Der Mord im Essener Stadtwalde

Textdaten
<<< >>>
Autor: Hugo Friedländer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Mord im Essener Stadtwalde
Untertitel:
aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2, S. 119–146
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Hermann Barsdorf
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
Der Mord im Essener Stadtwalde.

Trotz aller Fortschritte der Kultur und Zivilisation gehören Mordtaten leider noch immer zu den Alltäglichkeiten. Gelingt es, einen Verdächtigen zu fassen, dann hat die Justitia oftmals große Mühe, dem Angeklagten die Tat nachzuweisen. Daß aber eine Schwurgerichtsverhandlung geführt werden muß, um dem Angeklagten den Nachweis zu führen, daß er, trotz seiner gegenteiligen Behauptung, nicht der Mörder ist, dürfte in den gerichtlichen Annalen einzig dastehen. Im Sommer 1906 weilte in der Metropole der Eisen- und Kohlenindustrie, in Essen Ruhr‚ die 39jährige unverheiratete englische Sprachlehrerin Madelaine Lake zum Besuch bei einer befreundeten Familie. Die Dame war eine Verwandte des englischen Königshauses. Sie wohnte in Bredeney‚ einem Vorort Essens, in der sehr eleganten, idyllisch belegenen Villa Grünerveller. Am 1. Oktober 1906 machte Miß Lake in Gesellschaft einer Frau Brockhausen in der Stadt Essen mehrere Einkäufe. Gegen 6 Uhr abends begaben sich beide Damen auf den Heimweg. In der Nähe des Stadtwaldes verabschiedeten sie sich. Die Miß ging durch den Stadtwald, kam aber nicht mehr zum Vorschein. Einige Tage später wurde sie in einem Gebüsch des Stadtwaldes ermordet aufgefunden. Die Leiche wies zahlreiche Verletzungen und auch einige Kratzwunden auf. Der Tod war nach ärztlichem Befund durch Zertrümmerung des Schädels eingetreten. Da Geld und Wertgegenstände bei der Leiche vorhanden waren, so konnte von einem Raubmord keine Rede sein. Laut ärztlicher Feststellung war auch kein Lustmord begangen worden. Die Miß weilte erst seit einigen Wochen in Essen. Sie war eine sehr gutmütige, ruhige Person, es war daher nicht anzunehmen, daß ein Mord aus Rache vorlag. Es wurden mehrere verdächtige Leute verhaftet, aber alle sehr bald wieder freigelassen, da sich keinerlei Anhalt für deren Täterschaft ergab. In der Nacht vom 9. zum 10. Februar 1907 trat in der Brandstraße in Essen ein gut gekleideter junger Mann an einen Schutzmann heran mit der Aufforderung, ihn zu verhaften. Er habe am Abend des 1. Oktober 1906 die Engländerin Miß Lake im Essener Stadtwalde ermordet. Der Beamte glaubte zunächst, es mit einem Irrsinnigen zu tun zu haben. Da der junge Mann aber einen sehr ruhigen Eindruck machte und seine Selbstbezichtigung wiederholte, führte ihn der Schutzmann zur nächsten Polizeiwache. Dort gab der junge Mann folgendes zu Protokoll: Er heiße Alfred Land. Seit 11/2 Jahren sei er auf dem Essener Kohlensyndikat als Bureaubeamter beschäftigt gewesen. Am Abend des 1. Oktober 1906 sei er in der Nähe des Stadtwaldes spazieren gegangen. Da sei er zwei gleichaltrigen jungen Leuten begegnet. Er habe sich diesen angeschlossen. Plötzlich haben sie die Miß Lake getroffen. Sie beschlossen, die Dame zu notzüchtigen. Da sich die Dame aber heftig sträubte, so haben sie sie gewaltsam ins Gebüsch geschleppt, und um sie am Schreien zu verhindern, ihr den Hals zugedrückt. Plötzlich haben sie gesehen, daß die Dame tot war. Sie seien darauf davongelaufen und sich gegenseitig das Versprechen gegeben, sich nicht zu verraten. Ende Dezember 1906 haben sie beschlossen, um einer etwaigen Verhaftung zu entgehen, nach Belgien auszuwandern. Er (Land) habe in Brüssel eine Stellung als Kellner angenommen. Seine beiden Begleiter, von denen er nur wisse, daß sie mit Vornamen Karl und Heinrich heißen, habe er sehr bald gänzlich aus dem Auge verloren. Er habe von ihrem Verbleiben keine Ahnung. Sein Gewissen habe ihm keine Ruhe gelassen, er sei deshalb zurückgekommen, um die furchtbare Tat, die er begangen, zu sühnen. Es wurde selbstverständlich der Geisteszustand des jungen Mannes in Zweifel gezogen. Obwohl der Essener Gerichtsarzt Dr. Klein den jungen Mann nach längerer Beobachtung für vollständig geistig gesund erklärte, wurde er trotzdem noch sechs Wochen zur Beobachtung seines Geisteszustandes der Irrenanstalt Grafenberg überwiesen. Die Anstaltsärzte erklärten den jungen Mann ebenfalls für vollständig geistig gesund. Da der junge Mann nach wie vor seine Selbstbezichtigung in allen Einzelheiten mit größter Entschiedenheit aufrecht hielt und auch seine Angaben mit dem Leichenbefund im allgemeinen übereinstimmten, so wurde die Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben. Er wurde am 23. September 1907 vor das Schwurgericht des Landgerichts Essen gestellt. Er war der Sohn eines nicht unbemittelten Kohlenhändlers aus Breslau, der jedoch schon vor mehreren Jahren verstorben war. Seine Familie hatte den Essener Rechtsanwalt Holtermann mit der Verteidigung betraut. Als ich diesen einige Tage vor der Verhandlung besuchte, sagte er mir: „Mein größter Gegner ist der Angeklagte. Er hat mir aus dem Untersuchungsgefängnis geschrieben: Ich solle doch alles aufbieten, damit die Verhandlung gegen ihn so schnell als möglich stattfindet, und alles unterlassen, was geeignet wäre, seine Schuld in Zweifel zu ziehen. Er sei der Täter und wolle seine Schuld büßen. Er habe den sehnlichsten Wunsch, so schnell als möglich hingerichtet zu werden.“ – Der Angeklagte, ein hübscher, mittelgroßer, kräftig gebauter junger Mann, mit einem Anflug von Schnurrbart, machte keineswegs den Eindruck eines Geistesgestörten. Vorsitzender Landgerichtsdirektor Dr. Fromm: Angeklagter Land! Ich muß Sie ermahnen‚ die volle Wahrheit zu sagen. Wenn Sie den Mord nicht begangen haben und trotzdem sich als Täter bekennen, so begehen Sie auch eine große Sünde, denn Sie führen die Justiz irre und tragen dazu bei, daß der wirkliche Täter der Gerechtigkeit entzogen wird. Wenn Sie aber der Täter waren, so sagen Sie offen die Wahrheit. – Der Angeklagte schwieg. Sodann bemerkte der Angeklagte auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei am 27. September 1886 in Breslau geboren und evangelischer Konfession. Er habe in Breslau die Elementarschule besucht und sei alsdann nach Dortmund in die kaufmännische Lehre gekommen. Dort wurde er wegen Diebstahls mit einem Verweise bestraft. Er wurde später in Breslau wegen Betruges und Urkundenfälschung zu vier Monaten und einige Zeit später vom Landgericht Köln wegen Unterschlagung zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt. – Vors.: Nun, Angeklagter, haben Sie die Miß Madelaine Lake getötet? Angekl. (mit ruhiger, fester Stimme): Jawohl, ich habe es getan. Der Angeklagte gab hierauf auf Befragen des Vorsitzenden an: Am 1. Oktober 1906 sei er bis 6 Uhr abends im Bureau gewesen, er sei alsdann nach Bredeney spazieren gegangen und sei zwei gleichaltrigen, gutgekleideten jungen Leuten begegnet. Er habe sich den jungen Leuten angeschlossen. Sehr bald sahen sie eine Dame kommen. Diese wollten sie vergewaltigen. Da die Dame sich aber sträubte, so habe er und der eine junge Mann, der mit Vornamen Karl hieß, die Dame gewaltsam in den Stadtwald geschleppt. Um sie am Schreien zu hindern, habe er der Dame den Hals zugedrückt. – Vors.: Hat die Dame geschrien? – Angekl.: Sie hat einige englische Laute von sich gegeben. – Vors.: Wie alt war die Dame etwa? – Angekl.: Etwa 25 Jahre. – Vors.: Die jungen Leute, die sich Ihnen angeschlossen hatten, kannten Sie nicht? – Angekl.: Nein, ich weiß nur, daß der eine mit Vornamen Karl, der andere Heinrich hieß. – Vors.: Wie sahen die jungen Leute aus? – Angekl.: Karl war in meiner Größe und brünett, Heinrich etwas kleiner und blond. – Vors.: Hat sich denn auch Heinrich mit der Miß Madelaine zu schaffen gemacht? – Angekl.: Nein, Heinrich blieb am Rande des Stadtwaldes stehen. – Vors.: Haben Sie die Miß vergewaltigt? – Angekl.: Nein, ich war genötigt, der Dame mit beiden Händen den Hals zuzuhalten. – Vors.: Deshalb kamen Sie nicht zur Vergewaltigung? – Angekl.: Nein. – Der Angeklagte beschrieb nun die Stelle, an der er die Miß in den Stadtwald gezogen habe, er habe sie rechts in den Wald hineingezogen. – Vors.: Die Leiche ist aber links im Stadtwalde gefunden worden. Sie haben auch, als Sie sich bei der Polizei meldeten, gesagt, Sie haben die Miß links in den Stadtwald gezogen. – Angekl.: Dann habe ich mich geirrt. Mir ist erinnerlich, daß ich die Miß rechts in den Wald gezogen habe. – Vors.: Sie sind an dem Mordtage sehr aufgeregt gewesen? – Angekl.: Besonders nicht. – Vors.: Wann sahen Sie, daß die Miß tot war? – Angekl.: Nachdem wir die Miß niedergelegt hatten. – Vors.: Legten Sie die Dame aufs Gesicht oder auf den Rücken? – Angekl.: Auf den Rücken. – Vors.: Die Leiche wies Kratzwunden auf und außerdem war der Schädel zertrümmert. Dadurch ist der Tod eingetreten. – Angekl.: Ich habe die Miß weder gekratzt, noch habe ich ihr den Schädel eingeschlagen. – Vors.: Soll das Karl getan haben? – Angekl.: Das ist möglich. – Vors.: Kamen Sie nach der Tat mit den beiden jungen Leuten oftmals zusammen? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Wie kommt es aber, daß Sie absolut nicht wissen, wer die jungen Leute waren und wie sie hießen? – Der Angeklagte schwieg. – Vors.: Nun wollen Sie gerade am Silvester Essen verlassen haben? Wohin begaben Sie sich? – Angekl.: Nach Belgien. – Vors.: Wovon lebten Sie? – Angekl.: Ich hatte zunächst noch etwas Geld, später nahm ich in Brüssel eine Kellnerstellung an. – Vors.: Und weshalb kamen Sie nach Essen zurück? – Angekl.: Weil mir das Gewissen schlug. – Vors.: Deshalb kamen Sie nach Essen zurück, um sich bei der Polizei zu melden? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Nun ist aber festgestellt, daß Sie im Januar in Koblenz gewesen sind? – Angekl.: Ich bin niemals in Koblenz gewesen. – Vors.: Sie haben in Koblenz in einem Hotel gewohnt und dort auf Ihren Namen einen Rock versetzt? – Angekl.: Das ist falsch. – Vors.: Sie sind später in Dortmund gewesen und haben von dort je eine Karte an zwei in Essen wohnende Mädchen geschickt? – Angekl.: Das ist auch nicht richtig. – Vors.: Die Handschrift auf diesen Karten ähnelt aber doch der Ihrigen? – Angekl.: Das gebe ich zu; ich habe die Karten aber nicht geschrieben. – Vors.: Sie haben außerdem angegeben, daß Sie mit Karl und Heinrich in Brüssel in dem Hotel „Stadt Verviers“ in einem Zimmer, in dem drei Betten standen, gewohnt haben? – Angekl.: Das ist richtig. – Vors.: Laut polizeilicher Feststellung haben zur angegebenen Zeit drei junge Leute nicht in diesem Hotel gewohnt, es gibt auch dort kein Zimmer, in dem drei Betten standen. – Der Angeklagte schwieg. – Vors.: Sie sollen vor und auch nach dem Morde reichlich alkoholische Getränke getrunken haben? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Hatten Sie am Tage der Tat getrunken? – Angekl.: Nein. – Vors.: Sie haben mehrere Liebschaften gehabt? – Angekl.: Ich verkehrte aber mit den Mädchen nur gesellschaftlich. – Vors.: Sie sollen die Mädchen angedichtet haben? – Angekl.: Jawohl. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) – Vors.: Sie sollen zu einem Mann auf Befragen gesagt haben: ich bin es nicht gewesen‚ ich kenne aber den Mörder und schweige, weil ich Geld bekommen habe. – Angekl.: Das sagte ich, um den vielen Fragen zu entgehen.

Hierauf wurde Frau Lettau, eine sehr alte Frau, die am 2. Oktober 1906, nachmittags, die Leiche im Walde entdeckt hatte, als Zeugin vernommen. Sie schilderte den Leichenbefund in eingehender Weise. Ein junger Mann von etwa sechzehn Jahren, der sich hinzugesellte, sagte: Das ist der junge Herr Land gewesen, der kommt täglich hier vorüber. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Gerichtsarzt Dr. Klein (Essen) bekundete als Zeuge und Sachverständiger: Die Leiche der Ermordeten wies verschiedene Blutspuren auf. Sie war eine mittelgroße Person von etwa 40 Jahren. Die Ränder beider Augen waren stark blutunterlaufen. Die Ermordete hatte noch bei der Sektion Handschuhe an. An den Fingern beider Hände fanden sich Nägeleindrücke, die darauf schließen lassen, daß zwischen der Ermordeten und dem Täter ein Kampf stattgefunden habe. Die rechte Schädelseite war stark blutunterlaufen, dies ist augenscheinlich von einem heftigen Schlag mit einem harten Gegenstand verursacht worden. – Für den folgenden Teil des Gutachtens wurde wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen, den Vertretern der Presse jedoch der Zutritt gestattet. Der Sachverständige bemerkte ferner: Der Versuch eines Sittlichkeitsverbrechens sei gemacht worden. Die Ermordete habe sich augenscheinlich sehr gewehrt. Es seien auch Würgungsversuche gemacht worden. Der Tod sei aber nicht durch Erstickung, sondern durch die Schädelverletzung, die eine innere Gehirnblutung zur Folge gehabt habe, eingetreten. Der Angeklagte habe gesagt: Er wisse von einer Schädelverletzung nichts, er habe der Ermordeten nur den Hals zugehalten. Es sei aber möglich, daß sein Komplice Karl den Schlag auf den Schädel geführt habe. Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts bemerkte der Gerichtsarzt: Die Schädelverletzung sei der Ermordeten lebend beigebracht worden, sie habe augenscheinlich den Tod herbeigeführt.

Gerichtsarzt Dr. Conrad: Die Ermordete war eine kleine, sehr schmächtige und zart gebaute Person. Er sei der Ansicht, daß die Blutspuren in der Wäsche von den erlittenen Verletzungen herrührten. Der Sachverständige schloß sich im übrigen dem Gutachten des Gerichtsarztes Dr. Klein vollständig an.

Es wurden hierauf mehrere Zeugen vernommen, die am 1. Oktober 1906 zur fraglichen Zeit die Rellinghauser Chaussee, in der Nähe des Schwarzen Weges, passiert hatten. Die meisten Zeugen waren einer Dame begegnet, hinter der ein Mann in Arbeiterkleidung ging. Einige Zeugen haben einen Schrei gehört, der sich zweimal wiederholt habe.

Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wurde beschlossen: am folgenden Tage im Essener Stadtwalde eine Ortsbesichtigung vorzunehmen. – Ein prächtiger Herbstmorgen lachte am 24. September 1907 über der lebhaften Industriestadt Essen. Eine zahlreiche Menschenmenge flutete schon frühzeitig nach dem ziemlich entfernt vom Weichbild der Stadt belegenen Stadtwalde. Der Erste Staatsanwalt Dr. Eger und die Mitglieder des Gerichtshofes kamen im Automobil hinausgefahren. Die Geschworenen hatten sich einen Kremser gemietet. Die zahlreich zum Lokaltermin geladenen Zeugen, die Vertreter der Presse und das Publikum hatten sich der elektrischen Straßenbahn bedient. Wir waren genötigt, an der „Flora“ (Rüttenscheider Straße) auszusteigen und alsdann den Schwarzen Weg entlang, nach dem Stadtwald zu Fuß zu gehen. Dort war eine starke Polizeimacht unter dem Kommando der Polizeiwachtmeister Mirus und Fischer zu Fuß und zu Pferde postiert. Ohne Eintrittskarte, die vom Ersten Staatsanwalt den Vertretern der Presse gegeben waren, wurde niemand durch die Polizeikette durchgelassen. Der Angeklagte wurde von Polizeibeamten ungefesselt in einem geschlossenen Wagen (Landauer) nach dem Stadtwalde gebracht. Der Angeklagte machte den Eindruck eines durchaus noblen jungen Mannes. Er trug einen schwarzen, feinen Gehrock, eleganten, schwarzen, steifen Hut und tadellosen Stehkragen. Er legte eine geradezu bewundernswerte Ruhe an den Tag. Trotz polizeilicher Absperrung, die im übrigen sehr liberal gehandhabt wurde, hatte sich ein ungemein zahlreiches Publikum eingefunden, um dem seltenen Schauspiel einer Gerichtsverhandlung im Walde und auf einer sehr staubigen Kohlenchaussee beizuwohnen.

Die Zeugenvernehmung begann gegen 91/2 Uhr am Heideschlößchen und zog sich durch den Wald hindurch bis fast zur Rüttenscheider Straße hin. Die Zeugen erzählten ihre Erlebnisse vom Nachmittag des 1. Oktober. Einer Anzahl Zeugen war die ermordete Miß begegnet, hinter ihr sei ein junger Mann gegangen. Bezüglich des letzteren gingen die Aussagen ziemlich auseinander. Einige waren der Meinung, der junge Mann habe dem Angeklagten in Figur, Haltung, Kleidung und auch Gesicht ähnlich gesehen, andere hielten es für ausgeschlossen, daß der junge Mann der Angeklagte war. Einige Zeugen waren einem jungen Manne begegnet, der von der Mordstätte hergekommen und fluchtartig schnell die Chaussee entlang gelaufen sei. Dieser junge Mann habe, wie die Zeugen bekundeten, an Haltung und Figur dem Angeklagten ähnlich gesehen. Noch mehrere andere Leute, denen die Zeugen begegnet waren, wurden als verdächtig bezeichnet. Ein Mann soll, als er bei drei Telegraphen-Assistenten vorüberging, zu seinem Begleiter gesagt haben: „Dreh’ dich nicht um, die kennen mich.“

Die Mordstätte, d. h. der Baum, unter dem die Ermordete gefunden wurde, war durch einen in den Baumstamm eingeschnittenen Totenkopf und ein Kreuz kenntlich gemacht. Der Angeklagte, der zwischen zwei Polizeisergeanten einherschritt, wurde zunächst, vom Heideschlößchen kommend, rechts in den Wald und zwar an die Stelle geführt, an der er das Verbrechen begangen haben wollte. – Vors.: Angeklagter, ich muß ihnen bemerken, daß die Leiche links im Walde, also hier gerade gegenüber gefunden wurde. Irren Sie sich vielleicht? – Angekl.: Ich glaube mich nicht zu irren, ich habe die Miß rechts in den Wald an diese Stelle gezogen. – Vors.: Das ist doch aber nicht möglich, die Leiche ist links gefunden worden. Sie irren sich vielleicht doch? – Angekl.: Mir ist erinnerlich, daß ich die Miß nach rechts an diese Stelle gezogen habe, ein Irrtum ist aber nicht ausgeschlossen.

Darauf begab man sich links in den Stadtwald an die Stelle, an der die Ermordete gefunden wurde. Man war genötigt, einen doppelten Drahtzaun zu überschreiten, ehe man in den Wald kam; der Drahtzaun war nach dem Morde gezogen worden. Die Mordstätte sah vollständig kahl aus, sie war, wie mitgeteilt wurde, im vorigen Jahre mit dichtem Farrenkraut bewachsen, das gewissermaßen ein Gebüsch bildete. Ein reitender Polizeisergeant stieß dreimal einen Schrei aus, um festzustellen, wie weit das Schreien der Ermordeten, einer schmächtigen, zartgebauten Dame, der der Täter den Hals zugedrückt haben will, gehört worden sei. Das Schreien des Polizeisergeanten wurde erklärlicherweise sehr weit vernommen. Bei dieser Gelegenheit will ich mitteilen, daß der Angeklagte ein sehr kräftig gebauter Mensch war, der wohl imstande gewesen wäre, eine zartgebaute Frauensperson zu erwürgen.

An der Mordstätte wurde nochmals die alte Frau Lettau, die die Leiche am 2. Oktober 1906, nachmittags gegen 31/2 Uhr entdeckt hatte, vernommen. Die alte Frau war im Walde mit Holzsuchen beschäftigt. Sie fand zunächst einen Damenhut und einige Schritte weiter zwei Hutnadeln. Dicht dabei im Gebüsch, inmitten dichtem Farrenkraut, entdeckte sie die Leiche. In der Nähe stand ein junger Mann, der dem Angeklagten im Ansehen, Figur, Haltung und Kleidung sehr ähnlich gesehen habe. Ob es der Angeklagte war, könne sie nicht sagen. Sie habe den jungen Mann in ihrem Schreck herbeigerufen und ihm gesagt: er solle die Polizei holen. Der junge Mann habe geantwortet: Dazu habe ich keine Zeit, ich muß jetzt nach Hause eilen, ich wohne sehr weit. Aber wenn die Polizei kommt, dann bin ich auch wieder hier. Der junge Mann hatte ihr ein kleines Kästchen übergeben. Ob letzteres der Ermordeten gehörte, könne sie nicht sagen. Sie habe nicht gesehen, daß der junge Mann, der vor ihr ging, sich gebückt habe. Der junge Mann habe sich nicht wieder sehen lassen. Etwa eine Stunde später sei sie einem jungen Menschen begegnet, der auf Zeche Langenbrahm arbeitete. Der junge Mann mochte etwa 16 Jahre alt gewesen sein. Als sie diesem ihre Erlebnisse erzählte, sagte er: Der junge Mann wird der junge Herr Land gewesen sein, der geht täglich durch den Wald. – Vors.: Ist das die volle Wahrheit, Frau Lettau, können Sie das auf Ihren Eid nehmen? – Zeugin: Das ist die volle Wahrheit. – Vors.: Angeklagter, sind Sie am Nachmittage des 2. Oktober hier an der Mordstätte gewesen? – Angekl.: Nein, ich bin seit dem Tage des Mordes niemals mehr im Stadtwalde gewesen, ich graulte mich, hinzugehen. – Vors.: Es ist eigentümlich, Frau Lettau, daß der von Ihnen bezeichnete etwa 16jährige junge Mann, der auf Zeche Langenbrahm gearbeitet haben soll, nicht aufzufinden ist. – Frau Lettau: Ich kann nichts anders, als die Wahrheit sagen.

Der Vorsitzende schritt mit den Zeugen noch einige Male die Chaussee entlang, um teils die Vernehmungen zu wiederholen, teils um die Entfernungen abzumessen. Die Sonne sandte ihre glühenden Strahlen auf die unter freiem Himmel stattfindende Gerichtsverhandlung.

Sämtliche Prozeßbeteiligten, aber auch die Berichterstatter und die vielen Polizeibeamten waren merklich erschöpft, als gegen 111/2 Uhr mittags der Vorsitzende den Lokaltermin für beendet erklärte. – Nachmittags wurde die Verhandlung im Schwurgerichtssaale fortgesetzt. Bureaubeamter Mette bekundete als Zeuge: Am 2. Oktober 1906, nachmittags gegen 31/2 Uhr, sei er durch den Stadtwald gegangen. Da sei er plötzlich von einer alten Frau angerufen worden. Die Frau habe ihm die von ihr entdeckte Leiche gezeigt. Neben der Leiche lag ein Kästchen; er hob es auf und übergab es der alten Frau. – Vors.: Frau Lettau, war das der junge Mann? – Zeugin: Jawohl, das war er, ich habe ihn sofort, als er den Saal betrat, wieder erkannt. – Schmied Heinrich Hackstein: Am 1. Oktober nachmittags, kurz nach 7 Uhr, sei er in Gesellschaft seines Bruders den Schwarzen Weg entlang gegangen; da habe er drei laute Schreie gehört, die aus dem Stadtwalde kamen. Es machte den Eindruck, als ob jemand gewürgt werde. Die Schreie seien ihm derartig in die Glieder gefahren, daß er furchtbar erschrocken sei. Er habe, als er nach Hause kam, seine Wahrnehmungen sofort seiner Mutter erzählt. – Frau Luise Schulz: Sie sei am fraglichen Nachmittag zwischen 6 und 7 Uhr den Schwarzen Weg entlang gegangen. Da sei sie einem sehr großen Herrn mit flottem Schnurrbart nebst einer kleinen Dame begegnet. Der Herr hatte seine Hand um die Taille der Dame gelegt. Das Paar unterhielt sich sehr lebhaft und begab sich querfeldein in das Gebüsch. – Vert.: Sträubte sich die Dame, in das Gebüsch zu gehen? – Zeugin: Keineswegs. – Frau Luise Großmann bestätigte die Bekundung der Vorzeugin. Sie habe das Paar für ein Liebespaar gehalten. – Frau Willasch hatte dieselbe Wahrnehmung gemacht. Die Dame trug in der rechten Hand ein Täschchen; sie war schwarz gekleidet und sehr schlank. – Vors.: Wollte die Dame in den Busch hineingehen? – Zeugin: Sie wollte so recht nicht. – Frau Gustenhofer: Am Nachmittag des 1. Oktober 1906, etwa Viertel vor 7 Uhr, sei sie am Schwarzen Weg zwei gut gekleideten Herren und hinter diesen einer dunkel gekleideten Dame begegnet. Auf dem Weg nach der Flora zu habe sie einen besser gekleideten Herrn gesehen. – Frau Klara Gustenhofer hatte dieselben Wahrnehmungen wie ihre Schwägerin gemacht. – Streckenwärter Schulte hatte ebenfalls das angebliche Liebespaar in das Gebüsch gehen sehen. Er habe außerdem Niemer und v. Hagen gesehen. Nachdem er seine Wahrnehmungen der Polizei angezeigt hatte, habe ihm v. Hagen gedroht, ihm die Knochen entzwei zu schlagen, wenn er auch hinter Schloß und Riegel kommen sollte. – Fouragehändler Neumann: Er habe in der Nähe der Mordstätte zwei Männer gesehen, die Niemer und v. Hagen gewesen sein können. Er habe sie aber in der Dunkelheit nicht genau sehen können. Kurz vor 7 Uhr habe er aus der Gegend der Mordstätte einen Pfiff gehört, der sofort erwiedert worden sei. – Polizeisergeant Heiter: Ein Feuerwehrmann habe ihm erzählt: Am 1. Oktober nachmittags sei an der Rüttenscheider Chaussee ein junger Mann in sehr aufgeregter Weise angelaufen gekommen; er sei auf die elektrische Straßenbahn gestiegen und nach Essen gefahren. Eine Anzahl Frauen bestätigte diese Erzählung. – Polizei-Inspektor Meyer und Kriminalkommissar Krugmeier bekundeten‚ daß bezüglich des aufgeregten jungen Mannes, der auf die elektrische Straßenbahn gestiegen sein soll, die eingehendsten Nachforschungen, aber vollständig ergebnislos, gemacht worden seien.

Unter allgemeiner Spannung wurde hierauf der 37jährige Schlosser August Niemer‚ der wegen Verdachts des Mordes an der Miß Lake verhaftet war und gegen den noch die Untersuchung schwebte, als Zeuge in den Saal gerufen. Die Vereidigung des Zeugen wurde ausgesetzt. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei am 1. Oktober nachmittags nach 6 Uhr mit v. Hagen im Stadtwald gewesen. Sie haben eine Zeitlang dort gesessen und Schnaps getrunken. – Mehrere Leute bekundeten auf Befragen, daß sie zwei Leute mit einer Schnapsflasche am Rande des Waldes haben sitzen sehen. – Vors. (zu Niemer): Haben Sie einen Schrei gehört? – Zeuge: Nein. – Vors.: Aber eine ganze Anzahl Personen hat aus bedeutend größerer Entfernung mehrere Schreie gehört? – Zeuge: Ich habe nichts gehört. – Vors.: Haben Sie an jenem Abend den Angeklagten in der Nähe des Stadtwaldes gesehen? – Zeuge: Nein. – Vors.: Kennen Sie den Angeklagten? – Zeuge: Nein. – Vors.: Sie haben ihn nie gesehen? – Zeuge: Nein. – Vors.: Sie sollen es sich zur Aufgabe gemacht haben, Liebespärchen im Walde aufzustöbern? – Zeuge: Aufgestöbert nicht, aber beobachtet. – Vors.: Sie sollen sogar einem Liebespärchen mit dem Revolver gedroht haben? – Zeuge: Mir nicht bewußt. – Erster Staatsanwalt und Verteidiger erklärten, daß sie keine Fragen an den Zeugen zu stellen haben. – Vors.: Ich habe aber noch eine Frage: Ich mache Sie darauf aufmerksam, Zeuge Niemer, daß Sie auf die folgende Frage die Antwort verweigern können, wenn Sie Ursache haben, zu befürchten, daß Sie sich dadurch einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen. Ich frage Sie also, stehen Sie in irgendeiner Beziehung zu dem Morde der Miß Lake? – Zeuge: Nein. – Vors.: Kennen Sie den Mörder? – Zeuge: Nein. – Vors.: Haben Sie oder van Hagen den Mord begangen? – Zeuge: Nein. – Der folgende Zeuge, Schreiner van Hagen, wurde ebenfalls unter Aussetzung der Vereidigung vernommen. Er gab zu, am 1. Oktober abends den Schwarzen Weg entlang gegangen zu sein, er erinnere sich aber nicht, am Rande des Waldes mit Niemer gesessen zu haben. – Arbeiter Marzina: Er habe am 1. Oktober nachmittags dem Niemer umziehen helfen. Alsdann sei er mit Niemer und van Hagen nach dem Alfredusbad und von dort den Schwarzen Weg entlang gegangen. – Vors.: Wissen Sie, wer die Miß Lake ermordet hat? – Zeuge: Nein. – Steiger Markgref von Zeche Langenbrahm: Er habe bei den auf Zeche Langenbrahm beschäftigten jungen Leuten die eingehendsten Nachforschungen angestellt, aber den von der Zeugin Lettau bezeichneten jungen Mann nicht feststellen können. –

Am dritten Verhandlungstage sah der Angeklagte furchtbar blaß und elend aus. Er saß niedergeschlagen und in sich zusammengesunken da. Er hatte in den letzten fünf Nächten nicht geschlafen. Seinem Verteidiger hatte er erklärt: Eine Freisprechung könne ihm gar nichts nützen, denn er sei ohnedies aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen; er könne sich nirgends mehr sehen lassen. Man solle ihn entweder zeitlebens ins Gefängnis sperren oder hinrichten. Nach einigen von den Prozeßbeteiligten gestellten Fragen beschloß der Gerichtshof, die Öffentlichkeit auszuschließen, da durch die folgende Verhandlung eine Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit zu besorgen sei. Der Zuhörerraum wurde geräumt, den Vertretern der Presse jedoch der Zutritt gestattet.

Der Vorsitzende stellte darauf an den Angeklagten mehrere Fragen, die sich auf die Absichten bezogen, die der Angeklagte vorhatte, als er der Ermordeten begegnete. Die nähere Mitteilung hierüber muß aus Schicklichkeitsgründen unterbleiben. Der Angeklagte bemerkte schließlich, daß er furchtbar aufgeregt sei. – Vors.: Seit wann sind Sie so sehr aufgeregt? – Angekl.: Seit gestern abend. – Vors.: Dann setzen Sie sich und sind Sie bemüht, sich zu beruhigen. – Der Angeklagte setzte sich und beantwortete anscheinend mit Ruhe die an ihn gestellten Fragen. Er wiederholte: er glaube bestimmt, er habe die Miß rechts in den Stadtwald gezogen, es sei aber auch möglich, daß er sie links hineingezogen habe. – Plötzlich brach der Angeklagte zusammen und fiel in Weinkrämpfe. – Der Vorsitzende unterbrach die Verhandlung und ersuchte die anwesenden Gerichtsärzte, dem Angeklagten Hilfe zu leisten. Auf Anordnung der Ärzte wurde der Angeklagte von einem Polizeisergeanten und einem Gerichtsdiener an die frische Luft geführt. Nach etwa 15 Minuten hatte sich der Angeklagte, der noch immer sehr elend aussah, soweit erholt, daß die Verhandlung fortgesetzt werden konnte. Die Öffentlichkeit wurde wieder hergestellt.

Alsdann wurde Frau Kort als Zeugin vernommen: Sie unterhalte in der Rellinghauser Straße einen öffentlichen Mittags- und Abendtisch. Seit 1. Oktober 1906 habe der Angeklagte bei ihr gegessen. Er habe für Mittagessen 70, für Abendbrot 50 Pfg. bezahlt. Am 1. Oktober sei der Angeklagte etwa 20 Minuten vor 8 Uhr zum Abendbrot gekommen. Es sei ihr an dem Angeklagten nichts aufgefallen. – Der Sohn und zwei Töchter dieser Zeugin bestätigten diese Bekundung. Die Tochter Hedwig hatte gebucht, daß Land am 1. Oktober 1906 bei ihrer Mutter Abendbrot gegessen habe. Auf Antrag des Ersten Staatsanwalts legte Hedwig Kort das von ihr geführte Buch vor, aus dem hervorging, daß der Angeklagte am 1. Oktober 1906 bei ihnen Mittag- und Abendbrot gegessen habe. – Frau Bettena, die Schwester der Hedwig Kort, bestätigte die Bekundungen ihrer Mutter und ihrer Schwester. – Vors.: Bei Ihrer Mutter verkehrten doch wohl viele Herren? – Zeugin: Jawohl. – Vors.: Wie kommt es, daß Sie sich gerade so bestimmt zu erinnern wissen, daß der Angeklagte am 1. Oktober bei Ihrer Mutter Abendbrot gegessen hat? – Zeugin: Weil ich zu Hedwig sagte: Heute kommt ein neuer junger Mann, der kann vielleicht für dich etwas sein. (Große allgemeine Heiterkeit.) – Vors.: Das ist ja allerdings ein Anhaltspunkt. Sie glaubten, der junge Mann wäre für Ihre Schwester eine passende Partie. – Zeugin (verschämt lächelnd): Ja. – Die Bureaubeamten Bertelmann und Walther bekundeten: Sie haben mit dem Angeklagten zusammen im Bureau des Kohlensyndikats gearbeitet. Bis 1. Oktober 1906 sei die Bureauzeit beim Kohlensyndikat bis 5/2 Uhr, vom 1. Oktober 1906 ab bis 6 Uhr abends gewesen. Sie glauben nicht, daß der Angeklagte einmal vor Bureauschluß fortgegangen sei. – Oberkellner John: Er sei Oberkellner im Hotel Bürgerhaus in Dortmund. Am 1. Januar 1907 logierte sich ein junger Mann im Hotel unter dem Namen v. Eicken ein. Er sagte: er sei Student der Medizin in Bonn. Er blieb bis 5. Januar und verduftete dann, ohne bezahlt zu haben. Am 2. Januar liebäugelte er vom Fenster aus mit einem jungen Mädchen, das in einem dem Hotel gegenüberliegenden Warenhause als Verkäuferin beschäftigt war. Er versuchte alsdann in das Warenhaus einzudringen, um dem jungen Mädchen den Hof zu machen; er wurde aber, als man seine Absicht erkannte, an die frische Luft gesetzt. (Große, allgemeine Heiterkeit.) – Vors.: Was wollte denn der Angeklagte in Dortmund machen? In Dortmund studiert man doch nicht Medizin? – Zeuge: Das weiß ich nicht. – Vors.: Sehen Sie sich den Angeklagten einmal genau an, war das der Student v. Eicken? – Zeuge: Jawohl. – Vors.: Sind Sie ihrer Sache ganz sicher? – Zeuge: Vollständig sicher. – Vors.: Nun, Angeklagter, geben Sie zu, vom 1. bis 5. Januar in Dortmund gewesen zu sein? – Angekl.: Das ist alles unwahr, ich war im Januar 1907 nicht in Dortmund. Die Sache mit der Verkäuferin ist vollständig unwahr. – Vors.: Das wäre schließlich gleichgültig, geben Sie zu, vom 1. bis 5. Januar in Dortmund gewesen zu sein? – Angekl.: Nein. – Oberkellner John bekundete ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Der Angeklagte habe auch eine Ansichtskarte an seine Braut in Essen geschrieben, die Karte habe er ihm gezeigt. – Der Vorsitzende hielt dem Angeklagten die Karte vor, letzterer bestritt, die Karte geschrieben zu haben. – Vors.: Herr John, wissen Sie, wo der Angeklagte von Dortmund aus hinfuhr? – Zeuge: Er ist angeblich nach Koblenz gefahren, denn es kam an den Hotelier, Herrn Sondermann, von einem Agenten aus Koblenz eine Anfrage, ob das von Herrn Sondermann dem Kellner Land aus Breslau ausgestellte Zeugnis richtig sei. Herr Sondermann hatte aber niemals ein solches Zeugnis ausgestellt. – Vors.: Woraus entnahmen Sie, daß der angebliche Kellner Land mit dem Studenten der Medizin v. Eicken identisch war? – Zeuge: Weil ich den Studenten v. Eicken für einen Schwindler gehalten habe. – Frau Walsdroff: Sie sei im Januar 1907 Stubenmädchen im Hotel Bürgerhaus in Dortmund gewesen. Sie könne mit voller Bestimmtheit bekunden, daß der Angeklagte Anfang Januar 1907 im Hotel Bürgerhaus in Dortmund gewohnt habe. – Die älteste Schwester des Angeklagten, eine verehelichte Frau Hoffmann, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Der Angeklagte habe oftmals Alkohol getrunken. Der Angeklagte sei ein sehr schwächliches Kind gewesen, er habe an der englischen Krankheit gelitten und erst mit vier Jahren laufen gelernt. Nachdem er konfirmiert war, habe sie ihn zu sich genommen und ihn in ein kaufmännisches Geschäft in die Lehre gegeben. Daneben habe er die Handelsschule besucht. Er sei darauf nach Breslau gegangen, sei dort in Stellung gewesen und wegen Diebstahls, Betrugs und Urkundenfälschung bestraft worden. Später erhielt er im Bureau der Zeche „Gneisenau“ und alsdann im Bureau des Kohlensyndikats in Essen Anstellung. Er war oftmals sehr schwermütig, weinte heftig und sagte: er möchte sich erschießen, denn er sei infolge seiner Strafen aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Als er aus Breslau kam, erzählte er, er habe mit einem Oberingenieur zusammengesessen. Dieser war zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt und habe ihm deshalb 1500 M. vermacht, damit sie der Staat nicht bekommen sollte. Er wolle davon die Unterschlagung von 300 M. decken und mit dem anderen Gelde ein Zigarrengeschäft aufmachen. Diese ganze Erzählung war erfunden. Ob der Angeklagte viele Liebschaften gehabt habe, sei ihr nicht bekannt gewesen. Er habe allerdings oftmals Mädchen angedichtet und sei mit ihnen ausgegangen. – Vors.: Hat Ihr Bruder nach dem 1. Oktober 1906 ein auffallendes Wesen an den Tag gelegt? – Zeugin: Nein. – Vors.: Hat er viel über den Mord der Miß Lake gesprochen? – Zeugin: Jawohl, es wurde bei uns sehr viel über den Mord gesprochen. Mein Bruder hat vielfach über den Mord aus der Zeitung vorgelesen. Er sagte einmal: Der Verbrecher wird wohl niemals entdeckt werden. Es muß ein Mensch aus den höheren Gesellschaftskreisen, vielleicht ein Offizier gewesen sein. – Vors.: Halten Sie Ihren Bruder für fähig, einen Mord zu begehen? – Zeugin: Durchaus nicht. – Der Verteidiger verlas darauf einen vom Angeklagten aus dem Untersuchungsgefängnis gerichteten Brief, in dem es hieß: „Wenn man sechs Wochen unter die Tollhäusler gesteckt wird, dann muß man schließlich verrückt werden. Ich möchte mir am liebsten das Leben nehmen. Ich tröste mich aber mit unserem Herrn und Heiland, der einen so furchtbaren Tod und dazu noch unschuldig erleiden mußte.“ – Vors.: Halten Sie Ihren Bruder für geistig gesund? – Zeugin: Ich habe niemals wahrgenommen, daß mein Bruder geistesgestört ist. – Während der ganzen Vernehmung der Zeugin senkte der Angeklagte seinen Kopf zur Erde und weinte heftig.

Alsdann wurden mehrere Bureaubeamte vernommen, die mit dem Angeklagten im Kohlensyndikat auch nach dem Morde zusammengearbeitet haben. Diese haben amtlich an dem Angeklagten nichts Auffallendes wahrgenommen. Sie haben auch den Angeklagten in keiner Weise im Verdacht gehabt, daß er die Miß Lake ermordet habe.

Ein Mann, namens Ziegler, bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei Mitglied des Guttemplerordens gewesen. Ein Mann, namens Stein, sei Vorsitzender, der Angeklagte, der auch Mitglied war, sei Schriftführer gewesen. Er (Zeuge) sei aus dem Guttemplerorden ausgetreten und habe sich einer anderen antialkoholischen Gesellschaft angeschlossen, weil er sich vor Stein fürchtete. Stein habe gedroht, ihm seine Existenz zu untergraben und ihn wegen eines Notzuchtverbrechens anzuzeigen. Stein habe sogar eine Strafanzeige wegen Notzucht gegen ihn im Verein vorgebracht, obwohl er niemals ein solches Verbrechen begangen habe. Er habe vor Stein geradezu Angst‚ er sei der bestimmten Ansicht, daß dieser jemandem ein Verbrechen suggerieren könne. So oft er mit Stein zusammen war, habe er geradezu unter dessen geistigem Bann gestanden. Er könne den Gedanken nicht los werden, daß Stein auch dem Land das Verbrechen, das Land begangen haben will, suggeriert habe. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) – Vors.: Wie mag Stein die Suggestionen ausführen? – Zeuge: Mit den Augen. – Vors.: Angeklagter Land, weshalb sind Sie aus dem Guttemplerorden ausgetreten? – Angekl.: Wegen Stein. – Vors.: Haben Sie sich auch vor ihm gefürchtet? – Angekl.: Jawohl, er hat mir auch gedroht, mir meine Existenz zu ruinieren. – Vors.: Sind Sie nach Ihrem Austritt aus dem Guttemplerorden (Mai 1906) noch einmal mit Stein zusammengekommen? – Angekl.: Nein. – Auf Befragen eines Geschworenen erklärte Frau Hoffmann, Schwester des Angeklagten, daß ihr Bruder stets religiös gewesen und oftmals in die Kirche gegangen sei. – Frau Hellmann: Am 1. Oktober 1906, gegen 6 Uhr nachmittags, haben zwei Leute in Arbeitskleidung im Stadtwald den Versuch unternommen, sie zu vergewaltigen. Sie könne keinen der ihr vorgestellten Zeugen als Täter bezeichnen. – Polizeisergeant Sandrock: Die aus Anlaß der Angaben der Frau Hellmann angestellten polizeilichen Ermittelungen seien ergebnislos gewesen. – Telephonistin Ida Baudis: Sie habe einige Monate mit dem Angeklagten ein Liebesverhältnis unterhalten. Am 28. September 1906 habe sie vom Angeklagten einen Brief erhalten, in dem er ihr mitteilte, er möchte das Verhältnis abbrechen, da er die Schwindsucht habe. Sie habe an dem Angeklagten nichts Auffälliges wahrgenommen. Land habe sie oftmals angedichtet. Er sei auch schwermütig gewesen. – Die Verkäuferin Else Bettner bekundete: Sie habe vom Februar bis Juli 1906 und alsdann wieder vom Oktober 1906 bis Januar 1907 mit dem Angeklagten ein Liebesverhältnis unterhalten. Der Angeklagte habe ihr erzählt: er habe mit einer Telephonistin ein Liebesverhältnis gehabt. Um sie los zu werden, habe er ihr geschrieben: er müsse das Verhältnis abbrechen, weil er die Schwindsucht habe. (Große allgemeine Heiterkeit.) Der Angeklagte habe sich mit ihr verloben wollen. Sie sei damit einverstanden gewesen, ihre Mutter habe aber nicht die Einwilligung gegeben. Es sei ihr an dem Angeklagten nichts aufgefallen; er habe sie mehrfach angedichtet. Im Januar 1907 habe sie von dem Angeklagten mit der Unterschrift von Eicken aus Dortmund eine Karte erhalten; sie habe aber sofort an der Handschrift erkannt, daß die Karte von dem Angeklagten sei. – Vors.: Hat sich der Angeklagte Ihnen gegenüber vielleicht als v. Eicken ausgegeben? – Zeugin: Nein, Herrn v. Eicken kenne ich aber. – Vors.: Wer ist dieser v. Eicken? – Zeugin: Der ist bei der Marine. – Vors.: Hat der Angeklagte mit Ihnen über den Mord im Stadtwald gesprochen? – Zeugin: Jawohl, er sagte einmal: Jetzt darf ich nicht fortgehen aus Essen, sonst komme ich auch noch in Verdacht. – Ein ehemaliger Untersuchungshäftling, namens Kaldewey, bekundete: Er habe drei Wochen mit dem Angeklagten in einer Zelle gesessen. Der Angeklagte habe ihm viel über den Mord erzählt, schließlich habe er gesagt: ich habe es nicht getan. Ich habe den Gummimännern, d. h. der Justiz, nur eine Nase drehen wollen; ich werde sehr bald wieder entlassen werden. – Ehemaliger Gefangener Noster bestätigte die Bekundung des Vorzeugen. Der Angeklagte sagte: Mehr wie den Kopf kann es nicht kosten. Endlich sagte er: Glauben Sie doch nicht, daß ich ein Mörder bin, ich habe weder jemals Miß Lake noch meine angeblichen Komplicen gesehen, ich habe den Gummimännern, d. h. der Justiz, nur eine Nase drehen wollen; ich verdiene, weil ich mich als Täter angegeben habe, ein schönes Stück Geld. Auf meine Frage, weshalb er ins Ausland geflohen sei, antwortete er: Um die Sache glaubhafter zu machen. Ich behalte mir den Trumpf bis zum Schluß der Verhandlung vor. Meine Sache ist viel interessanter als die des Hauptmanns von Köpenick. (Allgemeine Heiterkeit.) – Vors.: Hat der Angeklagte auch renommiert, daß er bei den Paderborner Husaren gedient habe? – Zeuge: Jawohl, er wollte sogar seinen Lebenslauf schreiben. Ich zweifelte an der Richtigkeit seiner Erzählung und sagte: Wenn Sie bei den Paderborner Husaren gedient haben, dann müssen Sie wenigstens den Namen Ihres Rittmeisters kennen. Der Angeklagte antwortete: Ich habe den Namen vergessen. – Vors.: Der Angeklagte sagte: er habe dies Ihnen nur gesagt, weil Sie und Kaldewey ihn mit Fragen bestürmten. – Zeuge: Das stimmt nicht. Der Angeklagte hat mir sogar vorreden wollen: Er habe unter Kaiser Karl dem Großen ein Mannöver mitgemacht. – Angekl.: Ich wurde von Kaldewey und Noster den ganzen Tag über geneckt und gefragt. Um endlich Ruhe zu haben, habe ich schließlich gesagt: ich bin es überhaupt nicht gewesen. – Der achtzehnjährige Arbeiter August Robert (Essen) bekundete: Ich kenne die Komplicen des Angeklagten, beide haben neben uns gearbeitet, meine Mutter kennt sie auch. Der Karl heißt Karl Kowalski, Heinrichs Familienname kenne ich nicht. Karl Kowalski war der Aussprache nach Pole und ca. 52 Jahre alt. Heinrich war jünger und größer als Karl. Der Zeuge erzählte weiter auf Befragen: Karl und Heinrich seien am Tage vor dem Morde fortgegangen. – Erster Staatsanwalt: Wenn Karl und Heinrich vor dem Morde fortgegangen sind, dann sind sie doch an dem Morde nicht beteiligt? – Zeuge: Ich kann nicht anders sagen. – Vors.: Weshalb melden Sie sich erst heute? – Zeuge: Ich habe außerhalb gearbeitet. – Vors.: Weshalb sind denn Karl und Heinrich fortgegangen? – Zeuge: Weil im Dezember ein Steckbrief kam. – Vors.: Wann war der Mord im Stadtwald? – Zeuge: Im Januar. – Vert.: Haben Karl und Heinrich einmal den Namen Land genannt? – Zeuge: Nein. – Untersuchungsrichter, Landrichter Puvellé: Der Angeklagte sei mit voller Bestimmtheit trotz aller Vorhaltungen dabei geblieben, daß er die Miß Lake rechts in den Stadtwald hineingezogen habe. Der Angeklagte habe alle seine Angaben mit vollster Ruhe ohne jede Spur von Reue gemacht. Er habe dem Angeklagten wiederholt gesagt: Die Leiche der Miß Lake sei links im Walde gefunden worden, er sei aber dabei geblieben, daß er die Miß rechts in den Wald gezogen habe. Es sei ihm aufgefallen, daß er behauptet habe, er habe auf dem Arm der Miß Lake gekniet. – Polizeisergeant Hoffmann: In der Nacht vom 9. zum 10. Februar 1907, als ich in der Brandstraße auf Posten stand, trat ein gutgekleideter, junger Mann an mich heran und sagte: Verhaften Sie mich, ich bin der Mörder der Miß Lake. Ich glaubte zunächst, es mit einem Irrsinnigen zu tun zu haben. Ich sagte, wenn Sie etwa Obdach haben wollen, dann können Sie es auch, ohne daß Sie sich des Mordes bezichtigen. Der junge Mann antwortete jedoch sehr ruhig: Ich will kein Obdach, ich habe Gewissensbisse, ich melde mich, um mein Gewissen zu erleichtern. Ich führte daher den jungen Mann zur Wache zum Herrn Polizeikommissar Schlüter. Dieser nahm den jungen Mann sofort zu Protokoll. Der junge Mann gab zunächst sehr ruhige Antworten; er fing aber schließlich an zu weinen. Ich fragte ihn schon vorher, ob er die Tat allein begangen habe, er antwortete:[WS 1] Nein, ich hatte zwei Komplicen, von denen ich jedoch nur weiß, daß sie Karl und Heinrich heißen. – Vors.: War der junge Mann betrunken? – Zeuge: Nein, er war vollständig nüchtern. – Polizeikommissar Schlüter, der den Angeklagten des Nachts auf der Polizei zu Protokoll vernommen hatte, bestätigte im allgemeinen die Bekundungen des Vorzeugen. Er habe zunächst den jungen Mann für geistesgestört gehalten. Schließlich sei er aber zu der Überzeugung gelangt, daß der Angeklagte geistig gesund sei und daß er wirklich, um sein Gewissen zu beruhigen, sich gemeldet habe. Der Angeklagte erzählte u. a.: Die Dame habe, als er sie zur Erde gelegt habe, mit Händen und Füßen um sich geschlagen. Er habe deshalb auf dem rechten Arm gekniet. Der Angeklagte habe zugegeben, die Vornahme unsittlicher Handlungen versucht zu haben. – Polizeiinspektor Meyer: Er habe den Angeklagten am Morgen des 10. Februar vernommen. Er habe den Angeklagten nicht gerade für geistesgestört, aber für einen Menschen gehalten, der durch unstetes und ausschweifendes Leben etwas heruntergekommen war. Der Angeklagte habe in eingehender Weise den Vorfall geschildert. – Vors.: Hatten Sie den Eindruck, daß die Angaben des Angeklagten auf Wahrheit beruhten? – Zeuge: Ich hatte den Eindruck gewonnen, daß der Angeklagte ein zerknirschter und reumütiger Mensch ist, der die volle Wahrheit sagt und sich der Behörde gestellt hat, um sein Gewissen zu entlasten. Ich hielt auch schon deshalb seine Angaben für wahr, weil, als ich ihn fragte: Haben Sie denn keine Kratzwunden davongetragen, er sagte: Das konnte die Dame nicht, denn sie hatte Handschuhe an. – Vors: Ich bemerke, es ist festgestellt, daß die Ermordete Handschuhe anhatte. – Vors.: Haben Sie den Angeklagten gefragt, ob er einen Notzuchtsversuch gemacht habe? – Zeuge: Ich habe ihn ausdrücklich danach gefragt, er hat dies aber entschieden in Abrede gestellt. – Vors. (zum Angeklagten): Haben Sie einen Notzuchtsversuch gemacht? – Angekl.: Nein! – Vors.: Hat Karl dies etwa getan? – Angekl.: Das weiß ich nicht. – Es meldete sich alsdann nochmals der Zeuge Noster: Er wolle noch bemerken: der Angeklagte habe ihm gesagt, er habe sich in die Rolle des Täters so hineingedacht, daß er schließlich selbst glaube, der Täter zu sein. – Frau Kord, nochmals vorgerufen, bemerkte auf Befragen des Verteidigers: Sie traue dem Angeklagten eine schlechte Tat nicht zu. – Frau Ukena, Tochter der Frau Kord, bemerkte auf Befragen, ob sie an dem Angeklagten etwas Abnormes wahrgenommen habe: Er habe sehr gern Zeitungen gelesen. (Heiterkeit im Zuhörererraum[WS 2].) – Auf Antrag des Verteidigers wurde ein an letzteren aus Wanheimerort bei Duisburg gerichteter anonymer Brief verlesen, in dem der Schreiber mitteilte, daß er und du Freund am 1. Oktober 1906 Miß Lake im Essener Stadtwald vergewaltigt und ermordet haben. Der Brief schloß: „Forschen Sie nicht nach mir, ich würde mir sonst das Leben nehmen. Ein reumütiger Sünder.“

Gerichtsarzt Dr. Klein (Essen) erstattete folgendes Gutachten: Er habe bei dem Angeklagten einen ganz abnormen körperlichen Befund wahrgenommen. Die linke Körperhälfte des Angeklagten weise eine wesentlich erhöhte Empfindlichkeit, die rechte Körperhälfte dagegen eine verminderte Empfindlichkeit auf, und zwar derartig, daß sie selbst gegen Nadelstiche unempfindlich sei. Der Angeklagte war von Kindheit an krank. Seine Schädelbildung sei ganz abnorm, so daß das Wachstum des Gehirns beeinträchtigt sei. Er habe erst mit 4 Jahren laufen gelernt und an der englischen Krankheit gelitten. Der Vater sei ein Trinker und schwermütig gewesen. Die Ehe der Eltern war infolgedessen getrübt. – Der Angeklagte sank hierbei auf die Anklagebank zurück und begann laut und heftig zu weinen. – Der Vorsitzende unterbrach die Sitzung, ließ den Zuhörerraum räumen und die Fenster öffnen. Der Angeklagte legte sich auf die Anklagebank und weinte heftig. Nachdem er sich beruhigt hatte, wurde dem Publikum der Zutritt wieder gestattet. Der Zuhörerraum war sofort wieder Kopf an Kopf gefüllt. Aber auch der Innenraum war derartig überfüllt, daß die Vertreter der Presse arg belästigt wurden. – Gerichtsarzt Dr. Klein fuhr alsdann fort: Der Puls des Angeklagten ist 100, bisweilen 140, 150 und darüber. Dabei ist der Puls klein. Seine Pupillen und Nervenzustand sind abnorm. Der Großvater des Angeklagten war schwermütig. Die Mutter war insbesondere, während sie mit dem Angeklagten ging, schwermütig. Der Angeklagte ist daher zweifellos erblich belastet. Der Angeklagte hat trotzdem in der Schule und Fortbildungsschule Fortschritte gemacht, er hat, seinem Bildungsgrade entsprechend, seine Berufsarbeiten zur großen Zufriedenheit erledigt. Der Angeklagte leidet an Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit; melancholische Erscheinungen sind aber beim Angeklagten im Gefängnis nicht hervorgetreten. Der Angeklagte leidet an Renommiersucht, er hat seinen Mitgefangenen vorgeredet, er habe bei den Paderborner Husaren gedient und unter Kaiser Karl dem Großen ein Manöver mitgemacht. Der Angeklagte ist leicht erregt, launenhaft; er hat vor zwei Jahren einen Selbstmordversuch unternommen. Alles in allem: Der Angeklagte ist ein erblich belasteter, degenerierter‚ hysterischer Mensch, der hart an der Grenze der Geistesgestörtheit steht; er befindet sich aber nicht in einem Zustande, der jetzt oder zur Zeit der Tat seine freie Willenstätigkeit ausschließt. – Der Sachverständige bemerkte noch auf Befragen des Vorsitzenden: Der Zustand des Angeklagten erklärt seine Unstetigkeit, er leidet aber nicht an Dämmerzuständen. Wenn der Angeklagte wirklich der Täter war, so ist es erklärlich, daß es ihm vorkam, als wenn seine Kollegen die Köpfe zusammensteckten und ihn mißtrauisch ansahen. Ihm (Sachverständigen) habe es geschienen, als ob der Angeklagte sich im Gefängnis bemühe, Glauben zu machen, daß er nicht geistesgesund sei. Er habe es deshalb für seine Pflicht erachtet, den Antrag zu stellen, den Angeklagten auf sechs Wochen einer Irrenanstalt zur Beobachtung zu überweisen. – Der Angeklagte sprang bei diesen Worten auf und schrie in großer Erregung: Ich bin nicht geistesgestört und gehe auf keinen Fall mehr ins Irrenhaus! Der Angeklagte schlug dabei mit der Hand heftig auf die Anklagebank. – Vors.: Angeklagter, Sie haben den Gerichtsarzt mißverstanden. Er hat nur gesagt, daß er den Antrag gestellt habe, Sie zur Beobachtung einer Irrenanstalt zu überweisen. Von einer nochmaligen Überweisung kann gar keine Rede sein. – Der Direktor der Irrenanstalt „Grafenberg“, Sanitätsrat Dr. Perretti schloß sich im wesentlichen dem Gutachten des Gerichtsarztes Dr. Klein an. Er bemerkte auf Befragen: Es sei nicht unmöglich, daß der Angeklagte in bewußtlosem Zustande behauptet hat, er sei nicht in Dortmund und noch niemals in Koblenz gewesen. Es sei auch nicht unmöglich, daß der Angeklagte in demselben Zustande sich fälschlich der Täterschaft bezichtigt. Man könne dabei nur mit Möglichkeiten, nicht mit Wahrscheinlichkeiten rechnen. – Gerichtsarzt Dr. Klein bestätigte dieses Gutachten. Es sei allerdings kaum anzunehmen, daß der Angeklagte vom Anfang Februar bis heute seine Beschuldigung, wenn sie nicht wahr wäre, aufrecht erhalten werde. Er habe mehrfach, wenn er eine Unwahrheit gesagt, dies nach einigen Tagen zugegeben. Es sei aber auch möglich, daß der Angeklagte der Ansicht sei, er müsse diese seine Beschuldigung, wenn auch falsch, aufrecht halten.

Nach Verlesung der Schuldfragen, die auf Mord und versuchte Notzucht lauteten, nahm das Wort Erster Staatsanwalt Dr. Eger: In der Zeit der Tortur und Folter hat man dem Geständnis die größte Bedeutung beigelegt. Man steht heute auf dem Standpunkt, daß das bloße Geständnis zur Überführung eines Angeklagten kein ausreichendes Beweismittel ist. Der Richter hat lediglich die Wahrheit zu prüfen. Sache des Richters ist es, die Wahrheit zu finden. Ich muß bekennen, ich habe durch die Verhandlung nicht die Überzeugung erlangt, daß der Angeklagte schuldig, aber auch nicht daß er unschuldig ist. Ich stelle Ihnen‚ m. H. Geschworenen, anheim, das Geständnis des Angeklagten für wahr zu halten. Der Erste Staatsanwalt beleuchtete alsdann in eingehender Weise den Tatbestand und bemerkte: Unmöglich ist es nicht, daß der Angeklagte der Täter ist. Es muß aber auffallen, daß der Angeklagte von den zahlreichen Personen nicht in der Nähe des Stadtwaldes gesehen worden ist. Es ist auch nicht außer acht zu lassen, daß der Angeklagte nach der Tat keinerlei auffallendes Wesen an den Tag gelegt hat. Es ist ferner nicht anzunehmen, daß der Angeklagte, der mehrfach vorbestraft ist, die kleinen Vergehen in Dortmund und Koblenz leugnen wird, um sich eines so schweren Verbrechens zu bezichtigen. Durch die Aussagen der Familie Kord ist im übrigen das Alibi des Angeklagten nachgewiesen. Wenn, wie festgestellt ist, die Tat nach 7 Uhr begangen ist, so konnte der Angeklagte unmöglich 20 Minuten vor 8 Uhr bei Kord gewesen sein. Ich wiederhole also, meine Herren Geschworenen! Ich verkenne nicht das Geständnis des Angeklagten als ein schwerwiegendes Beweismittel. Ich bin aber trotzdem weder von der Unschuld, noch von der Schuld des Angeklagten überzeugt und stelle Ihnen anheim, die Schuldfragen zu bejahen oder zu verneinen.

Verteidiger Rechtsanwalt Holtermann-Essen: Drei volle Tage beschäftigt uns dies psychologische Rätsel. Als ich gegen den Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit protestierte, sagte ich, ich werde den Beweis führen, daß Land nicht der Mörder der Miß Lake ist. Sie werden das vielleicht als Kühnheit gehalten haben, die Verhandlung hat mir aber vollständig Recht gegeben. Sie werden mir beistimmen‚ das Geständnis des Angeklagten beruht auf einer Wahnidee. Alle Umstände sprechen gegen die Täterschaft des Angeklagten. Ich habe bei dem gestern abgehaltenen Lokaltermin mehrfach von Geschworenen gehört: der Angeklagte stellt ganz nebensächliche Dinge in Abrede. Die Herren haben nur vergessen, daß Alfred Land, ich sage mit Absicht nicht der Angeklagte, als Täter nicht in Frage kommt. Ich kann mir nach der sachlichen Rede des Herrn Ersten Staatsanwalts ersparen, darauf einzugehen, daß die Schuld des Angeklagten nicht erwiesen ist. Ich ersuche Sie, als praktische Männer aus dem Volke, genau zu prüfen, ob das Geständnis des Angeklagten hinreicht, ihn zu verurteilen. Man kann sich eigentlich nur darüber wundern, daß überhaupt die Anklage erhoben und das Verfahren eröffnet worden ist. Ich bittte Sie, meine Herren Geschworenen, geben Sie Alfred Land seiner Familie und der menschlichen Gesellschaft wieder, indem Sie durch Ihren Freispruch Alfred Land von dem Makel der gegenwärtigen Anklage befreien.

Erster Staatsanwalt Dr. Eger: Ich muß bemerken, wenn in der Voruntersuchung alles so klar gewesen wäre wie heute, dann wäre die Anklage nicht erhoben worden.

Vors.: Nun, Angeklagter, Sie haben nach dem Gesetz das letzte Wort. – Angekl.: Ich bin zu sehr aufgeregt. – Vors.: Wollen Sie eine Pause oder wollen Sie erklären, daß Sie nichts mehr zu sagen haben? – Angekl: Ich habe nichts mehr zu sagen.

Nach etwa einstündiger Beratung verneinten die Geschworenen sämtliche Schuldfragen. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Fromm verkündete hierauf: Im Namen des Königs hat der Gerichtshof, dem Wahrspruch der Geschworenen entsprechend, den Angeklagten freigesprochen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse auferlegt. Der Haftbefehl ist aufgehoben, der Angeklagte ist sofort in Freiheit zu setzen. (Bravo, bravo, ertönte es im Zuhörerraum.) Vor dem Gerichtsgebäude hatte eine nach vielen Tausenden zählende Menschenmenge Posto gefaßt, die die Freisprechung mit lautem Jubel begrüßte. Die Angehörigen des Land hatten die größte Mühe, den jungen Mann nach Hause zu bringen, er machte mehrfach den Versuch, ins Untersuchungsgefängnis zurückzulaufen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: antportete
  2. Vorlage: Zuhörereraum