Der „Straßendichter“ William Shepperley

Textdaten
Autor: H. A. Lense
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Titel: Der „Straßendichter“ William Shepperley
Untertitel:
aus: Die Burg. Illustrierte Zeitschrift für die studierende Jugend, 2. Jahrgang, S. 298–299
Herausgeber: Prof. J. Hartorius und Oberlehrer K. Faustmann, Mainz.
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Verlag der Paulinus Druckerei
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Erscheinungsort: Trier
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[298] Der „Straßendichter“ William Shepperley.

Von H. A. Lense.


In keiner anderen europäischen Hauptstadt ist die Straße so sehr die Stätte öffentlichen Wirkens für alle möglichen „Künstler“, als gerade in London. Zauberkünstler, Schnellzeichner und -maler, Photographen, Sänger usw. findet man überall da, wo der Verkehr besonders flutet.

Unter diesen Proletariern des Genies, – denn tatsächlich gibt es unter diesen Leuten viele ungewöhnliche Talente, die im Lebenskampf unterlegen sind, tauchte nun vor fünf Jahren ein junger, ärmlich gekleideter Mensch auf, der auf einem kleinen Handwagen Konfekt und Schokolade sauber ausgebreitet hatte und bald regelmäßig in einer Hausecke der Bank von England gegenüber anzutreffen war, zu jeder Jahreszeit, bei jeder Witterung. Dieser Händler arbeitete nun mit einem ganz neuen Einfall, um die Aufmerksamkeit zu erregen.

Über seinem Wägelchen war an zwei Stangen ein mächtiges Schild befestigt mit der Aufschrift: „William Shepperley, Straßendichter“, und er selbst wußte durch den Ruf: „Kauft Süßigkeiten und Gelegenheitsgedichte nur bei Shepperley!“ die Leute in Scharen anzulocken. Hatte er eine genügend große Menge um sich versammelt, so nahm er ein Heftchen zur Hand und las daraus einige von ihm verfaßte Gedichte vor, die zumeist das Londoner Straßenleben bald humoristisch, bald von der tragischen Seite behandelten.

War der Vortrag zu Ende, so bot Shepperley seine Schokoladen an und fand natürlich viele Käufer.

Bald war der „Straßendichter“, der nebenbei auch auf Bestellung „für billiges Geld“ gleich an Ort und Stelle Gelegenheitsgedichte verfaßte, zu einer Art Berühmtheit geworden. Selbst das bessere Publikum gewöhnte sich daran, stehen zu bleiben und den Vorführungen des jungen Mannes zu lauschen, der seine Gedichte mit vollendeter Meisterschaft deklamierte. Vier Jahre dauerte es, bis der Chefredakteur einer großen Londoner Zeitung Shepperley „entdeckte“. Ein Zufall führte den Herrn an den Stand des merkwürdigen Poeten, der gerade einige seiner besten Gedichte vortrug. Der Redakteur war überrascht. Er verständigte seinen Freund, den hervorragenden englischen Dichter Stephan Philips, und beide baten sich dann eines Tages Shepperleys poetische Arbeiten zur Prüfung aus. Damit war des Straßendichters Glück gemacht.

Philips interessierte die Literarische Gesellschaft in London für das eigenartige Talent des Händlers, und diese ließ Shepperleys Gedichte im Frühjahr 1912 in Buchform erscheinen und sorgte auch für die nötige Reklame. Der stattliche Band, den der Straßendichter auch selbst neben seinen Süßigkeiten feilbot, wurde glänzend beurteilt und erlebte in einem halben Jahre drei Auflagen. Trotzdem blieb William Shepperley dem Berufe, den er nun bereits fünf Jahre ausgeübt, treu. Erst als er von seinem Verleger erfuhr, daß er jetzt ein Bankkonto von 1000 Pfund Sterling besäße, gab er seinen Handel mit „Süßigkeiten und Poesie“ auf und wurde Berufsschriftsteller.

Weihnachten 1912 bereits erschien des ehemaligen Straßendichters erster Roman unter dem Titel „William Shepperley, – Roman von ihm selbst.“ Und hierin gab er seine bis dahin streng geheimgehaltene Lebensgeschichte preis und klärte die Londoner darüber auf, warum ein Mann von seiner Bildung und seiner dichterischen Begabung unter die Künstler der Straße gegangen war.

[299] Als Sohn eines armen Handwerkers hatte er es durch Fleiß und Ausdauer durchgesetzt, daß er die Universität in Oxford besuchen konnte. Im Herbst 1905 zog der nach der Londoner Vorstadt Kensington, fest entschlossen, sich mit seiner bereits als Student ausgeübten dichterischen Tätigkeit den Lebensunterhalt zu erwerben. Da er sehr wohl wußte, wie schwer ihm dies auf dem gewöhnlichen Wege werden würde, suchte er sich zunächst als „Original“ aufzuspielen, was ihm ja auch vorzüglich gelang. Er baute fest darauf, daß irgend ein kunstverständiger Zuhörer doch schließlich auf seine dichterischen Schöpfungen aufmerksam würde. Er hatte sich, wie die Folge zeigte, in dieser Berechnung nicht getäuscht. „Den dichtenden Studenten hätte jeder Verleger abgewiesen“, schreibt er. „Der arme Straßenhändler, den bald jedes Kind auf Meilen im Umkreis kannte, wurde angestaunt und mit offenen Armen aufgenommen.“

Der Roman schlug ebenso gut ein wie der Gedichtband. Heute ist W. Shepperley bereits ein gemachter Mann, der ein kleines Landhaus an der Themse sein eigen nennt und dessen Kinder im Ponywagen zur Schule fahren, wie unlängst eine Londoner Zeitung zu berichten wußte.