Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Der Specialdraht
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 752
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[751] Der Specialdraht. Welche gewaltige Umwälzung der elektrische Telegraph auch in unserer Tagespresse hervorgebracht hat, bedarf keiner Erwähnung; eine Zeitung ohne die Mitwirkung von Funken und Draht ist jetzt eben so undenkbar wie eine Zeitung ohne Setzer und Drucker; unbedeutend aber ist die Rolle, die unser deutscher Journalismus zur Zeit noch den Telegraphen anweist, den wahrhaft ungeheuerlichen Diensten gegenüber, welche die amerikanischen und englischen Zeitungen von ihm fordern. Die New-Yorker Blätter namentlich leisten in dieser Beziehung Erstaunenswerthes, insbesondere während der Session des Congresses. So lange derselbe tagt, befördert der Draht Tag für Tag den Inhalt von zehn bis zwölf enggedruckten riesenhaften Zeitungscolumnen von Washington nach New-York, d. h. die Reden der Haupttheilnehmer an den Debatten, die Briefe der verschiedenen Specialcorrespondenten und die Berichte von sämmtlichen Unfällen, Verbrechen, Gerüchten und sonstigen Neuigkeiten, die man erlangen kann.

England steht zwar hinter diesen Bravourstücken zurück, indeß sind die Anstalten, welche die großen schottischen und irischen Tagesblätter machen, um ihren Lesern alles, was tagtäglich in London Mittheilenswerthes passirt, mit Blitzesschnelle zur Kenntniß zu bringen, immer merkwürdig und wunderbar genug. In London, als dem großen geistigen, staatlichen und materiellen Centrum des Reichen, besitzen drei irische und vier schottische Organe ihre sogenannten „Specialdrähte“, mit andern Worten, einen Telegraphendraht zwischen London und Dublin, oder London und Glasgow, wie nun gerade der Fall ist, dessen Benutzung von sieben Uhr Abends bis drei Uhr nächsten Morgens ausschließlich dem betreffenden Blatte zusteht. Zu solchem Zwecke vermiethen die Telegraphencompagnien ihre Drähte zu einem bestimmten hohen Preis an die Zeitungen und liefern das nöthige Telegraphistenpersonal, übernehmen aber keine weitere Verpflichtung oder Verantwortlichkeit.

Die Eigenthümer der Zeitungen selbst unterhalten in London ein ganzes Corps von Beamten. Reporter, Unterredacteure, Leitartikelschreiber, Specialcorrespondenten, sie Alle haben in London ihr Hauptquartier und jeder sein besonderes Departement, und was sie an Nachrichten gesammelt und mitzutheilen haben, das blitzt allnächtlich der Telegraph nach Schottland oder nach Irland, damit das liebe Publicum es schon am nächsten Morgen in seiner Zeitung lesen kann. Während das Parlament zusammen ist, liefert, wie man sich denken kann, Westminster die Hauptausbeute für diese Nachtarbeit. Bei wichtigen Verhandlungen werden die Reden sogar wörtlich nachgeschrieben und telegraphirt, und es ist mehr als einmal vorgekommen, daß, wenn Gladstone oder d’Israeli eine lange Rede hielten, die Setzer in Edinburgh oder Glasgow schon den ersten Theil derselben in die Form brachten, während der letzte noch gesprochen wurde. Auch ist es geschehen, dass, als 1866 Russell’s Reformbill noch in der Wagschale schwankte, die Edinburgher Redacteure der Sitzung im Unterhause beiwohnten, ihren Leitartikel darüber schrieben und in der Nacht noch nach der schottischen Hauptstadt telegraphirten, so daß er im Morgenblatte des nächsten Tages gedruckt erschien!

Man kann also sagen, daß die vornehmsten schottischen und irischen Blätter ihrem wesentlichen Inhalte nach in London geschrieben und häufig auch redigirt werden. Arbeit, Sorge und Angst, welche dabei in’s Spiel kommen, sind weit größer, als das Publicum sich vorstellt, und Alles muß mit Dampfeseile abgethan werden; die Oekonomisirung der Zeit ist hierbei eben so sehr Lebensfrage wie die Oekonomisirung des Raumes auf einem Kriegsschiffe. Oftmals entscheiden Minuten; in den ersten Morgenstunden laufen Zeit und Telegraph gleichsam um die Wette. Die kritische Periode fällt zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh; in diesen beiden Stunden strömt der größere Theil des im Laufe des Tages eingeheimsten und verarbeiteten Materials im Telegraphenzimmer zusammen, die Beamten kommen dann nicht mehr von den Apparaten hinweg. Vielleicht hat der Premierminister um halb elf Uhr eine große Rede beim Lord-Mayor-Bankett gehalten; vielleicht ist das Opernhaus in Feuer aufgegangen, nachdem die Vorstellung beendet war; vielleicht hat Bright gegen den Schluß einer langen Nachtsitzung [752] eine heftige Attake auf d’Israeli losgelassen; vielleicht sind in Tottenham Court Road oder sonst wo eine ganze Reihe Häuser eingestürzt, gerade als sich die Bewohner derselben zur Ruhe gelegt hatten. – Ereignisse, wie sie während der Londoner Saison fast allwöchentlich sich zutragen, die brühwarm nach Dublin und Glasgow gemeldet werden müssen, wo sie das Publicum bereits beim Frühstück zu genießen wünscht. Was dem Telegraphenbureau nach Mitternacht zugeht, das ist unfehlbar allemal von Wichtigkeit, denn unbedeutendere und uninteressantere Mittheilungen werden nach elf Uhr nicht mehr expedirt.

Besitzt der Telegraphist die gehörige Geschicklichkeit, so befördert er hundertundzwanzig Worte in sechszig Secunden und schlägt so auf der vierhundert englische Meilen langen Rennbahn zwischen London und Glasgow Mutter Zeit um eine Minute – in Berücksichtigung des Längenunterschiedes der beiden Orte. Der Correspondent, welchem das Referat einer späten Rede, der Bericht von der großen Feuersbrunst oder dem herzbrechenden Begebniß, von dem geheimnißvollen Vorfall oder dem brutalen Anfall auf eine vornehme oder gar „hohe“ Person obliegt, sitzt neben dem Telegraphisten am Apparat und schreibt seine rührenden oder erschreckenden Mittheilungen mit Hochdruckgeschwindigkeit nieder. Sobald er eine Seite gefüllt hat, reicht er sie dem Telegraphisten zu, um sie dem Drahte zu übermitteln, so daß, während Seite Zwei auf das Papier geworfen wird, Seite Eins bereits ihre Bestimmung erreicht hat, und so fort, bis die ganze Geschichte telegraphirt ist. In Glasgow hat die Redaction auch ihren Beamten auf dem Telegraphenbureau stationirt, der Seite für Seite in Empfang nimmt und in die Druckerei befördert. Auf diese Weise ist in vier Minuten, nachdem der Reporter in London seine Arbeit beendet hat, schon die Ueberschreibung der Depesche in Glasgow bewerkstelligt, eine Stunde darauf steht der Bericht gedruckt, und mit den Morgenzügen der Bahnen geht die Zeitung, welche ihn enthält, in die Welt hinaus. Drängt die Zeit noch mehr, so dictirt der Berichterstatter seinen Artikel unmittelbar dem Telegraphisten und mittelbar einem Collegen, der vierhundert englische Meilen davon in Glasgow oder Edinburgh „in stiller Mitternacht“ am Arbeitstische Wacht hält.

Aus diesem Allen scheint hervorzugehen, daß die Redactionen in Schottland und Irland nichts weiter zu thun haben, als das ihnen von London aus zugehende Manuscript in die Druckerei zu schicken und dafür zu sorgen, daß es rechtzeitig und so correct wie möglich in die Presse kommt. Das würde jedoch eine sehr irrige Annahme sein. Wie sorgfältig die verschiedenen Artikel auch in London verfaßt sind, wenn sie nach Glasgow oder Edinburgh oder Dublin kommen, befinden sie sich meistens in einem Zustande, für welchen man in England den technischen Ausdruck „Pie“ (Pastete) zu gebrauchen pflegt, durch die lange Reise oft völlig durcheinander geschoben und aus dem Zusammenhange gerissen; Sätze sind ausgelassen, Ueberschriften und Rubriken fehlen und das Ganze ist ohne Anordnung und ohne Interpunction. In London sind zwar die Mittheilungen in einzelnen Abschnitten, Satz für Satz expedirt worden, allein in Edinburgh oder Glasgow langen sie in einer endlosen und ungeschiedenen Masse an; ein Gegenstand mischt sich mit dem andern, und die Unterredacteure, in deren Departement dies Geschäft fällt, haben in der Regel die größte Mühe und müssen allen ihren Scharfsinn aufbieten, das Chaos zu entwirren und den Text in die rechte Verfassung zu setzen. Börsenschlußcourse der Fonds; gefühlloses Benehmen eines Waliser Pfarrers; Tod eines Cabinetministers; Gerücht vom Abgang des Premiers; Verzeichniß der Fastenprediger; Brutalität in Whitechapel; Einsturz eines Theils der Themseeinfassung; verwegener Straßenraub; Schiffbruch in Cornwallis; Hinrichtung in Preston – so läuft es wild durcheinander, gleich den Phantasien eines Fieberkranken, und der geplagte Unterredacteur in seinem dicht neben dem Setzersaale gelegenen Bureau hat kaum eine halbe Stunde Zeit, das tolle Durcheinander zu lichten und die gehörige Ordnung herzustellen!

Die Arbeit wird dadurch noch mehr erschwert und verwickelt, daß von Zeit zu Zeit Privatmittheilungen, insbesondere von hervorragenden politischen Persönlichkeiten, auf die man Rücksicht zu nehmen hat, einlaufen und sofort zum Abdruck kommen müssen. So läßt vielleicht Gladstobe oder Bright, mitten in der Hitze einer Debatte, dem betreffenden Londoner Subredacteur plötzlich den Wunsch ausdrücken, „für ihn zwei Columnen Petitsatz“ behufs Erörterung dieser oder jener eben auf dem Tapete befindlichen Frage „offen zu lassen“, und somit bleibt das endgültige Arrangement des Blattes suspendirt, bis seine Darlegung eingelaufen ist. Langen im Londoner Telegraphenzimmer Nachrichten an von mehr als gewöhnlichem Interesse, so wird die Depesche, mit deren Beförderung man soeben beschäftigt ist, ohne Weiteres unterbrochen und zunächst die wichtigere Mittheilung telegraphirt. Demgemäß kommt es öfters vor, daß die Ankündigung einer Ministerkrisis oder der Bericht eines Unfalls, durch welchen zwanzig Menschen das Leben verloren haben, oder die Anzeige vom Tode eines regierenden Hauptes und dergleichen mitten aus einem Referate über das Wetter und die Ernte oder über die letzten Wollmärkte herausgeschält werden müssen.

Während der Parlamentstagung haben die Specialdrähte wahrhaft Unglaubliches zu vollbringen. Gar oft müssen sieben Columnen Debatten im Verlaufe eines Abends in Westminster stenographirt, dann umgeschrieben, hierauf nach dem in der City in Threadneedlestreet – derselben Straße, wo sich die Bank von England befindet – gelegenen Telegraphenbureau gesandt, hier telegraphirt, in Glasgow oder Edinburgh übergeschrieben, für die Presse zurecht gemacht, gesetzt, corrigirt und gedruckt werden, um in der nächsten Morgenausgabe des Blattes erscheinen zu können. Zu dieser Zeit ist der Telegraphensaal der Schauplatz von Angst, Aufregung und Spectakel. Die Verhandlungen im „Hause“ haben vielleicht bis tief in die Nacht hinein gewährt und Haufen von Manuscript fluthen bis zum Thorschluß ins Bureau, zum Theil in unleserlichem Gekritzel. Der Bote, welcher die erste Rede in der Tasche hat, ist saumselig und erscheint erst eine Stunde später als der zweite Bote mit der zweiten Rede; drei Seiten aus dem wichtigsten Theile der wichtigsten Rede des Abends fehlen ganz; neue Boten müssen danach ausgesandt werden, und dazwischen regnet es Telegramme von Glasgow und Edinburgh, daß dort die Setzer warten! Den Beamten an den dreißig Apparaten läuft der Schweiß von der Stirn; die Unterredacteure sind in Verzweiflung; Manuscriptbündel in der einen Hand, die Abendblätter in der andern, den Bleistift hinter den Ohren, das Federmesser im Munde – so rennen sie von einem Telegraphisten zum andern, roth von Hitze und Aerger, streichen hier ein paar Sätze, fügen dort welche hinzu, lassen plötzlich mitten in einem Telegramm pausiren, um geschwind ein anderes zu entsenden, und verwünschen, während das Klappern der Instrumente und das Klingeln der Glocken die Ohren betäubt, den Telegraphen als eine Erfindung der Hölle. So geht es fort, bis mit dem grauenden Morgen London erwacht und die armen Telegraphisten, ohne der Wunder zu achten, die sie vollbracht, müde und matt nach Hause und zu Bette schleichen.

Ist das Parlament aber vertagt, jagen seine Mitglieder auf den schottischen Mooren oder lungern sie am Seestrande, steht Belgravia verödet, haben die Clubs sich entleert, schweigt die Politik, alsdann hat der Specialdraht ein paar Monate gute Zeit. Selbst in dem großen Verkehrsstrom von London beginnt dann das Meer der Neuigkeiten zu ebben. Dennoch wird dem Telegraphen nicht völlige Ruhe gegönnt; die armseligste Nachricht aus den Londoner Abendblättern muß der „Special“ nach Irland und Schottland tragen. Und so geschieht es, daß häufig Mittheilungen Hunderte von Meilen gesandt und der Ehre des Druckes gewürdigt werden, die man, wären sie ohne Kostenaufwand in Edinburgh oder Glasgow selbst den Redactionen zugegangen, einfach in den Papierkorb geworfen hätte. Was thut es? – man hat doch seinen „Specialdraht“!