein Zimmer brauchen wir nicht mehr.
Wir haben den bitteren Todestrunk getrunken.
Den Richter brauchen wir nicht mehr.“

Es war ein heller Mondscheinabend. Kurz nach dem Zubettgehen hörte ich Gewehrschüsse mit vorangehendem Kommando. Ich verstand, was es bedeutete, und schlief förmlich beruhigt ein, froh, daß diese Opfer wenigstens einen schnellen Tod gefunden hatten und jetzt vor Gott standen. Am Morgen wurde die Zivilbevölkerung aufgerufen, um auf Flüchtlinge Jagd zu machen. In allen Richtungen ritten Bewaffnete. Unter einem schattigen Baum saßen zwei Männer und teilten die Beute, der eine hielt gerade eine blaue Tuchhose in die Höhe. Die Leichen waren alle nackt ausgezogen, eine sahen wir ohne Kopf.

In dem nächsten griechischen Dorfe trafen wir einen wildaussehenden bewaffneten Mann, der uns erzählte, daß er dort postiert sei, um die Reisenden zu überwachen (d. h. die Armenier zu töten). Er haben deren schon viele getötet. Im Spaß fügte er hinzu, „einen von ihnen habe er zu ihrem Könige gemacht“. Unser Kutscher erklärte uns, es seien die 250 armenischen Wegearbeiter (Inscha’at-Taburi, Armierungssoldaten) gewesen, deren Richtplatz wir unterwegs gesehen hatten. Es lag noch viel geronnenes Blut da, aber die Leichen waren entfernt.

Am Nachmittag kamen wir in ein Tal, wo drei Haufen Wegearbeiter saßen, Moslem, Griechen und Armenier. Vor den Letzteren standen einige Offiziere. Wir fahren weiter einen Hügel hinan. Da zeigt der Kutscher in das Tal hinunter, wo etwa hundert Männer von der Landstraße abmarschierten und neben einer Senkung in einer Reihe aufgestellt wurden. Wir wußten nun, was geschehen würde. An einem anderen Ort wiederholte sich dasselbe Schauspiel. Im Missionshospital in Siwas sahen wir einen Mann, der einem solchen Massaker entronnen war. Er war mit 95 anderen armenischen Wegearbeitern (die zum Militärdienst ausgehoben waren) in eine Reihe gestellt worden. Daraufhin hätten die zehn beigegebenen Gendarmen, soviel sie konnten, erschossen. Die übrigen wurden von andern Moslems mit Messern und Steinen getötet. Zehn waren geflohen. Der Mann selber hatte eine furchtbare Wunde im Nacken. Er war ohnmächtig geworden. Nach dem Erwachen gelang es ihm, den zwei Tage weiten Weg nach Siwas zu machen. Möge er ein Bild seines Volkes sein, daß es die ihm jetzt geschlagene tödliche Wunde verwinden könne!

Eine Nacht verbrachten wir im Regierungsgebäude zu Zara. Dort saß ein Gendarm vor der Tür und sang unausgesetzt: „Ermenileri hep kesdiler“ (Die Armenier sind alle abgeschlachtet). Am Telephon im Nebenraum unterhielt man sich über die noch Einzufangenden. Einmal übernachteten wir in einem Hause, wo die Frauen gerade die Nachricht vom Tode ihrer Männer erhalten hatten und die Nacht hindurch wehklagten. Der Gendarm sagte: „Dies Geschrei belästigt euch! Ich will hingehen und es ihnen verbieten.“ Glücklicherweise konnten wir ihn daran verhindern. Wir versuchten es, mit den Ärmsten zu reden, aber sie waren ganz außer sich: „Was ist das für ein König, der so etwas zuläßt? Euer Kaiser muß doch helfen können. Warum tut er es nicht?“ usw. Andere waren von Todesangst gequält. „Alles, alles mögen sie uns nehmen bis aufs Hemd, nur das nackte Leben lassen.“ Das mußten wir immer wieder mit anhören und konnten nichts tun, als auf den hinweisen, der den Tod überwunden hat.“


3. Wilajet Siwas.


Das Wilajet Siwas zählte unter 1 086 500 Bewohnern 271 500 Christen, nämlich 170 500 Armenier, 76 000 Griechen und 25 000 Syrer. Die muhammedanische Bevölkerung besteht zu ⅔ aus sunnitischen Türken, Turkmenen und Tscherkessen, zu ⅓ aus schiitischen Kisilbasch.

Vor der allgemeinen Deportation waren im Wilajet Siwas die Zustände die gleichen, wie in den Wilajets Trapezunt und Erzerum. Organisierte Banden plünderten die Dörfer. Die Gendarmen drangen unter dem Vorwande, Waffen zu suchen, in die Häuser ein, plünderten, vergewaltigten die Frauen und folterten die Bauern, um Geld zu erpressen. Jeder, der sich beklagte, wurde verhaftet. Alle Militärdienstfähigen, auch die, welche sich durch „Bedel“, die gesetzliche Militärbefreiungssteuer (44 türk. Pfd., ca. 800 Mark für die Person) losgekauft hatten, wurden ausgehoben und als Träger und Straßenarbeiter hinausgeschickt. Als man hörte, daß die Träger unterwegs aus Nahrungsmangel an Entkräftung umkamen, und daß die Wegearbeiter von ihren muhammedanischen Kameraden erschossen wurden, flohen viele, die noch nicht eingezogen waren, in die Berge, worauf die Regierung ihre Häuser verbrannte. In diesem, wie auch in allen andern Wilajets, wurde die Entwaffnung systematisch durchgeführt, ehe die Massakers und Deportationen begannen. Die Entwaffnung in den Dörfern ging in der Weise vor sich, daß ohne vorherige Ansage oder öffentlichen Anschlag die Dörfer von Gendarmen umzingelt und nach Belieben zwei- oder dreihundert Feuerwaffen von der Bevölkerung gefordert wurden. Konnten der Dorfschulze und die Ältesten etwa nur 50 aufbringen, so wurden die Notabeln eingekerkert und mit der Bastonnade traktiert. In der Stadt Siwas wurde für die Auslieferung der Waffen fünf Stunden Frist gegeben. Fand sich nachher in den Häusern noch irgend etwas, das einer Waffe ähnlich sah, so wurden die Häuser angezündet und die Bewohner getötet.

Dann begann man mit den Verhaftungen der Notabeln und Daschnakzagan in den Städten. In Siwas wurden 1200, in Schabin-Karahissar 50 verhaftet und ohne Verhör abgeführt. Bei den Haussuchungen fahndete die Behörde auf Schriftstücke oder Briefe, aus denen man Beweise für regierungsfeindliche Gesinnung oder Anschläge irgendwelcher Art herleiten konnte. Obwohl nirgends etwas gefunden wurde, verbreiteten die Behörden das lügenhafte Gerücht, daß Hunderte von Bomben und Tausende von Gewehren bei den Armeniern entdeckt worden seien, und daß die Daschnakzagan das Pulvermagazin hätten in die Luft sprengen wollen. Beweise brauchte die Regierung der leichtgläubigen muhammedanischen Bevölkerung nicht zu erbringen, erreichte aber damit die beabsichtigte Aufreizung der Muhammedaner gegen die Christen.

Nachdem alle Intellektuellen verhaftet waren, erging der Befehl der allgemeinen Deportation. Die den Armeniern drohende Gefahr wurde von den Beamten unter dem Vorgehen, daß sie es in der Hand hätten, die Deportation zu verhindern, zu großen Erpressungen ausgebeutet. Die Armenier von Tokat gaben ihrem Mutessarif 1600 türkische Pfund (ca. 30 000 Mark), um von der Deportation verschont zu bleiben.

Mersiwan.

In Mersiwan waren bereits, wie überall seit dem Beginn des Krieges, die Militärpflichtigen einberufen. Bis auf eine Anzahl von wohlhabenden Armeniern, die die gesetzliche Militärbefreiungssteuer bezahlt hatten, wurde alles, was diensttauglich war, von der Regierung herangezogen. Für die Frauen und Kinder, die ohne Mittel für den Lebensunterhalt zurückblieben, war es eine schwierige Lage. In vielen Fällen wurde das letzte Geld ausgegeben, um den ausziehenden Soldaten auszustatten. Da die Bevölkerung der Stadt zur Hälfte armenisch war, blieb eine beträchtliche Anzahl von nichtmilitärpflichtigen Armeniern in der Stadt zurück. Die Bevölkerung zählte vor der Deportation etwa 22 000, von denen gegen 12 000 Armenier waren. Der Bericht eines amerikanischen Missionars vom Kollege in Mersiwan lautet:

„Die Maßregeln der Regierung gegen die armenische Bevölkerung, für die kein Anlaß vorlag, begannen Anfang Mai damit, daß mitten in der Nacht etwa 20 von den Führern der konstitutionellen armenischen Partei aufgegriffen und verschickt wurden. Im Juni fing die Regierung an, nach Waffen zu suchen. Einige Armenier wurden ergriffen und ihnen auf der Folter das Geständnis ausgepreßt, daß eine große Masse Waffen in den Händen der Armenier sei. Eine zweite Inquisition begann. Von der Bastonnade wurde häufig Gebrauch gemacht, ebenso von Torturen mit Feuer. In einigen Fällen sollen die Augen ausgestochen worden sein. Viele Gewehre wurden abgeliefert, aber nicht alle. Die Leute fürchteten, sie würden, wenn sie alle Waffen abgeben, massakriert werden wie im Jahre 1895. Waffen waren nach der Erklärung der Konstitution mit Erlaubnis der Regierung eingeführt worden und dienten nur zur Selbstverteidigung. Die Folter wurde mehr und mehr angewendet, und unter ihrem Einfluß entstanden die angeblichen Tatsachen, die dann kolportiert wurden. Die körperlichen Leiden und die Nervenanspannung preßten den Betroffenen Aussagen ab, die sich nicht auf Tatsachen gründeten. Diejenigen, die die Torturen ausübten, pflegten den Opfern vorzusprechen, welche Bekenntnis sie von ihnen erwarteten, und schlugen sie so lange, bis sie das Gewünschte bekannten. Der Mechaniker des amerikanischen Kollege hatte eine eiserne Kugel für Turnspiele angefertigt. Er wurde entsetzlich geschlagen, in der Absicht, durch seine Aussage dem Kollege das Anfertigen von Bomben anzuhängen. Auf einem armenischen Friedhof wurden einige Bomben entdeckt, was die Wut der Türken auf das Äußerste reizte. Es hätte aber gesagt werden sollen, daß diese Bomben in der Zeit Abdul Hamids dort vergraben worden sind.

Am Sonnabend den 26. Juni gegen 1 Uhr mittags gingen Gendarmen durch die Stadt und trieben alle armenischen Männer zusammen, die sie finden konnten, Alte und Junge, Arme und Reiche, Kranke und Gesunde. In einigen Fällen brach man in die Häuser ein und riß kranke Männer aus den Betten. In den Kasernen wurden sie eingesperrt und während der nächsten Tage in Gruppen von 30 bis 150 verschickt. Sie mußten zu Fuß gehen. Viele wurden ihrer Schuhe und anderer Kleidungsstücke beraubt. Einige waren gefesselt. Die erste Gruppe erreichte Amasia und sandte aus verschiedenen Orten Nachricht. (Man sagt, es sei dies eine Maßnahme der Regierung gewesen, um die Nachfolgenden zu täuschen.) Von keinem der nach ihnen Ausziehenden hat man wieder etwas gehört. Von verschiedenen Berichten, die im Umlauf waren, lautete der einzige, der allgemein als wahr angenommen wurde, sie seien getötet worden. Ein griechischer Treiber berichtete, er habe den Hügel gesehen, unter dem sie begraben wurden. Ein anderer Mann, der zur Regierung in Beziehung stand, gab auf eine direkte Frage zu, daß die Männer getötet worden seien.

Durch Verwendung eines Türken gelang es dem Kollege, diejenigen unter den Lehrern, die schon weggeholt worden waren, wieder frei zu bekommen und für alle seine Lehrer und Angestellten einen Aufschub des Vorgehens zu erlangen. Hierfür wurde der Betrag von 275 türkischen Pfund gezahlt (5000 Mark). Später erklärte derselbe Beamte, er glaube, eine dauernde Befreiung der ganzen Kollegeangestellten erwirken zu können durch Zahlung weiterer 300 Pfund. Das Geld wurde versprochen, aber nach einigen Verhandlungen, die bewiesen, daß eine endgültige Zusicherung nicht zustande kommen würde, ließ man die Sache fallen.

Der[WS 2] Leiter des amerikanischen Kollege hatte sich inzwischen mit dem amerikanischen Botschafter in Verbindung gesetzt. Dieser versuchte, bei dem Minister des Innern, Talaat Bey, zu erwirken, daß wenigstens die armenischen Lehrerfamilien des Kollege und gegen 100 Schülerinnen, die man im Kollege zurückbehalten hatte, um sie vor der Deportation und den damit verbundenen Schändlichkeiten zu bewahren, unter dem Schutze der türkischen Behörden in Mersiwan zurückbleiben könnten. Talaat Bey sicherte die Erfüllung dieser Bitte zu und erklärte dem Botschafter, er habe nach Mersiwan telegraphiert, daß alle, die unter dem Schutz der Amerikaner seien, verschont bleiben sollten. Trotzdem wurden zuletzt auch die armenischen Lehrerfamilien und die hundert zurückgebliebenen Schülerinnen der Amerikaner mit verschickt.

Nachdem schon einige Gruppen von Armeniern deportiert worden waren, gingen Ausrufer durch die Straßen der Stadt und verkündeten, daß alle männlichen Armenier zwischen 15 und 70 Jahren sich in den Kasernen zu melden hätten. Die Ankündigung besagte weiter, daß Gehorsamsverweigerung den Tod und das Niederbrennen der Häuser zur Folge haben würde. Die armenischen Priester gingen von Haus zu Haus und rieten den Leuten, der Anordnung zu folgen. Diejenigen, die sich meldeten, wurden in Gruppen verschickt, und der Erfolg war der, daß innerhalb weniger Tage tatsächlich alle armenischen Männer aus der Stadt entfernt waren.

Am 3. oder 4. Juli wurde ein Befehl ausgegeben, daß die Frauen und Kinder sich bereit halten sollten, am folgenden Mittwoch (den 7. Juli) aufzubrechen. Den Leuten wurde mitgeteilt, daß die Regierung jedem Haus einen Ochsenkarren zur Verfügung stellen würde, und daß sie Nahrung für einen Tag, einige Piaster (1 Piaster gleich 15 Pfg.) und ein kleines Bündel Kleider mitnehmen dürften. Die Leute bereiteten sich vor, diese Befehle auszuführen, indem sie alle nur möglichen Haushaltungsgegenstände auf den Straßen verkauften. Die Sachen wurden für weniger als 10 % des gewöhnlichen Wertes verkauft, und Türken aus den benachbarten Dörfern füllten, erpicht auf ein gutes Geschäft, die Straßen. An einigen Stellen nahmen die Türken gewaltsam Gegenstände an sich, aber die Regierung bestrafte solche Fälle, wenn sie entdeckt wurden.

Am 5. Juli, ehe der Befehl, die Frauen auszutreiben, ausgeführt war, ging einer der Missionare zur Regierung, um im Namen der Humanität gegen die Ausführung des Befehls Einspruch zu erheben. Es wurde ihm mitgeteilt, daß der Befehl nicht von den Ortsbehörden ausginge, sondern daß von oben Befehl gekommen sei, nicht einen einzigen Armenier in der Stadt zu lassen. Der Kommandant versprach indessen, das Kollege bis zuletzt lassen zu wollen, und erlaubte allen, die mit den amerikanischen Instituten in Verbindung standen, sich in den Bereich des Kolleges zu begeben. Das taten sie, und so wohnten 300 Armenier zusammen auf dem Grundstück des Kollege.

Die Bevölkerung sollte bereit sein, am Mittwoch aufzubrechen, aber am Dienstag gegen ½4 Uhr morgens erschienen die Ochsenkarren vor den Türen des ersten Bezirkes, und den Leuten wurde befohlen, sofort aufzubrechen. Einige wurden sogar ohne genügende Bekleidung aus den Betten geholt. Den ganzen Morgen zogen die Ochsenkarren knarrend zur Stadt hinaus, beladen mit Frauen und Kindern und ab und zu einem Mann, der der ersten Deportation entgangen war. Die Frauen und Mädchen trugen den türkischen Schleier, damit ihre Gesichter nicht dem Blick der Treiber und Gendarmen ausgesetzt waren, rohen Gesellen, die aus anderen Gegenden nach Mersiwan gebracht worden waren. In vielen Fällen sind Männer und Brüder dieser selben Frauen in der Armee und kämpfen für die türkische Regierung.

Die Panik in der Stadt war schrecklich. Die Leute fühlten, daß die Regierung entschlossen war, die armenische Rasse auszurotten, und sie hatten keinerlei Macht, sich zu widersetzen. Sie waren sicher, daß die Männer getötet und die Frauen entführt werden würden. Aus den Gefängnissen waren viele Sträflinge entlassen, und die Berge um Mersiwan waren voll von Banden von Verbrechern. Man fürchtete, die Kinder und Frauen würden in einige Entfernung von der Stadt gebracht und der Gnade dieser Banditen überlassen werden. Wie dem auch sei, jedenfalls gibt es erweisbare Fälle, daß anziehende junge armenische Mädchen von den türkischen Beamten von Mersiwan entführt worden sind. Ein Muhammedaner berichtete, daß ein Gendarm ihm angeboten habe, ihm zwei Mädchen für einen Medjidijeh (3,60 Mk.) zu verkaufen. Die Frauen glaubten, daß sie Schlimmerem als dem Tod entgegengingen, und viele trugen Gift in der Tasche, um es im Notfalle zu gebrauchen. Einige nahmen Hacken und Schaufeln mit, um die zu begraben, die, wie zu erwarten, auf dem Wege sterben würden.

Während dieser Schreckensherrschaft wurde bekannt gemacht, daß es leicht möglich sei, der Deportation zu entgehen, und daß jeder, der den Islam annehme, friedlich zu Hause bleiben dürfe. Die Bureaus der Beamten, die die Gesuche protokollierten, waren dicht gefüllt mit Leuten, die zum Islam übertreten wollten. Viele taten es ihrer Frauen und Kinder wegen, in der Empfindung, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis ihnen der Rücktritt ermöglicht werden würde.

Die Deportation dauerte mit Unterbrechungen etwa zwei Wochen. Schätzungsweise sind von 12 000 Armeniern in Mersiwan nur ein paar Hundert übrig geblieben. Auch solche, die sich erboten, den Islam anzunehmen, wurden dann doch fortgeschickt. Bis zum Augenblick, wo ich dieses schreibe, ist noch keine sichere Nachricht von irgend einem der Transporte gekommen. Ein griechischer Treiber berichtete, daß in einem kleinen Dorf, einige Stunden von Mersiwan, die wenigen Männer von den Frauen getrennt, geschlagen, angekettet und als ein besonderer Transport weiter geschickt wurden. Ein türkischer Treiber erzählt, er habe die Karawane unterwegs gesehen. Die Leute waren so mit Staub und Schmutz bedeckt, daß man die Gesichtszüge kaum erkennen konnte.

Selbst wenn das Leben dieser Vertriebenen geschützt werden sollte, fragt man sich, wieviel wohl fähig sein werden, die Beschwerden einer solchen Reise zu ertragen, einer Reise über die heißen Hügel, voll Staub, ohne Schutz gegen die Sonne, mit kärglicher Nahrung und wenig Wasser, in der beständigen Furcht vor dem Tode oder einem schlimmeren Schicksal.

Die meisten Armenier im Distrikt von Mersiwan waren vollkommen hoffnungslos; manche sagten, es sei schlimmer als ein Massaker; niemand wußte, was kommen würde, aber alle spürten, daß es das Ende sei. Selbst die Priester und Führer konnten kein Wort der Ermutigung und Hoffnung finden. Viele zweifelten an der Existenz Gottes. Unter der scharfen Nervenanspannung verloren viele den Verstand, einige für immer. Es gab auch Beispiele von größtem Heroismus und Glauben, und einige traten ruhig und mutig die Reise an mit den Abschiedsworten: „Betet für uns; in dieser Welt sehen wir uns nicht wieder, aber einmal werden wir uns wiedersehen.“

Soweit der Bericht des amerikanischen Missionars.

Von Familien, die zum Islam konvertiert in Mersiwan zurückbleiben durften, werden genannt die Familien Danieljan, Kambesian, Keschischian, Vardaserian, Salian, Wahan Bogossian, Kelkelian, Jeremian, Mikaëlian, Hadjik Gendschian. Die letztere heißt jetzt Kendji-Zade-Kemal.

In Amasia sind nach der Deportation das armenische Viertel, der Bazar, die armenische und die griechische Kirche von den Tücken angezündet worden.

Aus Gemerek (zwischen Kaisarieh und Siwas) wurden alle Armenier deportiert, aber sie erreichten Siwas nicht. Die Männer und Knaben wurden getötet, Frauen und Kinder wurden an türkische Offiziere und Beamte verteilt.

Eine Episode der Deportation von Gemerek, die von den deutschen Rote-Kreuz-Schwestern berichtet wurde, verdient noch Erwähnung:

„Als die Männer alle fort waren, bekamen die älteren Frauen die Erlaubnis, zu gehen, wohin sie wollten, aber 30 der hübschesten jungen Frauen und Mädchen wurden zusammengeholt, und man sagte ihnen: „Entweder ihr werdet Moslem oder ihr sterbt!“ – „Dann sterben wir“, lautete die kühne Antwort. Daraufhin wurde an den Wali in Siwas telegraphiert, der die Weisung gab, diese tapferen jungen Bekennerinnen, deren viele in amerikanischen Schulen erzogen worden sind, an Moslems zu verteilen.“

Der Bericht der deutschen Schwestern schließt hierauf mit den Worten: „Von der russischen Grenze bis westlich von Siwas ist das Land jetzt ziemlich vollständig von Armeniern gesäubert. Es ist nur ein trauriger Trost, daß die Türkei durch das Hinmorden ihrer besten Leute sich selbst ruiniert hat. Die Türken selbst freuen sich auf den Tag, wo eine fremde Macht die Zügel in die Hand nehmen und Gerechtigkeit schaffen wird. Die vollbrachten Untaten wurden keineswegs allgemein vom türkischen Volke als solchem gebilligt, wohl aber von den sogenannten gebildeten Türken.“

Der einzige Ort, in dem es im Wilajet Siwas zu einem Widerstand der armenischen Bevölkerung kam, war Schabin-Karahissar. Schabin-Karahissar liegt nördlich von der Straße Erzingjan-Siwas, in den Abhängen der pontischen Gebirgskette, die das Wilajet Trapezunt von den Wilajets Erzerum und Siwas scheidet. Die Bewohner von Schabin-Karahissar galten als tapfer. Alle Dörfer in der Umgegend von Schabin-Karahissar waren Mitte April entwaffnet worden. Das Dorf Purk, südwestlich von Karahissar war bereits zerstört und die Bevölkerung massakriert worden. In der ersten Hälfte des Juni fing die Regierung auch in Schabin-Karahissar mit Verhaftungen an. Die Nachrichten von den Schlächtereien im Kemach-Tal und dem Schicksal der Deponierten, die durch Erzingjan getrieben wurden, waren nach Schabin-Karahissar gedrungen. Als nun die Regierung die verhafteten Daschnakzagan hängen wollte und die Deportation verfügt war, machte die armenische Bevölkerung von Schabin-Karahissar eine Demonstration, um gegen das ihr drohende Schicksal zu protestieren. Darauf wurde die Stadt von türkischem Militär aus Erzingjan zerniert. Einige Hundert Armenier flüchteten sich auf den steilen Burgfelsen, auf dem sich ein altes Schloß aus der byzantinischen Zeit befindet und verbarrikadierten sich dort, bis am 3. Juli das Schloß von türkischen Kanonen zusammengeschossen wurde. Die Verteidiger wurden getötet. Einige flüchteten sich in die Berge. Darauf wurden alle Männer der Stadt im Alter von 18 bis 55 Jahren unter dem Vorgeben, sie zum Militär auszuheben abgeführt, und die übrige Bevölkerung von Frauen und Kindern in derselben Weise wie im ganzen Wilajet deportiert. Auch in der Umgegend wurden von türkischem Militär alle christlichen Dörfer, darunter auch 10 griechische, eingeäschert und die Bevölkerung teils massakriert, teils deportiert.


Zileh.


Aus Zileh (südlich von Amasia) wird folgender Vorfall berichtet:

Ein armenischer Soldat, der verwundet war und von der Front in seine Heimat Zileh zurückkehrte, erzählte, daß er Zeuge gewesen sei, wie man den Bischof von Siwas, ehe man ihn in die Verbannung schickte, wie ein Pferd mit Hufeisen beschlug. Der Wali hatte diese Tortur scherzhaft damit begründet, daß man einen Bischof unmöglich barfuß gehen lassen könne.[8]

Als der armenische Soldat in seine Heimat nach Zileh kam. waren die Behörden damit beschäftigt, die Armenier der Stadt zu deportieren. Die Männer wurden in Gruppen zusammengebunden in die Berge vor die Stadt geführt und dort getötet, die Frauen und Kinder ließ man auf freiem Felde mehrere Tage ohne Nahrung lagern, bis man glaubte, daß sie mürbe geworden wären, um den Islam anzunehmen. Da sie alle sich weigerten, erstach man die Mütter vor den Augen ihrer Kinder mit dem Bajonett. Darauf wurden die Kinder verkauft. (Die Stadt hatte etwa 5000 armenische Einwohner.) Dem Soldaten und seinem Bruder gelang es, indem sie sich als Muhammedaner einschreiben ließen, wieder zur Armee geschickt zu werden.


Stadt Siwas.


In Siwas wurden nach der Verhaftung aller einflußreichen Armenier 8 oder 10 gehängt. Sodann wurden die Verhafteten nach Josgad transportiert. Die allgemeine Deportation ging schubweise vor sich. Als der amerikanische Missionar Partridge Siwas verließ, waren bereits zwei Drittel der Bevölkerung deportiert und 500 Häuser von den Behörden versiegelt. Jede Familie erhielt einen Ochsenkärren.

Die armenischen Ärzte, die seit Anfang des Krieges im Militärlazarett sieben Monate lang Typhuskranke gepflegt hatten, wurden ins Gefängnis geworfen. Ein besonderer Fall wird noch von amerikanischer Seite erzählt: Eine den Missionaren bekannte Armenierin, deren Mann viele Monate lang im amerikanischen Hospital als Pfleger verwundeter Soldaten gedient hatte, bekam Typhus und wurde in das Hospital gebracht. Ihre alte Mutter, die zwischen 60 und 70 Jahre alt war, stand vom Krankenbett auf, um für die 7 Kinder der typhuskranken Frau zu sorgen, von denen das älteste etwa 12 Jahre alt war. Einige Tage vor der Deportation wurde der Mann der Kranken gefangen gesetzt und, ohne daß er sich etwas hätte zu schulden kommen lassen, in die Verbannung verschickt. Als das Stadtviertel, in dem sie wohnten, fortziehen mußte, verließ die typhuskranke Frau das Hospital, und ließ sich auf einen Ochsenkarren setzen, um mit ihren Kindern abzuziehen.

Als die beiden deutschen Rote-Kreuz-Schwestern am 28. Juni nach Siwas kamen, war die ganze armenische Bevölkerung bereits weggeführt, und sie hörten, daß alle getötet worden seien.


4. Wilajet Kharput (Mamuret ül Aziz).


Das Wilajet Kharput zählte unter 575 300 Einwohnern 174 000 Christen, nämlich 168 000 Armenier, 5000 Syrer und 1000 Griechen. Die muhammedanische Bevölkerung setzt sich zusammen aus 180 000 schiitischen Kisilbasch, 95 000 Kurden (75 000 seßhaften und 20 000 Nomaden), 126 300 Türken.

Ende Juni und Anfang Juli, um dieselbe Zeit, zu der in den Wilajets Trapezunt, Erzerum und Siwas die allgemeine Deportation stattfand, wurde auch die Deportation der armenischen Bevölkerung der Provinz Kharput durchgeführt. In den offiziellen türkischen Communiqués wird wiederholt erklärt, daß nur aus den strategisch bedrohten Grenzgebieten Armenier deportiert worden seien. Das Wilaiet Kharput liegt völlig abseits von jedem Kriegsschauplatz mitten im Lande, in die gewaltigen Hochgebirgsketten eingebettet, die das Innere von Kleinasien fast unzugänglich machen, kein Russe oder Engländer hatte je Aussicht, hierherzukommen.

Über den Hergang bei der Deportation der armenischen Bevölkerung von Kharput berichtet der amerikanische Konsul von Kharput, Leslie A. Davis, das Folgende.

Der Inhalt des Berichtes stimmt mit Nachrichten aus deutscher Quelle überein.

Amerikanischer Konsularberlcht.

Kharput, den 11. Juli 1915.

„Der erste Transport erfolgte in der Nacht des 23. Juni. Darunter waren einige Professoren des amerikanischen Kollege und andere angesehene Armenier, sowie der Prälat der armenisch-gregorianischen Kirche. Es liefen Gerüchte um, daß sie alle getötet seien, und es ist leider kaum zu bezweifeln, daß es der Fall ist. Alle armenischen Soldaten sind ebenfalls auf die gleiche Weise fortgeschickt worden. Nachdem sie verhaftet waren, wurden sie in einem Gebäude am Ende der Stadt eingesperrt. Es wurde kein Unterschied gemacht zwischen denen, die ihre gesetzliche Abgabe für die Militärbefreiung gezahlt hatten, und denen, die es nicht getan hatten. Das Geld wurde angenommen, und dann wurden sie arretiert wie die andern und mit diesen weggeschickt. Es hieß, sie sollten irgendwohin gebracht werden, um auf den Straßen zu arbeiten, aber niemand hat wieder von ihnen gehört, und zweifellos ist ihre Arbeit nur ein Vorwand gewesen.

Wie zuverlässige Berichte über einen gleichen Vorfall erkennen lassen, der sich am Mittwoch den 7. Juli abspielte, ist ihr Schicksal so gut wie entschieden. Am Montag den 5. Juli wurden viele Männer arretiert und sowohl in Kharput als auch in Mesereh[9] ins Gefängnis geworfen. Am Dienstag bei Tagesanbruch wurden sie herausgeholt und mußten in der Richtung auf einen fast unbewohnten Berg zu marschieren. Es waren zusammen, etwa 800 Leute, in Gruppen von jedesmal 14 aneinandergebunden. An jenem Nachmittag kamen sie in einem kleinen kurdischen Dorf an, wo sie in der Moschee und anderen Gebäuden übernachteten. Während dieser ganzen Zeit hatten sie weder Essen noch Wasser. All ihr Geld und viele ihrer Kleidungsstücke waren ihnen abgenommen worden. Am Mittwoch früh wurden sie in ein Tal gebracht, welches einige Minuten entfernt war. Dort hieß man sie alle sich hinsetzen. Dann fingen die Gendarmen an, auf sie zu schießen, bis sie fast alle getötet waren. Einige von ihnen, die von den Kugeln nicht dahingerafft waren, wurden mit Messern und Bajonetten beseitigt. Einzelnen war es gelungen, das Seil, mit dem sie an ihre Leidensgefährten gebunden waren, zu zerreißen und zu flüchten. Aber die meisten von ihnen wurden bei der Verfolgung getötet. Die Zahl derer, die dennoch davon gekommen sind, ist sicher nicht mehr als zwei oder drei.

Unter den Getöteten war der Schatzmeister des amerikanischen Kolleges. Ferner gehörten viele andere angesehene Männer dazu. Eine Anklage irgend welcher Art ist niemals gegen diese Leute erhoben worden. Arretiert und getötet wurden sie mur, weil der allgemeine Plan besteht, die armenische Rasse zu beseitigen.

Gestern abend sind mehrere Hundert weiterer Männer, sowohl solche, die von der Zivilbehörde verhaftet waren, als auch solche, die als Soldaten ausgehoben waren, in einer anderen Richtung abgeführt und in ähnlicher Weise ermordet worden. Es soll an einem Ort geschehen sein, der keine zwei Stunden von hier entfernt ist. Wenn es ein wenig ruhiger geworden ist, werde ich hinausreiten und versuchen, selbst festzustellen, was daran ist.

Dieselbe Sache ist systematisch in unseren Dörfern durchgeführt worden. Vor ein paar Wochen wurden 300 Männer aus Itschmeh und Habusi, zwei Dörfern, vier und fünf Stunden von hier entfernt, zusammengebracht und dann in die Berge geführt und massakriert. Das scheint vollkommen sicher zu sein. Viele Frauen aus jenen Dörfern sind seitdem hier gewesen und haben es berichtet. Gerüchte von ähnlichen Ereignissen an anderen Orten gehen um. Es scheint ein definitiver Plan vorzuliegen, alle armenischen Männer zu beseitigen. Doch wurde nach der Abreise der Familien während der ersten paar Tage, an denen der Zwangsbefehl vollstreckt wurde, bekannt gegeben, daß Frauen und Kinder, die keine Männer in der Familie hätten, vorläufig dableiben könnten. Da hofften viele, das Schlimmste sei vorüber. Die amerikanischen Missionare fingen an, Pläne zu machen, um den Frauen und Kindern, die ohne Mittel für ihren Unterhalt zurückgeblieben waren, zu helfen. Man dachte daran, vielleicht ein Waisenhaus zu errichten, um für einige der Kinder zu sorgen, besonders für diejenigen, die in Amerika geboren und dann von ihren Eltern hierher gebracht worden waren, und auch für diejenigen, deren Eltern in irgend einer Weise mit der amerikanischen Mission verbunden gewesen waren. Es wäre reichliche Gelegenheit gewesen, wenn auch nicht ausreichende Mittel vorhanden waren, auch für Kinder zu sorgen, die mit den Deportierten aus anderen Wilajets hier durchkamen, und deren Eltern unterwegs gestorben sind.

Ich ging gestern zum Wali, um mit ihm darüber zu sprechen, und erhielt eine glatte Absage. Er sagte: „Wir könnten diese Leute unterstützen, wenn wir wollten, aber Waisenhäuser für die Kinder einzurichten, sei Sache der Regierung, und wir könnten keine derartige Arbeit in die Hand nehmen.“

Eine Stunde, nachdem ich den Wali verlassen hatte, wurde bekannt gegeben, daß alle hier noch zurückgebliebenen Armenier einschließlich der Frauen und Kinder am 13. Juli fortmüßten.“

Der Konsul schließt seinen Bericht mit der Bemerkung, daß „ein Hilfswerk voraussichtlich unnötig sein wird, da alle überlebenden Männer getötet werden und die noch verbleibenden Frauen und Kinder gezwungen sein werden, den Islam anzunehmen.“

Geld, das von Erzerum und Erzingjan für die Deportierten an die Adresse der Amerikaner von Kharput gesandt wurde, wurde vom Postamt nicht ausgezahlt.

Ein amerikanischer Missionar aus Kharput schreibt:

„Obwohl ich den Verlust von Hunderten von Freunden beklage, will ich doch versuchen, für einige Augenblicke meinen tiefen Schmerz zurückzudrängen, um mit wenigen Worten die große Not zu beschreiben, die ich zu meinem tiefen Leidwesen weder verhindem noch lindern konnte. Vielleicht kann ich durch mein Schreiben dazu mitwirken, daß Mittel und Wege gefunden werden, um den kleinen Überrest zu erhalten.

Das amerikanische Kollege in Kharput hat die folgenden Verluste zu verzeichnen:

Von unseren Gebäuden befinden sich sieben in den Händen der Regierung; eines von diesen wird von Gendarmen bewohnt, die andern stehen leer. Die Verluste an Habe, Gut und Menschenleben kann ich nicht genau angeben. Manches ist geraubt, anderes zerstört und verschüttet, so daß wir kaum hoffen können, das Verlorene je wieder in unseren Besitz zu bringen.

Vom Euphrat-Kollege (dies ist der Name des amerikanischen Kollege in Kharput) sind die Mehrzahl unserer Schüler und Schülerinnen, etwa zwei Drittel der Mädchen und sieben Achtel der Knaben, deportiert worden. Sie sind teils getötet, teils verschickt, teils in türkische Harems gebracht worden. Von den Professoren des Kollege sind vier getötet worden und drei am Leben geblieben.

Professor M. Tenekedjian, der 35 Jahre am Kollege tätig war, wurde am 1. Mai verhaftet und ins Gefängnis geworfen, wo ihm Haare und Bart ausgerissen wurden, um durch diese Foltern Geständnisse zu erzwingen. Nachdem er tagelang kein Essen bekommen hatte, hängte man ihn an den Händen auf und ließ ihn Tag und Nacht so hängen. Am 20. Juni wurde er mit einem Transport nach Diarbekir verschickt und unterwegs getötet.

Professor Kh. Nahigian, der 25 Jahre am Kollege Physik lehrte, wurde am 5. Juni verhaftet, in die Verbannung geschickt und getötet.

Professor H. Budjiganian war 16 Jahre am Kollege tätig. Er hatte in Edinburg studiert und lehrte Philosophie und Psychologie. Er wurde ebenfalls verhaftet, erlitt dieselben Torturen wie Professor Tenekedjian, außerdem wurden ihm drei Fingernägel ausgerissen; auch er wurde getötet.

Professor Worberian war 20 Jahre am Kollege tätig. Im Juli wurde er verhaftet. Als im Gefängnis andere Armenier vor seinen Augen zu Tode geprügelt wurden, erkrankte er an Geistesstörung; später wurde er mit seiner Familie nach Malatia verschickt und dort getötet.

Die drei Professoren, die am Leben blieben, konnten demselben Schicksal nur dadurch entgehen, daß sie einen hohen Preis zahlten.

Professor Sogigian stand 25 Jahre im Dienste des Kolleges. Er wurde am 1. Mai verhaftet. Da er im Gefängnis erkrankte, entging er den Folterungen und kam ins Hospital. Er zahlte eine hohe Summe und blieb seitdem verschont.

Professor Chatschadurian war 15 Jahre als Musiklehrer am Kollege tätig. Er wurde begnadigt, da er dem Statthalter viele Dienste erwiesen hatte.

Professor Lüledjian stand 15 Jahre im Dienst des Kolleges. Er hatte in Cornell [WS 3] und Yale studiert und lehrte Biologie. Er wurde am 5. Juni verhaftet und im Gefängnis geschlagen. Der Wali selbst beteiligte sich an der Prügelung. Als er dabei ermüdete, sagte er zu den anderen, wer seine Religion und sein Volk lieb habe, möge weiter schlagen. Der Geprügelte verlor das Bewußtsein, wurde in ein dunkles Verließ geworfen und dann, schwer verwundet, in ein Hospital gebracht.

Von der Knabenabteilung wurden 4 Lehrer getötet; von drei anderen fehlt jede Nachricht, wahrscheinlich sind sie getötet. Zwei weitere liegen krank im Hospital, einer ist verschwunden, und einer kam frei, weil er sein Haus an den Wali vermietet hat. Ein anderer Armenier kam frei, weil er der Tischler des Wali war.

Eine Zusammenstellung unserer Verluste ergibt, däß wir sieben Achtel der Gebäude, drei Viertel der Kinder und die Hälfte unserer Lehrer eingebüßt haben. Drei Viertel der ganzen Bevölkerung Kharputs, unter ihnen Kaufleute, Lehrer, Prediger, Priester, Regierungsbeamte, sind verschickt worden. Die übrigen haben keine Gewähr, daß sie werden bleiben können, da der Wali darauf besteht, daß alle verschickt werden. Einzelne haben hohe Summen für ihre Befreiung gezahlt. Man sollte etwas tun, um den Rest zu schützen. Der deutsche Botschafter in Konstantinopel hat für das armenische Personal des deutschen Waisenhauses in Mesereh, Waisenkinder, Lehrerfamilien und Dienstpersonal, zusammen einige 100 Personen, die Erlaubnis, dort zu bleiben, erwirkt. Falls keine Schritte getan werden, müssen wir damit rechnen, daß man die Schülerinnen unseres Kolleges vor unseren Augen in die türkischen Harems schleppt.“

Die Zahl der in den Wilajets Trapezunt, Erzerum, Siwas und Kharput teils massakrierten teils deportierten armenischen Bevölkerung wird in dem Bericht eines amerikanischen Missionars auf 600000 geschätzt.

Malatia.

In Malatia gab es etwa 10 bis 12 000 Armenier. Ein Deutscher, der unmittelbar vor der Deportation Malatia verließ, berichtet über die Dinge, die der Ausführung der Maßregel vorhergingen, das Folgende:

„Der Mutessarif Nabi Bey, ein äußerst freundlicher und wohlgesinnter alter Herr, wurde etwa im Mai abgesetzt, nach unserer Vermutung, weil er die Maßregeln gegen die Armenier nicht mit der gewünschten Härte unternommen haben würde.

Sein Stellvertreter, der Kaimakam von Arrha, war der Mann dazu. Seine Armenierfeindschaft und gesetzlose Handlungsweise waren kaum zu bezweifeln. Er ist wohl neben einer Klique reicher Beys für eine willkürliche Verhaftung vieler Armenier, eine unmenschliche Anwendung der Bastonnade und auch heimliche Tötung von armenischen Männern verantwortlich zu machen. Der rechtmäßige Nachfolger, Reschid Pascha, der Ende Juni aus Konstantinopel kam, ein gewissenhafter Kurde von geradezu erstaunlicher Herzensgüte, tat vom ersten Tage seiner Amtsführung an alles, was in seinen Kräften stand, um das Los der zahlreichen armenischen Männer im Gefängnis zu mildern, Übergriffe der irregulären Soldaten und Saptiehs gegen die armenische Bevölkerung zu verhindern und eine gesetzmäßige und humane Erledigung der äußerst schwierigen Angelegenheit zu ermöglichen, teilweise nicht ohne sich selbst in Gefahr und in die übelste Lage zu bringen. Trotz seiner Strenge genoß er auch bei dem größten Teile des armenischen Volkes den Ruf eines gerechten, unbestechlichen und warmherzigen Mannes. Leider war das, was in seinen Kräften stand, nur gar zu wenig. Die Bewegung war bei seiner Ankunft schon zu sehr erstarkt, die Gegenpartei zu mächtig, die ausführenden Organe seiner Gewalt zu wenig zahlreich und zu unzuverlässig, als daß er in durchgreifender Weise den Standpunkt des Rechts hätte vertreten können. Er erlag der Gewalt seiner Gegner, brach binnen weniger Tage gesundheitlich und seelisch zusammen. Noch während seiner schweren Krankheit tat er unter Aufbietung aller Kräfte alles, um den sicheren Transport der Verbannten und ihre Verpflegung zu gewährleisten.

Den Aufbruch der Armenier von Malatia hatte er von Woche zu Woche verschoben, teils in der stillschweigenden Hoffnung, es könne ihm noch gelingen, eine Gegenordre zu erwirken, woran er sehr gearbeitet hat, teils, um alle Vorbereitungen für eine humane Durchführung der Deportation treffen zu können. Schließlich hat er den strengen Weisungen der Zentralregierung und dem Druck der Gegenpartei in der Stadt nachgeben müssen.

Vor der Deportation, die Mitte August erfolgte, fand Anfang Juli ein Massenmord unter der männlichen Bevölkerung statt.“


5. Wilajet Diarbekir.


Das Wilajet Diarbekir liegt völlig abseits vom Kriegsschauplatz, ungefähr in der Mitte zwischen dem Busen von Alexandrette und der türkisch-persischen Grenze, in den Bergen des Taurus. Seine Südgrenze reicht bis an die mesopotamische Ebene. Es wird vom Tigris durchflossen, an dem die Hauptstadt Diarbekir liegt. Von seiner Gesamtbevölkerung von 471 500 Bewohnern waren 166 000 Christen, und zwar 105 000 Armenier und 60 000 Syrer (Nestorianer und Chaldäer) und 1000 Griechen. Die übrige Bevölkerung setzt sich zusammen aus 63 000 Türken, 200 000 Kurden, 27 000 Kisilbasch (Schi'iten) und 10 000 Tscherkessen. Dazu kommen noch 4000 Jesidis (sogenannte Teufelsanbeter) und 1500 Juden. Die christliche Bevölkerung betrug also reichlich 1/3, die muhammedanische 2/3 der Gesamteinwohnerschaft des Wilajets.

In Diarbekir wurde im Frühjahr 1915 auf Veranlassung des Walis eine Kommission „zum Studium der armenischen Frage“ eingesetzt.[10] Präsident dieser Kommission war der Mektubdschi Bedri Bey. Außer ihm gehörten der Kommission an der Ex-Sekretär von Hoff Bey, der Deputierte Pirendschi-Zade-Faizzi Bey, Major Rüdschi Bey, der Binbaschi (Hauptmann) der Miliz Schefki Bey und der Sohn des Müfti (Richter) Scherif Bey (Vetter des Deputierten Pirendschi). Sie begannen ihre Tätigkeit mit der Verfolgung der Anhänger der Daschnakzagan. Ihre ersten Opfer waren der Vorsitzende der Daschnakzagan und 26 armenische Notable, darunter auch der Priester Alpiar. Man nahm sie gefangen, mißhandelte sie im Gefängnis und ließ sie dann durch Osman Bey und den Müdir der Polizei Hussein-Bey ermorden. Die junge Frau des Priesters wurde von 10 Saptiehs vergewaltigt und fast zu Tode gemartert. Etwa 30 Tage lang ließ man täglich eine größere Anzahl Armenier verhaften, die dann in der Nacht im Gefängnis umgebracht wurden. Zwei armenische Ärzte wurden gezwungen zu bescheinigen, daß die Todesursache bei allen Umgebrachten Typhus gewesen sei.

Dr. Wahan wurde mit 10 andern Notabeln mit der Angabe, daß sie nach Malatia verbannt werden sollten, verhaftet. Auf dem Wege dahin wurden sie alle umgebracht. Um bei dem geplanten Massaker mitzuwirken, wurde ein berüchtigter kurdischer Räuber Omar Bey aus Djezire, der Sohn der Kurdenfrau Peri-Chanum, von dem Deputierten Faizi-Bey unter Zusage der Straflosigkeit nach Diarbekir geholt.

Zwischen dem 10. und 30. Mai wurden weitere 1200 der Angesehensten unter den Armeniern und Syrern aus dem Wilajet verhaftet. Am 30. Mai wurden 674 von ihnen auf 13 Keleks (Flöße, die von aufgeblasenen Schläuchen getragen werden) verladen, unter dem Vorwande, daß man sie nach Mosul bringen wolle. Den Transport führte der Adjutant des Walis mit etwa 50 Gendarmen. Die Hälfte derselben verteilte sich auf die Boote, während die andere Hälfte am Ufer entlang ritt. Bald nach der Abfahrt nahm man den Leuten alles Geld, ca. 6000 türkische Pfund (110 000 Mark) und die Kleider ab. Dann warf man sie sämtlich in den Fluß. Die Gendarmen am Ufer hatten die Aufgabe, alle, die sich etwa durch Schwimmen retten wollten, zu töten. Die Kleider der Ermordeten wurden in Diarbekir auf dem Markte verkauft. Bei der Ermordung half auch der obengenannte Omar Bey.

In der gleichen Zeit etwa wurden gegen 700 armenische junge Männer im Alter von 16 bis 20 Jahren angeblich zum Militär eingezogen und angestellt, um auf der Straße Karabaktsche-Habaschi, zwischen Diarbekir und Urfa, zu arbeiten. Bei dieser Arbeit wurden diese Arbeitssoldaten von den sie bewachenden Saptiehs niedergeschossen. Der befehligende Onbaschi (Unteroffizier) rühmte sich nachträglich der Heldentat, daß er es fertig gebracht habe, die 700 auf die Strecke verteilten wehrlosen Armenier mit nur 5 Saptiehs abzuschießen. In Diarbekir ließ man eines Tages 5 Priester, die man nackt ausgezogen und mit Teer bestrichen hatte, durch die Straßen führen.

Der Kaimakam von Lidscheh hatte die durch einen Boten des Walis mündlich überbrachte Ordre, die Armenier niederzumachen, zurückgewiesen, mit dem Bemerken, er wünsche den Auftrag schriftlich zu haben. Er wurde abgesetzt, nach Diarbekir gerufen und auf dem Wege dahin von seinen Begleitmannschaften umgebracht.

Auch in Mardin wurde der Mutessarif abgesetzt, da er nicht nach dem Willen des Walis mit den Armeniern verfahren wollte. Nach seiner Absetzung wurden zuerst 500, dann 300 armenische und syrische Notable nach Diarbekir auf den Weg gebracht. Die ersten 500 sind nicht nach Diarbekir gekommen; auch von den andern 300 hat man nichts mehr gehört.


6. Wilajet Wan.


Das Wilajet Wan zählte unter 542 000 Einwohnern 290 200 Christen, nämlich 192 200 Armenier und 98 000 Syrer. Dazu kommen 5000 Juden. Die Minderheit von 247 000 Muhammedanern setzt sich zusammen aus 210 000 Kurden, 30 500 Türken und 500 Tscherkessen. Die Jesidies (sogen. Teufelsanbeter) zählen 5400, die Zigeuner 600.

Im Wilajet Wan sahen die Dinge bis zum April des Jahres nicht anders aus, als in den übrigen Wilajets, nur daß die Plünderungen und Massakers hier bald einen größeren Maßstab annahmen. Seit der Mobilisierung der türkischen Armee zu Beginn des europäischen Krieges waren die nach Einführung der Konstitution aufgelösten Hamidieh-Truppen (irreguläre kurdische Reiterei, die Sultan Abdul Hamid aus den räuberischen Nomaden-Kurden gebildet hatte) aufs neue bewaffnet worden. Berüchtigte kurdische Räuber wurden mit ihren Banden in die Armee aufgenommen. Da es reguläre türkische Truppen nur in geringer Zahl gab, benützten die Hamidieh-Kurden und die Tschettehs (Banden) die gute Gelegenheit, um wehrlose armenische Dörfer zu überfallen und auszuplündern.


Artwin und Ardanusch.


Beim Vormarsch der Türken gegen Batum und Olti wurden von solchen Banden die armenischen Dörfer des von den Türken besetzten russischen Gebietes massakriert. So wurden im Gebiet von Ardanusch und Olti die Dörfer Berdus und Joruk geplündert, 1276 Armenier erschlagen und 250 Frauen und Mädchen geraubt. 24 Frauen vergifteten sich, um nicht vergewaltigt zu werden. Der Rest von etwa 500 Frauen und Kindern wurde von den russischen Truppen befreit. Im Gebiet des unteren Tschoroch, der bei Batum ins Schwarze Meer mündet gingen die Adjaren (muhammedanische Grusinier) zu den Türken über und beteiligten sich an den Massakers, die die türkischen Banden in den armenischen Dörfern um Artwin und Ardanusch im Tschorochtal verübten. Die Zahl der in diesem Gebiet von Türken und Adjaren massakrierten Kaukasus-Armenier wird auf 7000 geschätzt. Im Dorfe Okrobakert, in der Nähe von Batum, zwangen die Adjaren die Armenier, ihnen ihre Töchter für ihre Harems zu geben, andernfalls sie massakriert werden würden.

Das Wilajet Erzerum erstreckt sich südlich der russischen Grenze unter der Aghri-Dagh-Kette bis zum Ararat hin. Dieser Zipfel des Erzerum-Wilajets schiebt sich zwischen die Nordgrenze des Wilajets Wan und die Südgrenze des Kaukasusgebietes. Hier liegt das herzförmige Quellgebiet des östlichen Euphrat. Dieses Gebiet heißt Alaschkert.


Alaschkert, Diadin und Abagha.


Das Gebiet von Alaschkert und Diadin bis nach Bajasid hin ist mit zahlreichen armenischen Dörfern besetzt; in 52 Ortschaften lebten 2964 armenische Familien mit rund 40 000 Seelen.

Im Frühjahr wurde dies ganze Gebiet von türkischen und kurdischen irregulären Milizen vollständig verwüstet. Außer zwei kleinen Dörfern mit zusammen nur 35 bis 40 Familien sind die sämtlichen Alaschkert-Dörfer vollständig ausgeplündert worden. Auch in Bajesid, Karakilisse und achtzehn Dörfern fanden Massakers statt. In dem Städtchen Alaschkert konnten sich von den 300 armenischen Familien mit rund 4000 Personen nur 30 Familien retten. Von den übrigen 270 Familien sind alle männlichen Glieder massakriert worden; die Mädchen wurden entführt. Das gleiche Schicksal ereilte das Dorf Mollah Suleiman, wo von 150 Familien die Männer getötet, die Frauen und Kinder weggeschleppt wurden. Ebenso im Dorf Setkan, wo von 70 Familien die Männer getötet, die Frauen geraubt wurden. Die gleiche Zahl verlor das Dorf Amert. Im Dorf Chotschan wurden 35, im Dorf Schudgan 25 Familien von dem gleichen Schicksal betroffen. Allein aus den Dörfern Mollah-Suleiman und Setkan wurden 500 Frauen und Mädchen von den Hamidieh-Kurden geraubt. Alle geraubten Frauen und Mädchen wurden gezwungen, zum Islam überzutreten. An das Diadin-Gebiet schließt sich, durch die Owadjik-Kette getrennt, die Abagha-Ebene an, die sich zwischen der persischen Grenze und dem Nordostzipfel des Wansees südwärts auf Wan zu erstreckt. Auch hier wurden in den armenischen Dörfern Akbak, Khatschan, Tschibukli, Gahimak, Khan, Akhorik, Hassan-Tamra, Arsarik und Raschwa von den irregulären Milizen armenische und zum Teil auch syrische Christen bei der Plünderung in großer Zahl erschlagen. Man rechnet 2060 Armenier und 300 Syrer, die getötet wurden.

In der Ebene von Alaschkert waren es die drei Hamidieh-Kurden-Scheichs Musabeg, Abdul-Medschid und Chalid-Bey, die samt der örtlichen muhammedanischen Bevölkerung die Plünderungen und Massakers veranstalteten. Die Abaghadörfer wurden auf Befehl des Kaimakams von Seraj verwüstet. Die Gendarmen aus Temran plünderten die Dörfer Alur, Cholenz, Achmek. Die Gendarmen aus Paghes und das Bataillon des Tscherkess-Agha verwüsteten Gardjdan, Pegahu, Nanegans, Entsak und Eschekiß. Der Gendarm Omer-Agha überfiel das Dorf Mechkert in der Nähe von Wan und tötete 20 Frauen und Mädchen. Die Dörfer von Melaskert, nördlich des Wansees, wurden von der Bande des Ptschare-Ptschato, einem Haufen von 600 Banditen, überfallen und verwüstet.

Die Folge dieser systematischen Plünderungen und Massakers in den christlichen Dörfern war eine Massenflucht der Christen über die russische Grenze. Schon in dieser Zeit sammelten sich im Araxestal über 60 000 Flüchtlinge, meist Frauen und Kinder, an. Über Igdir, nordwestlich des Ararat, kamen 30 000, durch Kars gegen 5000, über Ardahan-Ardanusch kamen 7000 und über Djulfa (an der persischen Grenze) 20 000 Flüchtlinge in das Araxesgebiet.

Ähnliches ereignete sich in den persischen Grenzgebieten des Wilajets Wan, worauf wir noch zurückkommen werden.

Als die Russen im April die Offensive wieder aufnahmen, kehrte etwa ein Viertel der Flüchtlinge aus dem Kaukasus wieder in ihre Dörfer zurück. Beim Vordringen der Russen fürchteten die Muhammedaner wegen ihrer Untaten an der christlichen Bevölkerung bestraft zu werden. Sie verließen daher mit ihren Familien die Alaschkert-Dörfer und wurden von der türkischen Regierung in Zahl von etwa 2000 Familien in der Gegend von Malaskert und Bulanek in armenischen Dörfern untergebracht. Damals gab es keinen regulären Soldaten im Grenzgebiet. Kurden und Tschettehs waren die einzigen Truppen, über die die Regierung verfügte. Die 3000 Gendarmen der Wilajets waren mit dem Plündern der Dörfer beschäftigt. Der Wali von Wan hatte allen Kaimakams seiner Provinz den Befehl gegeben, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen. Der Kaimakam von Gawascht provozierte denn auch einen Zusammenstoß, der zu einem Massaker führte. Die Daschnakzagan verlangten vom Wali, daß der Kaimakam vor ein Kriegsgericht gestellt werden solle. Der Wali versprach, eine Untersuchung einzuleiten.

Die wehrlosen armenischen Dörfer mußten sich das alles gefallen lassen. Die Führer der Daschnakzagan bemühten sich, durch die Vermittlung der Behörden dem Unheil zu steuern und die armenische Bevölkerung zu beruhigen. Der Deputierte von Wan, Wramjan, hatte schon im Januar in einem Memorandum (vom 3./16. Januar 1915), das an den Wali von Wan Djevded-Bey und an Tahsin-Bey, den Wali von Erzerum, gerichtet war, die Behörden auf die Mißstände aufmerksam gemacht.

Chalil Bey in Nordpersien.

Inzwischen war die Armee von Chalil Bey in Nordpersien in das Gebiet von Urmia und Dilman eingerückt. Den 20 000 Regulären hatten sich noch 10 000 Kurden aus dem oberen Zabgebiet angeschlossen. Auch Djevded Bey, der Wali von Wan, beteiligte sich an diesen Operationen. Djevded Bey ist ein Schwager des türkischen Kriegsministers Enver Pascha; Chalil Bey, der Kommandeur des Korps, das in Persten einfiel, ein Onkel von Enver Pascha. Die türkischen und kurdischen Truppen verwüsteten auf persischem Gebiete alle christlichen Dörfer. Die syrische Bevölkerung des Urmiagebietes und die armenische Bevölkerung der Salmas-Ebene (um Dilman) wurde, soweit sie nicht auf russisches Gebiet flüchten konnte oder in dem Anwesen der amerikanischen Mission Schutz fand, von den Kurden erbarmungslos niedergemacht.

Djevded Bey in Wan.

Als Djevded Bey, der Wali von Wan, Mitte Februar aus Salmas zurückkehrte, begrüßte er freundlich die armenischen Führer, versprach den Plünderungen der Dörfer Einhalt zu tun und die Geplünderten zu entschädigen. Nur bat er, noch einige Wochen zu warten, bis die persische Expedition vorüber sei. Zugleich hörte man, daß er in einer Versammlung von türkischen Notabeln gesagt habe: „Wir haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan (Nordostpersien) reinen Tisch gemacht; wir müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun“.

An der Spitze des Daschnakzagan-Komitees standen damals drei bekannte Armenier, Wramjan, Deputierter von Wan, Ischchan und Aram.

Der Wali stellte sich in den nächsten Wochen freundlich mit ihnen und bat sie, wie bisher, mit ihm zusammenzuarbeiten, um die Ordnung im Wilajet aufrechtzuerhalten. Es wurden Kommissionen gebildet, die in die Dörfer geschickt wurden, um den Plünderungen der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun und Streitigkeiten zu schlichten. Inzwischen hatte der Wali um Verstärkungen von Erzerum gebeten und rechnete wohl auch auf die Unterstützung durch die Truppen, die in Persien eingefallen waren, falls sein geplantes Vorgehen gegen die Armenier, die sich noch nichts Schlimmes von ihm versahen, auf Widerstand stoßen würde. Plötzlich demaskierte er sich und zeigte sein wahres Gesicht.

In Schatak, einem überwiegend von gregorianischen und katholischen Armeniern, zum geringeren Teile auch von Kurden bewohnten Landstädtchen von über 2000 Einwohnern, an den Quellen des östlichen Tigris (50 Kilometer südlich von Wan), wurde am 14. April der Armenier Howsep, ein Daschnakzagan, von Gendarmen verhaftet. Seine Freunde wollten ihn befreien, es gab einen blutigen Zusammenstoß. Als der Wali davon hörte, ließ er die drei Führer der Daschnakzagan, Wramjan, Ischchan und Aram zu sich kommen und bat sie, zusammen mit dem Müdir der Polizei von Wan nach Schatak zu gehen, um den Streit zu schlichten. Das Komitee bestimmte, daß Ischchan mit drei anderen Armeniern namens Wahan, Kotot und Miran nach Schatak gehen sollte. Der Müdir der Polizei nahm einige tscherkessische Saptiehs mit sich. Halbwegs nach Schatak in der Flußniederung von Hayoz-Dzor übernachteten sie in dem Dorfe Hirtsch. Als die vier Armenier eingeschlafen waren, ließ der Müdir der Polizei sie im Schlaf durch die Tscherkessen ermorden. In der Frühe des nächsten Tages, ehe noch die Armenier von Wan etwas von dem Meuchelmorde wußten, ließ der Wali Djevded-Bey die beiden andern armenischen Führer Wramjan und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramjan geht arglos zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn sofort gefesselt nach Bitlis. Von Bitlis wurde Wramjan, der als Deputierter von Wan in besonderem Ansehen stand, nach Diarbekir transportiert und unterwegs ermordet.

Noch am gleichen Morgen bereitete der Wali Djevded Bey den Angriff auf die beiden armenischen Viertel vor und ließ Kanonen gegen sie in Stellung bringen. Es gab damals in Wan 10–15 Kanonen älterer Konstruktion und zwei neue Maschinengewehre, die kürzlich mit einer Abteilung Soldaten von Erzerum gekommen waren. Zur selben Zeit, als der Wali sich der Führer zu bemächtigen suchte, hatten die Massakers in Ardjesch und den Dörfern der Hayoz-Dzor schon ihren Anfang genommen. Die Armenier der Stadt konnten nichts anderes erwarten, als daß ein Massaker über sie verhängt werden sollte, auch hatten sie gehört, daß der Wali 6–7000 Mann Kavallerie aus Erzerum angefordert und beiläufig gesagt hatte, jetzt würde es gefährlich für die Armenier.

Wir lassen nun den Bericht des amerikanischen Missionars folgen, der die weiteren Ereignisse miterlebt hat:[11]

Die Belagerung von Wan.

„Wan ist eine Stadt von Gärten und Weinbergen, die inmitten einer von hohen prächtigen Bergen umgebenen Ebene am Wansee liegt. Die von Mauern umgebene Stadt enthält den Bazar und den größten Teil der öffentlichen Gebäude. Sie wird beherrscht von dem Kastell-Felsen, einem gewaltigen Felsblock, der sich steil aus der Ebene erhebt, von alten Mauern und Festungswerken gekrönt ist und nach der Seeseite zu berühmte Keilinschriften trägt. Die Vorstadt Aigestan, die „Gärten“ genannt (weil jedes Haus seinen Garten oder Weinberg besitzt), erstreckt sich 4 (engl.) Meilen ostwärts der umwallten Stadt und ist 2 (engl.) Meilen breit.

Das Grundstück der amerikanischen Mission liegt am südöstlichen Rand des mittelsten Drittels der Gärten auf einer kleinen Anhöhe, wodurch die Gebäude ihre Umgebung beträchtlich überragen. Diese Gebäude bestehen aus einer Kirche, zwei großen, neuen Schulgebäuden, zwei kleineren, einer Spitzenschule, einem Hospital, Klinik und vier Missionsgebäuden. Nach Südosten dehnt sich, ganz in der Nähe, die große Ebene aus. Hier lag die größte Kaserne der großen türkischen Garnison, unmittelbar an dem Bereich der amerikanischen Mission. Nordwärts durch einige Straßen getrennt lag eine andere Kaserne, und noch weiter nördlich in Schußweite der Burgfelsen (Topkala) mit einer kleinen Kaserne darauf, die die Armenier „Pfefferdose“ getauft hatten. 5 Minuten östlich von den amerikanischen Instituten liegt das deutsche Waisenhaus, dem Herr Spörri nebst Frau und Tochter, Schweizer von Herkunft, und drei unverheiratete Damen vorstanden. Die amerikanische Mission bestand zur Zeit aus der alten Mrs. Raynolds (Dr. Raynolds war in Amerika), Dr. Usher, dem Chefarzt des Hospitals, Mrs. Usher, der Leiterin der Spitzenindustrie, Mr. und Mrs. Yarrow, den Leitern der Knabenschule, Miß Rogers, Vorsteherin der Mädchenschule, Miß Silliman, Leiterin der Vorschule, Miß Usher, Lehrerin für Musik, Miß Bond, der Oberin des Hospitals, und der Missionarin Mc. Claren. Auch Miß Knapp aus Bitlis war zu Besuch da.

Die Stadt Wan hatte 50 000 Einwohner, von denen drei Fünftel Armenier und zwei Fünftel Türken waren. Ich sage „waren“, denn inzwischen haben sich die Verhältnisse vollständig geändert. Die Führer der Armenier waren Wramjan, Ischchan und Aram, Leiter der Partei der Daschnakzagan.

In der Zeit seit der Mobilisation, im letzten Herbst und Winter, waren die Armenier unter dem Vorwand von Requisitionen in der härtesten Weise ausgeplündert worden. Reiche Leute wurden ruiniert und arme Leute völlig entblößt. Die armenischen Soldaten in der türkischen Armee wurden vernachlässigt, äußerst mangelhaft ernährt, gezwungen, nur niedrige Arbeiten zu tun, und, was das Schlimmste war, jeder Waffe beraubt, so daß sie der Gnade ihrer fanatischen muhammedanischen Kameraden ausgeliefert waren. Kein Wunder, daß, so viele es vermochten, sich von ihrer Militärpflicht loskauften, andere auch desertierten. Wir ahnten im voraus, daß es zu einem Zusammenstoß kommen würde. Aber die Daschnakzagan benahmen sich mit erstaunlicher Zurückhaltung und Klugheit, beherrschten die heißblütige Jugend, patrouillierten in den Straßen, um Unruhen zuvorzukommen, und befahlen den Dorfbewohnern, lieber schweigend zu dulden, daß das eine oder andere Dorf niedergebrannt werde, als durch Gegenwehr den Anlaß für ein Massaker zu geben.

Trotzdem Dr. Usher seit Beginn des russischen Krieges manche verwundete türkische Soldaten aufgenommen und behandelt hatte, versuchte die Regierung gleichwohl, die Arzneien der amerikanischen Apotheke zu requirieren und das Hospital zu schließen. Außerdem hatten Miß Mc Claren und Schwester Martha vom deutschen Waisenhaus im Dezember angefangen, die Verwundeten in dem anderthalb (engl.) Meilen von unserem Grundstück entfernten türkischen Militärlazarett zu pflegen, wo keine Pflegeschwestern und die Zustände unbeschreiblich waren.

Als Djevded Bey, der Generalgouverneur des Wilajets, in den ersten Frühlingswochen von den Grenzkämpfen zurückkehrte, ahnte jedermann, daß bald etwas geschehen würde. Und so war es. Er verlangte von den Armeniern 3000 Soldaten. Sie waren aufs äußerste besorgt, Frieden zu halten, so daß sie seinem Verlangen nachzukommen versprachen. Aber gerade da brach in der Gegend von Schatak der Streit zwischen Türken und Armeniern aus, und Djevded Bey verlangte von Ischchan, daß er mit drei anderen angesehenen Daschnakzagan dorthin gehen sollte, um Frieden zu stiften. Auf dem Wege wurden alle vier heimtückischerweise ermordet. Das war Freitag den 16. April. Dann befahl Djevded Wramjan zu sich unter dem Vorwand, daß er sich mit ihm beraten wolle, ließ ihn verhaften und verschickte ihn. Die Daschnakzagan wußten nun, daß sie Djevded Bey nicht trauen konnten und daß es daher unmöglich wäre, ihm die geforderten 3000 Mann zu geben. Sie sagten, sie würden 400 geben und nach und nach die Militärbefreiungssteuer für die übrigen zahlen. Der Wali erklärte aber, er brauche Leute und nicht Geld, sonst würde er die Stadt angreifen. Einige Armenier baten Dr. Usher und Mr. Yarrow, zu Djevded Bey zu gehen und zu versuchen, ihn zu begütigen. Unterwegs begegnete ihnen ein Offizier, der ausgeschickt war, um sie zu rufen. Der Wali war hartnäckig. Man habe zu gehorchen. Er werde diesen Widerstand unter allen Umständen brechen, es koste, was es wolle. Erst werde er Schatak bestrafen und dann die Sache mit Wan vornehmen. Wenn aber die Armenier nur einen Schuß abfeuerten, würde das für ihn das Zeichen zum Angriff sein. Für das amerikanische Grundstück wollte er eine Wache von 50 Soldaten stellen.[12] Diese Wache müsse entweder angenommen werden, oder man müsse ihm schriftlich das Zeugnis ausstellen, daß die Wache verweigert worden wäre und er dadurch von aller Verantwortung, für unsere Sicherheit frei sei. Er verlangte sofortige Antwort, war aber schließlich bereit, bis Sonntag zu warten. Ferner verlangte er, daß Miß Mc Claren und Schwester Martha ihre Arbeit im türkischen Lazarett fortsetzen sollten. Sie gingen und waren darauf gefaßt, vielleicht für längere Zeit nicht mit uns korrespondieren zu können.

Als Dr. Usher am Montag den Wali wiedersah, fragte der Wali, ob er die Wache senden solle. Dr. Usher überließ ihm die Entscheidung. Wir haben keine Wache erhalten.

Dienstag, den 20. April, um 6 Uhr nachmittags versuchten einige türkische Soldaten aus einem Trupp Frauen, die nach der Stadt kamen, sich eine herauszugreifen.[13] Sie floh. Armenische Soldaten kamen hinzu und fragten die Türken, was sie wollten. Der türkische Soldat schoß auf sie und tötete sie. Herr Spörri war Augenzeuge von diesem Ereignis, mit dem die Feindseligkeiten begannen. Es gab den ganzen Abend ein mehr oder weniger anhaltendes Gewehrfeuer, und vom Burgfelsen her wurde beständiger Kanonendonner auf die befestigte Stadt vernommen, die nun von aller Verbindung mit den Gärten abgeschnitten war. Nachts sah man nach jeder Richtung hin Häuser in Flammen stehen. Die Zahl der in den Gärten wohnenden Armenier betrug gegen 30 000, während die armenische Bevölkerung in der inneren befestigten Stadt nur gering war. Die Bewohner der Gartenstadt wurden nun in einem Bezirk von etwa einer (engl.) Quadratmeile zusammengebracht, und dieser Raum wurde durch „Dirks“ (Barrikaden) sowie durch Mauern und Verhaue geschützt. Von den Verteidigern konnten 1500 mit Gewehren bewaffnet werden, ebensoviele etwa noch mit Pistolen. Ihr Vorrat an Munition war gering, darum waren sie sehr sparsam damit und wandten allerlei Listen an, um die Angreifer zum Feuern und zum Verbrauch ihrer Munition zu verführen. Sie machten sich daran, Kugeln zu gießen und Patronen anzufertigen. 3000 wurden täglich fertig. Ebenso machten sie sich Schießpulver, und nach einiger Zeit machten sie sich auch drei Mörser. Der Materialverbrauch für alle diese Dinge war gering, Methoden und Einrichtung roh und primitiv. Aber sie waren sehr froh und hoffnungsvoll und freuten sich ihrer Geschicklichkeit, den Angreifern Stand zu halten. Einige der Regeln, die sie für ihre Leute aufgestellt hatten, waren: Haltet euch sauber, trinkt nicht, sagt immer die Wahrheit, sagt nichts gegen die Religion des Feindes.

An die Türken der Stadt schickten sie ein Manifest, um ihnen kundzutun, daß sie nur mit einem einzigen Manne (dem Wali) Streit hätten und nicht mit ihren türkischen Nachbarn. Walis würden gehen und kommen, aber die beiden Rassen müßten fortfahren, miteinander zu leben, und sie hofften, daß, wenn Djevded gegangen wäre, ihre Beziehungen zueinander wieder friedlich und freundlich sein würden. Die Türken antworteten in demselben Sinne und sagten, sie wären gezwungen, zu kämpfen. Tatsächlich wurde auch von mehreren vornehmen Türken ein Protest gegen diesen Kampf unterzeichnet, aber Djevded ließ ihn vollständig unbeachtet.

Die Kaserne nördlich von unserem Grundstück wurde von den Armeniern erobert und niedergebrannt. Die Insassen ließen sie entkommen. Eine weitere Offensive versuchten sie in keiner Weise, da ihre Zahl zu gering war. Sie kämpften nur für ihre Heimstätten und für ihr Leben.

Kein bewaffneter Mann durfte unser Grundstück betreten. Aram, der Führer der Armenier, verbot sogar, daß die verwundeten Armenier in unser Hospital gebracht würden, damit unsere Neutralität nicht verletzt würde. Dafür behandelte sie Dr. Usher in ihrem eigenen provisorischen Lazarett.

Am 23. April schrieb Djevded Bey an Dr. Usher, daß man bewaffnete Leute unser Grundstück habe betreten sehen, und daß die Rebellen Verschanzungen in unserer Nähe aufgeworfen hätten. Wenn bei einem Angriff ein Schuß von diesen Schanzen abgefeuert würde, würde er zu seinem Bedauern gezwungen sein, seine Kanonen auf unser Grundstück zu richten und es vollständig zu zerstören; wir möchten das als sicher annehmen7) Dr. Usher antwortete, daß wir unsere Neutralität mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln aufrecht erhielten. Kein Gesetz könnte uns verantwortlich machen für Handlungen von Personen oder Organisationen, die sich außerhalb unseres Anwesens befänden.

Unsere Verhandlungen mit dem Wali wurden durch unseren amtlichen Vertreter, Signore Sbordone, den italienischen Konsularagenten, geführt, und unser Briefträger war eine alte Frau, die sich durch eine weiße Fahne schützte. Bei ihrem zweiten Ausgang fiel sie in einen Graben, und als sie darauf ohne ihre Fahne wieder aufstand, wurde sie sofort von den türkischen Soldaten erschossen. Es fand sich eine andere, aber sie wurde verwundet, als sie vor der Tür ihrer Hütte, in der Nähe unseres Grundstückes, saß.

Da erklärte Aram, er würde keine weitere Korrespondenz mehr erlauben, bis nicht der Wali auf einen Brief des Konsularagenten Sbordone geantwortet hätte, in welchem gesagt war, Djevded könne von den Armeniern nicht erwarten, daß sie sich jetzt übergeben, da sein Vorgehen gegen die Armenier den Charakter eines Massakers habe.

Während der Zeit der Belagerung hausten die türkischen Soldaten und ihre Gesellen, die wilden Kurden, fürchterlich in der ganzen Umgegend. Sie massakrierten Männer, Frauen und Kinder und brannten ihre Heimstätten nieder. Kleine Kinder wurden in den Armen ihrer Mütter erschossen, andere schrecklich verstümmelt, Frauen ihrer Kleider beraubt und geschlagen. Die Dörfer waren auf einen Angriff nicht vorbereitet, andre widersetzten sich, bis ihre Munition verschossen war. Sonntag den 25. kam der erste Trupp Flüchtlinge mit ihren Verwundeten in die Stadt. Unser Hospital, das in normaler Zeit 50 Betten hat, mußte für 142 Patienten Raum schaffen. Bettzeug wurde geliehen und überall auf den Fußböden Lagerstätten geschaffen. Leichtverwundete wurden täglich verbunden.

4000 Menschen waren mit all’ ihrer Habe aus „den Gärten“ ausgezogen und füllten unsere Kirche, Schulgebäude sowie alle nur irgendwie entbehrlichen Räume unserer Missionshäuser. Eine Frau sagte zu Mrs. Silliman: „Was sollten wir tun, wenn die Missionare nicht wären? Das ist nun das dritte Massaker, während dessen ich hier Zuflucht gefunden habe.“ Ein großer Teil dieser Leute mußte ernährt werden, denn sie waren so arm, daß sie ihr Brot täglich vom Bäcker gekauft hatten, und nun gab es das nicht mehr. (Die Armenier backen ihr Brot meistens selbst und sorgen dafür, daß sie fürs ganze Jahr die nötigen Weizenvorräte haben.) Diese vielen Menschen unterzubringen, für ihre Gesundheit, Nahrung und Disziplin zu sorgen, waren Probleme, die uns zu schaffen machten. Mr. Narrow organisierte Komitees für diese Arbeit. Jedem irgendwie fähigen Mann wurde darin eine Rolle zugewiesen, und es zeigte sich ein wundervoller Geist der Selbstlosigkeit und Aufopferungsfähigkeit. Ein Mann gab allen Weizen, den er besaß, mit Ausnahme von einem Monatsvorrat, den er für seine Familie behielt. Ein öffentlicher Backofen wurde erworben, Weizen und Mehl gekauft und verteilt, Brotmarken ausgegeben und später eine Suppenküche eröffnet. Miß Rogers und Miß Silliman sicherten sich einen täglichen Milchvorrat und ließen die Milch von ihren Schulmädchen kochen und an die kleinen Kinder verteilen. Hundertneunzig wurden auf diese Weise ernährt. Die Schuljungen betätigten sich als Schutzleute, schützten die Gebäude gegen Feuersgefahr, hielten unser Grundstück sauber, sahen nach den Kranken und verteilten Milch und Eier an Kinder und Kranke außerhalb unseres Grundstückes. Ein regelrechtes Stadtregiment wurde von den Armeniern mit Bürgermeister, Richtern und Polizisten organisiert; die Stadt war niemals so gut regiert worden. Nach Ablauf von zwei Wochen ließen uns die in der befestigten Stadt in ihrem Viertel belagerten Armenier sagen, daß sie einige von den Regierungsgebäuden erobert hätten, obgleich sie nur eine Handvoll waren und Tag und Nacht bombardiert wurden. Ungefähr 16 000 Kanonenkugeln oder Schrapnells wurden auf sie gefeuert. Die altmodischen Kugeln trafen die drei Fuß dicken Lehmmauern, ohne viel Schaden anzurichten. Mit der Zeit fielen die Mauern natürlich ein, aber es waren die oberen Mauern, und die Leute flüchteten hinter die unteren, so daß nur drei Personen ihr Leben ließen. Einige von den „Dirks“ in „den Gärten“ wurden auch bombardiert, aber ohne viel Schaden. Es schien, als wolle der Feind sein schweres Geschütz und seine Schrapnells bis zuletzt aufbewahren. Drei Kanonenkugeln fielen in der ersten Woche auf unser Grundstück, eine davon gegen ein Tor von Dr. Ushers Haus; 13 Personen wurden von Kugeln auf unserm Grundstück verwundet, eine tödlich. Unser Grundstück liegt so im Mittelpunkt, daß die Kugeln der Türken hindurch pfiffen, in mehrere Zimmer eindrangen, die Ziegel der Dächer zerbrachen und die Mauern draußen mit Löcherspuren verzierten.

Dr. Usher tat und tut noch die Arbeit von drei Menschen. Als einziger Arzt in der belagerten Stadt mußte er natürlich für die Patienten im Hospital, die verwundeten Flüchtlinge und die verwundeten armenischen Soldaten tätig sein, aber auch seine Poliklinik und seine Außenpatienten vermehrten sich in erschreckender Weise. Bei den Flüchtlingen hatten Not und Mangel unzählige Fälle von Lungenentzündung und Dysenterie im Gefolge; dazu wütete unter den Kindern eine Masernepidemie. Miß Silliman übernahm die Masernkranken, Miß Rogers und Miß Usher halfen im Hospital, wo Miß Bond und ihre armenischen Krankenschwestern bis an die Grenzen ihrer Kraft angestrengt wurden. Nach einer Weile eröffnete Miß Usher mit Hilfe von Miß Rogers ein weiteres Hospital in einem armenischen Schulhaus, in dem vorher Flüchtlinge Unterkunft gefunden hatten. Dabei war die Schwierigkeit, Bettzeug, Utensilien, Helfer, ja selbst Nahrung für die Patienten zu bekommen. Die ärztliche und wundärztliche Tätigkeit wurde durch Mangel an Medikamenten gehemmt, denn die jährlichen Lieferungen für Dr. Ushers Apotheke lagerten im Hafen von Alexandrette.

Zwei Wochen nach dem Beginn der Belagerung kam ein aus Ardjesch geflüchteter Mann, um von dem Schicksal dieser Stadt, der zweitgrößten im Wilajet, nach Wan zu berichten. (Ardjesch liegt in der fruchtbaren Ebene, die das Nordufer des nordöstlichen Ausläufers des Wansees, der See von Ardjesch genannt wird, bildet. Die alte Stadt, eine Residenz der armenischen Könige und des Seldschukken Toghrul Beg, ist vor 70 Jahren vom See überschwemmt worden, und der Name ist auf die neue Stadt (Agantz) übergegangen. Die Ebene von Ardjesch ist durch ihre Fruchtbarkeit und Melonenkultur berühmt.) Der Kaimakam von Ardjesch hatte die Männer von allen Handwerksgilden zusammengerufen. Da er immer freundlich gegen sie gewesen war, vertrauten sie ihm. Als sie alle beisammen waren, ließ er sie von den Soldaten niedermähen. Soweit wir in Erfahrung bringen konnten, entkam nur ein Mann und zwar dadurch, daß er sich die ganze Nacht unter einem Haufen von Leichen versteckt hielt.

Viele von den Flüchtlingen hatten nahe bei der Stadt in dem kleinen Dorf Schuschanty auf einem Berge, wo man einen Blick auf die Stadt hat, haltgemacht. Hier befahl ihnen Aram zu bleiben. Am 8. Mai stand das Dorf in Flammen, und ebenso verbrannte das danebenliegende Kloster Warak nebst seinen unersetzlichen alten Manuskripten. Jetzt kamen die Flüchtlinge in die Stadt. Der Wali Djevded schien seine Taktik geändert zu haben. Er ließ Frauen und Kinder zu Hunderten hereintreiben, damit sie die Hungersnot in der Stadt vermehren hülfen. Dank der Mobilisation im vorigen Herbst waren die Weizenvorräte in „den Gärten“ schon im Anfang sehr zusammengeschmolzen und nun, da zehntausend Flüchtlingen eine tägliche Ration gegeben wurde – wenngleich eine Ration, die kaum zur Erhaltung des Lebens genügte –, neigten sich die Vorräte schleunigst ihrem Ende zu. Auch die Munition wurde knapp. Die Aussichten schienen sehr trübe. Djevded konnte viele Leute und Munition von anderen Städten heranschaffen. Wenn nicht von anderer Seite Hilfe kam, war es nicht möglich, die Stadt noch länger zu halten, und die Hoffnung auf solche Hilfe schien sehr schwach zu sein. Wir hatten keine Verbindung mit der Außenwelt. Ein Telegramm, das wir an unsere Botschaft schicken wollten, kam nie aus unserer Stadt heraus. Die Daschnakzagan schickten Hilferufe an die russisch-armenischen Freiwilligen an der Grenze, aber keiner von den Boten kehrte zurück, und wir haben seitdem erfahren, daß keiner seinen Bestimmungsort erreichte. Wir wußten, daß in der letzten Bedrängnis unser Grundstück die letzte Hoffnung für die Leute in den belagerten „Gärten“ sein würde. Von Djevded, der über die lange Belagerung wütend war, konnte man kaum hoffen, daß er das Leben von irgend einem dieser Männer, Frauen und Kinder schonen würde. Er würde vielleicht den Amerikanern persönliche Sicherheit versprechen, wenn sie das Grundstück verließen, aber das wollten wir natürlich nicht tun. Wir wollten das Schicksal unserer Leute teilen. Und es war auch durchaus nicht unwahrscheinlich, daß der Wali uns nicht einmal Sicherheit bieten würde, da er zu glauben schien, daß wir die „Rebellen“ unterstützten.

Sonnabend und Sonntag, den 15. und 16. Mai, sah man mehrere Schiffe Avantz, den Hafen von Wan, verlassen. Sie enthielten die Familien von Türken und Kurden; den Männem war verboten worden, sich zu entfernen. Wir begaben uns nun alle auf die Dächer, sahen durch Ferngläser und wunderten uns. Bei den Türken herrschte augenscheinlich eine Panik. Schon einmal am Anfang des Jahres war unter ihnen eine Panik ausgebrochen, als die Russen bis Sarai vorgerückt waren; aber es war weiter nichts erfolgt. Hatte diese Flucht eine ähnliche Bedeutung?

Wie dem auch sein mochte, jedenfalls hatten die Türken die Absicht, noch so viel Unheil als möglich anzurichten. Am Sonnabend begannen die Kanonen der großen Kasernen auf uns zu schießen. Zuerst konnten wir nicht glauben, daß die Schüsse auf unser Sternenbanner zielten, aber schließlich blieb kein Zweifel darüber.[14] Sieben Bomben fielen auf unser Grundstück, eine auf das Dach von Miß Rogers und Miß Sillimans Haus, wobei sie ein großes Loch machte. Zwei andere bewirkten dasselbe auf den Dächern der Knaben- und Mädchenschule. Am Sonntag morgen begann das Bombardement von neuem. 26 Bomben fielen schon am Vormittag auf unser Grundstück, am Nachmittag weitere 10, die entweder niederfielen, oder in der Luft explodierten. Das Pfeifen der Schrapnells war ein Laut, den man nie wieder vergißt. Eine Granate explodierte in einem Zimmer von Mrs. Raynolds Haus und tötete ein kleines Kind. Eine andere Granate schlug durch die äußere Mauer von Miß Knapps Zimmer in Dr. Ushers Haus, explodierte, und dabei drangen die Hülsen und die Kugeln, die sie enthielt, durch die Mauer in das angrenzende Zimmer und zerbrachen die Tür der entgegengesetzten Mauer.

Nach Sonnenuntergang war alles still. Es kam ein Brief von den Bewohnern des einzigen armenischen Hauses innerhalb der türkischen Linien, das verschont geblieben war, weil Djevded als Knabe darin gelebt hatte.[15] Darin wurde mitgeteilt, daß die Türken die Stadt verlassen hätten. Die Kasernen auf dem Burgfelsen und am Fuß desselben enthielten eine so kleine Wache, daß sie leicht überwältigt wurden. Dann wurden die Kasernen niedergebrannt. Dasselbe geschah mit sämtlichen türkischen „Dirks“ (Verschanzungen), die danach aufgesucht wurden. Die große Kaserne spie ihre Garnison aus, einen Trupp von zahlreichen Reitern, die über die Hügel davon ritten. Nach Mitternacht wurde dann die Kaserne niedergebrannt. Man fand große Vorräte von Weizen und Munition. Das alles erinnerte an 2. Könige 7 (Belagerung von Samaria).

Die ganze Stadt war wach, man sang und freute sich die ganze Nacht. Der Weg zur befestigten Stadt war nun offen, ebenso auch zum türkischen Hospital. Nun aber kam der erste Dämpfer auf unsere Freude. Miß Mc Claren und Schwester Martha waren nicht da. Sie waren vor vier Tagen mit den verwundeten Soldaten nach Bitlis geschickt worden. [Ein Brief von Djevded Bey an Herrn Spörri besagte, „das Kriegsglück habe sich gewendet und die Schwestern seien mit ihrem Willen nach Bitlis gegangen“. Nach einer Mitteilung von Herrn Spörri.] Aus anderer Quelle erfuhr ich, daß Djevded ihnen nicht gestattet hätte, uns zu besuchen, weil (so sagte er) die Armenier vernichtet worden seien und es nicht sicher für sie wäre, zu uns zu gehen. Wir waren ihretwegen sehr besorgt.[16] 25 türkische Soldaten, die zum Reisen zu krank waren, hatte man ohne Nahrung und Wasser im Hospital zurückgelassen. Sie wurden zu uns gebracht. Man fand viele Leichen, einige von russischen Kriegsgefangenen, die die Türken bei ihrer Flucht getötet hatten.

Am Dienstag, den 18. Mai, kam die Vorhut der russisch-armenischen Freiwilligen. Sie hatten keine Botschaft von Wan erhalten und wußten nicht, daß die Stadt schon in den Händen der Armenier war. Am Mittwoch, den 19. Mai, kamen die Freiwilligen mit Soldaten der russischen Armee herein. Sie hatten das ganze Land östlich des Wansees von türkischen Truppen gesäubert und fuhren damit fort. Auch heute wurde heftig gekämpft. Russische Truppen hatten schon den Weg nach Bitlis eingeschlagen, wo bis dahin noch kein Massaker stattgefunden hatte, wie uns der russische General erzählte. Das Feldlazarett war bei dem schnellen Vormarsch mehrere Tage hinter der Armee zurückgeblieben; ebenso war es mit den Proviantkolonnen. Es war für die Stadt eine schwere Aufgabe, jetzt auch noch die Armee zu ernähren und ihr alles zu überlassen. Es gab Weizen, aber kein Mehl, denn die Mühlen hatten nicht mehr gearbeitet. Fleisch war kaum zu bekommen, obwohl die Kosaken große Schafherden in den kurdischen Bergen requiriert hatten.

Auf unserm Grundstück sind tausend türkische Frauen und Kinder, die die armenischen Soldaten uns gebracht haben, weil das der sicherste Zufluchtsort für sie wäre.[17] Die Armenier haben überhaupt den türkischen Gefangenen gegenüber eine bewunderungswürdige Selbstbeherrschung gezeigt, wenn man bedenkt, wie die Türken sich ihnen gegenüber benahmen. Ein verwundeter Soldat, der vom türkischen Hospital zu uns gebracht wurde, rühmte sich, daß er 20 Armenier getötet habe. Sie setzten ihn bei uns ab und taten ihm weiter nichts. Die Ernährung der Flüchtlinge in dieser Notzeit und die Frage, was mit ihnen werden solle, sind schwierige Probleme für unsere Mission und werden schwieriger von Tag zu Tag. Es würde ihr Tod sein, sie jetzt wegzuschicken, sie müssen unbedingt durchgebracht werden, und niemand außer uns kann es tun. Der General hat uns eine Wache für sie versprochen.

Inzwischen ordnen sich allmählich die Verhältnisse. Aram ist zum Gouverneur ernannt worden. Die Dorfleute kehren zu ihren Heimstätten zurück. Unsere 4000 Gäste haben uns verlassen. Wir haben die Schutzvorrichtungen von unseren Fenstern entfernt. Die Freiwilligen haben unser zweites Hospital übernommen; so wird die Arbeit in unserem eigentlichen Hospital wieder leichter.“

Soweit der amerikanische Bericht.

Ein anderer Bericht enthält noch folgende Einzelheiten:

„12 000 Granaten wurden gegen die Stadt gefeuert. Die Kanonenschüsse haben fast keine Verluste gebracht. Sie zerschossen am Tage die Häuser, aber in der Nacht wurden sie wieder instand gesetzt, so daß die Armenier kein Terrain verloren, dagegen wurden 20 türkische Häuser von ihnen neu besetzt. Den Hauptvorteil gewannen sie, als es ihnen am vierten Tage gelang, die Hamid-Agha-Kaserne in die Luft zu sprengen und niederzubrennen. Sie legten eine Bombe an die Grundmauer der Kaserne, die explodierte. Obwohl die Kaserne nicht zusammenstürzte, geriet sie in der Nacht plötzlich in Brand. Einige Soldaten verbrannten, die übrigen flohen im Schutz der Nacht. Durch Besetzung des Terrains dieser Kaserne waren die Armenier Herren von Aigestan. Die Stärke der Regierungstruppen überstieg nicht 6000 Mann, nur die Hälfte waren reguläre Truppen. Die Regierung versuchte alle Mittel, die Armenier zur Übergabe zu bewegen. Bis zur letzten Stunde wußten sie nichts von einem Entsatz.

Die Belagerung hatte genau 30 Tage gedauert. Auf armenischer Seite sind im ganzen nicht mehr als 18 gefallen, aber viele verwundet; die Verluste der Türken sollen beträchtlicher gewesen sein. Von den armenischen Stadtteilen verbrannten Glortach und Surb Hagop, ebenso mehre türkische Quartiere. Die türkischen Bewohner flohen nach Bitlis. Zehn Tage nach dem Einmarsch der russischen Vortruppen in Wan kam der General Nikolajeff mit dem Gros in die Stadt. Aram begrüßte ihn und sagte in seiner Ansprache: „Als wir vor einem Monat zu den Waffen griffen, rechneten wir nicht damit, daß die Russen kommen würden. Unsere Lage war damals verzweifelt. Wir hatten nur die Wahl, uns zu ergeben und uns wie die Schafe abschlachten zu lassen, oder mit klingendem Spiel im Kampfe zu sterben. Wir zogen das Letztere vor. Unerwartet wurden wir von Ihnen entsetzt, und jetzt sind wir Ihnen, nächst der tapferen Verteidigung der Unsrigen, unsere Errettung schuldig.“

Es ist wichtig, festzustellen, daß, wie die amerikanischen Missionare und der Bericht über den Empfang der Russen übereinstimmend bezeugen, die Armenier von Wan in keiner Verbindung mit den Russen und den russisch-armenischen Freikorps standen, auch während der Belagerung nicht in der Lage waren, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Der sogenannte „Aufstand von Wan“ war ein Akt der Selbstverteidigung und eine Episode in der Geschichte der Massakers, nicht Landesverrat.[18] Der Entsatz von Wan war eine Etappe in den Operationen der russischen Truppen gegen Nordpersien und das Wangebiet, nicht eine Aktion zugunsten der Armenier von Wan. Die beiden Ereignisse, die Selbstverteidigung der Wan-Armenier gegen das ihnen drohende Massaker und der Vormarsch der Russen stehen in keinem kausalen Zusammenhange zueinander. Hätten die Türken genügende Truppen und fähige Führer gehabt, um den russischen Vormarsch aufzuhalten, der ihnen ihre nordpersischen Eroberungen und die nordöstliche Hälfte des Wilajets Wan kostete, so hätte die Episode keinerlei Bedeutung für die Kriegslage an der kaukasisch-persischen Grenze gehabt. Durch ihre Selbstverteidigung bezweckten die Wan-Armenier nichts anderes, als das Leben der Ihrigen zu retten. Sie hätten sonst dasselbe Schicksal wie die Armenier der übrigen Wilajets erlitten.

In Berliner Kreisen wurde schon im Juni erzählt, der Wali von Wan Djevded Bey, der Schwager des Kriegsministers Enver Pascha, sei in seinem Konak durch eine armenische Bombe lebensgefährlich verwundet worden und zur Vergeltung dafür sei das Strafgericht über die Armenier verhängt worden. Im Oktober brachten deutsche Reisende aus Konstantinopel die Nachricht mit, Djevded Bey sei in Wan von den Armeniern auf den Straßen tot geschleift worden. Beide Nachrichten sind frei erfunden. Djevded Bey hat drei Tage vor dem Einmarsch der Russen in voller Gesundheit Wan verlassen und hat sich mit seinen Truppen nach Bitlis zurückgezogen. Er ist dann bei dem Rückzug der Russen noch einmal drei Tage in Wan gewesen. Da die Stadt von den Türken angezündet worden war, hatte er in dem einzigen Hause, das von der Deutschen Mission noch stand, Quartier genommen und ist dann nach Bitlis zurückgekehrt.

Die Operationen der Russen.

Die Operationen der Russen auf dem türkisch-persischen Grenzgebiet ergeben folgendes Bild:

Am 2. und 3. Mai wurde die türkische Armee unter Chalil Bey, die das Salmas- und Urmiagebiet besetzt und die armenischen und syrischen Dörfer des ganzen Bezirks verwüstet hatte, von den Russen bei Dilman geschlagen und mußte sich nach Urmia zurückziehen. Bei Urmia verstärkten sich die türkischen Truppen, die von ihren 20 000 Mann einige Tausend verloren hatten, durch 10 000 Kurden, die um Urmia konzentriert wurden, und versuchten, wieder in die Salmas-Ebene vorzudringen. Am 15. Mai wurden sie von den Russen aus der Salmas-Ebene vertrieben und mußten sich ins obere Zab-Tal in der Richtung auf Mosul zurückziehen. Inzwischen waren russische Truppen in das Quellgebiet des östlichen Euphrat, in die Ebene von Alaschkert, und aus dem Wilajet Erzerum in das Wangebiet nördlich des Wansees eingerückt. Sie hatten am 9. Mai Tutak, am 11. Mai Padnotz, am 17. Mai Melaskert besetzt. Sie drangen dann noch weiter bis Gob und Achlat (in der Nordostecke des Wansees) vor, wo sie sich bis Anfang August behaupteten. Gleichzeitig drangen andere Abteilungen der Kaukasusarmee südlich des Ararat in die Ebene von Bajasid vor, besetzten am 8. Mai Teperes, überschritten die Kette des Owadschik Dagh, drangen in die Abagha-Ebene vor, besetzten am 11. Mai Berkeri, am 13. Mai Ardjesch und rückten am 19. Mai mit ihrer Vorhut in Wan ein. Gleichzeitig überschritt die Armee, die die Türken aus der Salmas-Ebene verdrängt hatte, die türkisch-persische Grenzkette und stieg in das Quellgebiet des oberen Zab hinunter, wo sie am 16. Mai Baschkaleh besetzte und durch das Hayoz Dzor auf Wostan (an der Südostecke des Wansees) vorrückte, um auf Bitlis weiter zu marschieren.

Die ganze Operation der russischen Armee bestand, nachdem Nordpersien von türkischen Truppen gesäubert war, aus einem konzentrischen Vorgehen längs der ganzen türkischen Ostgrenze in der Richtung auf den Wansee. Der Erfolg der Operationen war die Besetzung des Gebietes nördlich, östlich und südöstlich vom Wansee.

Am 26. Mai hatten die vorrückenden russischen Truppen Wostan, an der Südostecke des Wansees, besetzt und dadurch die Verbindung der in Nordpersien operierenden Armee von Chalil Bey mit Bitlis und Erzerum gesperrt. Die Armee von Chalil Bey mußte daher versuchen, durch die kurdischen Gebiete südlich des Wansees oder über Mosul den Anschluß an die türkische Hauptarmee, die bei Erzerum stand, zu erreichen. Im Urmiagebiet konnte sie sich unter dem Druck der russischen Truppen nicht länger behaupten. Drei Wochen nach der Niederlage von Diliman, am 25. Mai, hatte Chalil Bey Urmia geräumt. Die Russen rückten in Urmia ein und ermöglichten den zwangsweise islamisierten Christen, die noch zurückgeblieben waren, wieder zurückzutreten. Chalil Bey blieb nur der Weg in das obere Zabtal, denn die Russen hatten bereits Diza, im Distrikt von Geber und Baschkaleh, erobert. Aber auch das schwer passierbare obere Zabtal, durch das der Weg nach Mosul herunterführt, war von den nestorianischen Bergsyrern bei Djulamerk gesperrt worden. Diese hatten von den Massakers unter ihren Volksgenossen im Urmiagebiet gehört und waren entschlossen, sich gegen ein gleiches Schicksal zu verteidigen. Als ein halbunabhängiger Stamm, der, den Kurden gleich, in den wilden Bergen des Hakkari-Gebietes lebt, sind sie auch in Friedenszeiten bis an die Zähne bewaffnet, um sich gegen ihre kurdischen Nachbarn zu verteidigen. Chalil Bey blieb daher nichts anderes übrig, als sich mit seiner Armee zwischen den Russen und den Bergsyrern durchzuschlagen, um auf halsbrecherischen Wegen über die kurdischen Berge Bitlis zu erreichen. Auf diesem Marsch wurde er von den russischen Truppen aus der Richtung von Baschkaleh angegriffen. Sich langsam zurückziehend, hielt er hartnäckig stand und besetzte zuletzt eine fast unzugängliche Gebirgskette, 40 bis 50 Kilometer südlich von Baschkaleh. In diesen Felswüsten, deren Gipfel noch mit Schnee bedeckt waren, begann ein verzweifelter Kampf. Am 4. Juni wurden durch einen Angriff der Russen die Truppen von Chalil Bey zersprengt und in das Tal von Liwa herabgeworfen. Reste seiner Armee schlugen sich auf Bergpfaden nach Sört durch. Chalil Bey selbst gelangte auf Umwegen nach Bitlis und sammelte dort, was sich von seiner persischen Okkupationsarmee allmählich wieder zusammenfand. Die Kurden, die sich in Urmia an die Armee von Chalil Bey angeschlossen hatten, waren in die kurdischen Distrikte von Schemdinan, südöstlich von Urmia, entwichen.

Inzwischen hatte der Nordflügel der türkischen Kaukasusarmee aufs neue die Offensive gegen Olti ergriffen. Da sie hier auf den hartnäckigen Widerstand der Russen stießen und nicht vorwärts kamen, verstärkten sie wieder ihren rechten Flügel, der gegen das Wangebiet operierte. In breiter Front drangen sie von Keslar Dagh bis zum Scharian Dagh vor, und suchten durch den Delibaba-Paß wieder in die von den Russen besetzte Alaschkert-Ebene vorzudringen. Ebenso rückten sie von Westen her gegen die russische Front vor und besetzten eine Linie, die vom Nimrud-Dagh, am Westende des Wansees über Karmuch und Pirrhus, zum Nassik-See und über den Bulama-See nach Gob führte. Die Russen waren zuvor schon westlich des Nimrud-Dagh auf Bitlis vorgestoßen und bereits in die Ebene von Musch heruntergestiegen, wo sie Wardenis besetzten, hatten aber diese vorgeschobene Stellung wieder geräumt und sich auf die Linie Achlat-Melaskert zurückgezogen, als Truppen, die aus Mosul kamen, sich mit den Resten der Armee von Chalil Bey in Bitlis vereinigt hatten. Die Türken warfen nun ein Armeekorps von Erzerum gegen die russische Front. Am 8. August eroberten sie den Paß von Mergemer, der ihnen die Alaschkert-Ebene aufschloß. Die Russen aber warfen sie wieder zurück und hielten nach verschiedenen Kämpfen die Linie Gob-Achlat.

Während der Offensive der türkischen Armee räumten die Russen vom 31. Juli bis zum 2. August Wan. Die Türken hatten von Bitlis aus einen Vorstoß gegen Wan gemacht, dem die Russen auswichen, um nicht den Operationen nördlich des Wansees Truppen zu entziehen. So konnte Djevded Bey vier Tage nach dem Abzüge der Russen mit 400 Mann Wan besetzen. Er fand aber Wan leer, da die Russen die gesamte armenische Bevölkerung samt den amerikanischen und deutschen Missionaren mitgenommen hatten. Die Räumung der Stadt hatte Hals über Kopf stattgefunden. Die Amerikaner verließen Wan am 2. Juli, der Leiter des deutschen Waisenhauses mit seiner Frau und Tochter und den deutschen Missionarinnen am 3. August. Schwester Käthe schiffte sich mit 50 Kindern des deutschen Waisenhauses ein, um über den See zu fahren. Da das Boot von Kurden beschossen wurde, mußte sie mit den Kindern am 8. August in die brennende Stadt Wan zurückkehren. Am 9. August kam Djevded Bey nach Wan und stieg in der deutschen Mission ab, wo Schwester Käthe ihn aufnahm, da sonst alles verbrannt war. Noch mancherlei war in der Stadt zurückgelassen worden. Die Kurden und Türken fingen sofort an, zu plündern. Die etwa 400 Armenier, die von den 30 000 armenischen Bewohnern der Stadt noch zurückgeblieben waren, Greise, Frauen, Kinder und Kranke konnten sich zum größeren Teil in das Anwesen der deutschen Mission flüchten, wo wenigstens ihr Leben geschützt war. Was die Kurden von Armeniern noch vorfanden, schlugen sie tot, die Frauen nahmen sie mit. Schon nach vier Tagen verließen die türkischen Truppen wieder Wan. Am 14. Juli kehrten die russischen Truppen wieder zurück und mit ihnen viele armenische Familien. Später wiederholte sich, wie es scheint, dieser Wechsel der Besatzung noch einmal. Wan wurde von den Türken wieder besetzt und wieder geräumt. Die Russen kehrten zurück und haben seitdem Wan in Händen.

Schon die erste Räumung von Wan durch die Russen war ziemlich zwecklos. Vielleicht hatte die Heeresleitung nur die Absicht, die Armenier aus Wan herauszuholen. Denn der alte Grundsatz von Lobanoff-Rostowski: „Armenien ohne die Armenier“ hat niemals aufgehört das leitende Prinzip der russischen Armenierpolitik zu sein.

Verwüstungen im Gebiet von Wan, Urmia und Salmas.

Zu der Zeit, als Wan durch türkische Truppen belagert wurde, sind die wehrlosen armenischen Dörfer des Wilajets systematisch verwüstet und die Einwohner, soweit sie sich nicht flüchten konnten, massakriert worden. Die Flucht, die Anfang April einsetzte, als die Alaschkertdörfer und die Abagha-Ebene geplündert wurden, nahm von Woche zu Woche größere Maßstäbe an. Nach einer Statistik über die Massakers sind in der Zeit von Ende Oktober 1914 bis Mitte Juni 1915 im Wilajet Wan und in den benachbarten Distrikten des Wilajets Erzerum 258 Dörfer geplündert und zerstört und gegen 26 000 Armenier massakriert worden. Die übrige Bevölkerung entzog sich dem sicheren Untergang durch die Flucht. Das Wilajet Wan, das vor dem Kriege 185 000 Armenier zählte, scheint gegenwärtig von Armeniern ausgeleert zu sein. Desgleichen die südöstlichen Gebiete des Wilajets Erzerum mit ca. 75 000 Armeniern. Was noch zurückgeblieben war oder bei dem Vormarsch der Russen seit Mitte Mai zurückkehrte, ist von russischer Seite evakuiert worden, als die russischen Truppen zeitweise Wan räumten (Mitte August). Alles, was sich an armenischer Bevölkerung aus den türkischen Grenzgebieten vor dem Schwert hat retten können, befindet sich gegenwärtig auf russischem Boden, im Araxestal. Die Zahl der Flüchtlinge, die sich größtenteils um Etschmiadzin, den Sitz des armenischen Katholikos, gesammelt haben, soll 200 bis 250 000 betragen. Etwa 200 000 befinden sich auf russischem und 25 bis 50 000 (mit Einschluß der Nestorianer) auf persischem Gebiet. Außer denen, die sich in Urmia zu den amerikanischen Missionaren flüchten konnten, ist dies alles, was von der armenischen und syrischen Bevölkerung in den östlichen Wilajets und in Nordpersien übrig geblieben ist. Über die Verwüstungen, die die türkische Armee von Chalil Bey und die mit ihr vereinigten kurdischen Truppen im Urmia- und Salmasgebiet angerichtet haben, liegen einige Berichte aus Urmia vor:

Der deutsch-amerikanische Pfarrer Pfander aus Urmia schreibt unter dem 22. Juli 1915:

„Kaum waren die Russen fort, da begannen die Mohammedaner zu rauben und zu plündern. Fenster, Türen, Treppen, Holzwerk, alles wurde fortgeschleppt. Manche Syrer hatten ihren ganzen Hausrat und ihre Wintervorräte in Stich gelassen und waren geflohen. Alles fiel den Feinden in die Hände. Die Flucht war das Beste; denn die Zurückgebliebenen hatten ein trauriges Los. 15 000 Syrer fanden Schutz innerhalb der Missionsmauern, wo die Missionare sie mit Brot versorgten: Ein Lawasch (dünnes Matzenbrot) für eine Person
am Tag. Krankheiten brachen aus, die Sterberate stieg bis auf 50 am Tag. In den Dörfern töteten die Kurden fast jeden Mann, dessen sie habhaft werden konnten. Sechs Wochen lang hatten wir einen osmanischen Soldaten als Wache. Daß ich in Deutschland geboren bin, half viel, und niemand hat uns ein Haar gekrümmt. Soll ich berichten, wie die Türken an der Hauptstraße vor dem Stadttor einen Galgen errichtet hatten und viele unschuldige Syrer erhängt und andere erschossen wurden, die sie vorher lange Zeit im Gefängnis gehalten hatten? Ich will von all’ dem Greulichen schweigen. Nebst vielen anderen armenischen Soldaten haben sie einen hier vor dem Tore erschlagen und dicht hinter Frl. Friedemanns Mauer verscharrt, aber so nachlässig, daß ihn die Hunde zum Teil wieder herausscharrten. Eine Hand lag ganz offen. Ich nahm einige Schaufeln und wir warfen einen Hügel über ihn. Frl. Friedemanns Garten, das Eigentum der Deutschen Orient-Mission, wurde von den Mohammedanern zerstört, die Häuser zum Teil in Brand gesetzt. Mit Freuden haben wir die ersten Kosaken begrüßt, die nach 5 Monaten wieder erschienen. Man ist wieder seines Lebens sicher und braucht den Tag über die Tore nicht verschlossen zu halten.“

Die frühere Leiterin des deutschen Waisenhauses in Urmia, Frl. Anna Friedemann, die zu Anfang des Krieges gezwungen wurde, ihr Waisenhaus zu räumen und russischen Offizieren zu überlassen, erhielt den folgenden Brief:

„Die neuesten Nachrichten sagen, daß bei den (amerikanischen) Missionaren (in Urmia) 4000 Syrer und 100 Armenier nur an Krankheiten gestorben sind. Alle Dörfer der Umgegend sind geplündert und eingeäschert worden, besonders Göktepe, Gülpartschin, Tscheraguscha. 2000 Christen sind in Urmia und Umgegend niedergemetzelt worden; viele Kirchen sind zerstört und verbrannt worden, ebenso viele Häuser der Stadt.“

Ein anderer Brief sagt:

„Sautschbulak wurde von den Türken dem Erdboden gleichgemacht. Für die Missionare war ein Galgen errichtet, doch eingetretene Hilfe verhinderte das Schlimmste. Eine Missionarin und ein Doktor sind gestorben.“

Ein dritter Brief berichtet:

„In Haftewan und Salmas sind aus den Pumpbrunnen und Zisternen allein 850 Leichname herausgezogen worden, und zwar ohne Kopf. Warum? Der Oberstkommandierende der türkischen Truppen hatte für jeden Christenkopf eine Summe Geldes ausgesetzt. Die Brunnen sind mit Christenblut getränkt. Aus Haftewan allein sind über 500 Frauen und Mädchen den Kurden nach Sautschbulak ausgeliefert worden. In Dilman wurden Scharen von Christen eingesperrt und mit Gewalt gezwungen, den Islam anzunehmen. Die männlichen wurden beschnitten. Gülpartschin, das reichste Dorf im Urmiagebiet, ist ganz dem Erdboden gleich gemacht worden; die Männer sind getötet, die hübschen Mädchen und Frauen weggeführt, ebenso in Babaru. Zu Hunderten flohen die Frauen in den tiefen Fluß, als sie sahen, wie viele ihrer Mitschwestern von den Banden am hellen Mittag auf den Straßen vergewaltigt wurden; ebenso in Mianduab im Suldusdistrikt. Die Truppen, die von Sautschbulak durchzogen, trugen das Haupt des russischen Konsuls aufgespießt nach Maragha. Im katholischen Missionshof in Fath-Ali-Chan-Göl sind 40 Syrer an den dort errichteten Galgen aufgehängt worden; die Klosterfrauen waren auf die Straße hinausgelaufen und hatten um Erbarmen gefleht, aber umsonst. In Salmas, in Khossrowa ist ihre ganze Station zerstört, die Klosterfrauen sind geflohen. Maragha ist zerstört. In Täbris ist es nicht so schlimm. In Salmas wurden 1175, im Urmiagebiet 2000
Christen niedergemacht. An Typhus starben bei den Missionaren 4100. Alle Flüchtlinge zusammen, auch aus Tergawar, Wan, Adzerbeidschan, werden auf 300 000 geschätzt. In Etschmiadzin hat sich ein Komitee gebildet, um für die Armen zu sorgen. Über 500 Kinder wurden unterwegs auf den Straßen gefunden, wo die Flüchtlinge herkamen, darunter solche im Alter von neun Tagen. Im ganzen sind über 3000 Waisen in Etschmiadzin gesammelt worden.“

Über die Verwüstungen der armenischen Dörfer im Wilajet Wan, die von verschiedenen Seiten bestätigt sind, liegt auch noch ein deutscher Bericht von Herrn Spörri, Leiter des deutschen Waisenhauses in Wan, vor, der von einer Reise berichtet, die er im Juni, also nach dem Einmarsch der Russen in das Wangebiet, in der Umgegend von Wan unternahm:

„Da liegt Artamid im Schmuck seiner reizenden Gärten vor uns. Aber wie sieht der Ort aus? Zum großen Teil ist er nur noch ein Trümmerhaufen. Wir sprachen dort drei unserer früheren Waisenknaben, die in der Zeit Furchtbares durchgemacht hatten. Wir reiten weiter über den Berg von Artamid. Unsere Blicke schweifen über das prächtige Tal Hayoz Dzor. Dort liegt vor uns Artananz, jetzt auch ganz zerstört. Weiterhin in dem kräftigen Grün liegt Wostan. Beim ersten Anblick könnte man es ein Paradies nennen, aber in den letzten Tagen ist es zur Hölle geworden. Wieviel Blut mag dort geflossen sein? Es war ein Hauptstützpunkt der bewaffneten Kurden. Am Fuß des Berges kommen wir nach Angegh. Auch dort wieder viele Häuser zerstört. 130 Personen sollen hingemordet sein. Wir lagerten uns hier angesichts der schwarzen Trümmer. Da lag vor uns ein „Amrodz“, wie man sie hier so häufig sieht, ein aus Mistkuchen gebauter Turm. Man sagte uns, in diesem haben die Kurden die getöteten Armenier verbrannt. Schrecklich! Doch ist das immerhin noch bester, als wenn die Leichen der Erschlagenen, wie es an anderen Orten geschehen, lange unbegraben liegen bleiben, von Hunden aufgefressen werden und die Luft verpesten. Als wir dann nach Genn weiterreiten, kommen uns schon Bekannte aus dem Dorfe entgegen, die uns von dem Geschehenen berichten. Auch dort liegen die Stätten unserer früheren Wirksamkeit, Schule und Kirche, in Trümmern, und außerdem noch viele Häuser. Der Mann, bei dem wir sonst einzukehren pflegten, ist auch unter den Erschlagenen. Seine Witwe kann sich noch immer nicht fassen. Hier sollen es ungefähr 150 Ermordete sein. Es seien so viele Waisen in dem Orte, sagte man uns. Ob wir jetzt wieder welche aufnehmen wollten. Wir konnten keine bestimmte Antwort darauf geben… Wir hatten einen wundervollen Blick von der Bergeshöhe, aber in den Dörfern sieht man überall geschwärzte und zerstörte Häuser.“

Von dem Massaker von Ardjesch, das während der Belagerung von Wan stattfand, haben wir schon im amerikanischen Bericht gelesen. Um dieselbe Zeit wurden Achlat und Tadwan überfallen. Die Verwüstungen wurden später vervollständigt, als die Russen im August zeitweise die von ihnen nördlich des Wansees besetzten Gebiete räumten. Der ganze Norden und Nordosten des Wilajets Wan und die angrenzenden Distrikte des Wilajets Erzerum bis zur türkischen Grenze sind so gut wie ausgeleert. Die türkische Bevölkerung, nach türkischer Quelle in Zahl von etwa 30 000, ist vor den Russen her in das Wilajet Bitlis geflüchtet, die armenische Bevölkerung in den Kaukasus.

Die Berichte ergeben, daß bei den Massakers im Wangebiet und in den persischen Distrikten von Salmas, Urmia und Sautschbulak zwischen armenischer und syrischer Bevölkerung kein Unterschied gemacht wurde. Auch die Bergsyrer sollen jetzt von türkischen Truppen zerniert sein. Am 30. September kamen in Salmas viele nestorianische Flüchtlinge aus Djulamerk im oberen Zabtal an. Diese Syrer erzählten, daß weitere 30 000 Nestorianer, unter ihnen auch der nestorianische Patriarch Marschimum, auf der Flucht seien und ihnen folgen würden. Sie seien von türkischen Truppen angegriffen und vertrieben worden. Weiter erzählten sie, daß 25 000 Bergsyrer von Kurden und türkischen Truppen umzingelt seien und sich schwerlich vor Vernichtung würden retten können. Ein

Bericht des nestorianischen Patriarchen,

Marschimum Benjamin, der im Oktober nach Chossrowa in Persien kam, teilt näheres über die Verfolgung seiner Kirche in der Türkei mit. Der Marschimum hat seinen Sitz in Kotschannes bei Djulamerk im oberen Zabtal. Er ist ein Mann von 25 Jahren. Das Patriarchat ist erblich in seiner Familie. Der Sitz des Patriarchates wurde im Jahre 1500 von Bagdad nach Kotschannes verlegt. Da die syrisch-nestorianischen Christen der Türkei teils aufgerieben, teils über die persische Grenze und nach Rußland geflohen sind, hat der Patriarch vorläufig seinen Sitz nach Chossrowa in der Salmasebene verlegt. Dort machte er einem Besucher gegenüber die folgenden Mitteilungen:

„Mein Volk besteht aus 80 000 Seelen, die als freie Aschirets (Stämme) in der Türkei lebten. Sie hatten, wie die kurdischen Aschirets, weder Steuern zu zahlen noch Soldaten zu stellen. Kein türkischer Beamter kam in unser Gebiet. Unsere Stämme sind von alter Zeit her bewaffnet, schon die zehnjährigen Knaben werden im Waffendienst geübt, so daß wir uns mit unseren 20 000 Bewaffneten gegen die Raubüberfälle der um uns wohnenden Kurden schützen konnten. Als die Konstitution in der Türkei eingeführt wurde, schenkten wir den Versprechungen der Regierung Glauben, die uns Sicherheit verbürgte, und verkauften einen großen Teil unserer Waffen, da man uns glauben machte, daß auch die Kurden entwaffnet worden seien. Dadurch wurde unser Volk wehrlos. Nach der Erklärung des Dschihad beschlossen die Türken, uns ebenso wie die Armenier auszurotten und ließen uns durch ihre Truppen und durch die Kurden, in deren Mitte wir wohnen, überfallen. Unsere Lage verschlimmerte sich noch mehr, als Chalil Bey nach seinen Niederlagen in Salmas und im Urmiagebiet sich im April des Jahres mit seiner geschlagenen Armee durch unsere Täler zurückzog. Ende Mai brachen türkische Truppen aus Mosul, in unser Gebiet ein. Mit dieser Zeit begannen die offiziellen Massakers und Verwüstungen in unseren Dörfern. Unser Volk verließ die Weideplätze und zog sich in das Hochgebirge von Betaschin zurück, wo es jetzt eingeschlossen ist. Die Lebensmittel drohen ihnen auszugehen, und es herrschen Epidemien. Es bleibt ihnen nur noch die Hoffnung, durchzubrechen, und über die persische Grenze zu fliehen.“

Wie die „Frankfurter Zeitung“ unter dem 4. 2. 1916 berichtet, ist der Patriarch nach Tiflis gekommen, und hat dort den Exarchen von Georgien, der dem russischen Synod unterstellt ist, gebeten, für ihn eine Erlaubnis zur Reise nach St. Petersburg auszuwirken. Die Reise soll bezwecken, eine Vereinigung der syrisch-nestorianischen Kirche mit der russisch-orthodoxen herbeizuführen. Nach der Behandlung, die den christlichen Kirchen in der Türkei seit der Erklärung des Dschihad zuteil geworden ist, hat dieser Entschluß nichts Verwunderliches. Die türkische Regierung treibt mit Gewalt Armenier und Syrer in die Arme Rußlands.

Ein Bild von dem Schicksal der Flüchtlinge gibt der folgende

Brief eines Flüchtlings aus Wan, der im Juli 1915 beim Rückzug der Russen Wan verließ.

(Schreiber dieses Briefes ist der Lehrer Parunag Ter Harutunian aus Wan, Adressatin Frl. Kohareg Bedrosian.)

Wagharschabad, den 27. August 1915.

Liebes Fräulein!

Du wirst wohl aus den Zeitungen von der völligen Zerstörung von Wan gehört haben. Mitte April äscherten die Türken mein Haus und unsere ganze Straße ein, in unserem Haus waren 250 Frauen und Kinder aus den Dörfern in der Umgegend von Wan und 50 aus der Stadt, die alle mit verbrannt sind. Es herrschte in Wan eine fürchterliche Pockenkrankheit, die täglich 60 bis 70 Kinder dahinraffte.

Im Juli mußten sich die Russen zurückziehen; infolgedessen mußten auch die überlebenden Armenier Wan verlassen. Meine Schwägerin mit meiner Frau, jede ein Kind in den Armen, und ich mit meinen zwei kleinen Buben, die 8 und 11 Jahre alt sind, mußten ohne jeden Proviant und Reisegepäck die Stadt verlassen. Von Wan bis Igdir – ach dieser Weg des Elendes und des Jammers, gleich der Hölle! – waren wir dreizehn Tage unterwegs, weil wir zu Fuß gehen mußten. Überall auf der Straße fanden wir Leichen. Auf den Feldern lagen die gefallenen Soldaten. In den Dörfern, die völlig verödet waren, war niemand mehr am Leben, außer den Hunden, die die Leichen fraßen. Unsere Karawane bestand, als wir Wan verließen, aus 872 Personen. Nur 93 davon sind in Igdir angekommen. Auch mein eignes Kind, der hoffnungsvolle Zolag, starb unterwegs, und ich konnte ihn nicht einmal begraben. Hingeworfen, weitergezogen oder vielmehr weitergeschoben.

Wir hatten 8 Tage lang unsere Kuh mit, die geduldig abwechselnd unsere Kinder trug. Sie mußte aber am 9. Tage unseres Elendes geschlachtet werden, um die Flüchtlinge am Leben zu erhalten.

Seit vier Wochen hüte ich das Bett und bin froh, daß ich noch am Leben bin. In Wan ist kein Mensch mehr, weder Türke noch Armenier. Hier sind wir mit noch 17 anderen in einem Zimmer einquartiert. Viele sterben durch Schmutz und Hunger. Sorge für Geld und Hilfe um Gottes willen, sonst können wir nicht am Leben bleiben.

In tiefer Trauer grüßt Dich Dein Lehrer
Parunag.


7. Wilajet Bitlis.


Das Wilajet Bitlis zählte unter 398 000 Bewohnern 195 000 Christen, nämlich 180 000 Armenier und 15 000 Syrer. Von den übrigen 200 000 sind 40 000 Türken. Der Rest setzt sich zusammen aus 45 000 seßhaften Kurden, 48 000 Nomadenkurden, 47 000 Sasakurden, 10 000 Tscherkessen, 8 000 Kisilbasch und 5 000 Jesidis. Die Armenier verteilen sich über alle Gebiete des Wilajets, sind aber besonders stark vertreten in der Umgegend von Bitlis und in der Euphrat-Ebene von Musch mit 200 bis 300 Dörfern. Die Ebene von Musch wird im Süden durch die Tauruskette begrenzt. In den Hochtälern des Taurus, südlich dieser Kette, liegt das Gebiet von Sassun, das in den neunziger Jahren der Schauplatz der ersten armenischen Massakers unter Abdul Hamid war.

Die Vorgänge im Wilajet Bitlis hängen mit den Ereignissen im Wilajet Wan zusammen. Die endgültige Katastrophe vollzog sich erst, nachdem die Russen Wan wieder geräumt hatten. Aber bereits seit dem Februar, noch ehe die Armenier von Wan irgend daran dachten, daß sie sich gegen ein drohendes Massaker zu verteidigen hätten, sah es bunt genug im Wilajet Bitlis aus.

Seit dem Ausbruch des Krieges waren die Städte und die armenischen Dörfer von türkischen und kurdischen Banden angefüllt, die als Milizen in die Armee eingestellt waren. Die Gendarmen beschäftigten sich unter dem Vorwande von Requisitionen mit Räubereien und Plünderungen. Den Armeniern wurden alle für den Winter aufgesparten Vorräte an Lebensmitteln weggenommen, und man befürchtete für das Frühjahr eine Hungersnot. Außer den Armeniern, die zur Armee ausgehoben waren, wurden weiter Armenier jeden Alters in beliebiger Zahl zum Wegebau und zum Lasttragen requiriert. Die Lastträger hatten den Winter über durch die verschneiten Gebirge schwere Lasten bis zu 70 Pfund an die Kaukasusfront zu tragen. Schlecht genährt und ohne Schutz gegen Kurdenüberfälle, kam die Hälfte auf dem Wege um, oft kehrte auch nur ein Viertel zurück. Als nach den Kämpfen von Sarikamisch und Ardahan die Kaukasusarmee in Schnee und Eis einquartiert war, desertierten viele Soldaten. Aber auf fünf türkische Deserteure kam höchstens ein armenischer.

Einzelne Deserteure kehrten in ihre Dörfer zurück. Die Gendarmen gingen mit Listen von Deserteuren von Dorf zu Dorf, um die Auslieferung derselben zu verlangen. Zugleich nahmen sie Haussuchungen nach Waffen vor. Falls sich die Deserteure nicht fanden, wurden ihre Häuser niedergebrannt und ihre Äcker eingezogen. Diese Razzias, die die Gendarmen veranstalteten, führten gelegentlich zu Zusammenstößen. Anfang März kam so der Kommissar Razim Bey und der Mülasim Djevded Bey mit 40 Zaptiehs in das armenische Dorf Zronk. Bei einem Kugelwechsel mit einem Flüchtling wird einem Gendarmen das Pferd unter dem Leibe weggeschossen. Er kehrt in das Dorf zurück, nimmt ein gutes Pferd von den Bauern, läßt sich 40 türkische Pfund als Ersatz für das tote Pferd zahlen, 25 Häuser anzünden, die Männer des Dorfes über die Klinge springen und konfisziert die Äcker. In Armedan werden türkische Freiwillige in armenischen Häusern einquartiert. Zum Dank für die Verpflegung vergewaltigt der Anführer die Schwiegertochter seines Quartierwirtes. Ähnliche Dinge wiederholten sich in anderen Dörfern.

Die Kurden in den Bergen hatten keine Lust, in den Krieg zu ziehen. Sie zogen es vor, armenische Dörfer zu plündern. Das war weniger beschwerlich und gewinnbringender. Der Mutessarif von Musch schien die Kurden erst bestrafen zu wollen, erklärte aber dann, er könne nichts machen. Der Kurdenstamm Abdul Medschid von Melasgert besetzte die Berge von Tschur, plünderte die armenischen Dörfer und massakrierte die Einwohner. Ein anderer Kurde, der Bruder des Kurdenscheichs Musa Beg, wollte sich in seinem Gebiet die Plünderungen durch andere Kurden nicht gefallen lassen. Auch andere Kurdenscheichs widersetzten sich der Regierung. Als ihnen aber die Unabhängigkeit ihrer Aschirets (Stämme) zugesichert wurde, gingen sie mit der Regierung und hielten sich an den Armeniern schadlos.

Trotz aller Drangsalierungen verhielten sich die Armenier ruhig, ertrugen die Übergriffe und ließen sich zu keinem Widerstand verleiten. Sie beschwerten sich bei der Regierung, und zeitweise schien die Regierung sie auch schützen zu wollen. In Musch hielt sich zu der Zeit ein bekannter armenischer Führer, Wahan Papasian, Abgeordneter des Parlaments für Musch, auf. Er vertrat die Interessen der Armenier beim Mutessarif von Musch und beim Wali von Bitlis. Ähnlich wie in Wan, versuchte man, durch Verständigung mit der Regierung dahin zu wirken, daß Streitigkeiten geschlichtet würden und die Ordnung, so gut es unter den anarchischen Zuständen möglich war, aufrecht erhalten würde.

Ende April änderte der Wali, wohl auf Veranlassung der Vorgänge in Wan, sein bis dahin noch scheinbar wohlwollendes Verhältnis zu den Armeniern. Am 1. Mai wurden 3 Armenier in Musch gehängt und das armenische Viertel ohne Veranlassung von Militär eingeschlossen. Der Wali drohte öffentlich mit einem Massaker. Zu gleicher Zeit wurden alle noch irgendwie tauglichen armenischen Männer zu den Wegebau- und Lastträgerkolonnen (Hamalar-Taburi) und ohne Rücksicht darauf, ob die Familien ohne Ernährer blieben, ausgehoben. So erhielt z. B. der Vorsteher des Dorfes Goms in der Musch-Ebene Befehl, 50 Ochsen und 50 Mann für Transportzwecke zu stellen. Trotzdem das Dorf nur 70 Männer, die Greise eingerechnet, hatte, brachte er 50 Ochsen und 45 Mann zusammen und bot für die 5 fehlenden Mann die Militärbefreiungssteuer an. Der Müdir von Agdschemak, der nach Goms gekommen war, wollte damit zufrieden sein, aber sein Begleiter, der Kurde Mehmed Amin, ein Feind des Dorfvorstehers, nahm das Fehlen der 5 Mann zum Anlaß, den Dorfvorsteher auszupeitschen und 7 Armenier zu erschießen. Es kam zu einem Zusammenstoß, bei dem 7 Gendarmen und weitere 20 Armenier getötet wurden. Etliche Tage nach diesem Vorfall kam es zu einem Zwischenfall in dem Kloster Arakeloz. Dorthin hatten sich 80 Armenier geflüchtet. Truppen aus Musch, die das Kloster durchsuchten, brachen einen Streit vom Zaun, der blutig endete. Der Mutessarif von Musch schickte Truppen, forderte die Auslieferung der Flüchtlinge, ließ sie aber nach weiteren Verhandlungen abziehen. Trotzdem ließ der Mutessarif die Leichen der Türken, die bei dem ersten Zusammenstoß umgekommen waren, nach Musch bringen und sagte in der Leichenrede öffentlich: „Für jedes Haar Eures Hauptes will ich Tausend Armenier hinschlachten lassen.“

Zu derselben Zeit hörte man, daß armenische Wegearbeiter von ihren bewaffneten muhammedanischen Kameraden erschlagen wurden. Als dies systematisch fortgesetzt wurde, sagten sich die Armenier, daß diese Untaten nicht in dem Fanatismus ihrer muhammedanischen Kameraden, sondern in den Anordnungen der Regierung ihren Grund hatten, die die Armenier planmäßig auszurotten beschlossen hatte. Die Beschwerden des Bischofs wurden von der Regierung spöttisch abgewiesen.

Die Armenier waren verzweifelt. Was sollten sie tun? Kampffähige Männer waren kaum noch da. Die Frauen und Kinder waren den türkischen Truppen, den kurdischen Hamidiehs und der fanatisierten Menge preisgegeben.

Zu ihrer Überraschung fingen eines Tages plötzlich Türken und Kurden an, Freundschaft zu heucheln und sich mit ihnen wieder auf guten Fuß zu stellen. Die Erklärung dieser Wandlung war bald gegeben. Die Russen waren bis Gob und Achlat nördlich des Wansees vorgegangen und südlich des Sees marschierten sie auf Bitlis. Aber es kam nicht zur Besetzung von Bitlis. Auch der Vorstoß in die Muschebene wurde wieder zurückgenommen. Die Russen kamen nicht, und damit versank die letzte Hoffnung auf Rettung.

Einmal hatte der deutsche Konsul aus Mosul wegen der Plünderungen und Massakers im Wilajet Bitlis bei den türkischen Behörden interveniert. Eine Zeitlang schien das Eindruck zu machen, es dauerte aber nicht lange, so war alles wieder beim alten.

Stadt Bitlis.

Gouverneur von Bitlis war Mustafa Chalil, Schwager des Ministers des Innern Talaat Bey. In der Stadt und Umgegend hatte er bereits alle männlichen Armenier zwischen dem 20. und 45. Jahre zum Heeresdienste (d. h. zum Straßenbau und Lasttragen) ausheben lassen. Kirchen und Häuser der Armenier mußten für Einquartierung geräumt werden. Nach der Erklärung des Dschihad begannen die Mollahs, die Scheichs und die Banden, die von bekannten Räubern geführt wurden, ihre aufreizende Tätigkeit. Die Muhammedaner wurden bewaffnet, und in den Moscheen wurde der Christenhaß gepredigt. Schon in den Monaten Dezember und Januar kam es zu mancherlei Untaten. Türken aus Bitlis hatten eine kurdische Bande gebildet und belagerten das Dorf Urdap. Sie nahmen den Bauern Pallabech Karapet und einige andere gefangen, führten sie gefesselt in die Stadt und folterten sie, indem sie ihnen die Bärte ausrissen. Eine andere Bande von 300 Mann unter Führung des Chumadji Farso (eines Nachkommen des berüchtigten Kurdenscheichs Djelaleddin) und des Emirs Mehmed griff zehn armenische Dörfer im Gebiet von Gargar an, plünderte und verbrannte sie. Was nicht getötet wurde, floh nach Wan.

Im Juni fand ein Massaker in Bitlis statt. Die Armenier von Bitlis und aus den Dörfern um Bitlis wurden in der Richtung auf Diarbekir abtransportiert. Die Männer wurden erschlagen, 900 Frauen und Kinder unterwegs, als man an den Tigris kam, ertränkt. Bei dieser Deportation muß auch der Deputierte Wramjan von Bitlis seinen Tod gesunden haben. Die türkische Version lautet: Armenier hätten ihn befreien wollen, weshalb die Gendarmen genötigt gewesen seien, ihn zu töten.

Die Ebene von Musch.

Am Morgen des 3. Juli begann die Metzelei in Musch. Die Kanonen wurden gegen den oberen Stadtteil gerichtet, sodaß dort die Häuser einstürzten und eine Feuersbrunst ausbrach. Die Armenier verließen die Häuser und flüchteten sich in einen anderen Stadtteil, wobei sie zum Teil auf der Straße niedergemetzelt wurden. Der obere Stadtteil wurde gänzlich vernichtet. Nun richtete sich der Angriff gegen den Stadtteil „Brut“. Die Armenier waren dort zusammengedrängt und sahen, wie ihre weiblichen Angehörigen geschändet, ihre Brüder getötet wurden. Nach der Zerstörung auch dieses Stadtteiles wandten sich die Angriffe gegen den „Smareni“-Stadtteil. Dort wurden unbeschreibliche Greuel begangen. Da keine Rettung mehr war, suchten die Armenier sich selbst zu töten. So sammelte Tigran Sinojan in Musch alle Mitglieder seiner Familie, 70 Personen, und reichte allen Gift. Nachdem sie dem Gift erlegen waren, legte er Feuer an das Haus und erschoß sich.

Andere Familien verbrannten ihre Häuser, um in den Flammen umzukommen, viele erschossen ihre Frauen und Kinder, um sie vor Schändung und Islamisierung zu bewahren.

Hadji Hagop fiel während eines Sturmes, aber seine Gefährten setzten die Verteidigung fort. Inzwischen waren alle Stadtteile außer „Zor“ vernichtet und der übrig gebliebene Teil der armenischen Bevölkerung wurde in diesem am äußersten Ende der Stadt gelegenen Teil zusammengedrängt, etwa 10 bis 12 000 Personen.

Es kam der 4. Juli. Das Bombardement und die Angriffe der Kurdenhorden steigerten sich zu größter Heftigkeit. Aber auch die wenigen armenischen Verteidiger verdoppelten ihren Widerstand und erschossen Hunderte von Kurden. Was wollte das aber bedeuten? Die Häuser von Zor wurden allmählich in Trümmer geschossen und alle Armenier, welche noch am Leben geblieben waren, beschlossen, in der folgenden Nacht den an Zor grenzenden Fluß zu überschreiten und in die Berge von Goghu Gluch zu fliehen, in der Hoffnung, Sassun zu erreichen. In der elften Abendstunde setzte sich die Masse in der Richtung auf den Fluß in Bewegung. Aber die brennenden Häuser beleuchteten die Gegend auf 8–10 Kilometer Entfernung hin. Sie wurden von ihren Verfolgern bemerkt und beschossen. Viele fielen den Kugeln, andere dem Gedränge, und wieder andere den Wellen zum Opfer, und nur 5–6000 erreichten das andre Ufer und flohen in die Berge.

Die Kurden sammelten dann alle Verwundeten und etwa in der Stadt noch versteckten Armenier und verbrannten sie auf einem ungeheuren Scheiterhaufen.

Was sich aus der Ebene von Musch noch flüchten konnte, floh in die Berge von Sassun.

Sassun.

Sassun war nicht leicht zu bezwingen, das wußten die Türken aus der Zeit der Massakers von 1894/6. Bei Ausbruch des Krieges hatten die Kurden sie umschmeichelt und ihnen versprochen, ihre freundnachbarlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten. Die Armenier ihrerseits versicherten die Kurden ihrer Freundschaft. So waren denn auch eine Zeitlang die Beziehungen ungetrübt. – Anfang 1915 begann die Regierung die Gegenden mit weniger dichter armenischer Bevölkerung (so die Dörfer Silivan, Bescherik, Miafarkin usw.) zu entwaffnen, die Armenier zu mißhandein, zu töten und zu vertreiben. Sie bewerkstelligten das so geschickt, daß die Kunde ihrer Untaten nicht bis zu den armenischen Zentren drang. Erst Anfang März begann die Regierung auch gegen die letzteren vorzugehen. Sie schickten Leute in den Bezirk von Zowasar, die in dem Dorfe Aghri die sofortige Auslieferung der Waffen forderten. Die Bauern bestritten, Waffen zu besitzen, und 50 von ihnen wurden getötet. In gleicher Weise ging dann die Regierung in den Bezirken Chiank und Kulp[19] vor. Die türkischen Beamten begaben sich mit vielen Kurden und Gendarmen dorthin und verlangten die Waffen. Die Bauern dieser Bezirke wandten ein, sie wären keine Rebellen, sondern der Regierung treu ergeben und besäßen keine Waffen. Als die Türken sie niederzumachen drohten, floh die armenische Jugend und versammelte sich in den Dörfern von Chiank: Ischchenzor, Ardchonk und Sewit. Darauf stürzten sich die Gendarmen und die Kurden auf die Dörfer und forderten außer den Waffen die Auslieferung der Flüchtlinge. Schließlich wurden die Frauen vergewaltigt und 3000 Männer als Hamalar Taburi (Armierungssoldaten) weggeführt. Diese wurden nach der Stadt Lidscheh gebracht, von dort weiter transportiert und zwischen Charput und Palu getötet. Nur 3 Personen konnten der Metzelei entgehen und in Dalvorik ihre Erlebnisse erzählen. Auf diese Kunde hin, verließen alle Armenier Chiank und Kulp und flüchteten nach Sassun.

Ähnlich ging es in dem Bezirk von Psank zu. Die Kurden von Scheko, Beder, Bosek, Modkan, Djallal und Gendjo griffen in Begleitung des Kaimakams die Armenier von Psank an.

Mitte Mai erklärte die Regierung die Armenier von Psank als Rebellen und verlangte Auslieferung der Waffen. Darauf wurden aus einigen Dörfern Frauen geraubt. Ein großer Teil der Armenier, ca. 4000 Personen, wurde von Stepan Wartabed nach dem Kloster Mardin-Arakeloz (auf dem Berge Marat) gebracht, wo sie sich verschanzten und von den Kurden umzingelt wurden. Am 20. Mai kam es zu einem blutigen Kampf zwischen Belagerern und Belagerten. Anderthalb Monate konnten diese, trotz ihrer lächerlich geringen Kampfmittel, sich behaupten, bis ihnen das Wasser abgeschnitten wurde. Sie schickten nach Sassun um Hilfe, aber die Hilfe blieb aus, und so versuchten sie durchzubrechen. Dabei kamen 2000 um; der Rest, mit dem Wartabed an der Spitze schlug sich durch.

Bisher war das eigentliche Sassun noch immer von Angriffen verschont geblieben. Die Sassuner zeigten sich streng loyal, und auch die Regierung trug Bedenken, gegen sie vorzugehen. Sie hatten viele der von der russischen Front geflohenen Kurdenfamilien freundlich bei sich aufgenommen, ihnen Kleidung und Nahrung gegeben und sie nach kurdischen Ortschaften weiterbefördert. Die Sassuner dachten nicht an Aufstand, sie hatten keine Waffen und auch nicht hinreichend Lebensmittel. Die Regierung aber fürchtete sie und ging sehr vorsichtig zu Werke. Erst als sie die Armenier in den Dörfern Zronk, Goms, Awsud, Muscheghaschen u. a. und in den Bezirken Chiank, Kulp, Psank und Zowasar z. T. vernichtet und z. T. vertrieben hatte, begann sie gegen Sassun vorzugehen. Der kurdische Agha von Chiank, der Müdir Kör-Slo schickte Gendarmen nach Dalworik, um die Auslieferung der Waffen zu fordern. Die Einwohner erklärten, daß sie der Zusicherung der Regierung, daß sie nach Ablieferung der Waffen das Volk in Ruhe lassen würde, keinen Glauben schenkten, nachdem alle Dörfer, die ihre Waffen übergeben hatten, vernichtet worden seien. So kehrten die Gendarmen unverrichteter Dinge zu dem Müdir zurück. Kör-Slo versuchte es noch zweimal, die Armenier zu überlisten. Als auch das nicht half, nahm sich der Mutessarif von Musch der Sache an. Er schickte den Wartabed Wartan, den Priester Chatschadur, die Efendis Gasem, Mussa, Mustafa und 10 andere Muhammedaner, um die Sassuner zu überreden, nach dem Dorfe Dapek zu kommen, wo der Kaimakam seinen Sitz hat. Der Kaimakam schickte nach Sassun, um die Ortsvorsteher zu sich zu bitten. Sie kamen und wurden sehr liebenswürdig aufgenommen. Die Efendis priesen ihre Loyalität und Treue. Als man aber auf die Frage der Waffenauslieferung kam, erklärten die Armenier, von dem Volke keine Vollmacht zu besitzen. Man einigte sich, die Angelegenheit in einer Versammlung in Schenik zu verhandeln, wohin denn auch die übrigen Notabeln von Sassun kamen. Dort erklärten die Regierungsvertreter, daß Sassun keine Soldaten mehr stellen dürfe, weil die Sassuner Verrat geübt hätten. Die Armenier bestritten das und beschuldigten die Regierung, daß sie die Armenier, statt sie an die Front zu schicken, als Hamals (Last-Träger) verwende, und in entlegene Gegenden sende, um sie dort zu vernichten. Die Türken suchten das abzuleugnen und versicherten, daß die Regierung den Armeniern wohlwolle; in Anbetracht der ärmlichen Lage der Sassuner brauchten diese fortan keine Soldaten mehr zu stellen, man verlange von ihnen nur Lebensmittel und Kleidung für die Truppen. Die Sassuner versprachen das Gewünschte und noch mehr zu liefern, das Gleiche versprachen auch die Notabeln von Schenik, Senal, Geliagusan und Daluwor.

Darauf traten die Regierungsvertreter mit der Behauptung hervor, es sei der Regierung bekannt, daß die Sassuner in ihren Bergen Kosaken versteckt hätten. Sie müßten ausgeliefert werden, ebenso alle Waffen. Die Armenier bestritten, jemals Kosaken gesehen zu haben. Betreffs der Waffen erklärten sie, daß sie nie daran gedacht hätten, gegen die Regierung zu rebellieren. Warum denn die Kurden nicht entwaffnet würden? Sie hätten nur einige wenige Feuersteinflinten, die sie zum Schutze gegen die Raubtiere brauchten. So kehrten die Efendis, ohne etwas erreicht zu haben, nach Musch zurück.

Als die Regierung sah, daß die Entwaffnung der Leute von Sassun durch List nicht zu erreichen war, rief sie die benachbarten Kurdenstämme zusammen. Ende Juni wurde Sassun von ihnen umzingelt, von Osten her durch die Kurden von Scheko, Beder, Bosek und Djalall, von Westen her durch die Kurden von Kulp und ihren Scheichs Hussein und Hassan und die Kurden von Genasch und Lidsche, von Süden her durch die Kurden von Chian, Badkan und Bazran unter Chaldi Bey von Meafarkin und Hadschi Muschi Aga, von Norden her durch Kurdenbanden, die auf der Höhe von Kosduk zusammengezogen wurden; außerdem wurden türkische Truppen aus Diarbekir und Charput aufgeboten. Die Bevölkerung von Sassun zählt 20 000 Seelen. Außerdem waren in das Sassungebiet etwa 30 000 Frauen, Kinder und Greise aus den benachbarten Gebieten geflüchtet. Da Sassun selbst wenig Korn erzeugt, war die Ernährung dieser Flüchtlinge sehr schwierig. Schon im Winter war fühlbarer Mangel gewesen, aber die Regierung hatte den Leuten von Sassun nicht erlaubt, Vorräte in Musch einzukaufen. Seit dem Mai wurden die Lebensmittel immer knapper.

Die Kurden griffen zuerst das Dorf Aghbi (im Kreise Zowasar) an und trieben die Schafherden weg. Dann überfielen die Kurden von Osten her die Dörfer Kop und German, töteten die sich widersetzenden Dorfbewohner und führten ihre Herden mit sich weg. Die Armenier zogen sich nun auf einen engeren Umkreis in die Antokberge zurück. Von da schickten sie eine Beschwerde an die Regierung, in der sie sich über die ungesetzliche Behandlung beklagten. Ihre Führer Ruben und Wahan Papasian hielten gute Ordnung und waren bemüht, alles zu vermeiden, was der Regierung einen Anlaß zum Einschreiten geben konnte.

Als Antwort auf die Beschwerde griffen am 18. Juli türkische Truppen die Armenier an, die sich zu ihrer Verteidigung auf Stellungen, die besser zu verteidigen waren, zurückzogen. Da die Armenier nur eine geringe Zahl von Bewaffneten und wenig Munition hatten, mußten sie sich zuletzt auf den Geben-Berg zurückziehen. Am 20. Juli war ihre Munition erschöpft, während die türkischen Truppen Artillerie gegen sie in Stellung brachten. Am Nachmittag des 21. Juli erging der Befehl, daß sich alle Armenier mit ihren Frauen und Kindern in der Ebene von Andoka sammeln sollten, wo sich schon der größte Teil der Bevölkerung und der Flüchtlinge befand. Es waren gegen 50 000, die dort zusammenkamen. Dort beschloß man, sich zu teilen und nach verschiedenen Richtungen auf unwegsamen Bergpfaden durch die belagernden Kurden durchzubrechen. Ein Teil floh in die Berge von Dalworik, ein Teil nach Zowasar. Ein Teil schlug sich über Krnkan-Giöl nach Kan durch, wo sie auf die von Musch geflüchteten Armenier stießen. Die Leute von Schenek und Semal gingen über Korduk in das Tal von Amre und Zizern hinab, wo sie von den Kurden bis auf 87 Personen, die sich durchschlugen, vernichtet wurden. Die Leute von Aghdo kamen mit geringen Verlusten nach Zowasar und versteckten sich dort in den Felshöhlen. Die Leute von Geljegutzan und Ischchanzor wurden zur Hälfte aufgerieben. So wurde die Bevölkerung von Sassun zum Teil vernichtet, zum Teil in die Berge versprengt. Kurden und Türken streiften die Gegend ab, um die Versprengten abzuschießen. Von den Führern fielen Korion, Tigran und Hadschi. Am Leben blieben Ruben und Wahan Papasian, die sich mit kleinen Abteilungen in das Wan-Gebiet durchschlugen. Ende September trafen Ruben und Wahan Papasian in Eriwan ein. Sie schätzten die Zahl der damals vielleicht noch Lebenden, die sich nach verschiedenen Seiten zerstreut hatten, auf etwa 30 000. Da aber auch diese nur noch für kurze Zelt Lebensmittel hatten, muß man annehmen, daß sie inzwischen von den Kurden vernichtet oder Hungers gestorben sind.

III. Die westanatolischen Wilajets.


In den westanatolischen Wilajets ist das armenische Element nicht so zahlreich vertreten, wie in den ostanatolischen.

In dem Mutessariflik Ismid zählten sie 71 000, im Wilajet Brussa 90 000, im Wilajet Angora 67 500, im Wilajet Aidin (Smyrna) 27 000, im Wilajet Konia 25 000, im Wilajet Kastamuni 14 000, zusammen rund 300 000. Im Mutessariflik Ismid und im Wilajet Brussa, die gegenüber von Konstantinopel und südlich des Marmarameeres liegen, fanden die Vorbereitungen zur Deportation Ende Juli statt.


1. Ismid, Brussa.


Ein gewisser Ibrahim Bey, der sich in den Balkankämpfen als türkischer Komitatschi hervorgetan hatte und in Konstantinopel Aufseher am Gefängnis war, wurde in die Hauptplätze der Wilajets geschickt, nach Ismid, Adabazar, Bagtschetschik und anderen Orten, um dort Verhaftungen vorzunehmen und nach Waffen zu suchen. Vor drei Jahren hatte derselbe Ibrahim Bey in der Zeit der Reaktion im Auftrage des jungtürkischen Komitees in demselben Distrikt Waffen an die Armenier verteilt, damit sie, wenn nötig, die Herrschaft des Komitees gegen die Reaktion verteidigen sollten. Soweit Waffen vorhanden waren, waren sie schon freiwillig abgegeben worden. Als sich weitere Waffen nicht fanden, wurden die angesehenen Armenier ins Gefängnis gelegt und dort gefoltert. In Bagtschetschik ließ Ibrahim Bey 42 gregorianische Armenier, darunter einen Priester, verhaften und bis aufs Blut schlagen. Auch drohte er, den Ort niederzubrennen und mit den Einwohnern so zu verfahren, wie er es (im Jahre 1909) in Adana gemacht habe. Auch in Adabazar, Kürd-Bejleng und anderen Orten wurden die angesehenen Armenier in die Fallacha (den Stock) gesteckt und von ihm eigenhändig mit der Bastonnade bearbeitet. Der Lehrer der gregorianischen Schule in Adabazar wurde zu Tode geprügelt, ein anderer geschlagen, bis er wahnsinnig wurde. Auch Frauen erhielten die Bastonnade.

Ibrahim Bey rühmte sich, er habe von der Regierung Vollmacht, mit den Armeniern zu machen, was er wolle. In der Kirche von Bagtschetschik ließ er Grabungen nach Waffen veranstalten, fand aber nichts.

Um die Muhammedaner aufzureizen, wurden die lächerlichsten Lügen verbreitet. Ein türkischer Offizier erzählte, die armenischen Frauen hätten 10 000 Rasiermesser bei sich versteckt, um damit den Türken die Hälse abzuschneiden.

Am 30. Juli wurden die Ortschaften Bagtschetschik (Bardezak), Owatschik und Döngell mit ca. 20 000 Armeniern deportiert. Bagtschetschik wurde von 60 Zaptiehs umzingelt, an Widerstand dachte niemand.

Nach und nach wurden alle armenischen Ortschaften ausgeleert. Der amerikanische Botschafter konnte nur erreichen, daß den Deportierten etwas mehr Zeit gelassen und die Deportation gegen 14 Tage aufgeschoben wurde.

In Brussa sollte ein gregorianischer Armenier aus guter Familie, namens Sedrak, Waffen ausliefern, hatte aber keine. Er wurde von der Polizei derart mißhandelt, daß er Rippenbrüche erlitt. Dann wurde er mit den Worten: „er könne jetzt armenischer Minister werden,“ auf die Straße geworfen.

Dr. Taschjan und Dr. Melikset, Chefarzt des städtischen Krankenhauses in Brussa, wurden in Ketten nach Panderma gebracht und dort zu zehn Jahren Haft verurteilt. Dr. Melikset wurde in Ketten nach Brussa zurückgebracht und verschwand eines Tages. Als Beweis seiner revolutionären Gesinnung wurde eine Visitenkarte, die er vor sechs Jahren an seine Frau geschickt hatte, vorgezeigt, auf der die Worte standen: „Ich habe die betreffenden Leute aufgesucht.“

In Adabazar wurden auch Frauen und Mädchen der gutsituierten Kreise in die armenische Kirche getrieben und einem Verhör wegen verborgener Waffen unterzogen. Als sie nichts auszusagen vermochten, verging man sich an ihnen aufs schändlichste.

Auch in diesem Gebiet wurde die Deportation von den Beamten zu Gelderpressungen an vermögenden Armeniern benutzt. So wurden in Biledjik dem Penck Mordjikian 100 türk. Pfd., dem Agop Mordjikian 150 türk. Pfd., den Gebrüdern Diragossian 100 türk. Pfd. abgenommen. In Trilia wurden von der Bevölkerung 1000 türk. Pfd. verlangt und ihr das Versprechen gegeben, sie nicht auszuweisen. Kaum war das Geld in den Händen der Beamten, so erfolgte die Deportation.

In Marmaradjik wurden 60 Personen getötet und die Mädchen bis zu 11 Jahren herab vergewaltigt.

Die Armenier dieser Distrikte wurden zum Teil mit der Bahn verfrachtet, in Viehwagen gestopft, einige Stationen weiter geschickt und auf freiem Felde ausgeladen. Ein deutscher Sanitätsbeamter sah an der Strecke zwischen Ismid und Eskischeher im August auf freiem Felde ungeheure Haufen von Menschen lagern, die er auf 40- bis 50 000 schätzte. An den Abfahrtsstationen spielten sich, wie viele Augenzeugen berichteten, herzzerreißende Szenen ab. Die Männer und Frauen wurden voneinander getrennt und gesondert an verschiedene Orte verschickt. Arme Frauen verkauften vielfältig ihre Kinder, um sie am Leben zu erhalten, für einige Medschidies (Taler) an muhammedanische Familien.

Über die Art, wie bei den Verhören durch Polizeibeamte und Gendarmen in der Gegend von Ismid die Armenier behandelt wurden, liegt ein besonderer Bericht von einem Augenzeugen vor.

„Am 1. August begann man in der Kirche die Verhafteten mit Stöcken zu schlagen. Man wollte dadurch die Leute zwingen, Waffen, die sie etwa noch hätten, herauszugeben. Die meisten nahmen ihr Schicksal schweigend auf sich, da sie keine Waffen hatten. Eine Mutter warf sich zwischen den Polizisten und ihren schwindsüchtigen Sohn und empfing selbst die Streiche. Eine deutsche Frau versuchte ihren armenischen Mann zu retten. „Geh aus dem Wege oder ich schlage dich!“ schrie der Beamte. Als sie sagte, daß sie eine Deutsche sei, erwiderte er: „Ich kümmere mich nicht um deinen Kaiser, meine Befehle kommen von Talaat Bey!“

Einige vornehme Damen kamen, um bei dem Beamten Fürsprache einzulegen, und für ein oder zwei Tage ließen die Mißhandlungen etwas nach. Dann kam der Tag des Schreckens, der furchtbare Sonnabend. Frauen stürzten zu uns ins Haus und sagten: „Sie schlagen die Armenier tot, sie werden bald auch die Frauen erschlagen!“ Ich lief zu dem Hause eines Nachbars und fand dort Männer und Frauen weinend. Die Männer waren aus der Kirche entkommen und erzählten unter Tränen, was sie dort erlebt hatten. „Sie schlugen uns fürchterlich“, riefen sie, „und sagten, sie würden uns in den Fluß werfen. Sie wollen uns in die Verbannung schicken. Sie wollen Muhammedaner aus uns machen. Auch die Frauen wollen sie schlagen. Gleich werden sie ins Haus kommen.“

Ein türkischer Soldat stand außerhalb der Kirche in Tränen aufgelöst. Er sagte, er habe wegen der furchtbaren Behandlung der Armenier drei Tage und Nächte geweint. Einige Leute waren zehn Tage lang in der Kirche eingeschlossen.

Nach 3 Tagen hörte das Schlagen auf und wir schöpften wieder Mut. Am Sonnabend wurden einige armenische Läden wieder geöffnet. Aber am nächsten Morgen in der Frühe, es war Sonntag, kam die Nachricht
daß alle Armenier, etwa 25 000 an Zahl, deportiert werden sollten. Sie sollten mit dem Güterzug nach Konia fahren, wenn sie die Fahrt bezahlen konnten, und dann mit dem Wagen nach Mosul, die anderen sollten zu Fuß gehen, eine Reise, die Wochen und Monate dauert. Uns erreichten noch furchtbare Berichte von solchen, die sich zu Fuß aufgemacht hatten, und auch von solchen, die ihren letzten Besitz verkauft hätten, um die Fahrt bezahlen zu können. Geld mitzunehmen fürchteten sie sich. Die Armen hatten ja auch keins. Die Reichen mußten all ihr Eigentum zurücklassen. Nahmen sie Geld mit sich, so hatten sie nur Mißhandlungen zu befürchten. Als der Mittwoch gekommen war, gab es keine Güterzüge mehr, um die, die fahren wollten, fortzuschaffen. Jetzt wurden alle noch Zurückgebliebenen auf die Straße gesetzt; dort sollten sie warten, bis sie an die Reihe kämen.“


2. Smyrna, Angora, Konia, Kastamuni.


Im westlichen Anatolien gab es niemals etwas, das einer „armenischen Frage“ ähnlich gesehen hätte. Die Verhandlungen, die zwischen den Mächten und der Türkei über „Reformen in den von Armeniern bewohnten Provinzen“ geführt worden sind, hatten sich immer nur auf die ostanatolischen Provinzen und höchstens noch auf Cilicien bezogen. Wollte man auch im westlichen Anatolien eine „armenische Frage“ haben, so mußte sie erst künstlich von der Regierung geschaffen werden. Die Art des Vorgehens aber erübrigte es, für die westanatolischen Armenier erst irgend einen Anlaß für die Deportation zu suchen. Man hatte vor zwei Jahren schon die griechischen Dörfer an der westanatolischen Küste und in der Umgegend von Smyrna ohne irgend welchen Grund ausgeräumt und die Einwohner aus dem Lande verwiesen. Jetzt wünschte man sich auch der armenischen Bevölkerung zu entledigen. Auch hier hat verschiedentlich die türkische Bevölkerung dagegen Einspruch erhoben, daß die Armenier deportiert werden sollten. Seit Jahrhunderten haben hier unter dem moralischen Druck, den schon die größere Nähe von Europa auf die Bevölkerung der Levantestädte ausübte, Türken, Armenier, Griechen und Juden in Frieden miteinander gelebt. In einzelnen Städten, wie Smyrna, war das christliche Element so überwiegend, daß nur ein Viertel der Bevölkerung auf die Türken entfiel. Smyrna hat unter 210 000 Bewohnern nur 52 000 Türken, dagegen 108 000 Griechen, 15 000 Armenier, 23 000 Juden, 6500 Italiener, 2500 Franzosen, 2200 Österreichern und 800 Engländern (meist Malteser). Die herrschende Sprache ist nicht die türkische, sondern die griechische. Die Armenier haben einen sehr bedeutenden Anteil am Handel. Der Import ins Innere liegt zum größten Teil in ihren Händen. Eine Deportation der Armenier von Smyrna war sinnlos, und kein Vorwand hätte dafür gefunden werden können. Gleichwohl erging der Befehl der Deportation an den Wali. Der Wali Rachmi Bey weigerte sich, den Befehl auszuführen; deshalb mußte er nach Konstantinopel kommen, um sich zu rechtfertigen. Bis jetzt hat er die Deportation verhindern können. Sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande ist die armenische Bevölkerung (ca. 30 000 von einer Gesamtbevölkerung von 1 400 000) verschont geblieben. Dies ist allein der Einsicht des Walis zu danken.8)

Das Wilajet Angora zählt nach türkischer Statistik unter 892 000 Einwohnern 95 000 Armenier. Die Stadt Angora ist ein Hauptsitz der katholischen Armenier, die hier und in der Umgegend 15 000 Seelen zählen. Über die Vorgänge im Wilajet, die sich erst im Laufe des Monats August abgespielt haben, liegen folgende Nachrichten vor. Ende Juli wurden alle männlichen gregorianischen Armenier zwischen 15 und 70 Jahren mit Ausnahme einiger Greise aus Angora deportiert. Sie wurden 6 bis 7 Stunden hinter der Stadt bei dem Orte Beiham Boghasi von türkischen Banden, die dorthin bestellt waren, umzingelt und mit Schippen, Hämmern, Beilen und Sicheln umgebracht, nachdem vielen die Nasen und Ohren abgeschnitten und die Augen ausgestochen worden waren. Die Zahl der Opfer beträgt 500. Die Leichen blieben liegen und verpesteten das ganze Tal.

Nach weiteren zwei Wochen begann man die männlichen katholischen Armenier zu verhaften, die in zwei Abteilungen nacheinander die Stadt verlassen mußten. Der erste Trupp war 800 Personen stark, unter ihnen die Geistlichen, der zweite Trupp zählte 700 Personen. Sie mußten in der Richtung auf Kaisarije täglich 10 bis 12 Stunden marschieren und hatten weder Brot noch Geld. Wo sie geblieben sind, weiß man nicht.

Die dritte Karawane bestand aus den Frauen und Kindern der Stadt, denen der Münadi (d. i. Ausrufer) verkündete, daß sie binnen zwei Stunden auf dem Bahnhof sein müßten. In der Eile konnten sie nur Weniges an Kleidung usw. mitnehmen. Am Bahnhof wurden sie vier bis fünf Tage in ein Kornmagazin eingesperrt, unter Hunger und Kälte leidend, und den Lüsten der Gendarmen ausgesetzt. Als man glaubte, daß sie mürbe geworden waren, wurde bekannt gemacht, daß alle, die den Islam annehmen würden, zurückbleiben könnten. Die sich dazu bereit erklärten, durften in die Stadt zurückkehren. Es waren etwa 100 Familien. Sie mußten ein Schriftstück unterschreiben, daß sie freiwillig zum Islam übergetreten seien, und wurden an muhammedanische Familien verteilt. Die Übrigen wurden mit der Bahn nach Eskischeher und von dort nach Konia abtransportiert. Auch die an der Eisenbahnlinie arbeitenden armenischen Soldaten wurden aufgefordert, den Islam anzunehmen. Viele taten es; die sich Weigernden wurden getötet. Im Ganzen sollen 6000 Armenier im Wilajet Angora ermordet worden sein.

In Kaisarije wurden am 13. Juni, demselben Tage, an dem die 21 Hintschakisten in Konstantinopel gehängt wurden, zwölf Armenier, die Mitglieder politischer Parteien waren, zum Tode verurteilt. Schon im Laufe des Mai hatte man 200 Notabeln und Daschnakzagan verhaftet. Auch der Aradschnort (Metropolit) von Kaisarije wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Priester wurden geschlagen, bis sie nicht mehr aufstehen konnten.

Jede Denunziation genügte, um eine Verhaftung zu bewirken. Die Dörfer um Kaisarije: Indjesu, Tomardze, Fenesse und andere wurden binnen weniger Stunden ausgeleert.

Das Sandschak Josgat hat unter 243 000 Muhammedanern 29 000 gregorianische, 1500 katholische und 500 protestantische Armenier. In Josgat wurde der Befehl gegeben, binnen zwei Stunden die Stadt zu verlassen. Unterwegs wurden die Männer abgesondert. Die Soldaten banden mit Weidenruten je fünf zusammen, legten ihre Köpfe auf gefällte Baumstämme und schlugen sie mit Knütteln tot.

In Dewank, eine halbe Stunde von Talas bei Kaisarije, hatten sich drei Deserteure versteckt, der eine bei seiner Frau, und waren nicht ausgeliefert worden. Zur Strafe wurde die ganze Bevölkerung deportiert und ihre ganze Habe verkauft. Alle Sachen wurden in der Kirche aufgestapelt, sogar die Schuhe der Kinder, und wurden dort feilgeboten. Was 100 Piaster wert war, erzielte etwa einen Preis von 5 Piastern.

In Ewerek, 40 km südlich von Kaisarije, hatte sich am 11. Februar des Jahres, also drei Monate, bevor die allgemeine Deportation beschlossen wurde, ein Zwischenfall ereignet, der nur lokale Bedeutung hatte. In einem Hause des Ortes fand eine Explosion statt. Es stellte sich heraus, daß ein junger Armenier namens Kework, der kurz vor Kriegsausbruch von Amerika heimgekehrt war, versucht hatte, eine Bombe zu füllen, und dabei selbst verunglückt war. Der junge Mann erlag nach sechs Stunden seinen Verletzungen. Eine Deutsche, die damals in Ewerek lebte, berichtet, daß der Kaimakam und seine Beamten sich in verständiger Weise benommen hätten. Der Kaimakam, der ein vernünftiger und wohlwollender Mann war, ließ zwar einige Leute verhaften, machte aber die armenische Bevölkerung des Ortes nicht für den Vorfall verantwortlich, weil er wußte, daß dieselbe mit dem zugereisten jungen Armenier nichts zu tun hatte. Dies mißfiel dem Mutessarif von Kaisarije, der den Kaimakam absetzte und einen Tscherkessen Seki Beg, einen wahren Unmenschen, an seine Stelle setzte. Dieser kam in die Stadt, ging mit der Peitsche in der Hand und mit einem Gefolge von Gendarmen in alle Häuser, nahm massenhafte Verhaftungen wor, so daß die Gefängnisse vollgestopft waren, und ließ die Gefangenen foltern. Nicht nur daß ihnen die Bastonnade verabreicht wurde, sondern die Füße der Gefangenen wurden mit Schwefelsäure übergossen und angesteckt, die Brust mit glühenden Eisen gebrannt. Der Kaimakam ließ die Gefangenen, da sie nichts wußten und nichts aussagen konnten, nach Pausen von etlichen Tagen immer wieder aufs neue foltern und mit der Bastonnade bearbeiten, bis ihre Füße von tiefen Wunden zerrissen waren. Viele Personen starben infolge der Folterungen. Einen Transport von 14 Personen, den der Kaimakam selbst begleitete, ließ er unterwegs erschießen.

Fräulein Frieda Wolff-Hunecke, die diese Dinge berichtet, fühlte sich nicht mehr sicher am Ort und wünschte nach Deutschland zurückzukehren. Der Mutessarif von Kaisarije wollte ihr aber keine Ausreiseerlaubnis geben, da „sie das Land mit schlechten Eindrücken verlassen würde“. Durch Vermittlung der Botschaft kam sie dann heraus. Damals waren in Kaisarije 640 Armenier im Gefängnis. 30 von ihnen waren die Füße im Stock dermaßen zerschlagen worden, daß die ebenfalls gefangenen Ärzte nicht wußten, was sie damit tun sollten. Das Fleisch war vom Knochen gelöst und teilweise der schwarze Brand ausgebrochen. Verschiedenen mußten die Füße abgenommen werden. „Nach Aussage eines glaubwürdigen Mannes,“ schreibt Frl. Wolff-Hunecke, „der selbst im Gefängnis war, sind die Füße der Gefangenen in den Stock gelegt worden; dann haben zwei Gendarmen zur Rechten, zwei zur Linken und zwei am Fußende stehend, abwechselnd die Füße mit dicken Stöcken bearbeitet, und wenn der Gefangene bewußtlos wurde, hat man ihm einen Eimer kalten Wassers über den Kopf gegossen.“ Einen bekannten frommen Priester hat man in diesem Zustande drei Tage liegen lassen, während neben ihm ein junger Mann nach 5 Minuten an den Verletzungen gestorben war.

Der Fall von Ewerek, der sich im Februar des Jahres ereignete, ist nach allen vorliegenden Zeugnissen der einzige Fall, in welchem ein Armenier mit einer Bombe betroffen wurde. Der junge Mann, der eine alte Bombe zu füllen versuchte und den Versuch mit seinem Leben bezahlte, war ein zugereister Armenier, der weder mit der Ortsbevölkerung, noch mit einer der politischen Organisationen in Verbindung stand. Man versuchte diesen jungen Mann später mit den Hintschakisten in Verbindung zu bringen, hat aber Beweise dafür nicht erbringen können.


Das Schicksal der Deportierten.


Wir haben bisher die Tatsachen festgestellt, die sich in den verschiedenen Provinzen an Ort und Stelle abspielten. Die Maßregel der Deportation schlug meist sofort in ein System der Vernichtung um. Zunächst war es auf die Beseitigung der männlichen Glieder der armenischen Nation abgesehen. Hierfür war bereits eine beträchtliche Vorarbeit geschehen, ehe der Befehl zur Gesamtdeportation erfolgte. Alle politischen und intellektuellen Führer des Volkes waren interniert und wurden ins Innere verschickt oder getötet. Die Militärpflichtigen waren zum Waffendienst eingezogen, alle noch arbeitsfähigen Männer, auch die vom Militärdienst losgekauften, vom 16. bis zum 50. (jeweils auch bis zum 70.) Lebensjahre waren zu Lastträgerdiensten oder zum Wegebau von ihren Heimatsorten entfernt, auf die Bergstraßen und in die Steinwüsten des Innern geschickt worden. Beim Inkrafttreten des Deportationsbefehls wurden in der Regel die noch übrigen männlichen Bewohner der Städte und Ortschaften von den Frauen abgesondert, und, sei es unmittelbar vor der Stadt oder während des Transportes, getötet. Über das Schicksal der zum Heeresdienst oder zum Straßenbau und Lastträgerdienst eingezogenen männlichen Bevölkerung kann man nur aus Berichten von Augenzeugen, die zufällig die Straßen des Innern bereist haben und die methodische Vernichtung ganzer Kolonnen festgestellt haben, Schlüsse ziehen.

Das Ergebnis der vorbereitenden Maßregeln war die Versetzung des armenischen Volkes in einen Zustand der Wehrlosigkeit, der für die Ausführung der Deportation keinerlei Gefahr mit sich brachte und nur einen geringen Aufwand an eskortierenden Mannschaften erforderte.

Nachdem der Hergang bei der Ausreise der Deportierten in den verschiedenen Wilajets beschrieben worden ist, ist es noch notwendig, das Schicksal der Unglücklichen, soweit dies möglich ist, auf der Reise zu ihren Verbannungsorten zu schildern.

Die Routen für den Abtransport, die von den verschiedensten Heimatsgebieten eingeschlagen wurden, ergeben sich aus dem Lauf der wenigen Straßen, die aus dem Innern nach den Bestimmungsorten der Deportation führen.

Eine planmäßige Umsiedelung einer Bevölkerung würde eine geordnete Verwaltung vor die schwierigsten Probleme stellen. Man müßte natürlich im voraus Vorkehrungen für die Etappen der Wanderung treffen, für Transportmittel und Verpflegung auf dem Wege sorgen und in den neuen Siedelungsgebieten alles vorbereiten, um so große Bevölkerungsmassen auch nur vorläufig unterzubringen und zu verpflegen. Eine Umsiedelung einer Bevölkerung, die in Haufen von Zehntausenden in bestimmten Distrikten seßhaft gemacht werden soll, stößt naturgemäß auf Rechte und Besitzverhältnisse der bereits ansässigen Bevölkerung, die nicht ohne weiteres willig ist, ihren Besitz mit neuen Nutznießern zu teilen. Nur ein vorzügliches Verwaltungssystem vermöchte solche Probleme zu lösen und einem Zusammenstoß der alten und neuen Elemente vorzubeugen.

Bei der Deportation des armenischen Volkes in die Grenzdistrikte der arabischen Wüste hat man sich über diese Frage kein Kopfzerbrechen gemacht. Die Art der Behandlung, die die Deportierten auf dem Wege erlitten haben, läßt darauf schließen, daß den Urhebern der Maßregeln und den ausführenden Organen nicht viel daran lag, ob die deportierte Bevölkerung auf irgend eine Weise die Mittel zu ihrem Unterhalt erhielt, ja, daß es nicht unwillkommen zu sein schien, wenn sie schon unterwegs zur Hälfte umkam und am Ziel ihrer Wanderung an Krankheit und Hunger zugrunde ging.

Das Deportationsziel war nicht etwa, wie es hieß, das von der Bagdadbahn erschlossene mesopotamische Gelände, sondern die südlich davon sich ins Ungemessene ausdehnenden arabischen Wüsten. Die mesopotamischen Städte sind ja selbst ausgeräumt worden. Als Deportationsziel war das Gebiet zwischen Deir-es-Sor am Euphrat (300 Kilometer südöstlich von Aleppo) und Mosul am Tigris bestimmt. Dies Gebiet ist nur unmittelbar am Euphrat und am Tigris mit spärlichen Ortschaften besetzt. Im übrigen dient es als Weidegebiet für die streifenden Nomadenhorden der Araber. Die Zugänge zu diesem Gebiet führen über Aleppo in der Richtung auf Deir-es-Sor am Euphrat, über Urfa, Weranscheher und Nisibin an den Nordrand der arabischen Wüste und über Djesireh in der Richtung auf Mosul. Spätere Transporte wurden auch über Damaskus nach dem Hauran dirigiert.

Der Halbbogen der Tauruskette, der das vordere und nördliche Anatolien gegen die mesopotamische Ebene abschließt, wird nur an wenigen Stellen auf einigermaßen gangbaren Straßen durchbrochen. Von Kleinasien her öffnet sich die Cilicische Pforte nach Cilicien. Durch die Amanuspässe führt der Weg nach Aleppo. Eine belebtere Verkehrsstraße führt aus den hocharmenischen Quellgebieten des Euphrat über Kharput, Diarbekir und Mardin in die mesopotamische Ebene. Von dieser Straße zweigt noch ein westlicherer Weg auf recht beschwerlichen Gebirgspfaden über Malatia und Adiaman ab, der bei Samsat den Euphrat überschreitet und in Urfa die Straße, die von Aleppo nach Diarbekir führt, erreicht.

Alles, was aus den Wilajets Erzerum und Trapezunt nach dem Süden transportiert wurde, mußte durch die Kemachschlucht am Durchbruch des westlichen Euphrat den Weg über Egin und Arabkir nach Kharput oder Malatia einschlagen. Die Transporte aus dem Wilajet Siwas gingen wohl ebenfalls meist über Malatia oder Kharput. Die Taurusdörfer und das cilicische Gebiet auszuräumen, hatte am wenigsten Schwierigkeit, da hier die Straße über Marasch und Aintab nach Urfa oder Aleppo und der Weg der Bagdadbahn nördlich des Amanus-Gebirges offen stehen. Um die Bevölkerung aus den mittel- und westanatolischen Provinzen in die arabischen Wüsten zu transportieren, stand, sei es die Bagdadbahn, sei es die alte Straße längs der Bagdadbahn zur Verfügung. Die Bahn durfte nur von denjenigen benutzt werden, die sich von dem Rest ihrer Habe ein Billet lösen konnten, um sich dafür einen Viehwagenplatz zu sichern. Aber auch die Züge wurden meist wieder entleert, da sie für Militärtransporte dringender nötig waren. Einen Teil der cilicischen Bevölkerung hat man in die Sumpfgebiete des Wilajets Konia abgeführt. Teilweise wurde für Familien aus dem Ismid- und Brussagebiet das System der Zerstreuung angewendet. Einzelne Familien und Personen, meist Männer, Frauen und Kinder getrennt, wurden in kleinen Trupps von 10 bis 20 Personen auf muhammedanische Dörfer verteilt, um dort islamisiert zu werden.

Aus den östlichen Wilajets führte nur die Straße über Bitlis und Sört an den Tigris nach Djefireh und Mosul hinunter. Diese Transporte sind zum Teil unterwegs vernichtet oder in den Fluten des Tigris ertränkt worden.

Eine Zufluchtsstätte jenseits der türkischen Grenze konnten nur die Bewohner der Grenzdistrikte des Wilajets Erzerum und die Umwohner des Wansees erreichen. Aus Dörfern bei Sueidije am Ausfluß des Orontes konnte sich ein Haufe von 4058, darunter 3004 Frauen und Kinder, auf den Dschebel-Musah flüchten. Er wurde an der Küste von einem französischen Kreuzer aufgenommen und nach Alexandrien geborgen.9)

Über den Zustand der Karawanen, die Kharput und die Straßen Marasch-Aintab-Aleppo und Aintab-Urfa-Rasul-Ajin passierten, liegen Berichte von Augenzeugen vor.

Amerikanischer Konsularbericht.

Aus Kharput schreibt der amerikanische Konsul Leslie A. Davis:

Kharput, den 11. Juli 1915.

„Wenn es sich einfach darum handelte, von hier fort nach einem andern Ort zu ziehen, so wäre das erträglich; aber jedermann weiß, daß es sich bei den jetzigen Ereignissen darum handelt, in den Tod zu gehen. Wenn darüber noch ein Zweifel herrschte, ist er beseitigt worden durch die Ankunft einer Reihe von Transporten, die aus Erzerum und Erzingjan kommend, sich auf mehrere Tausend Personen beliefen. Verschiedene Male habe ich ihr Lager besucht und mit einigen der Leute gesprochen. Einen jammervolleren Anblick kann man sich schlechthin nicht denken. Fast ausnahmslos sind sie zerlumpt, hungrig, schmutzig, krank; das ist kein Wunder angesichts der Tatsache, daß sie beinahe zwei Monare unterwegs sind, nie die Kleider gewechselt haben, keine Gelegenheit zum Waschen, keine Unterkunft und nur wenig zu essen hatten. Die Regierung hat ihnen ein paar dürftige Rationen verabreicht. Ich beobachtete sie eines Tages, als ihnen das Essen gebracht wurde. Wilde Tiere hätten nicht gieriger sein können. Sie stürzten sich auf die Wachen, die das Essen brachten, und die Wachen schlugen sie mit Knütteln zurück. Mancher hatte daran für immer genug und blieb tot liegen. Wenn man sie sah, konnte man kaum glauben, daß das menschliche Wesen seien.

Geht man durch das Lager, so bieten einem die Mütter ihre Kinder an und flehen, daß man sie nehmen solle. Was schön war, haben sich die Türken unter Kindern und Mädchen schon ausgewählt. Sie werden als Sklaven zu gelten haben, wenn sie nicht noch zu Schlimmerem benutzt werden. Sie haben zu diese Zweck auch ihre Ärzte da gehabt, um die Mädchen, die ihnen gefielen, zu untersuchen und sich die Besten zu nehmen.

Männer sind nur noch wenig unter ihnen, die meisten sind unterwegs getötet worden. Alle erzählen dieselbe Geschichte, daß sie von Kurden angegriffen und ausgeraubt worden sind. Die meisten waren immer aufs neue angegriffen worden und viele, besonders die Männer, waren dabei getötet worden. Auch Frauen und Kinder wurden mitgetötet. Naturgemäß starben viele unterwegs an Krankheit und Erschöpfung. An jedem Tag, den sie hier zubrachten, gab es Todesfälle. Mehrere ganz verschiedene Transporte sind hier angekommen und nach ein oder zwei Tagen anscheinend ohne bestimmtes Ziel weitergeschoben worden. Die hier Angekommenen bilden alle miteinander nur einen kleinen Teil von denen, die aus ihrer Heimat aufbrachen. Wenn man fortfährt, sie so zu behandeln, wird es möglich sein, sich ihrer in verhältnismäßig kurzer Zeit zu entledigen.

Unter denen, mit welchen ich zu sprechen Gelegenheit hatte, waren drei Schwestern. Sie waren in einem amerikanischen Kollege erzogen worden und sprachen ausgezeichnet englisch. Sie sagten, ihre Familie sei die reichste in Erzerum gewesen und habe bei der Abreise 25 Köpfe gezählt. Jetzt waren noch 14 Überlebende vorhanden. Die 11 anderen, darunter der Mann der einen Schwester, waren, wie sie erzählten, vor ihren Augen von den Kurden hingeschlachtet worden. Der älteste männliche Überlebende war 8 Jahre alt. Als sie von Erzerum aufbrachen, besaßen sie Geldmittel, Pferde, persönliches Eigentum. Aber alles hatte man ihnen geraubt, selbst ihre Kleidung. Einige von ihnen sind nach den Worten der Schwestern vollständig nackend gelassen worden, andern ließ man nur ein Kleidungsstück. Als sie ein Dorf erreichten, bekamen die Gendarmen von einigen der eingeborenen Frauen Kleider für sie.

Ein anderes Mädchen, mit dem ich sprach, war die Tochter des protestantischen Pfarrers in Erzerum. Sie sagte, jedes einzelne Familienglied, das mit ihr ausgezogen war, sei getötet worden. Sie sei ganz allein übrig geblieben. Diese und einige andere sind die wenigen Überlebenden von der oberen Schicht der Deportierten. Sie sind in einem alten Schulhause gleich außerhalb der Stadt untergebracht, das niemand betreten darf. Sie sagten, sie seien eigentlich gefangen; nur einen Brunnen in der Nähe des Gebäudes durften sie benutzen. Da sah ich sie zufällig. Alle andern lagern auf einem großen freien Feld und haben keinerlei Schutz gegen die Sonne.

Der Zustand dieser Menschen weist deutlich auf das Schicksal derer, die schon von hier fortgezogen sind und noch fortgehen werden. Bis jetzt hat man nichts mehr von ihnes gehört, und ich bin der Meinung, man wird überhaupt nichts mehr von ihnen hören. Das System, das man befolgt, scheint folgendes zu sein: Man läßt Kurdenbanden sie unterwegs abfangen, um besonders die Männer und beiläufig auch Frauen und Kinder zu töten. Die ganze Maßregel scheint mir das best organisierte und erfolgreichste Massaker zu sein, das dies Land jemals gesehen hat.

Dem

Bericht eines deutschen Beamten von der Bagdadbahn

entnehmen wir folgendes:

„Als die Bewohner der cilicischen Dörfer auszogen, hatten viele noch Esel als Reit- oder Packtiere mit sich. Die die Transporte begleitenden Soldaten ließen aber die Katerdschis (Eseltreiber) auf ihnen reiten, weil Befehl gegeben sei, kein Deportierter, sei es Mann oder Frau, dürfe reiten. Bei dem Transport aus Hadjin brachten die Katerdschis diejenigen Lasttiere, in deren Gepäck sie Geld oder wertvollere Sachen vermuteten, gleich direkt auf ihre Dörfer. Sonstiges Vieh, das die Leute mitgenommen hatten, wurde ihnen unterwegs mit Gewalt genommen oder für einen so lächerlichen Preis abgekauft, daß sie es ebenso umsonst hätten hergeben können. Eine Frau, deren Familie ich kenne, verkaufte 90 Stück Schafe für 100 Piaster, die zu anderer Zeit 60–70 türkische Pfund (etwa 1300 Mk.) gebracht hätten, d. h. sie erhielt für 90 Stück den Preis von einem Stück. Den Dorfbewohnern von Schehr war erlaubt worden, ihre Ochsen, Wagen und Lasttiere mitzunehmen. Bei Gökpunar wurden sie gezwungen, den Fahrweg zu verlassen und den kürzeren Fußweg durchs Gebirge einzuschlagen. Ohne irgendwelche Wegzehrung oder sonstige Habe mußten sie weiter wandern. Die sie begleitenden Soldaten erklärten rundweg, sie hätten sochen Befehl.

Am Anfang erhielten die Deportierten von der Regierung pro Kopf und Monat (nicht pro Tag!) ein Kilogramm Brot. Sie lebten von dem, was sie noch mitgenommen hatten. Sodann wurden ihnen kleine Geldbeträge gezahlt. Ich hörte von 30 Personen, die früher wohlhabend waren, in dem Tscherkessendorf Bumbudch (Membidsch, auf den Ruinen des alten Bambyke), 1½ Tagereisen von Aleppo, daß sie in 30 Tagen 20 Piaster erhalten hatten, nicht etwa pro Kopf, sondern die 30 Personen zusammen. Also für jede Person 10 Pfennig pro Monat. Durch Marasch kamen in den ersten Tagen etwa 400 barfüßige Frauen, auf dem Arm ein Kind, auf dem Rücken ein Kind (oft genug ein totes), ein anderes an der Hand. Von den Armeniern von Marasch, die später selbst deportiert wurden, wurden für 50 Pfd. (ca. 900 Mark) Schuhe gekauft, um die Durchziehenden damit zu versehen. Zwischen Marasch und Aintab wollte die muhammedanische Bevölkerung in einem türkischen Dorfe einem Transport von etwa 100 Familien Wasser und Brot verabreichen. Die Soldaten ließen es nicht zu. Die amerikanische Mission und die Armenier von Aintab, die später auch deportiert wurden, machten es möglich, während der Nacht den Transporten, die an Aintab vorüber kamen – sie zählten insgesamt etwa 20 000, meist Frauen und Kinder – Brot und Geld zu bringen. Es waren dies die Dörfer aus dem Sandschak Marasch. Die Transporte durften nicht nach Aintab hereinkommen, sondern lagerten auf freiem Felde. Bis nach Nisib (9 Stunden südöstlich von Aintab auf dem Wege zum Euphrat) konnten die amerikanischen Missionare solche nächtlichen Verproviantierungen vornehmen.

Während des Transportes wurden die Deportierten zuerst ihrer Barschaft, dann aller Habseligkeiten beraubt. Ein deportierter protestantischer Pfarrer sah, wie einer Familie 43 Pfund, einer anderen 28 Pfund abgenommen wurden. Der Pfarrer selbst ist jung verheiratet und mußte seine junge Frau, die ihr erstes Kind erwartete, in Hadjin zurücklassen. Übrigens sind vier Fünftel der Deportierten Frauen und Kinder. Drei Fünftel davon gehen barfuß. Ein Mann aus Hadjin, den ich persönlich kenne, der ein Vermögen von mindestens 15 000 Pfund (ca. 270 000 Mark) hatte, war gleich den anderen unterwegs seiner Kleidung beraubt worden, so daß hier für ihn Kleider erbettelt werden mußten. Ein besonderer Kummer der Deportierten ist es, daß sie ihre Toten nicht beerdigen können. Sie bleiben irgendwo am Wege liegen. Frauen schleppen ihre toten Kinder oft noch tagelang auf dem Rücken mit. In Bab, 10 Stunden östlich von Aleppo, wurden die Durchkommenden für einige Wochen provisorisch untergebracht, aber man erlaubte ihnen nicht, zurückzugehen und die auf dem Wege Gestorbenen zu begraben.

Am schwersten ist das Los der Frauen, die unterwegs niederkommen. Man läßt ihnen kaum Zeit, ihr Kind zur Welt zu bringen. Eine Frau gab in einer Nacht einem Zwillingspaar das Leben. Am Morgen mußte sie mit zwei Kindern auf dem Rücken zu Fuß weiter ziehen. Nach zweistündigem Marsch brach sie zusammen. Sie mußte die beiden Kinder unter einem Busch niederlegen und wurde von den Soldaten gezwungen, mit den andern Reisegefährten weiterzuziehen. Eine andere Frau kam während des Marsches nieder, mußte sofort weitergehen und brach tot zusammen. Eine weitere Frau wurde in der Nähe von Aintab von amerikanischen Missionarinnen umringt, als sie niederkam. Man konnte nur erreichen, daß sie ein Tier besteigen durfte und mit ihrem in Lumpen gehüllten Kind im Schoß weiterzog. Diese Beispiele wurden allein auf der Strecke von Marasch bis Aintab beobachtet. Hier fand man beim Aufräumen des eine Stunde zuvor von einem Transport verlassenen Khans ein neugeborenes Kind. In Marasch fand man im Tasch-Khan 3 neugeborene Kinder in Mist eingebettet.

Unzählige Kinderleichen findet man unbeerdigt am Wege liegen. Ein türkischer Major, der vor 3 Tagen mit mir zurückkam, sagte, daß viele Kinder von ihren Müttern unterwegs zurückgelassen würden, weil sie sie nicht mehr nähren könnten. Größere Kinder werden den Müttern von den Türken weggenommen. Der Major hatte ebenso wie seine Brüder je ein Kind, bei sich; sie wollten dieselben als Muhammedaner aufziehen. Eins der Kinder spricht deutsch. Es muß ein Waisenkind aus einem deutschen Waisenhaus sein. Die unterwegs niedergekommenen Frauen der Transporte, die hier durchkamen, schätzt man auf 300.

Hier verkaufte eine Familie in bitterster Armut und Verzweiflung ihr 18 jähriges Mädchen für 6 Lira (ca. 110 Mark) an einen Türken. Die Männer der meisten Frauen waren zum Heeresdienst eingezogen worden. Wer die Stellungsorder nicht befolgt hat, wird erhängt oder erschossen, so kürzlich sieben in Marasch. Die Militärpflichtigen werden aber meist nur zum Straßenbau herangezogen und dürfen keine Waffen tragen. Die Heimkehrenden finden ihr Haus leer. Vor zwei Tagen traf ich in Djerabulus einen armenischen Soldaten, der von Jerusalem kam, um auf Heimaturlaub in sein Dorf Geben (zwischen Zeitun und Sis) zu gehen. Ich kenne den Mann seit Jahren. Hier erfuhr er, daß seine Mutter, seine Frau und seine 3 Kinder in die Wüste deportiert seien. Alle Erkundigungen nach seinen Angehörigen waren fruchtlos.

Seit 28 Tagen beobachtet man täglich Leichen im Euphrat, die stromabwärts treiben, zu zweien mit dem Rücken zusammengebunden, zu drei bis acht an den Armen zusammengebunden. Ein türkischer Oberst, der in Djerabulus stationiert ist, wurde gefragt, warum er die Leichen nicht beerdigen lasse, worauf er erwiderte, er habe keinen Auftrag, und zudem könne man nicht feststellen, ob es Muhammedaner oder Christen seien, da ihnen die Geschlechtsteile abgeschnitten seien. (Muhammedaner würden sie beerdigen, Christen nicht.) Leichen, die ans Ufer angeschwemmt waren, fraßen die Hunde. Auf andere, die an den Sandbänken hängen blieben, ließen sich die Geier nieder. Ein Deutscher sah bei einem einzigen Ritt sechs Paar Leichen den Strom hinabtreiben. Ein deutscher Rittmeister erzählte, er habe auf seinem Ritt von Diarbekir nach Urfa zu beiden Seiten des Weges zahllose Leichen unbeerdigt liegen sehen, lauter junge Männer mit durchschnittenen Hälsen. (Es waren die zum Militärdienst eingezogenen Straßenarbeiter. Vergl. Seite 76.) Ein türkischer Pascha äußerte sich gegen einen angesehenen Armenier: „Seid froh, wenn ihr wenigstens in der Wüste ein Grab findet, das haben viele von euch nicht.“

Nicht die Hälfte der Deportierten bleibt am Leben. Vorgestern starb am Bahnhof hier eine Frau, gestern 14 und heute vormittag weitere 10. Ein protestantischer Pfarrer von Hadjin sagte zu einem Türken in Osmanieh: „Von diesen Deportierten bleibt nicht die Hälfte am Leben.“ Der Türke antwortete: „Das bezwecken wir ja nur.“

Es soll nicht vergessen sein, daß es auch Muhammedaner gibt, die die Greuel, die man an den Armeniern verübt, mißbilligen. Ein muhammedanischer Scheich, eine angesehene Persönlichkeit in Aleppo, äußerte in meiner Gegenwart: „Wenn man über die Behandlung der Armenier spricht, so schäme ich mich, daß ich ein Türke bin.“

Wer am Leben bleiben will, ist gezwungen, den Islam anzunehmen. Um dies zu befördern, werden hie und da einzelne Familien auf rein muhammedanische Dörfer geschickt. Die Zahl der Deportierten, die hier und in Aintab durchgekommen sind, beträgt bis jetzt etwa 50 000. Von diesen erhielten neun Zehntel am Abend vor der Abreise den Befehl, daß sie am Morgen aufzubrechen hätten. Der größere Teil der Transporte geht über Urfa, der kleinere über Aleppo. Jene in der Richtung auf Mosul, diese in der Richtung nach Deir-es-Sor. Die Behörden sagen, sie sollen dort angesiedelt werden, aber, was dem Messer entgeht, wird zweifellos verhungern. In Deir-es-Sor am Euphrat sind von den Transporten etwa 10 000 angelangt. Von den übrigen hat man bisher keine Nachricht. Von denen, die in der Richtung auf Mosul geschickt werden, sagt man, sie sollen 25 Kilometer von der Bahnstrecke entfernt angesiedelt werden; das soll wohl heißen, man will sie in die Wüste treiben, wo ihre Ausrottung ohne Zeugen vor sich gehen kann.

Was ich schreibe, ist nur ein geringer Bruchteil all der Grausamkeiten, die seit zwei Monaten hier geschehen, und die mit jedem Tage an Umfang zunehmen. Es ist nur ein Bruchteil von dem, was ich selbst gesehen und von Bekannten und Freunden, die Augenzeugen waren, erfahren habe. Für das, was ich berichte, kann ich jederzeit die Daten und die Personen, welche Zeuge waren, angeben.“

Auszug aus dem Bericht der Armenierin Mariza Kejejjan.
aus Husseinik (eine halbe Stunde von Kharput), welche bis nach Aleppo transportiert wurde und dort, da sie in Amerika naturalisiert war, einen Paß für Alexandrien erhielt.

2 November 1915.

„Nach Ostern fanden in Kharput, Mesereh und den Dörfern der Umgegend viele Verhaftungen statt. Die Verhafteten wurden in den Gefängnissen gefoltert. Man schlug sie, riß ihnen Haare und Nägel aus und bearbeitete sie mit glühenden Eisen, nachdem man sie mit Stricken festgebunden hatte. Ein Soldat setzte sich auf den Leib einer schwangeren Frau, die anderen schlugen sie, um sie zu zwingen, anzugeben, wo ihr Mann verborgen sei.

Wir wurden am 4. Juli deportiert und zunächst nach Diarbekir auf den Weg gebracht. Wir waren ungefähr 100 Familien und hatten Lasttiere mit uns. Am zweiten Tage kamen wir an vielen Leichnamen von Männern vorüber, vermutlich waren es die Zweihundert, welche mit Bsag Wartabed 10 Tage vor uns verschickt worden waren. Einen Tag und eine Nacht lang tranken wir nur Wasser, das mit Blut vermischt war. Auch am dritten Tage kamen wir auf dem Wege nach Arghana an Leichenhaufen vorüber. Hier waren die Männer und die Frauen gesondert getötet worden.

Am sechsten Tage kamen wir in ein Kurdendorf. Hier verlangten uns die Gendarmen unser Geld und allen Schmuck, den wir noch hatten, unter Bedrohung unserer Ehre ab. Am neunten Tage nahmen sie uns auch alle Wäsche fort. Als wir nach Diarbekir kamen, wurden alle unsere Lasttiere abgeführt und eine Frau und zwei junge Mädchen von dem Gendarmen weggeschleppt. 24 Stunden lang saßen wir im Sonnenbrand vor den Mauern von Diarbekir. Aus der Stadt kamen Türken und nahmen uns unsere Kinder weg. Gegen Abend hatten wir uns zum Aufbruch bereit gemacht, als wir von Türken, die aus der Stadt kamen, angegriffen wurden. Da ließen wir alles, was wir noch an Gepäck hatten, im Stich und stoben auseinander, um unser Leben und unsere Ehre zu retten. In der Nacht wurden wir noch dreimal von Türken angegriffen und die Mädchen und jungen Frauen weggeschleppt.

Am folgenden Tage wurden wir viele Stunden nach Süden weiter getrieben, ohne Wasser zu finden. Mehrere von uns brachen vor Hunger und Durst zusammen. Jeden Tag wurden wir angegriffen und mißhandelt. Einige von uns wurden weggeführt. Eine Frau, die Widerstand leistete, als man ihre Töchter wegnehmen wollte, wurde von einer Brücke herabgestürzt, so daß sie einen Arm brach. Dann wurde sie mit einer ihrer Töchter von einem Felsen herabgestürzt. Als die andere Tochter dies sah, stürzte sie sich ihnen nach, um mit ihrer Mutter und Schwester zusammen zu sterben.

Als wir in die Nähe von Mardin kamen, ließ man uns 8 Tage lang im Sonnenbrand auf freiem Felde liegen. In der Nähe war ein Wasserbassin. Während der Nacht ließen die Türken das Bassin auslaufen und über das Feld fließen, auf dem wir lagerten. Dann schossen sie auf uns und raubten Frauen und Kinder. Eines Abends gab man Befehl zum Aufbruch. Alle Tage geschahen dieselben Schändlichkeiten und Schändungen und unsere Karawane schmolz immermehr zusammen. Nur ein Gendarm aus Mardin hat uns anständig behandelt. (Vermutlich ein Araber.)

Wir kamen nach Weranschehir und dann nach Ras-ul-Ajin. Bevor wir nach Ras-ul-Ajin kamen, trafen wir drei Zisternen an, die ganz mit Leichen angefüllt waren.

In Ras-ul-Ajin fanden wir andere Frauen, die von Erzerum, Egin, Keghi und anderen Orten verschickt waren und ebenfalls auf dem Wege nach Deir-es-Sor waren. Oftmals hat man uns vorgeschlagen oder zwingen wollen, den Islam anzunehmen. Wir haben geantwortet, daß wir uns lieber in das Wasser stürzen oder sterben als den Islam annehmen würden. Die geistlichen Scheichs waren über diese Antwort sehr erstaunt und sagten: "Wir haben niemals Leute gesehen, die, einer wie der andere, ihr Ehre und ihre Religion mit solchem Eifer verteidigen."

In Ras-ul-Ajin trafen wir Arakel Agha, der von Aleppo gekommen war, um zu sehen, ob er jemand retten könnte. Es gelang ihm, einige von uns nach Aleppo mitzunehmen. Die Armenier von Aleppo gaben uns zu essen. Wir hatten 24 Stunden lang nichts bekommen. In Aleppo waren Deportierte aus verschiedenen Gegenden von Armenien, die 4 Monate unterwegs gewesen waren. Sie waren so erschöpft, daß täglich etwa 40 starben. Die Männer waren im Tal von Scheitan Deresi mit Äxten und Säbeln erschlagen worden. Man hatte sie zuvor ihre Gräber graben lassen und dann massakriert. Ein armenischer Soldat erzählte mir, wie die Türken die Armenier in den Euphrat geworfen hätten[WS 4]. Er selbst ist mit 5 Kameraden entkommen, indem er den Fluß durchschwamm. Sie waren 3 Tage unterwegs und sahen überall am Wege Leichen liegen.

Während unserer ganzen Reise haben wir von den türkischen Behörden nichts zu essen bekommen. Nur in Diarbekir hat man jedem ein Brot gereicht und ebenso in Mardin während der 8 Tage, die wir dort lagerten, täglich ein steinhartes Brot. Unsere Kleider waren verfault, und wir alle durch die Leiden fast irrsinnig geworden. Viele wußten, als man ihnen neue Kleider reichte, nicht mehr, wie sie dieselben anziehen sollten. Als sie das erste Mal wieder badeten und sich von allem Schmutz reinigten, bemerkten viele, daß sie die Haare verloren hatten.“

Aus dem Berichte eines Missionars über das Schicksal der Deportierten aus Mersiwan.

„Böse Taten werden im Finstern vollbracht. Kurz nach Mitternacht holten die Gendarmen etwa 300 Gefangene heraus, banden ihre Hände, verboten ihnen irgendwelche Vorräte oder Kleider oder Betten mitzunehmen. Angeblich sollten sie nach Amasia gehen, aber ¾ Stunden weit, auf dem Wege nach Zileh (Zela), – dem berühmten Orte, von dem Julius Cäsar seine Botschaft: „veni, vidi, vici“ nach Rom sandte – wurden sie alle mit Äxten erschlagen. Tag für Tag wurden sie in dieser Weise „verschickt“. Den Aussagen der Beamten nach wurden in dieser Weise 1215 Männer getötet. Nach dem Zeugnis von türkischen Augenzeugen war an dem Hinrichtungsort ein großes Zelt aufgerichtet worden, wo die Opfer aufs genaueste ausgefragt und durchsucht wurden. Die Fragen, die man stellte, waren hauptsächlich[WS 5] nach Waffen, angeblichen revolutionären Plänen und Namen von Personen. Dann wurden ihnen alle wertvollen Dinge, die sie besaßen, weggenommen.

In einiger Entfernung vom Zelt war eine große Grube gegraben. Die Gefangenen wurden jeweils etwa fünf herangeführt, nur in ihrer Unterkleidung, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, dann knieten sie hin und wurden durch Axtschläge auf den Kopf oder durch Dolchstiche ins Jenseits befördert. Das ist von Augenzeugen konstatiert worden, auch von Gendarmen, die an der blutigen Arbeit selbst teilgenommen haben.

Nachdem man sich der Männer auf diese Weise entledigt hatte, ließ man die Greise und die Knaben unter 18 Jahren mit den Worten los: „Seine Majestät der Sultan hat euch Verzeihung gewährt, geht und betet für ihn.“

Es ist unmöglich, zu beschreiben, wie diese Freigelassenen sich gebärdeten, wenn sie ihr Heim wieder erreichten. Sie hüpften vor Freude, glaubten sie doch, alles sei vorüber, und es würden für die Überlebenden nun bessere Tage folgen. Ach, diese Freude dauerte nur einen einzigen Tag. Am nächsten Tag schon machte der städtische Ausrufer in den Straßen der Stadt bekannt, daß alle Armenier, Frauen, Kinder und alte Leute, nach Mosul aufzubrechen verpflichtet wären. Da erst ging den Armen die volle krasse Wahrheit auf. Bis dahin hatten sie sich immer noch Illusionen gemacht, daß durch irgend eine Wendung der Weg der Befreiung sich auftun würde und müßte. Die Hoffnung, daß das Schlimmste nicht eintreten würde, hatte sie bisher nie verlassen.

Nachdem ich mit vielen Türken, Beamten und anderen, gesprochen habe, bin ich der Überzeugung, daß alle Männer, die weggeführt werden, auch getötet werden.“

Am Ziel der Verschickung.

„In Deir-es-Sor“, so berichtet eine deutsche Missionarin, Fräulein L. Möhring, unter dem 12. Juli 1915, „einer großen Stadt[20] in der Wüste, etwa sechs Tagereisen von Aleppo entfernt, fanden wir den großen Khan ganz überfüllt. Alle zur Verfügung stehenden Räume, Dächer und Veranden waren von Armeniern eingenommen, in der Hauptsache Frauen und Kinder, doch auch eine Anzahl Männer hockten auf ihren Decken, wo irgend sie etwas Schatten finden konnten. Sobald ich hörte, daß es Armenier seien, ging ich hin, um mit ihnen zu reden. Es waren die Leute von Furnus, aus der Gegend von Zeitun und Marasch, die da auf engem Raum zusammengepfercht, einen überaus traurigen Anblick boten. Auf meine Frage nach Kindern aus unsern Waisenhäusern brachte man einen Zögling von Schwester Beatrice Rohner, Martha Karahaschian. Sie erzählte mir folgendes: Türkische Polizisten waren eines Tages nach Furnus gekommen und hatten eine große Zahl Männer festgenommen und weggeführt, die Soldaten werden sollten. Wohin man sie brachte, war weder ihnen noch ihren Familien bekannt. Den Zurückgebliebenen wurde gesagt, daß sie in Zeit von vier Stunden ihre Häuser zu verlassen hätten. Soviel sie tragen konnten, war ihnen erlaubt mitzunehmen, ebenso Reittiere. Nach Ablauf der gesetzten Frist mußten die armen Leute unter Führung von Saptiehs aus ihrem Dorf hinausziehen, nicht wissend wohin, oder ob sie es je wiedersehen würden. Anfangs, solange sie noch in ihren Bergen waren und Lebensmittel hatten, ging es ganz gut. Man hatte ihnen Geld und Brot versprochen und gab ihnen dies auch in der ersten Zeit, pro Kopf, soviel ich mich erinnere, 30 Para (12 Pfg.). Sehr bald aber hörten diese Rationen auf, und es gab nur noch Bulgur (gedörrten Weizen) 50 Dram (150 Gr.) pro Kopf und Tag. Auf diese Weise waren die Furnusleute nach vierwöchentlicher beschwerlicher Reise über Marasch und Aleppo in Deir-es-Sor angelangt. 3 Wochen lagen sie schon dort im Khan und wußten nicht, was aus ihnen werden sollte. Geld hatten sie nicht mehr, und auch die von den Türken gegebenen Lebensmittel waren sehr spärlich geworden. Schon tagelang hatten sie kein Brot mehr gehabt. In den Städten hatte man sie nachts eingesperrt und ihnen nicht erlaubt, mit den Einwohnern zu reden. So hatte auch Martha in Marasch nicht ins Waisenhaus gehen dürfen. Traurig erzählte sie mir: Wir hatten zwei Häuser, und alles mußten wir lassen, jetzt sitzen Muhadjirs (aus Bulgarien ausgewanderte Muhammedaner) darin. Ein Massaker war in Furnus nicht gewesen, und auch die Saptiehs hatten die Leute gut behandelt. Gelitten hatten sie hauptsächlich aus Mangel an Nahrung und Wasser, auf dem Marsch durch die glühend heiße Wüste. Als Yailadji (Bergbewohner), wie sie sich nannten, empfanden sie die Hitze doppelt schwer.

Die Armenier behaupten den Grund für ihre Vertreibung nicht zu kennen.

Am nächsten Tag, bei der Mittagsrast trafen wir auf ein ganzes Armenierlager. Die armen Leute hatten sich nach Art der Kurden primitive Ziegenhaarzelte gemacht und rasteten da. Zum größten Teil aber lagen sie schutzlos auf dem glühenden Sand unter sengender Sonne. Der vielen Kranken wegen hatten die Türken einen Ruhetag erlaubt. Etwas Trostloseres, wie solche Volksmenge in der Wüste, unter den gegebenen Umständen, kann man sich gar nicht vorstellen. An der Kleidung konnte man erkennen, daß sie in gewissem Wohlstande gelebt hatten, und nun stand ihnen das Elend im Gesicht geschrieben. Brot, – Brot, – war die allgemeine Bitte. Es waren die Leute von Geben, die man mit ihrem Prediger vertrieben hatte. Dieser erzählte mir, es stürben täglich 5 bis 6 Kinder und Kranke. An diesem Tage hat man kurz vorher die Mutter eines etwa neunjährigen Mädchens beerdigt, das nun ganz allein stand. Man bat mich flehentlich, das Kind mit ins Waisenhaus zu nehmen. Der Prediger erzählte ganz die gleiche Geschichte wie das Mädchen in Der-es-Sor.

Wer die Wüste nicht selbst kennt, kann sich auch nicht annähernd einen Begriff von der Not und Mühsal der deportierten Armenier machen. Sie ist gebirgig, aber meist schattenlos. Tagelang führt der Weg über Felsen und ist sehr beschwerlich. Auf der linken Seite von Aleppo kommend, hat man stets den Euphrat, der sich wie ein gelber Lehmstreifen dahinzieht, jedoch nicht nahe genug, um aus ihm schöpfen zu können. Unerträglich müssen die Durstqualen der armen Menschen sein, kein Wunder, daß so viele erkranken und sterben.

Ein Beutel steinhartes Brot aus Bagdad wurde mit großem Dank hingenommen. „Wir tauchen es in Wasser, und dann essen es die Kinder“, sagten die beglückten Mütter.

Am Abend im Dorfe angekommen, fanden wir wieder solch ein Armenierlager vor. Diesmal waren es die Leute aus Zeitun. Es war die gleiche Not und die gleiche Klage über Hitze, Mangel an Brot und Belästigung von seiten der Araber. Ein im Waisenhaus in Beirut von Kaiserswerter Diakonissen erzogenes Mädchen erzählte uns in gutem Deutsch von ihren Erlebnissen.

„Warum läßt Gott das zu? Warum müssen wir so leiden? Warum schlägt man uns nicht lieber gleich tot? Bet Tage haben wir kein Wasser für die Kinder, und diese schreien vor Durst. Nachts kommen die Araber und stehlen unsere Betten und Kleider. Sie haben uns Mädchen weggenommen und sich an Frauen vergangen. Können wir auf dem Marsch nicht weiter, werden wir von den Saptiehs geschlagen.“ Sie erzählten auch, daß sich Frauen ins Wasser gestürzt hätten, um der Schande zu entgehen, daß Mütter mit ihren neugeborenen Kindern das Gleiche getan, weil sie aus ihrer Not keinen Ausweg sahen.

Auf der ganzen Wüstenreise war Mangel an Lebensmitteln. Ein schneller Tod, zusammen mit der Familie, erscheint den Mütttrn leichter, als langsam dem eigenen und der Angehörigen Hungertod ins Auge zu sehen.

Am zweiten Tage nach Aleppo, im Amanusgebirge, trafen wir noch einmal Armenier; diesmal die Leute von Hadjin und Umgebung. Sie waren erst neun Tage unterwegs. Im Vergleich zu denen in der Wüste, lebten sie noch in glänzenden Verhältnissen, sie führten Wagen mit Hausrat, Pferde mit Fohlen, Ochsen und Kühe und sogar Kamele mit sich. Endlos war der Zug, der sich da das Gebirge hinaufzog, und ich mußte mich fragen, wie lange sie ihre Habe noch behalten würden. Noch waren sie auf heimatlichem Boden, im Gebirge, und hatten von den Schrecken der Wüste keine Ahnung. Es war dies das letzte, das ich von Armeniern sah. Vergessen lassen sich solche Erlebnisse nicht.“




4. Nachträge.


1) Die letzte Phase der Verfolgungsgeschichte spielte sich im Kaukasus ab, als nach dem Frieden von Brest-Litowsk die russische Armee sich zurückzog und den Kaukasus der Invasion der türkischen Truppen preisgab. Über die Vorgänge im Kaukasus vgl. „Deutschland und Armenien 1914–1918“. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, hersg. und eingel. von Dr. Johannes Lepsius. Der Tempelverlag in Potsdam 1919. Einl. S. XLV und die Aktenstücke d. Js. 1918, S. 365 ff.

2) Über Nazareth Tschauch und die Entstehung der Unruhen in Zeitun vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. IX ff. und die Berichte von Konsul Roeßler, Aleppo, Aktenstücke Nr. 11 und 25.

3) Die Gesamtzahl der Deserteure, die, aus Christen und Muhammedanern bestehend, schon vor dem Kriege seit 1913 sich in die Berge geflüchtet hatten, betrug zu der Zeit nach Mitteilung von Herrn Konsul Roeßler etwa 150. Der Verlust der Toten und Verwundeten bei dem Angriff auf das Kloster wird von ihm auf „eine Anzahl Toter und Verwundeter“ angegeben.

4) Die Zahl von 20 000 Seelen umfaßt auch die Dörfer in der Umgegend von Zeitun.

5) Über die Vorgänge in Dörtjol sind nähere Berichte in dem deutschen Konsularbericht aus Adana vom 13. März 1915 gegeben. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 19.

6) Über die Vorgänge in Urfa siehe die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Roeßler von Aleppo, Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 193, 202 und 226 Anl. 1. Am 19. und 20. August fanden Massakers statt, bei denen etwa 200 Armenier getötet wurden. Am 29. September setzten sich die Armenier, um der drohenden Deportation zu entgehen, in Verteidigungszustand in ihrem Stadtviertel. Vom 4. bis zum 15. Oktober währte die Belagerung des Viertels durch türkische Truppen, wobei diese 50 Tote und 120 bis 130 Verwundete hatten. Die männliche armenische Bevölkerung der Stadt wurde, nachdem der Widerstand gebrochen war, zum größten Teil getötet, die Frauen und Kinder deportiert. Die Stadt zählte vor der Deportation etwa 20 000 Armenier.

7) Dazu schrieb Prediger J. Spörri, Leiter der Station Wan des deutschen Hilfsbundes für Christliches Liebeswerk im Orient, am 7. 10. 1916 aus Zürich an den Verfassen

„Als am 20. 4. 15 die Feindseligkeiten vor meinen Augen ausgebrochen waren und in schauerlicher Weise auf uns geschossen wurde, war ich gedrungen, an den Wali zu schreiben. Ich erzählte den Anfang der Feindseligkeiten, teilte mit, daß wir dem Kugelregen ausgesetzt seien, ersuchte, da ich annehmen mußte, daß solches unmöglich nach dem Wollen des Walis sein könne, um weitere Vermeidung solcher Handlungen und bat, die Streitigkeiten friedlich zu ordnen. Mit meinem Schreiben ging ich zu Dr. Usher (es war das ein gefährlicher Weg, da unaufhörlich geschossen wurde), las ihm den Inhalt vor und veranlaßte ihn, von seiner Seite ein Gleiches zu tun. Der Brief vom 23. 4. von Djevdet Bey war die Antwort auf unser Schreiben. Übrigens hatte ich die Verteidiger gebeten, sie möchten sich von der Front unserer Station zurückziehen, da sie das Feuer auf uns zögen. Ich hatte die Genugtuung, daß mein Wunsch erfüllt wurde. Freilich war auch so von einem Aufhören des Feuers gegen uns nicht die Rede.“

8) Auch der Wali Rachmi Bei wurde schließlich, wenn auch erst ein Jahr nach der allgemeinen Deportation, durch den Befehl der Regierung von Konstantinopel gezwungen, den Befehl zur Deportation zu geben. Lediglich dem Einschreiten des Oberbefehlshabers General Liman von Sanders, der mit militärischem Widerstand drohte, ist es zu danken, daß die Deportation der Armenier von Smyrna nicht zur Ausführung kam. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LIX und die Aktenstücke Nr. 306, 307, 308.


9) Vgl. den fesselnden Bericht über die Flucht der Armenier von Suedije von Pastor Digran Andreasjan, der im Anhang von Lepsius, Dtschl. und Arm. abgedruckt, auch im Tempelverlag in Potsdam separat erschienen ist, „Suedije, eine Episode aus den Armenierverfolgungen des Jahres 1915.“ M. 0,50.

10) Durch Gesetz vom 1. August 1916 wurde ein Jahr darauf die alte Kirchenverfassung der gregorianischen Kirche zerstört und das Patriarchat von Konstantinopel in das Kloster Mar Jakub in Jerusalem verlegt. Erst nach dem Sturz der jungtürkischen Regierung und dem Zusammenbruch der Türkei wurde das Gesetz wieder aufgehoben.

11) Nach dem Zusammenbruch der Türkei ist das ursprüngliche Programm der Daschnagzagan natürlich gegenstandslos geworden. Auf den Glücksfall, daß die beiden Feinde der Armenier, die Türkei und Russland, gleichzeitig zusammenbrechen würden, so daß für ein völlig unabhängiges Groß-Armenien Raum wurde, konnte kein politisches Programm im voraus rechnen.

12) Wartkes wurde zusammen mit Sohrab auf dem Wege von Urfa nach Diarbekir durch die begleitenden Gendarmen auf Befehl der Regierung ermordet. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. 109.

13) Die Polizei in Konstantinopel hat nachträglich zwei Bilderbücher mit Haufen von Gewehren, Bomben, Fahnen und dergl. veröffentlicht, die nur Unkundige über den Wert solcher Machwerke täuschen können. Eine Charakteristik dieser Publikation hat die Deutsch-Armenische Gesellschaft veröffentlicht.

14) Vgl. den Bericht des deutschen Botschafters Freiherrn von Wangenheim in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 38. „Die Behauptung, es lägen Beweise vor, daß für den Tag des Thronbesteigungsfestes ein Putsch beabsichtigt gewesen sei, erklärte Talaat Bey für unzutreffend.“ Die Pforte selbst erklärte offiziell die Verschickung der Konstantinopler Intellektuellen nur für eine Vorbeugungsmaßregel.

15) Die letzte türkische Lesung lautete, daß alle 180 000 Muselmanen von den Armeniern massakriert worden seien. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXIII f.

16) Vgl. dazu die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Anders in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 5, 6 und 10.

17) Das später erschienene Communiqué der türkischen Regierung über die Vorgänge in Urfa wird von dem deutschen Konsul Herrn Roeßler in Aleppo in seinem Bericht vom 16. November 1915 einer Kritik unterzogen. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 202.

18) Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl Kap. V, 5: Die offizielle Motivierung. S. LXVI ff.

19) Vgl. die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln ebenda S. LXXVI ff.

20) Vgl. das Urteil des deutschen Botschafters Graf Wolff-Metternich in Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 287.

21) Vgl. die Urteile deutscher Konsuln in Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXVI ff.

22) Wäre die Türkei siegreich aus dem Krieg hervorgegangen, so wäre allerdings nicht daran zu denken gewesen, daß der Raub des gesamten Nationalgutes des armenischen Volkes wieder rückgängig gemacht worden wäre. Auch jetzt wird es schwer sein, auch nur einen beträchtlichen Teil der beweglichen Habe den Dieben und Räubern, die daß Gut schon längst verschleudert haben werden, zu entreißen.

23) Vgl. den Bericht über die Verhandlungen im türkischen Senat vom Oktober und November 1915 in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 223.

24) Vgl. zu diesem Kapitel den Abschnitt: Zwangsbekehrungen zum Islam, in der Einleitung von Lepsius, Dtschl. und Arm. und ebenda die Konsularberichte laut Sachregister unter Zwangsbekehrungen.

25) Vgl. den Bericht des deutschen Vizekonsuls Herrn Kuckhoff vom 4. Juli 1915 aus Samsun, Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 116 Anlage.

26) Nur unter den syrischen Nestorianern gab es eine kleine hochkirchliche Mission, die am Sitz des nestorianischen Patriarchen in Kodschannes bei Djulamerg im oberen Zabtal und in Urmia auf persischem Gebiet eine Vertretung hatte und eine Art Nuntiatur des Erzbischofs von Canterbury bei dem nestorianischen Patriarchat bildete. Diese hochkirchlichen Herren haben niemals mit Armenien oder der armenischen Frage zu tun gehabt und sich ausschließlich auf die syrischen Nestorianer beschränkt.

27) Dies war Anfang 1916 geschrieben. Nach der Vernichtung ihres Volkstums in der Türkei würden es jetzt natürlich alle noch Überlebenden Armenier ablehnen, unter türkische Herrschaft zurückzukehren.

28) Vielleicht wird Herr Bratter nach der Veröffentlichung der diplomatischen Aktenstücke über den Vernichtungskampf der Türken gegen die christlichen Armenier durch die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln jetzt eines Besseren belehrt werden.

29) Den genannten Städten ist noch Aleppo hinzuzufügen, wo dank der rastlosen Bemühungen des deutschen Konsuls wenigstens die ortsansässige Bevölkerung von der Deportation verschont blieb. Die Armenier von Bagdad waren zunächst nach Mossul deportiert worden und sollten von dort weitergeschafft werden. Der Einspruch des Feldmarschalls Freiherrn von der Goltz, der den Weitertransport untersagte, wurde von der Regierung in Konstantinopel erst respektiert, als der Feldmarschall wegen dieser Sache telegraphisch um seine sofortige Abberufung bat. S. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl. S. LIX und Aktenstück Nr. 224.


30) Über den Gesamtverlust an Ermordeten und Verhungerten, der auf eine Million geschätzt wird, vgl. Lepsius Dtschl. und Arm. Einleitung V, 4, S. LXIII, das Kapitel: Opfer.




Anmerkungen

  1. Im Wilajet Bitlis.
  2. Der größere Teil der aus Cilicien Deportierten wurde über Marasch und Urfa in der Richtung auf Weranscheher und Ras-ul-Ajin, 5 bis 6000 über Adana nach Konia transportiert.
  3. Den folgenden Absatz des Berichtes über die wirtschaftlichen Folgen siehe Seite 248.
  4. Die Partei heißt Daschnakzutiun, die Mitglieder der Partei Daschnakzagan.
  5. Nach andrer Quelle waren es 26 Männer.
  6. Sein Name ist Raïl Bey.
  7. Über Zwangsbekehrungen im Wilajet Trapezunt vgl. Seite 183.
  8. Diese Geschichte ist von türkischer Seite umgekehrt erzählt worden, als sei die Tortur von Armeniern einem türkischen Kaimakam zugefügt worden. Der zynische Witz des Wali bürgt dafür, daß die obige Lesart die richtige ist.
  9. Mesereh ist die Unterstadt von Kharput.
  10. Das Folgende nach Berichten von deutschen Beamten.
  11. Der amerikanische Bericht wird durch die Mitteilungen von Herrn Spörri, Leiter des deutschen Waisenhauses, der nach der Zerstörung von Wan als Letzter die Stadt verlassen hat und über Rußland zurückgekehrt ist, bestätigt.
  12. Das gleiche Angebot wurde dem deutschen Waisenhaus gemacht und von Herrn Spörri angenommen; eine Wache wurde aber nicht gestellt
  13. Sie war als Mädchen im deutschen Waisenhaus erzogen und war vom Lande, wo die Dörfer verwüstet wurden, in die Stadt geflüchtet.
  14. Auch das Grundstück der Deutschen Mission wurde beschossen, obwohl eine deutsche Fahne darüber wehte.
  15. Djevded Bey ist der Sohn und Nachfolger des ausgezeichneten Wali Tahir Pascha, der 16 Jahre lang im besten Einvernehmen mit den Armeniern als Gouverneur des Wilajets Wan in der Stadt gelebt hatte und Muhammedanern und Christen gleichermaßen gerecht geworden war.
  16. Inzwischen traf die Nachricht ein, daß Schwester Martha Kleiß am 30. Juli in Bitlis an Typhus gestorben ist.
  17. Auch auf dem Grundstück der deutschen Mission wurden 600 türkische Frauen und Kinder untergebracht.
  18. Dies wird auch von den Deutschen, die die Belagerung mit durchmachten, bestätigt.
  19. Diese zwei Bezirke, obgleich dem Sandschak Gendj angegliedert, gehören geographisch zu Sassun.
  20. „Deir-es-Sor“ am Euphrat ist nur von muhammedanischen Arabern bewohnt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: benachrichtig
  2. Vorlage: Die
  3. Vorlage: Cornal
  4. Vorlage: häten
  5. Vorlage: hauptächlich