Textdaten
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Autor: Babette von Bülow
unter dem Pseudonym Hans Arnold
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Titel: Der Amateurphotograph
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 596, 598–600, 602
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Humoreske mit pädagogischem Zug
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Der Amateurphotograph.

Skizze aus dem Familienleben von Hans Arnold.


Wer kennt nicht die nützliche, bisweilen auch unbequeme Einrichtung der „Steckenpferde“? Ich meine nicht die langen Stäbe, an denen oben ein Pferdekopf edelster Rasse mit Zaumzeug und Zügel befestigt ist und auf denen unsere kleinen Kavalleristen unter dem zehnten Lebensjahr durch die Stuben zu toben lieben – ich meine die Steckenpferde, die auch von älteren und alten Leuten mit Vorliebe bestiegen und getummelt werden, die, kurz gesagt, eine etwas überwuchernde Leidenschaft für eine oder die andere Beschäftigung oder einen und den anderen Gegenstand bedeuten.

Es giebt Zeiten und Persönlichkeiten, denen gegenüber die Steckenpferde sich als geradezu unentbehrlich und unschätzbar erweisen – wer hätte es nicht schon gesegnet, wenn sein Junge in den Ferien auf den geräuschlosen Sport des Briefmarken- oder Siegelsammelns gerieth und dieses Pferdchen in allen Gangarten tummelte! Wer fühlte sich nicht zur Dankbarkeit gestimmt, wenn der Vater des Hauses in beschäftigungslosen Urlaubs- oder sonstigen Freizeiten auf das „Gärtnern“ verfällt und von früh bis abends stumm und krumm Unkraut ausjätet, Blumen gießt oder Obst abnimmt!

Die Familie des Landgerichtsraths Scharff hatte in ihrem Marstall für Steckenpferde bisher noch nicht viel Exemplare aufzuweisen gehabt. Daß die Frau des Hauses, trotz ihrer drei Kinder, unglaublich „thierlieb“ war und einen großen Hund sowie einen Papagei besaß, konnte freilich für eine Familienmutter als ungewöhnlicher Zug und somit als Steckenpferd bezeichnet werden. Die Neigung forderte diese Benennung um so gebieterischer heraus, als beide Hausthiere auf den Unparteiischen nicht den geringsten Zauber ausübten.

Der Hund, ein greulich dreinschauender Köter, der auch nicht die leiseste Andeutung irgend welcher Rasse besaß, war fast so lang wie ein Klavier und führte den süßen Namen „Darling“, der ihm als sechs Wochen altem Hundebaby sehr nett zu Gesicht gestanden haben mochte, mit seinem jetzigen Aeußern verglichen aber als der reine Hohn erschien. Rechnet man dazu, daß „Darling“ die berechtigte Eigenthümlichkeit hatte, alles, was ihm in den Weg kam, von dem Fuchsteppich im Wohnzimmer bis zu den Filzpantoffeln des Hausherrn, anzufressen und zu benagen, so wird man die Summe seiner geselligen Talente und Vorzüge etwa erschöpft haben.

Der Papagei entwickelte seinerseits eine hervorragende Anlage, sich in jeder denkbaren Lage verhaßt zu machen.

War er im Käfig, so schrie er so laut und eintönig nach Freiheit, daß man ihn schließlich vor Verzweiflung der Haft entließ. War er aber draußen, so wanderte er boshaft und krummbeinig an der Erde umher, hackte nach allem, was ihm in den Weg kam, kletterte mit Gewandtheit zur Essenszeit auf den gedeckten Tisch und stattete den einzelnen Tellern der Speisenden kleine, freundschaftliche Besuche ab, die man aus Angst vor seinen Schnabelhieben ertrug. Eine jeweilige Tracht Prügel mittels einer Federpose oder einer hölzernen Stricknadel brachte keine wesentliche Verbesserung seines Betragens hervor. Daß er sagte: „Gieb einen Kuß!“ und sich bei guter Stimmung etwa vierzig Mal in der Minute krächzend erkundigte: „Bist Du mir gut?“ stand zu seinen übrigen Charaktereigenschaften in zu grellem Gegensatz, um besondere Rührung hervorzurufen, besonders da diese Worte die einzigen in seinem Sprachschatze blieben und den Reiz der Neuheit bereits verloren hatten.

Der Landgerichtsrath befand sich denn auch, was ihm niemand verdenken wird, in einem Zustand gereizter Gegnerschaft gegen den Krummschnäbler und versicherte öfters, er könnte sich ihn allerliebst in gebratenem oder ausgestopftem Zustand denken. Der Papagei erwiderte diese Empfindung insofern von Herzen, als er entschieden sich als Hausherr fühlte und den Vater im besten Falle mit überlegener Miene duldete – im schlechteren Falle aber in die Finger biß und ihm die Federhalter an- und auffraß.

Um den braven Mann zu beschwichtigen, hatte seine Frau ihm denn seinerseits ein Steckenpferd beizubringen versucht, und zwar, indem sie ihm zum Geburtstag einen photographischen Apparat nebst allen dazugehörigen Chemikalien und sonstigen Verschmitztheiten schenkte. Der diplomatische Schachzug glückte über Erwarten. Der glückliche Besitzer des Apparates warf sich mit einer Leidenschaft aufs Photographieren, die es zweifelhaft [598] erscheinen ließ, ob er nicht eigentlich seinen Beruf verfehlt habe und bei der Wiederholung der bekannten Wendung: „Bitte, recht freundlich!“ sich bedeutend wohler gefühlt hätte als beim Studium der Rechte.

Selbst die anfänglichen Mißerfolge, die er zu verzeichnen hatte, vermochten ihn nicht zu entmuthigen. Nachdem er durch etliche Handgreiflichkeiten seinen heranwachsenden Kindern die Lehre: „Alles ansehen, nicht anfassen!“ im wahrsten Sinne des Wortes „einverleibt“ und ihnen das mit einem alten türkischen Shawl der Mutter verhangene Stativ so unheimlich gemacht hatte wie das hochselige verschleierte Bild von Sais, begann der Amateurphotograph die Welt nur noch von seinem besonderen und augenblicklich vorherrschenden Gesichtspunkt aus zu betrachten.

Er verwandelte die ganze Häuslichkeit von Stund’ an in sein Atelier. Ein schwacher, aus Chlor, Terpentin und Kollodium zusammengesetzter Wohlgeruch schwebte jetzt beständig durch alle Räume, und nur der Landgerichtsrath selber merkte nichts davon, trotzdem er gemeinhin für die leisesten Ahnungen des Begriffs „angebrannt“ mit einer wunderbaren Spürnase gesegnet war, die seine Frau schon oft beseufzt hatte.

Das Wohnzimmer mußte zuerst photographiert werden. Der Vater zog mit dem Stativ in allen Ecken herum, um den Fleck zu entdecken, von wo aus sich der Raum am malerischsten ausnähme. Leider ergaben diese Rundreisen fast ausnahmslos, daß die Ecken, wo das Klavier oder der centnerschwere Schrank standen, die geeignetsten Punkte zur Aufstellung des Apparats boten, und die verhängnißvolle Aufforderung an den ältesten Jungen: „Faß’ mal an, Franz!“ gab durchschnittlich vier Mal des Tages das Zeichen zu einer so gänzlichen Umwälzung des Mobiliars, wie sie sonst nur bei Umzügen stattzufinden pflegt.

Die erste Aufnahme war denn aber doch endlich gemacht; im Weinkeller, der zur Dunkelkammer umgewandelt war, hatte man die Platte entwickelt, und der Landgerichtsrath, von seinen staunenden Kindern gefolgt, stieg triumphierend aus der Unterwelt empor und zog sich mit der ersten Frucht seines Fleißes in das Fremdenzimmer zurück, das sein Atelier war. Nach wenigen Stunden trat er zu seiner Gattin und legte mit stolzem Lächeln ein etwas schattenhaftes Blättchen vor sie hin: „Da, Elise – was meinst Du dazu?“

Elise bemühte sich redlich, in dem Dämmer die Umrisse des Wohnzimmers zu entdecken, und erklärte schließlich, mehr höflich als wahrheitsliebend: „Es scheint ja sehr scharf geworden zu sein!“

Nachdem die Gefahr, daß die Kinder das Blättchen in der Gier des „Laß mich sehn!“ zerreißen würden, glücklich abgewendet war, legte die Mutter das Kunstblatt auf ihren Nähtisch.

Da lag es allerdings am nächsten Morgen noch – aber die Sonne oder die Luft oder sonst ein boshaftes Element hatten jede Spur eines Bildes davon abgeleckt, und eine glatte, bräunliche Fläche ließ der Phantasie des Beschauers einen recht weiten Spielraum in Betreff dessen, was einmal darauf gewesen sein konnte. Dies Naturspiel wiederholte sich durch etwa acht Tage, während deren die geduldige Wohnstube immer wieder dem unermüdlichen Photographen „saß“, auf der Platte erschien und über Nacht verschwand, so daß in der Seele des Hausherrn schon die düstere Sorge auftauchte, daß Dilettanten am Ende immer nur diese höchst vorübergehende Freude an ihren selbstgefertigten Bildern hätten.

Aber die Ausdauer wurde belohnt! Ein Wink von sachverständiger Seite klärte den begangenen Fehler und damit zugleich den räthselhaften Vorgang auf, und der Landgerichtsrath erlebte den Triumph, daß seine Frau, die Jungen, das Töchterchen Hermine, ja sogar der Papagei und „Darling“ der Reihe nach von ihm photographiert und dauerhaft auf das Papier gebannt wurden.

Von diesem Augenblick an stieg die Leidenschaft des Hausherrn für seinen Apparat aufs höchste. Er verlor das Interesse für alles andere, und seine Familie sah ihn überhaupt nur noch in den seltensten Augenblicken, da er immer entweder mit dem Kopfe unter dem bewußten türkischen Tuch steckte und Aufnahmen machte, oder im stockfinstern Keller saß und Platten entwickelte. Er beobachtete die Seinen jetzt naturgemäß mit Falkenblicken auf Photographiermomente, und sowie seine Frau oder eins der Kinder sich ahnungslos in einer Stellung befanden, die der Vater für „malerisch“ erachtete, rief er plötzlich mit Donnerstimme: „Halt!“ und photographierte sie meuchlings. Viele seiner Bilder zeigten infolgedessen einen entsetzten Ausdruck, da die Betreffenden, so angeschrien, vor Angst nicht mehr eine Miene zu verziehen wagten, bis der Künstler sie aus ihrer Starrheit erlöste.

Selbst die Gesetze der Gastfreundschaft litten unter der alles beherrschenden Leidenschaft, denn die Besuche wurden nur noch daraufhin betrachtet, ob sie sich zu „Aufnahmen“ eigneten, und meist sofort nach ihrem Erscheinen für diesen Zweck eingefangen. Da die Vorbereitungen noch etwas lange dauerten und der Landgerichtsrath grob wurde, sowie sein Opfer sich rührte, so konnte es geschehen, daß ein Gast, der sich zu einem „Plauderstündchen“ eingefunden hatte, zwanzig Minuten in einer ihm gewaltsam aufgezwungenen Stellung vor dem Apparat saß, dann seine Zeit abgelaufen fand und nach Hause gehen mußte, ohne ein Wort außer „Guten Tag“ und „Adieu“ gesprochen zu haben.

Innerhalb der Familie legten sich freilich dem künstlerischen Schaffen manchmal Hindernisse in den Weg.

Es war beschlossen worden, ein wirkungsvolles Bild zusammenzustellen, welches alle Mitglieder des Hauses in einer strahlenden Einigkeitsgruppe verewigen sollte.

Da der Hausherr auf diesem Bilde, der Vollständigkeit halber, nicht fehlen durfte, aber doch unmöglich sich selbst photographieren konnte, so war die vielseitige Köchin des Hauses als vorübergehender Assistent für diese Aufgabe gewonnen und zum rechtzeitigen Entfernen und Wiederaufsetzen der Kapsel schon tagelang abgerichtet worden.

Mit der selbst bei kleineren Familien unvermeidlichen Schwierigkeit war alles versammelt worden. Die Mutter hatte „nur noch“ eine Speise auf den Herd stellen wollen – Franz und Anton mußten, wie gewöhnlich, aus allen Ecken zusammengesucht werden, da sie sich immer in den Augenblicken verkrümelten, wo sie gebraucht wurden, und ebenso unfehlbar mit größter Pflichttreue und Pünktlichkeit erschienen, wenn sie recht überflüssig und unerwünscht waren.

Hermine zeigte sich auch beschäftigt. Sie gehörte zu der Gattung der alles aufbewahrenden Menschen, deren rührende Anhänglichkeit an Gegenstände von zweifelhaftem Werthe und Geschmack ebenso berüchtigt ist wie ihre Leidenschaft, die Entstehungsgeschichte ihrer Besitzthümer bis in die Steinzeit zurück sich zu merken und dieselbe mit allen Einzelheiten in grauenhafter Ausführlichkeit irgend einem vor Ungeduld vergehenden Mitmenschen vorzutragen – selbstredend immer in den ungeeignetsten Augenblicken!

So war ihren Händen kürzlich ein weißes Zucker-Ei entglitten, das infolge seiner jahrelangen Aufbewahrung schon „in Ehren grau“ geworden war und sich nun noch eine Ecke abgeschlagen hatte. Diese Ecke suchte Hermine seit drei Tagen unter allen Möbeln, wühlend und weinend, trotzdem man ihr erstens mit allen naturwissenschaftlichen Gründen bewies, daß Zuckerstücke sich nie wieder ankleben lassen, und trotzdem zweitens Anton das fragliche Objekt schon längst gefunden und aufgegessen hatte. Diese Leistung war jedenfalls bewundernswerth, da der Leckerbissen nicht viel jünger war als er selbst.

Aber wie gesagt, Hermine suchte mit zäher Beharrlichkeit nach wie vor und stak eben wieder mit dem Kopfe unter dem Kleiderschrank, unter dem sie hervorgezogen werden mußte, um in der zu photographierenden Familiengruppe nicht zu fehlen.

Endlich war man vollzählig versammelt, der Vater gruppierte die Seinen mit Sachverständniß, und alles saß regungslos und holdselig lächelnd nebeneinander. Die Köchin zückte eben die Kapsel – da ertönte aus der nahen Küche ein zischendes Geräusch – und die Hausfrau, über der rauhen Wirklichkeit die Idealwelt der Kunst vergessend, erhob sich und stürzte mit dem Rufe. „Die Milch brennt an!“ davon, die wirkungsvolle Gruppe solchergestalt ihres Mittelpunktes beraubend.

Das Bild, welches doch „geworden“ war, zeigte an Stelle der Mutter ein leeres Stück Hintergrund, das von den Jungen mit den Worten: „Das ist die Mama!“ noch lange unter Freudengelächter gezeigt wurde.

Der Vater gab es nach diesem verunglückten Versuch zunächst mißmuthig auf, die Häupter seiner Lieben vollzählig zu [599] fixieren, und unternahm es, Hermine und Franz als inniges Geschwisterpaar in einer etwas gefühlvollen Stellung, die Köpfe aneinandergelehnt, zu photographieren.

Für Geschwister im Alter von acht bis fünfzehn Jahren giebt es nun erfahrungsgemäß keine furchtbarere Zumuthung als die, sich zu umschlingen, und so stieß der Vater auf lebhaften Widerstand, als er die beiden „stellte“.

Es half ihnen aber nichts, sie mußten sich unter Androhung der schwersten Strafen widerwillig aneinanderschmiegen und eine ganze Weile so stehen, bis der Vater die Vorbereitungen beendet hatte. Wie aber zärtliche Empfindungen sich nicht im Augenblick erzwingen lassen, das zeigte sich auch hier.

Das aneinander geschmiegte Geschwisterpaar begann sich sofort gegenseitig zu beschuldigen: „Du zwickst mich!“ „Du kitzelst mich!“ Sie wagten sich dabei zwar nicht loszulassen, standen aber im entscheidenden Augenblick mit einem so wenig liebreizenden Gesichtsausdruck nebeneinander, daß sie mehr an die Laokoongruppe mit den Schlangen als an ein Genrebild aus dem Familienleben gemahnten – nur daß weder Laokoon noch die Schlangen so wüthende Grimassen schnitten.

Der Vater jagte sie denn auch beide zornentbrannt vom Orte seiner Kunstbestrebungen fort und erklärte, er würde seine Kinder nur noch zankend photographieren, da dies ihr ungezwungenster Zustand zu sein scheine.

Wirkte der Apparat, wie wir hier sahen, nicht immer heilsam auf den häuslichen Frieden, so mußte er andererseits sogar der geselligen Lüge dienen.

Es fand sich eines Abends eine bewährte, aber als tödlich langweilig bekannte Freundin des Hauses zum Thee ein, ein Ereigniß, das sich durchschnittlich drei-, viermal im Jahre wiederholte und bei dessen jedesmaligem Eintritt der Landgerichtsrath nur mühsam die Ausbrüche seines Ingrimms zu gastlicher Höflichkeit herabmilderte.

Auch heute fesselte ihn die angeregte Unterhaltung nicht besonders. Die brave Dame erzählte allerdings mit erbarmungsloser Ausführlichkeit die genaue Lebensgeschichte ihres „Graukarrierten“, das sie eines Kaffeefleckes halber, den ihm die „liebe Schröder“ beigebracht, zertrennt hatte, chemisch reinigen ließ, dann wendete und mit schwarzem Kaschmir zusammen aufarbeitete – „und jetzt ist es wieder wie neu!“ versicherte sie den Hausherrn, der mit steigender Empörung auf das Schlußkapitel des aufregenden Romans gewartet hatte.

Bei diesem Wendepunkt der Unterhaltung stand der Landgerichtsrath auf.

„Ich habe noch ein paar Platten zu entwickeln,“ sagte er mit beängstigender Höflichkeit und Sanftmuth. „Sie entschuldigen mich wohl auf eine halbe Stunde, Fräulein Pauline!“

Und ohne die vorwurfsvollen Blicke seiner Frau zu beachten, begab sich der Hausherr ins Nebenzimmer, verwandelte es durch Schließen der Fensterläden in eine improvisierte „Camera obscura“ und legte sich behaglich aufs Sofa, um ein bißchen zu schlafen.

Die Damen „plauderten“ indes in der vorhin angedeuteten Weise weiter, und der Landgerichtsrath, von der halb durch die Thür vernommenen Beschreibung eines „Hellblauen vom vorigen Jahre“ in Schlaf gewiegt, schnarchte bald so laut und nachdrücklich, daß seine Gattin in ihrer tödlichen Verlegenheit sich zu der Versicherung hinreißen ließ, „Platten entwickelten sich immer so hörbar!“

Ob Fräulein Pauline dieses Naturspiel infolge ihrer mangelhaften photographischen Kenntnisse für bare Münze nahm, muß dahingestellt bleiben. Die Jungen behaupteten jedenfalls, sie wäre sehr beleidigt gewesen und hätte, nach ihrem kühnen Vergleich, dagesessen wie ein „säuerliches Stearinlicht“.

Man sieht, daß der Apparat ein vielseitiges Möbel war! Kleine häusliche Störungen und Leiden blieben dem Besitzer freilich nach dem Gesetz „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten“ nicht ganz erspart.

Einmal benutzten Franz und Anton die Abwesenheit des Vaters, um sich gegenseitig zu photographieren, und zwängten, als der Landgerichtsrath überraschend an der Thür klinkte, die Platte in solch angstvoller Hast in den Kasten, daß sie nur mit größter Kraftanstrengung vermittelst der Kneifzange wieder zu entfernen war. Außerdem rannte der oben erwähnte Hund „Darling“ den Kasten einmal prasselnd um. Der Papagei wollte auch nicht zurückbleiben, sondern knabberte das eine Bein des Stativs an, bei welcher Gelegenheit er fast zum Heile des ganzen Hauses vom Landgerichtsrath zertreten worden wäre, aber wie alle unerwünschten Besitzthümer unverletzt aus der drohenden Gefahr hervorging. Seine in der Seelenangst sofort hervorgestoßene Gewohnheitsfrage: „Bist Du mir gut?“ erfuhr allerdings seitens des Vaters die ingrimmige und niederschmetternde Erwiderung: „Nein, ich kann Dich nicht ausstehen!“ Aber es ist zu befürchten, daß dies auf den Papagei wenig Eindruck machte.

Ob es die gänzliche Inanspruchnahme der väterlichen Seele durch das Photographieren war, was in der nächsten Zeit eine betrübende Rückwirkung auf die pädagogischen Leistungen in der Familie ausübte, das mag dahingestellt bleiben! Sicher ist nur das eine, daß die Kinder des Hauses neuerdings eine wahrhaft greuliche Ungezogenheit an den Tag legten. Jedes betrieb dieses angenehme Geschäft nach seiner Anlage und Fertigkeit – aber jedes war unerträglich.

Zum Theil stand die Bethätigung dieses erfreulichen Umstandes auch mit dem Photographieren im unmittelbaren Zusammenhang.

Bei Hermine, der zwölfjährigen, äußerte sich das Bestreben, unausstehlich zu sein, in beständigen Thränenströmen, ohne welche Backfische erfahrungsmäßig so wenig gedeihen wie eine Pflanze ohne Sonnenlicht. Hermine fühlte sich ohne Aufhören in ihren heiligsten Rechten und Gefühlen gekränkt, mißverstanden und moralisch getreten und hatte es darin zu einer bemerkenswerthen Fertigkeit gebracht. So war es geschehen, daß sie und die Mutter neulich im Keller dem Vater bei seinen photographischen Versuchen hatten Hilfe leisten müssen. Beide standen und wiegten im Stockdunkeln die Platten in ihren Alaunbädern etwa dreiviertel Stunden lang sanft hin und her – ein Zeitvertreib, der jetzt keineswegs zu den Seltenheiten gehörte.

Da brach Hermine plötzlich in ein geräuschvolles Schluchzen aus.

„Was hast Du denn?“ rief die Mutter erschrocken, während der Vater in selbstsüchtiger Sorge die Hand vorhielt: „Daß Du mir nicht etwa auf meine Platten weinst!“

Eine genaue Nachfrage ergab, daß Hermine im Stockfinstern der Mutter genickt hatte, und der Umstand, daß diese das begreiflicherweise nicht gesehen und nicht erwidert hatte, wurde ihr von der gefühlvollen Tochter als Herzlosigkeit ausgelegt und schwer verübelt.

Der nachdrückliche Rath: „Binde Dir ein andermal eine Glocke um den Hals, wenn Du mir im Finstern nicken willst, da werde ich’s hören, und im übrigen sei nicht verdreht!“ wirkte übrigens so beruhigend wie ein niederschlagendes Pulver – ganz abgesehen von der Drohung, daß demnächst eine Momentaufnahme von der heulenden Hermine gemacht werden sollte.

Die Jungen leisteten auch das Ihrige in Ungezogenheit. Der Landgerichtsrath, dessen Mußestunden jetzt fast ausschließlich durch Photographieren ausgefüllt waren, konnte sich nicht um die Schularbeiten seiner Söhne kümmern und beautragte den vierzehnjährigen Franz, er solle Anton, der eben zehn Jahre alt war, im Latein unterweisen, wobei er ihm für jede ertheilte Stunde ein Zehnpfennigstück in Aussicht stellte.

Dieses glänzende Honorar entflammte in Franzens Brust einen wahrhaft verzehrenden Lehreifer, und er wollte, um sich schnell zu bereichern, dem armen Anton mindestens sechs Stunden des Tages geben, was von diesem mit begreiflicher Entrüstung aufgenommen und durch beständige Fluchtversuche, durch Verstecken und Zetergeschrei vereitelt wurde.

Da in den Stunden die dem Lehrer geziemende, sanfte Geduld von Franz auch nicht immer beobachtet wurde, so knatterte es gewöhnlich dabei von Ohrfeigen wie Kleingewehrfeuer, und das Ende des Unterrichts bestand meistentheils darin, daß Lehrer und Schüler, sich balgend und kratzend, unter dem Tisch lagen, was den Kleidern ebenfo förderlich war wie dem Latein.

Das Sehnen nach einem besonders schweren Verbrechen, anläßlich dessen ein Exempel statuiert werden könnte, hatte sich daher schon unbewußt der Familie des Landgerichtsraths bemächtigt.

Unter solch gewitterschwülen Stimmungen kam wieder der Geburtstag des Vaters heran, der in der Höhe des Sommers lag und rücksichtsvollerweise auf einen Sonnabend fiel, weshalb ein Unternehmen mit den Kindern nicht ausgeschlossen schien.

[600] Man plante denn auch einen Ausflug nach einer schön gelegenen Försterei, etwa anderthalb Stunden vor der Stadt, und ein wohl zubereitetes Abendbrot, als dessen krönendes Mittelstück eine süße Speise, mit Früchten belegt, prangte, wurde vom landgerichtlichen Kassenboten der Familie voraus in den Wald gefahren.

Diese süße Speise, von Anton fälschlich „die Torte“ benannt, hatte schon seit Tagen, während deren sie erst verheißen, dann zubereitet worden war, die fieberhafteste Aufregung bei den Kindern hervorgerufen.

Die erste Hälfte des Geburtstags war programmmäßig verlaufen, und Eltern und Kinder fanden sich in der vierten Nachmittagsstunde vor der Thür zusammen, zum Abwandern gerüstet. Der Apparat, als liebstes Familienmitglied, mußte natürlich mit, da der Hausherr schöne Punkte im Walde aufzunehmen beabsichtigte, und das Stativ war „mit dem Anstand, den es hatte“, sammt der süßen Speise und den Weinflaschen schon vorausgefahren.

Der schwere Kasten mit den Platten und sonstigem Zubehör wurde auf Antons Rücken geschnallt, der diese Inanspruchnahme seiner Gefälligkeit mit der ganzen Unausstehlichkeit begrüßte, deren zehnjährige Jungen in solchem Falle fähig sind.

Anton hatte sich schon von früh an in dem Zustand befunden, der auch artige Knaben bisweilen befällt – in einer grundlosen, aber sichtlichen Uebellaune, die ihn veranlaßte, jeden, der ihn ansah, je nach Stand und Alter, mit wüthenden Blicken zu bedenken oder ihm Püffe anzubieten, günstigen Falls sie auch auszutheilen.

Erst hatten die Eltern in der gehobenen Festesstimmung die Pöbelhaftigkeit ihres Jüngstgeborenen mit liebevoller Nachsicht übersehen. Als Anton aber, kaum daß der Kasten, den er tragen sollte, seinen Rücken berührte, unter sichtlichen Qualen zusammenbrechen wollte, hob sich die Hand des Vaters schon in vielversprechender Weise.

Die Mutter mischte sich ein.

„Bei der Hitze wird ihm der Kasten wirklich etwas schwer sein!“ meinte sie halblaut.

„Soll ich ihn etwa tragen, Elise?“ fragte der Vater scharf.

Die Mutter verstummte, denn da sie ihren „Darling“ mitnehmen wollte, durfte sie nichts gegen den Apparat sagen. Alle beglückwünschten sich im stillen, daß nicht noch der Papagei als angenehmer Zuwachs zu den geselligen Freuden sich dem Ausflug anschloß.

Die Familie setzte sich in Bewegung, ohne sehr rasch vorwärts zu kommen.

„Darling“, durch das seltene Vergnügen merklich aufgeregt, drückte seine Freude in sehr unbequemer Weise aus, indem er unaufhörlich an jedem einzelnen Theilnehmer des Spaziergangs in die Höhe sprang, heulte und bellte und dies nur unterbrach, wenn er irgend einem Huhne nachjagte; durch langgezogene, gellende Rufe: „Da–a–a–arling!“ mußte er dann zum Ergötzen der Vorübergehenden und zur schäumenden Wuth des Vaters wieder herbeigeholt und seinem ungesetzlichen Genuß entzogen werden. Anton, sonst durch Natur und Anlage sein berufener Wächter, konnte ihm heute wegen des schweren Apparats nicht nachjagen, wie jedermann begreifen mußte.

Anton fuhr inzwischen fort, sich unangenehm zu machen.

Er setzte sich alle fünf Schritt, anscheinend zum Tode erschöpft, an den Weg, obwohl der Kasten nicht ein Gramm schwerer war als der Tornister, den er täglich zur Schule trug, trabte dann wieder verdrossen weiter und wies jede Aufforderung, sich an der allgemeinen Unterhaltung zu betheiligen, ab. „Ich muß ja den alten Kasten tragen!“ murrte er, wobei ihm die Mutter durch vorwurfsvolles Mienenspiel und Seufzen recht gab.

Nach einiger Zeit schnallte er übrigens den Kasten los und machte unaufhörlich Versuche, ihn seinen Geschwistern hinterrücks aufzubürden – ja, als diese mißlangen und er vom Vater „nun gerade“ zum alleinigen Tragen der süßen Last verdammt wurde, blieb er mit „Darling“ zurück und befestigte den Kasten auf dessen Rücken. „Darling“, mit Recht empört über diese Zumuthung, rannte drei Schritt weit, um seinem Schicksal zu entgehen, und wälzte sich dann mit dem Kasten im Grase umher, ein Vorgang, der vom Vater bemerkt und mit einer leider etwas schwächlichen und daher ungenügenden Ohrfeige an Anton quittiert wurde. Außerdem verkündete das Familienoberhaupt dem unglückseligen Lastträger, daß er nicht mit den übrigen am Tische Kaffee trinken dürfe.

Die beiden anderen Kinder legten selbstverständlich eine herausfordernde, tugendhafte Artigkeit und Liebenswürdigkeit an den Tag, wie das Geschwister eines Verbrechers gerne thun – ein Verhalten, das den pharisäischen Wappenspruch: „Ich bin nicht so!“ deutlich an der Stirn trägt, und das die Abscheulichkeit des augenblicklich Ungezogenen noch schwärzer erscheinen läßt.

An der Försterei angelangt, ließ man sich fröhlich am Kaffeetisch nieder. Anton wurde sein Theil mit moralischer Verachtung an einen anderen Platz gestellt, und er durfte sich nicht an dem ungewohnten Genuß des Honigs betheiligen, so daß er sich mit einigem Rechte als der Elendeste aller Sterblichen erschien und die finstersten Pläne in seinem Innern wälzte.

Zu dem unbehaglichen Schatten, den es stets wirft, wenn ein Mitglied der Familie „in Ungnade“ ist, trat noch ein kleiner, betrübender Zwischenfall, wie er auf den wenigsten Familienlandpartien zu fehlen pflegt.

Der Förster, der unsere Freunde in seinem Besitzthum umherführte und dem Landgerichtsrath das Versprechen entlockte, seine Försterei auf photographischem Wege der Nachwelt zu überliefern, zeigte mit gerechtem Stolze seine Bienenstöcke.

Er ermuthigte die etwas schüchtern nähertretenden Fremden durch die heitere Zusicherung: „Kommen Sie nur ruhig dicht heran, meine Herrschaften – das sind italienische Bienen – die stechen nicht!“

Leider strafte im selben Augenblick ein gellendes Wehgeschrei Herminens den braven Bienenbesitzer Lügen – eines der nicht stechenden „Muster des Fleißes“ hatte seinen Stachel, ohne jede ästhetische Rücksichtnahme, in die harmlos emporguckende Stumpfnase der jungen Dame versenkt. Es blieb angesichts dieser schmerzlichen Thatsache nur die Annahme übrig, daß eine der italienischen Bienen einen Ausländer geheirathet habe, der die übeln Gewohnheiten seiner Landsleute noch nicht ganz abgelegt hatte.

Die Mutter, die solche Wuthblicke nach dem Förster schoß, als wenn nicht seine Biene, sondern er selber ihr Kind in die Nase gestochen hätte, ließ sich von der Försterin immer ein Hausmittel über das andere empfehlen. Der Tochter Thränen über ihr schwer geschädigtes Profil wurden endlich durch die Erlaubniß getrocknet, den Tisch zum Abendbrot mit decken helfen zu dürfen – ein Unternehmen, bei welchem Eile Noth that, da der Vater noch photographische Aufnahmen davon machen wollte, ehe die Sonne unterging.

Er beschäftigte sich mit Franz bereits mit den Vorbereitungen dazu, während Anton sich, noch immer mürrisch, in den Gebüschen umhertrieb und auf eigene Hand Zerstreuung suchte. Eine davon bestand darin, daß er mit „Darling“ „spielte“, eine Liebenswürdigkeit, über die der arme Hund von Zeit zu Zeit durch ein wüthendes Geheul quittierte, wenn Anton alle erziehliche Strenge, die an ihm selbst zu wenig ausgeübt wurde, an „Darling“ zur Anwendung brachte.

Der Abendtisch war bald gedeckt – zierliche Schüsseln mit Leckerbissen standen in reicher Abwechslung bereit, und die süße Speise lächelte als verlockendes Mittelstück durch die Waldesstille.

Der Vater rief jetzt alles zusammen, damit man ihm beim Aufstellen des Apparats behilflich sei, und die Aufmerksamkeit der ganzen Familie wurde naturgemäß durch diesen wichtigen Vorgang so sehr gefesselt, daß Antons Fehlen nicht weiter bemerkt wurde.

Eine hübsche Baumgruppe, der gedeckten Tafel zunächst, war als erstes Bild in Angriff genommen worden, und der Vater stieß die in solchen Augenblicken üblichen Verwünschungen gegen jeden aus, der dem Stativ zu nahe käme und die Situation verschöbe.

Die zweibeinigen Mitglieder der Familie umschlichen denn auch das Gerüst in scheuer Hochachtung – nur „Darling“, mit dem ihm eigenen Talent, sich nützlich zu machen, stürzte im letzten Augenblick, mit der ebenso erheiternden als erfolglosen Jagd auf seinen eigenen Schwanz beschäftigt, aus dem Dickicht und rannte mit fröhlicher Hast an den Apparat – [602] gerade in der verhängnißvollen Sekunde, als der Vater die Kapsel abhob.

Merkwürdigerweise war das Stativ so freundlich, nicht umzufallen, sondern nur etwas zur Seite zu rutschen, so daß die Hoffnung nicht ausgeschlossen schien, es möchte ein, wenn auch etwas anderes, so doch brauchbares Bild entstanden sein.

Grimme Zweifel über den Ausgang des Unternehmens durchwühlten allerdings die Brust des ausübenden Künstlers, der nur noch mit geballten Fäusten einherging, sowie er „Darlings“ ansichtig wurde, und jeden Haselnußstrauch auf eine geeignete Gerte für den Vierfüßler ansah.

Die Stimmung des Vaters wurde etwas besänftigt dadurch, daß Anton inzwischen zur Einkehr in sich selbst gelangt schien und als sanftes, artiges Kind sich wieder zu den anderen gesellte.

Wie viel die Nähe des Abendbrots zu diesem innerlichen Vorgang beigetragen hatte, wollen wir nicht untersuchen, in jedem Falle nahm man ihn als vollendete Thatsache dankbar hin und enthielt sich wohlweislich jeder anerkennenden Bemerkung, die nach alter Erfahrung tobende Rückfälle in die kaum überwundene Ungezogenheit herbeizuführen pflegt.

Nach einem braven Spaziergang durch den Wald schien es an der Zeit, sich den Freuden der Tafel hinzugeben, die zugleich den Schluß der heutigen Vergnügungen bedeuteten.

Die Mutter schritt mit Feldherrnmiene voran, um einen letzten Blick über den lockenden Tisch zu werfen – prallte aber entsetzt zurück, denn ein unerfreuliches Bild bot sich ihren Augen dar!

Die Symmetrie der „süßen Speise“ war durch einen frevelhaften „Eingriff“ im vollsten Sinne des Wortes zerstört – eine unverkennbare Menschenhand hatte sich – vielleicht in der Absicht, eine der obenauf liegenden Früchte zu mausen, der glatten Oberfläche anvertraut und war, wie in zu dünnem Eise, bis über die Knöchel in dem weichen Element eingebrochen.

Ein allgemeiner Sturm der Entrüstung erhob sich, dem natürlich ein hochnothpeinliches Verhör folgte – aber ohne Erfolg!

Die an alle der Reihe nach gerichtete drohende Frage „Hast Du von der süßen Speise gegessen?“ begegnete allseitig und ausnahmslos einem höchst entschiedenen und überzeugungstreuen „Nein!“, und man sah sich starr und rathlos gegenseitig an.

Ein Vorschlag von Franz, die Hände sämmtlicher Kinder zur Probe in die zurückgelassenen Merkmale einzupassen, wurde als zwar zweckmäßig, aber unappetitlich mit großer Empörung zurückgewiesen. Die Familie konnte sich nur mit der Annahme trösten, daß irgend ein umherstreifender Unhold ihr diesen Schmerz angethan habe.

Wie man begreifen wird, litt die Stimmung beträchtlich unter diesem betrübenden Vorfall, und der einzige, der daraus Vortheil zog, war „Darling“. Man opferte ihm nämlich das geschädigte Mittelstück, und er hatte sonach alle Ursache, den Räuber als seinen ungenannten Wohlthäter hoch zu verehren.

Inzwischen dämmerte der Abend herauf, und man begab sich heimwärts.

Der Apparat wurde diesmal, um der Gerechtigkeit nicht ins Antlitz zu schlagen, von Franz übernommen, trotzdem Anton, der im Gegensatz zu seiner bisherigen Laune eine wahrhaft beängstigende Artigkeit an den Tag legte, sich freiwillig erbot, ihn auch zurückzuschleppen.

Der Rest der süßen Speise war den Förstersleuten zurückgelassen worden, da keines mehr Appetit darauf verspürte. Selbst Anton hatte nichts dagegen einzuwenden, obwohl er sonst die bekannte Redensart an sich rechtfertigte: „Der Junge muß Doktor werden – der graut sich vor nichts!“

Im ganzen konnte man übrigens den Ausflug, von diesem Speiseabenteuer abgesehen, doch für ein gelungenes Unternehmen erklären. Herminens Bienenstich schwoll schon ab, Franz trug ohne Geknurr den Kasten, Anton war artig geworden, und einige Platten brachten besonders hübsche Momente des Tages mit heim, die im Weinkeller ihrer Auferstehung entgegen harrten.

Da der nächste Tag ein Sonntag war, so konnte nach der Kirchzeit, von Berufsgeschäften ungehindert, das Entwickeln der Platten vor sich gehen.

Anton und Franz wurden zum Helfen befohlen und standen mit dem Hausherrn beim rothen Lichte der kleinen Laterne im Keller – nicht nebeneinander, sondern durch den Vater getrennt, da die unausbleiblichen gegenseitigen Püffe das Gleichgewicht der Schalen, in denen die Platten lagen, nicht unerheblich bedroht hätten.

Der Vater als der, „der all dies Herrliche vollendet“, behielt sich das reizvolle Geschäft des ersten Hervorrufens seiner Bilder vor und schaukelte emsig.

Die Jungen sahen zu.

„Ich bin neugierig, wie es geworden ist,“ bemerkte der Amateur, „das Unthier, der ‚Darling‘, hat mir ja das Stativ im entscheidenden Augenblick verschoben – wer weiß, ob überhaupt etwas herauskommt!“

„O ja!“ rief Franz, „da sind schon Bäume!“

„Ja, ja!“ bestätigte der Vater, „aber das ist ein anderer Vordergrund – was wird denn das?“

Anton drängte sich ungeduldig näher. „Zeig’ doch!“ bat er fröhlich und unbefangen – um aber im nächsten Augenblick ungefähr die Empfindung der beiden Uebelthäter zu theilen, die sich durch die Kraniche des Ibykus verrathen fühlten.

Auf der Platte erschielt nämlich mit erbarmungsloser Deutlichkeit der gedeckte Abendtisch, die „süße Speise“, und – darüber schwebend – das sprechend ähnliche, gierige Gesicht Antons nebst seiner eben in die Speise versinkenden kleinen Pfote!

Der Apparat hatte sich in allen unerwarteter und für Anton geradezu vernichtender Weise als Detektiv benommen – und der Stoß, der ihn aus seiner Lage brachte, sollte für den Speiseattentäter die betrübendsten, wenn auch pädagogisch segensreichsten Folgen haben.

Der Vater fand zuerst die Sprache wieder. Er faßte seinen Sohn voll gerechtfertigter Empörung am Ohrläppchen und riß tüchtig drauf los.

„Was ist denn das?“ rief er zornig.

„Mein Ohr!“ winselte Anton in nicht ganz logischer, aber erklärlicher Beantwortung dieser Frage und versuchte der väterlichen Hand zu entfliehen.

Aber wieder erwies sich die photographische Kunst als wirksame Unterstützerin erziehlicher Grundsätze – der Keller war, um jeden Lichtstrahl zu vermeiden, zugeschlossen, und nach einer wilden Treibjagd, an der sich übrigens Franz anständigerweise nicht betheiligte, erwischte der Vater das photographierte moralische Ungeheuerchen und verabfolgte ihm eine eindringliche und heilsame Erläuterung zu den verschiedenen Gesetzen, die er freventlich übertreten hatte.

Anton hatte übrigens den einen schwachen Rechtfertigungsgrund für sich anzuführen, daß er nicht geradezu „geschwindelt“ hatte, denn sein „Nein!“ auf die Frage: „Hast Du von der Speise gegessen?“ entsprach den Thatsachen.

Er hatte im Schrecke über sein Mißgeschick seinen Vortheil nicht wahrgenommen und nichts von dem Raube gekostet! Aber der in dieser ausweichenden Erwiderung liegende Sophismus verlangte, verdiente und erhielt die bewußte „Jacke voll“, die zum Heile unserer heranwachsenden Jugend noch nicht ganz aus der Mode gekommen ist und sich wohl auch noch so lange erhalten wird, wie es unartige Jungen und – vernünftige Väter giebt!

Daß dieser spezielle Vater nach dem erzählten Erlebniß aber seinen Apparat als moralischen Erzieher noch einmal so hoch hielt wie früher, versteht sich von selbst. Es läßt sich ja auch gar nicht leugnen, daß er sich in diesem Falle als ungewöhnlich praktisch bewiesen hatte.

Der Landgerichtsrath verfertigte von der verhängnißvollen Platte denn sofort mehrere Abzüge mit der furchtbaren Drohung, bei der nächsten Ungezogenheit einen davon in Glas und Rahmen an Antons Klassenlehrer zu schenken – und bei hartnäckiger Nichtsnutzigkeit Antons dereinstige Braut auch mit diesem verewigten Bubenstreich zu bedenken.

Wenn Anton nun kein Musterknabe wird, kann niemand etwas dafür – und besonders nicht der Vater und der Amateurphotograph!