Der Ausgang der Hamelnschen Kinder

Textdaten
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Autor: Friedrich Gottschalck
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Titel: Der Ausgang der Hamelnschen Kinder
Untertitel:
aus: Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, S. 56–64
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1814
Verlag: Hemmerde und Schwetschke
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Erscheinungsort: Halle
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Quelle: Google und Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Ausgang der Hamelnschen Kinder.

Bei der Stadt Hameln liegt gegen Morgen, vor dem Osterthore, ein mäßiger Hügel, der Koppelberg genannt. An diesem bemerkt man eine Vertiefung nebst zwei steinernen Kreuzen, welche das Andenken an eine furchtbare Begebenheit erhalten sollen, die sich hier im Jahre 1284 am 26sten Junius zugetragen hat.

Um diese Zeit war nämlich die Stadt Hameln mit einer furchtbaren Menge Ratten geplagt. Ueberall wimmelte es von diesem Ungeziefer, gegen welches kein Schloß, keine Falle, kein Riegel, kein Pulver half. Sie zehrten alles auf, zernagten, was sie nicht fressen konnten, packten das Vieh in den Ställen an, bissen die Menschen des Nachts in den Betten; und wenn auch hier Tausende todt geschlagen wurden, so kamen dort neue Tausende zum Vorschein. Kurz, die armen Hamelenser waren eben so arg geplagt, wie einstens die Aegypter.

Da erschien ein Mann in der Stadt, der war wunderlich gekleidet, und machte laut kund: „er wolle das Ungeziefer verbannen, wenn man ihm ein gutes Stück Trinkgeld gäbe.“ Wer war froher, als die Einwohner, die noch Geld genug, aber kein Brot hatten. Sie versprachen daher dem Manne zu geben, was er verlange, nur möchte er sie bald von ihrem Uebel erlösen. Sie dachten, er besäße vielleicht ein unfehlbar wirkendes Rattenpulver, oder bediene sich doch eines natürlichen Mittels zu seinem Zwecke. Aber, was geschah? Der wunderlich gekleidete Mann nahm ein Pfeifchen aus seiner Tasche, blies darauf, und ging so durch die Straßen. Da stürzten aus allen Häusern, aus allen Winkeln, Kellern, Gärten und Höfen die Ratten schaarenweise hervor, und folgten dem Pfeifer nach. Die erstaunten Einwohner folgten auch; und als er nun alle Straßen durchgangen hatte, und das Ungeziefer in solcher Masse hinter ihm drein wogte, daß manche Straße zu eng war, führte er sie an das Ufer der Weser. Hier sprach er einige fremde kauderwälsche Worte, hob seinen bunten Stab auf, und siehe, die ganze Rattenmenge stürzte sich in die Fluth und verschwand.

Den Einwohnern standen bei diesem Anblicke die Haare zu Berge. Mit natürlichen Dingen ging das nicht zu. Der fremde Mann mußte ein Hexenmeister oder gar der Teufel selbst seyn. In beiden Fällen hielten sie sich nicht für verpflichtet, ihm die versprochene Zahlung zu leisten; und so sehr auch der „verfluchte Bube“ – so nennt ihn das Mährchen – darauf bestand, so verweigerten sie sie ihm doch hartnäckig, fürchtend, er banne ihnen das Rattenheer von neuem auf den Hals.

Darob ergrimmte der Zaubermann entsetzlich, und beschloß, sich dafür recht weidlich zu rächen. Als nun eines Sonntags die Bürger alle in den Gotteshäusern waren, ging er wieder mit seinem verwünschten Pfeifchen durch alle Straßen. Ratten gab es nicht mehr, dafür kamen aber die Kinder aus den Häusern und zogen ihm gleich jenen nach. Als er nun hundert und dreißig Knaben und Mädchen beisammen hatte, ging er mit ihnen durch die enge bungelose Straße zum Osterthore hinaus nach dem Koppelberge zu.

Ein Dienstmädchen, das mit einem kleinen Kinde im Mantel am Thore stand, war neugierig zu sehen, was daraus werden solle, und folgte dem Kinderschwarme. Als nun der Mann, der den Zug anführte, an den Berg kam, öffnete sich dieser, er ging hinein, alle Kinder mit ihm, und schwapp! da schlug die Oeffnung zu, und weg war alles.

Zitternd und bebend eilte das erschrockene Dienstmädchen zurück, und erzählte die traurige Begebenheit.

(Nach einer andern Lesart sollen zwei von den hundert und dreißig Kindern umgekehrt und in die Stadt gekommen seyn. Eins davon wäre blind, das andere stumm gewesen. Das letztere habe die Gegend des Berges, wo er sich geöffnet, angezeigt, und das blinde die Erzählung dazu geliefert.)

Die Nachricht war indessen kaum kundbar geworden, als alles aus den Kirchen heraus und nach dem Koppelberge stürzte. Das war ein Klagen und ein Jammergeschrei, ein Rufen und ein Weinen. Aber umsonst, der Berg blieb verschlossen, und die Kinder kamen nicht zurück. Nur eine Vertiefung gewahrte man an dem Berge, die der Eingang gewesen zu seyn schien.

Weit und breit schickte man Boten aus, zu forschen, ob nicht irgendwo Kunde von den verlornen Kindern zu erhalten sey, aber vergebens. Viele glaubten, der Satan habe dem Dienstmädchen ein Blendwerk vorgemacht, und die Kinder wären von ihm nicht in den Berg, sondern durch die Lüfte und nach Siebenbürgen entführt worden. Denn um eben diese Zeit – solches schreibt die Siebenbürgensche Chronik – wären in diesem Lande mit einem Male eine Menge Kinder angekommen, die eine unbekannte Sprache geredet hätten. Sie wären da geblieben, ihre Sprache hätte sich fortgepflanzt, und so wäre es gekommen, daß in diesem Lande eine andere, als die sächsisch-deutsche Sprache geredet werde.

Die Stadt Hameln hat nach dieser Begebenheit mehrere Jahre lang ihre Ausfertigungen datirt, wovon noch Documente vorhanden seyn sollen. Die kleine Gasse, durch welche die Kinder zum Thore hinausgeführt wurden, heißt noch jetzt die Bungelose Gasse. Es wurde nämlich von dem Magistrat verordnet, daß bei Gelegenheiten, wo Musik und Spielwerk auf den Straßen erschalle, zum ewigen Andenken in dieser Straße nie eine Trommel (Bunge) gerührt werden solle.

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Diese Erzählung hat allerdings ihren historischen Grund, ist aber durch eine falsche Deutung verstellt worden. Die wahre Geschichte ist diese. Der Abt zu Fulda verkaufte im Jahre 1252 die Stadt Hameln und die Vogtey darüber an den 32sten Bischof zu Minden, Wedekind oder Widekind. Hiermit war der Graf von Everstein nicht zufrieden; als welcher bisher die Schutzgerechtigkeit oder Vogtey über die Stadt und das Stift Hameln, als ein Lehn von Fulda, besessen hatte. Er reizte daher die Bürgerschaft, sich dem Bischof zu widersetzen, der sich jedoch mit Gewalt den Besitz der Stadt verschaffte. Als man seinen Anmarsch erfuhr, rückten ihm die Bürger, am Tage des Märtyrers Pantaleon 1259, unter ihrem Anführer mit Trommeln und Pfeifen entgegen. Dieß ist der Ausgang der Hamelnschen Kinder, die der Anführung eines Pfeifers, der sie zusammenberufen hatte, folgten. Es kam zum Treffen bei Sedemünden am Fuße des Koppelberges, das die Hamelnschen Bürger verloren, und theils erschlagen, theils nach Minden geführt wurden. Zum Andenken dieser Begebenheit feierte die Stadt jährlich einen Gedächtnißtag, welchen sie den Ausgang ihrer Kinder nannte. Nachher machte die Stadt mit dem Bischof einen Waffenstillstand, und in der Hoffnung, die Stadt durch Güte zum Nachgeben zu bewegen, setzte der Bischof die gefangenen Bürger auf freien Fuß. Diese eilten wieder nach Haus, und kamen durch den nächsten Weg nach Hameln über die Sevenberge, welche eine halbe Stunde von Hameln liegen. Es kamen also die Hamelnschen Kinder in den Seven- oder Siebenbergen wieder zum Vorschein, woraus die Unverständigen Siebenbürgen gemacht haben.

C. F. Fein, Das unter dem Ausgang der Hamelnschen Kinder verborgene Geheimniß. Hannov. 1749. – Halberstädter gemeinnütz. Blätter 1788. S. 130. – Bertuch’s Modenjournal, Octoberheft 1813. S. 637. – v. Göthe hat dieß Mährchen als Stoff zu einem Gedicht, „der Rattenfänger“ überschrieben, benutzt.