Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Der Schwan des Paradieses
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aus: Zerstreute Blätter (Dritte Sammlung) S. 231–234
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Erscheinungsdatum: 1787
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
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[231]
Der Schwan des Paradieses.


Von Jugend an wandelte Henoch mit Gott und war ein stiller Betrachter: denn als Kind schon hatte ihn ein Engel ins Paradies geführt, wo das Licht wohnet, das Zeitlebens sein Inneres erleuchtete. Frühe las er in den Büchern, die ihm vom Himmel gesandt und nicht auf irdische Blätter geschrieben waren; er las im Buch der Sterne und aller Geschöpfe, daher man ihn nur den Betrachter, Idris, nannte.


Einst saß er einsam unter der rauschenden Ceder; da wehete stille Begeisterung ihn an: er sah das nahe Schicksal der Welt, die in Wasser untergehen sollte und den Tag des strafenden Richters. [232] „O daß ich, seufzte seine Seele, dies meinen Brüdern sagen und auch der Nachwelt kundthun könnte, was mein weissagender Geist erblickte.“ Siehe da ließ sich ein glänzender Schwan vom Himmel herab; dreimal umflog er des Betrachtenden Haupt: eine Feder entfiel seiner Schwinge und langsam kehrte er zurück zu den Wolken. Henoch kannte ihn: es war ein Schwan des Paradieses, den er einst in seiner Kindheit gesehen und geliebet hatte: er nahm die Feder und schrieb damit seine weissagenden Bücher der Zukunft.


Als er nun lange seine Brüder vergeblich gewarnet hatte und das göttliche Licht in ihm wieder an seinen Ort hinaufzusteigen begehrte, siehe da nahm er seinen Sohn zu sich und sprach: „die Tage meines Lebens sind zu Ende, dreihundert fünf und sechzig kurze Tage. Im Paradiese sprach mir einst ein Engel, daß ich als Jüngling [233] schon Dem näher treten sollte, den ich von Kindheit auf so gern in seinen Werken las. Vielleicht daß dir, mein Sohn, der Gütige den Rest von meinen irdischen Tagen zu deinen Tagen zählt.“ Er sprachs und segnete ihn und siehe da waren um ihn und hoben ihn sanft empor die Schwäne des Paradieses. Auf ihren Flügeln trugen sie ihn hinweg und Henoch war nicht mehr: er ward nicht mehr gesehen.


Und als sein Sohn Methusalem ihn mit seinem spähenden Blick vergebens in den Wolken des heiligen Berges suchte; da stand ein Mann vor ihm in glänzender Gestalt. „Ich war der Engel deines Vaters, sprach er, der ihn als Jüngling auferzog und schon als Kind zum Paradiese führte. Im Paradiese ist er jetzt, ein ewger Jüngling. Er hat viel Jahre erfüllet: denn er ist bald vollkommen worden; darum gefiel er Gott und war ihm lieb und ward weggenommen [234] aus dem Leben unter den Sündern.“ Er sprachs und berührte die Erde mit dem Stabe des Propheten, der seiner Hand entfallen war; siehe da stand ein blühender Mandelbaum, der früheste Bote des Frühlings. Noch ehe seine Blätter sprossen, mit nackten Zweigen treibet er Blüthen und verkündiget die fröhliche Zeit. Der Engel war verschwunden und als Methusalem die Jahre seines Vaters genoß und das höchste Alter der Erdgebohrnen erreichte, sahe er jährlich in diesem frühblühenden Mandelbaum die Jugend seines hinweggeblüheten Vaters.