Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Siebenzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Achtzehntes Kapitel
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[129]
Siebenzehntes Kapitel.




Eines Tages, als wir alle beim Thee waren, trat auf einmal Signora P. mit ihrer grinsenden Höflichkeit herein; ihre Erscheinung war so unverhofft, daß ich an der Identität ihrer Person gezweifelt haben würde, wenn mich nicht ihr großer schwarzer Schnurrbart davon überzeugt hätte. Ich war blos erstaunt, aber wahrhaft komisch war der elektrische Schlag, den meine Erscheinung auf die P. hervorbrachte, denn es mochte ihr bekannt worden sein, daß ich die Verkuppelung ihrer Nichte erfahren hatte. Die Bekanntschaft, die sie in der letzten Zeit unseres Beisammenseins mit den inneren Angelegenheiten meines Koffers gemacht hatte, konnte mir natürlich auch nicht für immer Geheimniß geblieben sein. Sie ward von den Damen auf das freundschaftlichste bewillkommnet, ich blieb jedoch sehr kalt gegen sie. Die Damen hatten italienischen Unterricht bei ihr gehabt, und sie versuchte jetzt ihre ganze Suada, um sie zur Fortsetzung desselben zu bewegen; jene aber lehnten ihn mit der Bemerkung ab, daß sie sich mit mir im Italienischen übten. Als sie sich entfernte, schoß sie einen grünfunkelnden Blick auf mich, der mir unzweifelhaft sagte, daß sie nichts unversucht lassen werde, mir zu schaden. Dieses Zusammentreffen war mir aus dem Grunde höchst unangenehm, weil mir Frau E. gerathen hatte, nie meines Aufenthaltes im Hause der Lady Georgiana N. zu erwähnen, und ich diesem Rathe gefolgt war. Ich hatte daher der Lady W. auf ihre Frage geantwortet, daß ich fünf Jahre in England sei, was eine logische Wahrheit war, denn wo zehn sind, da sind fünf. Indeß konnte es mir doch mißdeutet werden. Ich hatte gehört, daß die P. auch bei Lord C. unterrichtete, und sah voraus, wie sie meinen Ruf untergraben würde, zur äußersten Genugthuung der neidischen Fräulein G. Demungeachtet und vielleicht gerade deshalb widerstrebte mein Inneres dem Gedanken, dieses Weib zu enthüllen, und ich würde gewiß geschwiegen haben, hätten nicht die Damen mein Erstaunen und ihren Schreck bemerkt gehabt, so daß sie mich fragten, woher ich die Signora kenne? Jetzt war ich gezwungen, die Wahrheit zu sagen, wenn ich nicht selbst verdächtig werden wollte, wies die Damen jedoch an Madame N., bei der sie sich erkundigen konnten. Und hier ist der Augenblick gekommen, [130] wo ich meine Leser mit diesen beiden Frauen ein wenig näher bekannt machen muß, was früher nicht geschehen konnte, weil sie erst jetzt in das Interesse der Handlung herein gezogen werden. Bei meinem Bruche mit Lady N. lud mich Signora P. ein, bis zu meiner Abreise nach St… ihr Quartier mit zu bewohnen, um ihre aus Italien angekommene Nichte einige neue Arbeiten zu lehren. Als ich dort ankam, war die Signora noch nicht von ihren Geschäften zurückgekehrt, sondern blos ihre Schwester anwesend, die sofort eine höchst seltsame Unterredung mit mir begann. Sie erzählte nämlich mir, der Fremden, daß die Signora sie mit ihrer Tochter nur deshalb aus Italien habe kommen lassen, um das junge schöne Mädchen zu verkuppeln und schändlichsten Wucher mit ihr zu treiben; überhaupt aber wisse sie von ihrer Schwester Schandthaten, welche eine solche Handlungsweise an ihr als ganz in der Ordnung erscheinen ließen. Schließlich bat sie mich um fünf Pfund, mit welchen sie ihre Rückreise nach Italien machen wolle.

Ich wußte nicht, ob ich mich mehr über die Mittheilung oder über die Zumuthung dieser mir völlig fremden Person verwundern sollte; es blieb mir nichts übrig, als sie meines Mitleides wie meines Unvermögens zu versichern, womit sie jedoch keineswegs zufrieden schien. Da ich eingeladen war, den Abend bei Miß Ch. zu verbringen, so verließ ich jetzt diese Damen, nicht ohne eine große Erleichterung zu verspüren. Zu meiner Verwunderung behandelte mich Signora P. gleich ihrer Schwester und Nichte am nächsten Morgen mit der beleidigendsten Kälte, ohne auf meine Frage nach dem Warum eine Antwort zu geben. Ich schob es auf Lady Georgiana’s Hetzereien, weil diese wußte, daß Signora P. meine einzige Bekannte war, die mir den Aufenthalt in London ermöglichen konnte; bald jedoch sollte ich den thatsächlichen Beweis von dem Ungrunde dieser Vermuthung empfangen. Am Tage nach meiner Ankunft in E… fand ich zu meiner Bestürzung, als ich meinen Koffer auspackte, daß ich während meines Aufenthaltes bei der P. um meine werthvollsten Sachen bestohlen worden war, und ich begriff jetzt das Motiv jener Behandlungsweise, das natürlich in dem Wunsche bestand, mich möglichst schnell von London zu entfernen. Zu spät begriff ich nun auch den wahren Beweggrund jener Einladung der edeln Tochter Roms, bei ihr bis zu meiner Abreise zu wohnen. Man wird nun ihren heutigen Schreck motivirt finden.

[131] Die andere Person dieses Drama’s, über welche ich zu berichten habe, ist Frau N., die als Fräulein R. gern figurirte. Als solche trat sie in Lady Georgiana’s Dienste, und war so mittheilend, daß sie mir unaufgefordert ihre Lebensgeschichte erzählte, der ich eine Skizze ihrer Persönlichkeit voranschicke. Fräulein R. war sechsunddreißig Jahre damals alt, etwas klein von Statur, welche ein starker, stellenweise kahler Kopf zierte, der wieder mit kleinen listigen, sehr beweglichen Augen, einer langen, spitzen, nach der Wurzel breiten Nase, einem breiten aufgeworfenen Munde, gelben, hervorstehenden Zähnen und gelbem, runzeligen Gesicht geschmückt war, auf welchem eine große haarige Warze wie eine vertrocknete Himbeere thronte. Sie hätte für eine umgewandte Mediceische Venus gelten können, indem alle Körpertheile, welche bei dieser convex sind, bei ihr concav waren. Diese etwas zweideutigen Reize hatten jedoch ihrer Aussage nach so manches Männerherz in Bande gelegt, und sie sprach mit Begeisterung von jenen Momenten, in welchen die Liebe über ihre Schwachheit gesiegt, und von dem Dank, den ihr die Beglückten gezollt. – Aber dieses Geschöpf war nicht nur unsittlich, sondern auch schamlos und gemein, denn ungeachtet meines deutlich ausgesprochenen Ekels, verfolgte sie mich dennoch mit den widrigsten Vorstellungen des Lasters in der niedrigsten Sprache. Sie theilte mir unter anderem mit, daß sie unglücklich verheirathet sei, mit dem Diener einer Familie S., wo sie Erzieherin gewesen, eine Verbindung gehabt und ihren Liebhaber durch Vorspiegelung eines Besitzes von einigen hundert Pfund bewogen habe, mit ihr vor den Altar zu treten. Bei dieser Gelegenheit habe ihre jüngere Schwester das seltene Glück genossen, zugleich Brautjungfer und Taufpathe zu sein, indem jener feierliche Moment Herrn N. zugleich zum Gatten und Vater gemacht habe. Hatte nun dieser auserwählte Sterbliche gemeint, sich jetzt in den Besitz des eheweiblichen Einbringens zu setzen, so gerieth er über die Entdeckung seines Irrthums in heftige Gemüthsbewegung, in welcher er das Faustrecht gebrauchte; Madame war in Irrsinn verfallen, in Bedlam eingesperrt und nur durch die inspizirende Commission wieder daraus befreit worden, indem ihr Gatte diesen Wittwensitz ihr auf Lebenszeit zugedacht hatte. Nach diesem fatalen Intermezzo war diese neue Ariadne zu ihrem Gewerbe zurückgekehrt, hatte es aber für besser gehalten, weder ihrer Ehe noch der Familie zu gedenken, in welcher sie ihren ungetreuen Theseus hatte kennen lernen. Wirklich war [132] es ihr gelungen, durch die Vermittelung einer früheren Connexion bei einer Mistreß G. eine Stelle als Reisegefährtin zu erlangen; dabei war sie zugleich so glücklich gewesen, das weiche Herz des Bruders ihrer Herrin zu rühren, daß er ihre finanziellen Verluste ihr ersetzte, denn sie zeigte mir mit Triumph mehrere seiner wirklich werthvollen Geschenke. – Ihr Charakter war die sonderbarste Zusammensetzung von Widersprüchen: bald war sie listig, bald einfältig, bald gescheidt, bald dumm, bald schwermüthig, bald lustig, bald geizig, bald verschwenderisch, dabei so veränderlich wie die Meereswellen.

Da ich die Ruhe eines guten Gewissens fühlte, so verwies ich meine Prinzipalität mit ihren Nachforschungen an Madame N., denn ich fürchtete die Nachstellungen dieser alten Weiber gar nicht, spürte auch für den Augenblick davon nichts. – In dieser meiner gegenwärtigen Stellung fühlte ich wieder lebhaft die Wahrheit des englischen Grundsatzes, daß die gute physische Ernährung des Menschen durchaus die Basis seiner geistigen Kraft ist, denn ich fühlte plötzlich wieder alle meine Energie schwinden. Dazu trug ganz besonders der Aerger über den zwölfjährigen Sohn des Lord S., Namens Algernon, bei, den ich neben Fanny zu unterrichten hatte. Dieser Knabe war der Hausteufel, der diesem Eldorado noch die Krone aufsetzte, ein Kobold, dessen Lieblingsbeschäftigung war, Menschen und Thiere zu quälen. Fanny sagte mir gleich anfangs, daß Algernon auf der dunkeln Hintertreppe Schlingen lege, über welche meine Vorgängerin, Fräulein L., die Treppe hinunter gestürzt sei und fast den Tod gefunden habe. Noch viele andere Bubenstreiche führte der junge Lord aus, worüber seine aufgeklärten Eltern ein ungemeines Vergnügen empfanden und jeden Beschwerdeführer sofort aus dem Hause jagten. Länger als ein paar Monate war nach Fanny’s Erzählung keine Erzieherin seither im Hause geblieben, aus welchem allen man sich ungefähr ein Bild von Lady Maria entwerfen kann.

Herr W. hatte lange auf eine hohe Stelle gehofft, welche ihm sein Freund Lord C. während seines Ministeriums versprochen hatte; allein was ist Freundschaft! Das Ministerium wurde gewechselt, ohne daß Herr W. sein Ziel erreichte. Gegen Ende der Saison erhielt er jedoch die Stelle eines Commissars am Gerichtshofe für Bankerotte in Leeds, und da ich entschlossen war, die einmal übernommene Erziehung [133] Fanny’s zu vollenden, so begleitete ich die Familie an ihren neuen Bestimmungsort.

v. T. war außer sich über diese unvorhergesehene Trennung und auch mir war sie äußerst schmerzlich, aber ich hatte gelernt, nach Grundsätzen zu handeln.

Herr W. hatte ein paar englische Meilen von Leeds ein altes baufälliges Haus, P… H… genannt, jetzt von Sir John L. gemiethet; dieses wurde mit erstandenem und auf dem Trödel zusammengehäuften Plunder und Gerülle theilweise ausgestattet, aber keinesweges aus nöthiger und daher achtungswerther Sparsamkeit oder gar Armuth, sondern aus schmutzigem Geiz. Da ich mir nun einmal vorgenommen habe, die volle Wahrheit zu sagen, so möge auch diese hier einen Platz finden.

Ich erhielt ein Schlafzimmer mit zerbrochenen Fenstern, und wenn ich in meinem erbärmlichen Bette lag, spielte der Wind mit der Decke, und der Regen strömte durch das verwahrloste Dach. Im Schulzimmer fehlten auch einige Scheiben, und so oft man sich auf einen Stuhl setzte, brach entweder die Lehne ab, oder der ganze Stuhl zusammen.

Einen Kamin hatten wir, allein die Lady hatte in gelehrter Zerstreuung vergessen, uns mit den zum Feuern unentbehrlichen Geräthschaften zu versorgen, was wir unter dem 54. Grade nördlicher Breite im September sehr schmerzlich empfanden.

Sobald Herr W. auf die schwindelnde Höhe eines Landedelmanns sich gehißt sah, fühlte er die Nothwendigkeit, mit dem Pfarrer Bekanntschaft zu machen oder, in synonimen Worten, sich mit der Kirche zu befreunden, weil der hochwürdige Herr S. in jeder Predigt den fleischlich Gesinnten, d. h. Geizigen, energisch zu Leibe ging, was Herr W. nicht ohne Scharfsinn auf sich bezog. Da er nun aus dem Virgil wußte, wie Aeneas den Cerberus beschwichtigte, so gab er dem eifernden Seelsorger, der nebenbei bedeutender Schaafzüchter war, ein Diner. Herr S. nebst Gemahlin, wie auch einige diner-gebende Nachbarn erschienen zur bestimmten Zeit, und es war ein beruhigender Anblick, als nun der Jupiter tonans so zahm mit Champagnerflaschen donnerte und wie ein dressirter Pudel Moorschnepfen speiste. Sein rothes Gesicht erglänzte so friedlich im Abendstrahle der Sonne, kein Blitz und keine Wolke verkündete den zürnenden Gott; da auf einmal krachte es, und in demselben Moment sah man die Kniee des geistlichen Herrn seinem [134] Gesicht als Gegenüber dienen, denn er war durch den Stuhl gebrochen und stak so fest in dem Rahmen, daß man ihn nicht ohne Mühe herauszog.

Hatten Fanny und ich schon in London Mangel gelitten, so war es auf dem Lande noch viel ärgerlicher, weil ich hier nichts einkaufen konnte; hingegen waren wir deßwegen besser daran, weil Herr v. T. mir allwöchentlich einen Korb mit Wein und Speisen schickte. Dies, sowie der Umstand, daß jeden zweiten Tag ein Brief von ihm an mich ankam, machte großes Aufsehen, worüber man im Dunkeln würde geblieben sein, hätte ich nicht durch Algernon’s Bosheit ein Unglück erlitten, welches mich beinahe das Leben gekostet hätte. Fanny und ich waren mit ihm eines Tages in einem Pony-Phaeton nach Leeds zum Gottesdienst in der Domkirche gefahren und hielten auf dem Rückwege vor einem Gasthofe, um die Pferde zu füttern. Fanny und Algernon stiegen zuerst aus dem Wagen, und ehe ich es mir versah, hatte dieser den Thieren die Gebisse abgenommen und erschreckte sie so heftig, daß sie mit mir durchgingen und wie die Pfeile dahin schossen. Die Straße war ziemlich erhöht, zur Rechten war ein tiefer Fluß, zur Linken ein tiefer Chaussséegraben, überall lagen Steinhaufen, an welche der Wagen sausend anprallte; ich konnte mich in dem offenen Kästchen unmöglich halten und sprang daher hinaus, um nicht hinausgeschleudert zu werden, stürzte aber so heftig zu Boden, daß man mich besinnungslos aufhob und in’s nächste Bauernhaus trug. Ich hatte eine tiefe Wunde am Kopfe erhalten, aus welcher ein Blutstrom schoß; der herzugerufene Arzt hatte Mühe, mich zu beleben, verband mich und befahl, mich mit Vorsicht nach Hause zu schaffen. Bald trat ein heftiges Fieber ein, der Paroxismus war im Anzuge, und Doctor C. rieth mir, meine Freunde von dem Unfall zu benachrichtigen, da man nicht wissen könne, welche Zustände derartige Kopfverletzungen herbeiführen könnten. Da auch die Familie darauf drang, so schrieb ich mit zitternder Hand zwei Zeilen an meinen Bräutigam, denn er stand mir doch am nächsten und kannte alle meine Verhältnisse; starb ich, so konnte er am besten die Meinigen davon benachrichtigen.

Sobald v. T. meinen Brief erhalten hatte, war er abgereist und kam schon am folgenden Morgen in P… H… an, ungeachtet der Ort zweihundert englische Meilen von London entfernt ist. Mittlerweile hatte der Chirurg sich überzeugt, daß kein Schädelbruch vorhanden, [135] auch die Gehirn-Erschütterung nicht lebensgefährlich war, jedoch erklärte er, daß die Eisumschläge Tag und Nacht fortgesetzt werden müßten, obwohl der Aderlaß durch die enorme Blutung überflüssig geworden war. Zugleich hatte er jede Aufregung strengstens verboten, und Herr v. T. blieb bei seinem ersten Besuche aus Rücksicht dieser Vorschrift nur wenige Minuten an meinem Lager; aber doch bemerkte ich, wie er nur mit Mühe seine Fassung behielt und sich dann rasch entfernte. Sein Benehmen in diesen Tagen der Gefahr konnte meine Zuneigung nur vermehren, und das daraus entstehende Gefühl des innerlichsten Behagens förderte meine Gesundung in dem Grade, daß die Aerzte überrascht waren. Als sie mir Bewegung gestatteten, fuhr er mich selbst spazieren, bei weiterer Erstarkung ritten wir in der schönen Umgebung stundenlang umher. Diese Erholungen trugen das Meiste zu meiner Wiederherstellung bei. Wenn ich bisweilen so neben ihm sinnend ritt und sein Schattenbild betrachtete, überdrang mich das Bewußtsein sonderbar, daß dieser gealterte Mann, der jüngst noch als ein Symbol der Schwäche vor mir lag, mich mit aller Gluth des Jünglings liebte. Es grenzte in diesem Gefühle Erhabenheit und Komik so nahe an einander, daß die Scheidelinie kaum zu finden war; es kam nur darauf an, nach welcher Seite ich hinneigte, so konnte ich in Liebesjubel oder Hohnlachen ausbrechen. Ich fühlte zwei Geister in mir ringen, der Liebe und des Spottes, jener stand vor meinem inneren Auge in strahlender Rüstung, mit himmlischem Angesicht, dieser als häßliche Fratze in riesiger Gnomengestalt. Was ist Jugend, rief ich innerlich, was ist Alter? Ist dieser Leib des Staubes der Maßstab, mit dem das Ewige und Göttliche in uns, das allein der geistigen Liebe fähig ist, gemessen werden muß? Wir sprechen immer von Unsterblichkeit, und kleben doch nur an dieser vergänglichen Hülle des Geistes, die vielleicht in nächster Stunde schon Würmerspeise ist. Sollte sich das Recht, zu lieben und geliebt zu werden, auf die Spanne Zeit beschränken, innerhalb welcher diese Blume blühet und welkt? Dann wäre sie nichts als die Brunst des Thieres, ein elender Sinnenrausch, der mit dem Ausschlafen des Betrunkenen in Schauder und Ekel erwacht. Wie, die wollüstigen Prätensionen eines flachshaarigen Knaben mit dem Flaum um den kindisch schwatzenden Mund sollten das Höchste dieser allmächtigen Leidenschaft sein? Die Faseleien eines Unreifen, der das Ungeheure des Daseins kaum ahnet, sollten das Schönste sein, was dieser unergründliche Vulkan [136] aus seinen Feuertiefen schleudert? Das Wetterleuchten einer solchen Kinderleidenschaft ist weniger als nichts gegen die verzehrende Gluth dieses Greises, jene ist vielleicht morgen erloschen und vergessen, diese wird über das Grab hinaus wie ein ewiges Morgenroth der Jugend leuchten.

Während ich einst dies und ähnliches dachte, dann seinen Blicken begegnete, aus denen eine unsterbliche Zärtlichkeit mich ansah, wurde alles Licht und Jubel in mir, mein in Schmerzen vereinsamtes Herz empfand plötzlich eine innige, echte Liebe zu diesem überlegenen Geiste, und ich fragte mit dem vollen Tone des Herzens: „Ist es Wahrheit, daß wir hier beisammen sind, oder ist es ein neckender Traum, mein Freund?“

„Bist Du wirklich glücklich, mein süßes Kind?" fragte v. T., indem er meine Hand faßte und mit Inbrunst küßte.

„Unendlich glücklich!“ entgegnete ich, während ich in diesem Augenblicke alle Wonne empfand, die, seine Seele durchfluthend, aus seinen Augen brach.

„Weißt Du, Mädchen, fuhr er fort, daß Deine Seele von Feuer sein muß, daß sie die Eiskruste dieser Brust hinwegzuschmelzen vermochte? eine Eiskruste, welche Unglück, Welt und Zeit darüber gelegt hatten!“

„Das weiß ich nicht, erwiederte ich beglückt lachend, aber ich weiß, daß sie dem Gesetze der Affinität und Uebermacht gehorcht.“

„Aber welches wunderbare Geschick ist es, das uns Beide aus so verschiedenen Völkerstämmen und Ländern zusammenführte, nachdem wir Beide dieselbe Anzahl von Jahren in diesem fremden Lande liebelos und liebeleer verbracht haben? Gewiß ist es die Vorsehung, die uns für einander bestimmte, denn ohne Dich wäre selbst der Himmel freudenlos.“

„Mit Dir ist schon die Erde ein Paradies,“ rief ich an seinen Lippen.

Die Trennung fiel uns sehr schwer, aber das gegenseitige Vertrauen und die süße Hoffnung auf eine frohe Zukunft half sie überstehen. Man gab mir jetzt von allen Seiten Spöttereien über das Alter meines Bräutigams anzuhören; und als ob er das geahnet, schickte er mir rasch hinter einander kostbare und höchst gewählte Geschenke, welche die graue Ironie urplötzlich in gelben Neid verwandelten. Milady richtete jetzt [137] das Geschütz ihrer bösen Zunge indirect auf mich, was jedoch von mir mit eiskalter Verachtung aufgenommen ward.

Ich ließ niemals meine Persönlichkeit mit meiner Pflicht in Conflict gerathen; als ich daher die ärztliche Erlaubniß hatte, nahm ich den Unterricht mit Eifer wieder auf und gab mir die größte Mühe, den Geist meiner Schülerinnen zu bereichern und Fanny’s Herz zu veredeln. Insbesondere ließ ich ihr die herzlichste Theilnahme und Schonung angedeihen, nahm sie auch gegen alle Ungerechtigkeiten ihrer Tante in Schutz, die sie gewöhnlich nur la petite servante nannte. Meine Vorräthe an Lebensmitteln, welche ich wieder regelmäßig geschickt bekam, theilte ich nicht blos mit Fanny, sondern selbst die übrigen Familienglieder nahmen an unsern Mahlzeiten sehr gern Antheil, besonders Jane und Georgina. Einige Male hatte Lady W. meine Rebhühner, die ich in den Keller hatte stellen lassen, sich angeeignet. Fanny fühlte sich unbeschreiblich unglücklich, sie versicherte mich oft, daß es ihr einziger Wunsch sei, einen Curat zu finden, der sie entführen wolle, um der Speculation ihrer Familie entrückt zu sein, welche sie mit Herrn W.’s ältestem Sohne Richard, ihrem heftigsten Antipoden, vermählen wollte. Algernon, der für den an mir verübten Bubenstreich nicht die mindeste Züchtigung empfangen hatte, genoß außer meinem Unterricht, für den ich gar nicht engagirt war, keinen, sondern trieb sich die meiste Zeit mit den Straßenbuben herum, Thierquälereien und andere schlechte Streiche ausübend. Ich hatte in dieser Familie nichts als Noth und Undank seither erfahren, die gewissenlose Mutter stand mir gegen die Angriffe ihres entarteten Sohnes nicht bei, und es war daher ganz natürlich, daß mir an diesem Engagement nichts lag und ich den letzteren nunmehr immer entschiedener selbst zurecht wies, selbst auf die Gefahr hin, jenes zu verlieren. Als daher Algernon, bereits ein angehender Wüstling, eines Tages sich eine Frechheit gegen mich erlaubte, reichte ich ihm ein Paar Ohrfeigen und beklagte mich gegen seine Mutter. Aber Lady Maria nahm nichtsdestoweniger nicht nur seine Parthie, sondern machte eine derartige Scene, daß ich noch am selben Tage das Haus verließ und nach London abreiste, wo ich mich bei einer anständigen Dame als Kostgängerin provisorisch verdingte, womit v. T. vollkommen einverstanden war. An Fräulein Louise C. verspürte ich sofort die Wirkung der ehrenwerthen Bemühungen meiner Landsmännin G., aus deren triefenden Augen eine selige Schadenfreude grinste; ich mußte lachen über den Haß dieser physischen [138] und moralischen Abnormität, und strafte sie für ihre Bosheit auf die empfindlichste Weise. Ich stellte mich nämlich traurig, wodurch sie veranlaßt ward, mir einzureden, daß es für mich am gerathensten sei, England schleunigst zu verlassen, und als sie nun so im besten Zuge war, dankte ich ihr plötzlich laut lachend für ihre herzliche Theilnahme, indem ich hinzufügte: „Was denken Sie, liebe G., ich England verlassen, nachdem ich in einem der ersten Häuser seit gestern angestellt worden bin?“

Ihr Gesicht wurde bei diesen Worten noch reizender, als es von Natur war, und sie fragte mit gedehntem Tone im langsamsten Adagio: „Darf man fragen, in welchem?“

„Bei der Marquise von S. mit hundert Guineen Gehalt,“ sagte ich kurz und ließ die neue Salzsäule stehen, deren letzter Ton ein langgezogenes Waaaas? war.

Der Marquis von S. war lange Gouverneur von Jamaika gewesen, hatte sich um die Emanzipation der Schwarzen und die Unterdrückung des Sclavenhandels sehr verdient gemacht und stand in hohem Ansehen, sowohl wegen seines Ranges und Reichthums, wie wegen seiner persönlichen Eigenschaften. Ich hatte bei meiner Unterhandlung mit der Marquise von meinem Aufenthalt in Lady W.’s Familie natürlich nichts erwähnt, als ich sie jedoch und sie mich näher kannte, erzählte ich ihr sehr ausführlich, wie es mir dort gegangen war und weshalb ich so plötzlich das Haus verlassen hatte. Bei dieser Unterredung erfuhr ich, daß Fanny mit einem Curat davon gelaufen war und sich vom Schmidt in Gretna Green hatte trauen lassen. Ich fand in der Marquise von S. eine jener seltenen Mütter, die, gerecht und verständig, die Fehler ihrer Kinder sehen und zu bessern wünschen, während in vornehmen Häusern gewöhnlich der Sitz der Affenliebe ist. Sie machte mich sogleich mit den Charakteren meiner drei Zöglinge bekannt, von denen Harriett siebenzehn, Emily vierzehn und Hester sieben Jahre alt war, und gab mir Vollmacht, dieselben zu leiten und zu strafen nach meinem Gut dünken, mich versichernd, sie nehme nie eine Klage von ihren Kindern über die Gouvernanten an, welche letztere sie vielmehr immer unterstütze. Die Behandlung, welche mir in dieser Familie zu Theil ward, war eine sehr liebreiche und achtungsvolle, auf der Promenade, bei Tische und andern Gelegenheiten gaben mir die älteren Fräuleins, Elisabeth und Katharine, stets den Vorrang und erwiesen mir so manche Artigkeit, die [139] ich ihnen als eine sehr edle Herablassung auch dankte. Von dreizehn Kindern, welche die Marquise am Leben hatte, war erst die älteste Tochter verheirathet, von den fünf Söhnen war nur der älteste, Graf Altamont, zu Hause, zwei dienten ihrem Vaterlande, und zwei waren in Pension. Zwei kleine Mädchen waren noch in der Kinderstube. Mein Posten war jedoch trotz der außerordentlichen geselligen und anderer Vortheile, die ich genoß, ein höchst schwieriger, weil meine Vorgängerinnen ihren Zöglingen stets gehuldigt hatten, so daß meine geraden Ansichten von Recht, so wie mein Eifer für ihre Fortschritte durchaus keinen Anklang bei ihnen fanden. Leider waren Harriett und Emily schon in dem Alter, wo Lenksamkeit und Bildungsfähigkeit des Charakters nur ausnahmsweise noch zu finden sind, und es erforderte meinerseits weit mehr Nachsicht und Duldung als ein entschiedenes Entgegentreten. Denn hätte ich mir ihre Feindschaft zugezogen, so wäre Alles verloren gewesen. Die meisten Schwierigkeiten bot der Charakter Hesters, eines Kindes, welches von seinen Geschwistern ganz verzärtelt wurde und wie alle seines Gleichen war, boshaft, halsstarrig und lügenhaft. Die gelindeste Strafe, im Winkel stehen, erwiederte sie mit so heftigem Geschrei, daß Haus und Straße zusammenliefen, und erzählte dann trotz des Zeugnisses ihrer beiden anderen Schwestern, daß sie unbarmherzig geschlagen worden sei. Ich hatte ihretwegen viel Kummer und manchen harten Kampf zu bestehen, um so mehr, als die Familie eine sehr zahlreiche war, und die Schwierigkeit, allen gerecht zu werden, um so größer wurde. Obgleich ich dem edeln und würdevollen Benehmen der Marquise v. S., welche sich nie zu Intriguen und Gemeinheiten herabließ, volle Anerkennung zollen muß, die Familie auch einen hohen Grad von Bildung besaß, so vermißte ich doch die echte Religiosität mit allen ihren beseligenden Wirkungen, mit einem Worte, den eigentlichen Geist des wahren Christenthums, welcher Frau S. beseelte und einen so läuternden Einfluß auf alle ihre Umgebungen ausübte. Wie oft gedachte ich jener seligen Stunden, die ich mit jener Familie im traulichen Austausch unserer Gedanken, oder im Kreise gleichgesinnter Freunde, oder in der Kirche, oder in der Kapelle zubrachte, wo Herr H. die Weihe und Kraft des Christenthums darstellte und unseren Gemüthern die Begeisterung mittheilte, die ihn beseelte. O, ich hätte alle die glänzenden Bälle und Soireen, denen ich hier beiwohnte, und alle die Huldigungen, welche mir hier gezollt wurden, für eine einzige jener herzerhebenden Stunden [140] hingegeben. Leider starb Mistreß S. in diesem Frühling, und ich betrauerte in ihr meine beste Freundin und Beschützerin; ihr Andenken wird meinem Herzen unvergeßlich bleiben.