Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Erbe Liszt’s
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 164–176
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[164]
Der Erbe Liszt’s.


Wenn heutzutage von Claviervirtuosen die Rede ist, so äußern ältere Musikfreunde wohl einmal: was wollen sie Alle nach ihm, nach Liszt! Mehr als zehn Finger hat keiner, und was mit zehn Fingern menschenmöglicherweise zu leisten ist, hat dieser Titane geleistet. Neues, über ihn Ragendes ist absolut nicht mehr, im besten Falle nur dasselbe wieder zu bringen. Dasselbe aber in der Kunst zum zweiten Mal erscheinend, ist schon nicht mehr Dasselbe in seiner Wirkung.

Glücklicherweise können solche Gedanken nur in den Köpfen alter, übersättigter Musik-Gourmands auftauchen und hätten nur Sinn, wenn der Künstler ewig lebte und seine Zeitgenossen mit ihm. Aber jener wie diese, sie kommen und gehen. Vorüber, unaufhaltsam vorüber ziehen die kleinsten, unbedeutendsten wie die größten, staunenswerthesten Erscheinungen auf dieser Erde durch die nimmer ruhenden Stunden. Und so zeigen sich immer neue Generationen, die auch genießen, und immer neue Künstler, die auch wirken wollen. Darf man nun wohl annehmen, daß mit Liszt der äußerste Punkt der Technik des Clavierspiels erstiegen worden, so ist doch eben so gewiß, daß, seit jener Heros sich zurückgezogen, unter allen gegenwärtigen Claviervirtuosen Anton Rubinstein neben Karl Tausig der hervorragendste ist. Dazu kommt noch sein gediegenes und eigenthümliches Wesen als Componist. Da er nun eben wieder auf einer großen Kunstreise begriffen ist, auf welcher er so außerordentliche Triumphe feiert, so glauben wir den Lesern der Gartenlaube keine unangenehme Gabe zu bieten, wenn wir hier das Bild des gefeierten Künstlers nebst einer kurzen Biographie desselben vorführen.

Anton Gregor Rubistein ward am 18. November 1829 zu Wechmotymetz (?), einem Dorfe bei Jassy, an der Grenze Rußlands geboren. Sein Großvater war Israelit, sein Vater aber wurde im griechisch-nichtunirten Glauben erzogen, den auch unser Künstler bekennt. Anton’s Eltern lebten in glänzenden Verhältnissen, geriethen aber später über ihre Besitzungen in Rechtsstreitigkeiten, die eine empfindliche Schmälerung ihres Vermögens zur Folge hatten. In seiner frühesten Jugend offenbarte Anton bereits jene beiden Haupteigenschaften, die für seinen Lebensgang maßgebend wurden: ausgesprochenen Hang zur Musik und consequentes energisches Hinstreben auf ein bestimmt in’s Auge gefaßtes Ziel.

Seine Mutter, eine hochgebildete Frau, jetzt noch als Lehrerin an einem kaiserlichen Erziehungsinstitute in Moskau thätig, leitete der Kinder ersten Unterricht und unterwies ihre beiden jüngsten Söhne speciell im Clavierspiel, worin sie Meisterin war. Denn auch Nicolai, der nächstältere Bruder, zeigte eben so viel Vorliebe wie Talent zur Musik. Theils Verhältnisse, vornehmlich aber der Wunsch, für eine höhere Ausbildung der Kinder zu sorgen, veranlaßte die Eltern zur Übersiedelung nach Moskau. Hier erhielten die Knaben geregelten Unterricht in der Musik. Mit Anton begann er im sechsten Lebensjahre, und schon zwei und ein halb Jahr nachher gab er sein erstes öffentliches Concert in

[165]

Anton Rubinstein.

Moskau. Das Aufsehen, welches der Wunderknabe bei dieser Gelegenheit erregte, war ungeheuer, und von allen Seiten angegangen, ließen ihn die Eltern in Begleitung seines Lehrers Villoing im August 1839 eine Reise nach Paris antreten. Obwohl aber das zehnjährige Kind auch in dieser Weltstadt große Sensation erregte, so war der bedächtige Vater doch noch unschlüssig, ob er den Sohn gänzlich der musikalischen Laufbahn widmen sollte, wohl erkennend, daß nur das ungewöhnliche Talent auf dem so ungeheuer gesteigerten Gebiete der Tonkunst sich bemerkbar machen könne. Da war Liszt beim zweiten Concerte Rubinstein’s im Herz’schen Saale anwesend. Das Spiel des genialen Jungen enthusiasmirte ihn dermaßen, daß er nach beendetem Vortrag den Knaben zu sich erhob und küßte, ausrufend: „Der wird der Erbe meines Spiels!“ Die Versammlung brach in ungeheuren Jubel aus, und acht Tage sprach Paris von nichts als dieser Scene. Anderthalb Jahr wurden nun daselbst die eifrigsten Studien getrieben, wozu Liszt selbst beiräthig war. Darauf wurde die erste große Kunstreise durch England, Holland, Schweden und Deutschland unternommen, die Ruhm und pecuniären Gewinn einbrachte. Alsdann, in die Heimath zurückgekehrt, brachte Anton ein Jahr im elterlichen Hause zu. Im Jahr 1844 kamen die Söhne in Begleitung der Mutter, da der kränkliche Vater zurückbleiben mußte, nach Berlin, um bei Dehn ihre theoretisch-musikalischen und an der Hochschule ihre wissenschaftlichen Studien zu vollenden.

Nicolaus, der ältere Bruder, widmete sich später dem Unterrichtsfache und leitet jetzt in Moskau das Conservatorium und die Concerte desselben. Anton entwickelte sich im Laufe seiner nahe zweijährigen Studien bei Dehn immer entschiedener und warf sich mit aller Begeisterung auf das Studium der Meisterwerke und der Composition. Höchst wohlthätig auf ihn wirkte die Bekanntschaft mit Mendelssohn-Bartholdy, der dem fünfzehnjährigen Jüngling warme Sympathie zeigte. Inmitten dieser künstlerisch bewegten Zeit starb Anton’s Vater. Die Mutter mußte ihrer übrigen Kinder wegen nach Moskau zurück. Anton sah sich so ihrer ferneren Unterstützung beraubt und auf seine eigene Kraft angewiesen. Er wandte sich 1845 nach Wien, wo er sich mit Unterrichtgeben ziemlich kümmerlich durchbrachte, doch alle seine freie Zeit der Composition widmete. Hier und dann in Ungarn, welches er mit dem so unglücklich endenden Flötisten Heindl[1] bereiste, entstanden der Mehrzahl nach die Compositionen, zum Theil nur im Entwurf, die später erst, unter ganz anderen Umständen, veröffentlicht wurden. Indessen stellte sich, da seine Wünsche sich nicht schnell genug realisiren wollten, eine trübe, hoffnungslose Stimmung ein, die ihn an die Auswanderung nach Amerika denken ließ. Es war jedoch nur eine hypochondrische Anwandlung, deren er bald Meister wurde. Die Donner von 1848 trieben ihn von Wien hinweg; er ging wieder nach Berlin und bald in seine Heimath zurück.

Von nun an nahm des jungen Künstlers Schicksal eine günstigere Wendung. Er gewann sich durch sein Talent die Huld der Großfürstin Helene von Rußland. Sie nahm ihn in ihren Dienst als Kammervirtuos, zu dem sich später die Stellung eines [166] Vorspielers und Hofconcertmeisters der Kaiserin gesellte. Ein eigenthümlicher Zufall zwang ihn, seine vielen früher theils entworfenen, theils ausgeführten Werke von Neuem zu componiren. Auf der Reise nach Petersburg nämlich mußte er die Kiste, welche seine sämmtlichen Manuscripte enthielt, an der Grenze zurücklassen, weil man in den Noten eine geheime revolutionäre Chiffreschrift argwöhnte, wie denn dergleichen geheime Correspondenzen damals wirklich vorgekommen sein sollen. Man hielt ihn für einen Emissär und er war nahe daran, nach Sibirien transportirt zu werden. So mußte er sich längere Zeit in Petersburg verborgen halten, bis es ihm gelang, seine kritische Lage durch den Grafen Melhorsky, seinen Gönner, zur Kenntniß der Großfürstin gelangen zu lassen, wodurch von weiterem Vorgehen gegen ihn abgelassen wurde. Aber seine Manuscripte waren trotz aller Nachforschungen nicht wieder zu erlangen, und er hat sie niemals wieder gesehen. Und so sah sich Rubinstein genöthigt, an die Wiedergeburt des Verlorenen zu gehen, was ihm auch mit Hülfe seines eminenten Gedächtnisses größtentheils gelang. Diese Thätigkeit,, verbunden mit neuen Schöpfungen, die jetzt in ununterbrochener Folge hervorquollen, hielt ihn bis zum Jahre 1851 in Petersburg gefesselt.

Nun erachtete es Rubinstein an der Zeit, mit seinen Werken vor die Welt zu treten. Von seinen beiden Gönnern mit Mitteln großmüthig versehen (der Graf allein machte ihm ein Reisegeschenk von zweitausend Silberrubeln), trat er drei Jahre später selbstständig seine erste Rundreise als Virtuos und Componist nach Deutschland, Frankreich und England an. Als Virtuos feierte er überall Triumphe, während mit seltener Ausnahme die Kritik sich seinen Compositionen, zumal im Beginn, gegnerisch, um nicht zu sagen erbittert feindlich zeigte. Indessen hatten die Leipziger Verleger eine gesundere Ansicht, sie veröffentlichten seine Werke und honorirten sie gut. Jetzt erschienen Rubinstein’s Compositionen aller Art massenhaft auf dem Musikmarkte, was ihm von mancher Seite den Vorwurf des Vielschreibers zuzog. Bedenkt man indessen, daß diese Werke in einer längeren Reihe von Jahren entstanden und nur die Verhältnisse eine Herausgabe auf einmal mit sich brachten, so erschien dieser Vorwurf grundlos. Der uns vergönnte Raum erlaubt nicht, allen seinen Hin- und Herfahrten ausführlich zu folgen. Wir wollen nur einige Hauptmomente kurz berühren. 1856 war er zu den Feierlichkeiten der Krönung des Kaisers nach Petersburg zurückgerufen worden. Hier componirte er seine Jubelouverture, für deren Widmung er vom Kaiser mit einem kostbaren Juwel belohnt wurde. Im Gefolge der Großfürstin ging er mit nach Nizza, machte dann wieder eine größere Kunstreise, wobei er immer fleißig componirte, meist große Werke, z. B. ein Oratorium, „das verlorene Paradies“, eine große Oper, „die Kinder der Haide“, für Wien.

Rubinstein’s Stellung in Petersburg, sowie auch sonstige Verhältnisse daselbst hatten sich inzwischen derart gestaltet, daß er es unternehmen konnte, einen lange gehegten Plan mit Aussicht auf Erfolg in’s Werk zu setzen. Von mächtigen Gönnern unterstützt, stand binnen Jahresfrist die „Russische Musikgesellschaft“ als eine mit künstlerischen Kräften und Geldmitteln reich dotirte Anstalt vollständig in’s Leben gerufen da, und ein Jahr später war auch das alle Fächer der Tonkunst umfassende Conservatorium in Wirksamkeit gesetzt. Für beide Institute hat er eine aufopfernde und für die dortigen Zustände heilsame Thätigkeit entwickelt. Als Leiter des Conservatoriums z. B. oblag ihm nicht nur das Gesammte der Verwaltung, sondern auch die Organisation und Ueberwachung des Unterrichtes, die Abhaltung der Zöglingsübungen, endlich die Ertheilung des Compositionsunterrichts.

Bei dieser erdrückenden Beschäftigungsfülle gab er noch Privatunterricht und fand Zeit für’s Componiren. Es entstanden in dieser Epoche die lyrische Oper „fera mors“ (in Dresden gegeben), zwei Clavierconcerte, eine große zwei- und eine gleich große vierhändige Clavierphantasie, Kammermusik, Chöre, Lieder, Clavierstücke, die Symphonien in A- und C-dur („Ocean“) etc. Eine so aufreibende Thätigkeit konnte nur aus der hingebendsten Liebe zu den von ihm geschaffenen und zu so hoher Blüthe gebrachten Anstalten hervorgehen, und sie macht es zugleich erklärlich, daß ein Eingreifen anderweitiger, mit seinen Tendenzen im Widerspruch stehender Einflüsse ihn bestimmen mußte, diese Schöpfungen zunächst sich selbst zu überlassen.

Es erübrigt nur noch, von dem Componisten Rubinstein, wie er heute vor uns hintritt, ein gedrängtes Bild zu entwerfen.

Bei der ungeheueren produktiven Kraft, die in diesem Künstler lebt und wirkt, kann man den Culminationspunkt seiner Entwickelung, so bedeutend und ausgeprägt seine Individualität bereits erscheint, noch nicht absehen; sicher steht er aber, auf gewissen Gebieten, jetzt schon nicht unter den Epigonen, sondern als ein Unicum da.

Seine Erfindung ist von vollster Ursprünglichkeit, schwunghaft, nicht angekränkelt von des Gedankens Blässe, männlich, gesund, tief und warm, groß und gewaltig. Er beherrscht alle Formen und Mittel mit Leichtigkeit, sein Geschmack ist von ausgesuchter Feinheit, seine Richtung durchaus edel. Fassen wir den allgemeinen Charakter der Rubenstein’schen Musik, seine Art und Weise in Tönen zu denken und zu fühlen, in’s Auge, so müssen wir diese als eine der Entwickelung des modernen Bewußtseins vollkommen angemessene, ja gewissermaßen als den Ausdruck dieser Entwickelung selbst erkennen. Die Breitzügigkeit seiner Melodie, der Reichthum und die Feinheit seines harmonischen Gebahrens stempeln ihn im edelsten Sinne zum modernen Künstler, der vorzugsweise auf absolut musikalischem Boden steht.

In seinen Gesangcompositionen sucht er nicht die sogenannte Melodie der Sprache, sondern die Melodie des Gefühls. Zu der Höhe, philosophische Ideen in seinen Instrumentalcompositionen auszudrücken, vermag oder will er sich nicht erheben; hingegen analogisirt er die mannigfaltigsten Stimmungen des Gemüths in prägnanten Weisen. Am nächsten schließt er sich der Richtung Mendelssohns und Schumann’s an, insoweit als bei einem originellen Talent von einem Anschluß die Rede sein kann. Als Melodiker ist Rubinstein weniger elegisch-sentimental als Mendelssohn, weniger verdüstert als Schumann, kraftvoller als Beide. Seine Musik ist vorwiegend wohlgelaunt; manchmal wird sie verdrossen, jammernder Weltschmerz ist ihr aber fremd. Jenes gewisse strengmarkirte, entschieden auftretende, scharfgeschnittene Relief seiner Themen und die phantasiereiche, immer neu erscheinende Umwandlung derselben erinnern an Beethoven’s Geist und Kunst, – der natürliche Zauber seines Gesanges an Schubert’s tiefgemüthvoll hervorströmenden Melodienquell.

Daß Rubinstein einen bedeutenden Fond gediegener literarischer, wissenschaftlicher und socialer Weltbildung, daß er im Umgange den Mann der feinsten Weltbildung und umfassende Belesenheit zeigt, wird Jeder wissen, der in näheren Verkehr mit ihm zu treten Gelegenheit hatte und hat. Als Mensch ist Rubinstein ein offener, gerader Charakter, im Umgange von gewinnender Liebenswürdigkeit, bescheiden, ohne seinem Werthe etwas zu vergeben, im Gespräche geistreich, mitunter witzig, wohlwollend im Urtheil, gegen Freunde mittheilsam, im Allgemeinen mehr ernst als heiter. Vor zwei Jahren hat er sich mit einer jungen Russin aus vornehmer Familie verheirathet.

Als Clavierspieler ist Rubinstein so oft besprochen worden, daß nur Wiederholung möglich wäre. Er steht, seit Liszt in dieser Richtung der Öffentlichkeit entsagte, ohne Rivalen da. Wer ihn auf seiner jetzigen großen Rundreise zu hören Gelegenheit hat, wird dieses Urtheil bestätigen.




  1. Derselbe wurde, an einer Schießhütte vorüberfahrend, von einer abprallenden Kugel getödtet.