Der Schlehdorn
Wer ihn kennt, auch dann kennt, wenn die Blätter den lauernden Dorn verdecken, der geht ihm aus dem Wege, denn Jedermann fürchtet sein heimtückisches Zerren am Kleide, welches ihm der Wind schadenfroh in das Garn treibt. Und dennoch gibt es im Jahre eine Zeit, wo wir Alle erwartungsvoll nach ihm blicken, wo wir den vom Spaziergange Heimkehrenden fragen: „Blüht der Schlehdorn noch nicht?“ Und wenn wir dann selbst hinausgehen und sehen schon von Weitem, daß das schwarzbraune Verhau seines steifen Gezweiges sich mit dem lockeren Blüthenschnee zu umweben beginnt, dann athmen wir freier, als fühlten wir uns nun erst von der letzten Fessel des Winters befreit. So erblicken wir in dem Schlehdorn geradehin einen Gewährsmann des Frühlings. Als ein echter Philister mag er nichts auf das Spiel setzen, ist er ein Anhänger der „vollendeten Thatsachen“. Als hätte er ein kostbares Gut zu verlieren, nimmt er nicht eher Antheil an der fröhlichen Revolution des Lenzes, des Sprengers von Millionen Kerkerpforten, als bis diese Revolution ein fait accompli ist. Und auch da lugt er anfangs mit spießbürgerlicher Zurückhaltung aus seinen tausend weißen Argusaugen hinaus in das neue Regiment, ob auch Alles sicher sei. Dann erst nimmt er Theil am junggewordenen Leben; denn die Blättchen seiner Blüthen sind bereits abgefallen, wenn er endlich auch seine grünen Blätter hervortreibt und zu schaffen beginnt für sein „kostbares Gut“, für seinen Beitrag zum Leben. Und was ist dies? – jene ungenießbare Frucht, für deren Geschmack es unserer Sprache an einem Worte fehlt; denn Herb und Sauer sind dafür noch unverantwortliche Schmeichelnamen. Die heiße Herbstsonne, welche den Saft der Trauben zum süßen Moste klärt, vermag nichts über die Früchte des Sauertöpfischen. Unversucht geht der naschhafte Knabe an den dunkelblauen Kugeln vorüber, welche sich an den bereits halb entlaubten Zweigen ihm darbieten. Er kennt sie und fürchtet einen zweiten Versuch. Was aber die Wärme nicht vermag, das erzwingt endlich zuletzt doch noch – der Frost. Wenn beinahe kein Blatt mehr an den Bäumen hängt und längst Niemand mehr nach Früchten sucht, dann verschrumpfen die endlich doch noch genießbar gewordenen Schlehen unbeachtet am kahlen Zweige. Zu spät! – Ja, du bist ein Philister, mein lieber Schlehdorn!
Starr und ungelenk erheben sich deine Glieder nur wenig über den Boden; hundert Mal nimmst du einen Anlauf, um mit freudig grünenden Zweigen wenigstens einen tüchtigen vollen Busch aus dir zu machen – aber hundert Mal fehlt es dir an der Thatkraft des ausharrenden Wollens und deine Vorsätze verkümmern zu kurzen steifen Dornen, ob deren dich alle Welt flieht.
Deine Unnahbarkeit hat dich auch zum Polizeimanne herabgesetzt. Wo man Menschen und Thiere abhalten will, da bist du der verscheuchende Wächter; auf den Wiesen bist du den Schweifenden die Fußangel, die ihn manierlich auf dem Pfade hält, und mit Strohbändern an den Stamm der Obstbäume gefesselt, mußt du deine Dornen den Nasen der Rehe und Hasen fühlbar machen, wenn sie der Hunger treibt, die Rinde abzunagen. Kein Schaf kommt ungerupft am Dornenbusch vorüber, es muß ihm seinen Tribut zahlen; und nachher kommt die Grasmücke und das Rothschwänzchen und sammeln die Wollflocken, um ihre Nestchen damit auszufüttern, welche tief versteckt in dem Schooße des Busches lauschen.
Wie es solch einem zähen Philister gar nicht anders zuzutrauen ist, so behauptet er trotz aller Mißhandlungen seinen Platz mit unverwüstlicher Beharrlichkeit. Alljährlich zum Polizeidienste abgehauen, treibt er alljährlich neue Schosse und dabei krallen sich seine knorrigen Wurzeln, immer weiter ausgreifend, in den Boden und so wird er nach Polizeiart nicht selten seinem Herrn und Meister selbst unbequem, indem er auch dessen Pfleglinge überwuchert und unterdrückt.
Da kommt dann wohl im Frühjahre das Söhnlein desselben heraus an die Dornhecke, wenn deren steifes Gezweig noch unverhüllt dasteht, um sich einen Spazierstock auszuersehen. Es ist eine Kunst, ohne Wunden an Kleid und Händen dem auserkornen, durch seine stramme Geradheit lockenden Schosse an den Leib zu kommen. Er wird aber dann noch nicht abgeschnitten. Der Knabe ist ja erst 12 Jahr und den Stock will er nach der Confirmation bei seinem ersten Gange als junger Weltbürger führen und will auch damit Aufsehen erregen. Ein alter Schäfer hat ihn gelehrt, wie das zu erreichen. Mit kluger Berechnung und ja nicht unterschätzend denkt er sich, wie groß er selbst nach 2 Jahren und wie groß also auch sein Spazierstock sein müsse. Auf diese ansehnliche Länge wird der auserwählte Schoß glatt ausgeästet. Nachdem dies saure Stück Arbeit vollbracht ist, kommt nun des alten Schäfers Kunst. In regelmäßigen Reihen werden den Schoß entlang von unten nach oben geführte, etwa messerrückentiefe Einschnitte gemacht, und allemal etwas aufgeklafft, und es bleibt dem Knaben nur noch eine Sorge – daß ein anderer Knabe den schönen schlanken Stock finden könne, ja finden müsse. Aber wird sich auch des alten Schäfers Kunst bewähren? Er hatte gesagt, die oberen wohlweislich nicht abgeschnittenen Zweige des Schosses würden nun die zwei kommenden Jahre den von ihnen gebildeten Saft unter der Rinde abwärts schicken, und so würde sich aus jedem Schnitt eine wulstförmige Narbe bilden. Der Alte hatte Recht, wie alte Schäfer in ähnlichen Dingen oft Recht haben, denn sie „beobachten.“ Der Knabe wird in zwei Jahren einen recht schönen Stock von dem Schlehdorn erhalten, und von seinen Cameraden viel darum beneidet werden.
Lassen wir uns diesen kleinen Dienst, den der Schlehdorn dem Knaben leistete, auffordern, nachzusehen, ob er nicht auch zu größeren Dienstleistungen fähig sei. Da muß uns ja wohl etwas einfallen, – aber freilich, daran hatten die Wenigsten gedacht. Der Schlehdorn bereitet nicht blos als Wiesenhüter den crinolingeschwellten Damen einen dornenvollen Pfad, sondern auch dem, der vor Allen am liebsten den kürzesten Weg geht – dem fallenden Tropfen. Fällt Euch nun, liebe Leser, der Beruf unseres Dornbusches ein?
Wie die Sonne am Morgenhimmel, so muß Euch jetzt der Ruhm desselben aufgehen. Wer jemals daran gedacht hat – und leider wie Wenige thun das! – die Bedeutung des Salzes durchzudenken, [304] der weiß auch, daß es in Deutschland Orte gibt, wo der Schlehdorn im höchsten Ansehen steht. Viele Tausend Geviertellen „Dornwand“ liefert vorzugsweise er in das Sparrwerk der Gradirhäuser. Zu haushohen Wänden aufgeschichtet, treibt er hier mit Millionen fallender Tropfen der Soole sein neckisches Spiel. Emporgehoben in das Gerinne des Gradirhauses, läuft die Soole aus zahlreichen kleinen Ausgußhähnchen wieder aus als wollte sie in Millionen Tropfen zertheilt auf dem kürzesten Wege zu ihrer unterirdischen Ursprungsstätte zurückkehren. Kaum aber haben sich die diamantblitzenden Tropfen oben losgerungen, als sie sofort von den rauhen Armen der Dornwand wieder aufgefangen werden, und lange dauert es, ehe sie, von einem Dornzweig dem andern zugeleitet, unten ankommen. Viele kommen auch gar nicht mehr hinunter, sondern werden unterwegs von Sonne und Wind aufgezehrt und genöthigt, ihren Salzgehalt als Erbe an diejenigen Tropfen abzugeben, welche sich glücklich durch das Dorngewirr hindurch gearbeitet haben.
Ein sonderbarer Dienst das, den der Dornbusch in der Oekonomie der menschlichen Gesellschaft leisten muß. Aber auch ein großer, ein wichtiger Dienst. Brauche ich ihn erst noch näher zu erklären? Daß er durch Unterstützung der Verdampfung der fallenden Soole diese durch Verdichtung salzreicher macht und dabei von den in der Soole aufgelösten fremdartigen Stoffen reinigt, die sich als dicke krystallinische Rinde auf ihm absetzen, das ist an sich nicht die größte Hälfte seines Dienstes. Wir würden ganze Waldungen verfeuern müssen, wollten wir die ungradirte, d. h. die oft sehr salzarme Soole zu Salz versieden. Die erspart uns der Schlehdorn, und was das sagen will, das weiß der zu würdigen, der im Walde mehr als die Holzquelle erblickt.
Wir sehen nun den philiströsen Burschen mit günstigern Blicken an, und freuen uns doppelt über seinen Blüthenschnee, wenn dieser so unvermittelt um seine blätterlosen schwarzbraunen Zweige zu schweben scheint, und uns sagt: „Der Lenz ist wieder da!“