Das zweite Gesicht
[224] Das zweite Gesicht. – Vor Ausbruch des russisch-japanischen Krieges war in dem Salon der Gräfin W. in Petersburg eines Abends eine Anzahl höherer russischer Würdenträger und Künstler versammelt. Man sprach über die politische Lage, über die Zuspitzung der Verhältnisse in Ostasien und die Aussichten, die Rußland bei einem Kriege mit Japan hätte. Unter den Anwesenden befand sich auch General Kuropatkin und die Baronin v. Fursa, eine weißhaarige Matrone, der man die Gabe des zweiten Gesichts nachrühmte.
Frau v. Fursa beteiligte sich ausfallend wenig an dem Gespräch. Da fragte Kuropatkin sie, ob sie ihm nicht vielleicht auf Grund ihrer Sehergabe etwas über die kommenden Schicksale Rußlands angeben könne.
Die Baronin, die sehr wohl den etwas spöttischen Ton aus den Worten des Generals herausgehört hatte, erwiderte [225] kühl: „Sie lächeln im Innern über mich, die das Unglück hat, unglückliche Ereignisse vorauszuahnen. Das weiß ich. Ich werde Ihnen morgen einen versiegelten Brief zuschicken, General. Öffnen Sie ihn aber auf Ihr Ehrenwort erst nach zwei Jahren!“
Kuropatkin, der das Schreiben wirklich erhielt, hatte den Vorfall in dem Salon der Gräfin W. trotz der inzwischen auf ihn einstürmenden Ereignisse nicht vergessen. Am 2. Dezember 1905, kurz nach Abschluß des Friedens mit Japan, fanden sich einer Verabredung gemäß alle jene Personen wieder bei der Gräfin W. ein, die vor zwei Jahren Zeugen der geheimnisvollen Worte der Frau v. Fursa gewesen waren. Als letzter erschien Kuropatkin. Vor aller Augen öffnete er den versiegelten Brief und las laut dessen Inhalt vor.
Die Baronin hatte fraglos die unglückliche Seeschlacht bei Tsushima als zweites Gesicht geschaut. –
Die Freifrau v. S., deren Sohn mit zu dem Expeditionskorps gegen die Herero gehörte, war in den Kreisen ihrer Bekannten gleichfalls dafür bekannt, daß sie die Gabe des zweiten Gesichts besitze. Frau v. S. soll durch diese Fähigkeit, Ereignisse im Bilde voraussehen zu können, in ihrer ganzen [226] Gemütsverfassung schwer geschädigt worden sein. Als ihr Sohn nach Südwest aufbrach, äußerte sie zu einer Freundin angstvoll: „Wenn ich nur davon verschont bliebe, Herberts Schicksal vorauszuahnen! Das könnte mein Tod sein.“
Einige Monate später befand sich Frau v. S. mit ihrem Gatten abends im Kurtheater von Kissingen. Man gab einen sehr übermütigen, modernen Schwank. Plötzlich mitten im zweiten Akt umkrampfte sie angstvoll den Arm ihres Gatten, stieß einen lauten Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Erst in ihrem Hotelzimmer kam sie wieder zu sich. Zunächst wich sie den Fragen ihres Gatten nach der Ursache des schweren Anfalls aus. Dann erzählte sie schließlich auf sein Drängen hin zögernd, sie habe plötzlich auf der Bühne ein ganz anderes Bild geschaut – eine tropische Landschaft, die von Kämpfenden belebt war, darunter auch ihren Sohn, dem von einem Schwarzen mit einem Speer die Brust durchbohrt wurde.
Vierzehn Tage später trafen aus Südwest die neuesten Verlustlisten ein. Unter den Gefallenen befand sich auch Oberleutnant Herbert v. S. Er war wirklich an demselben Abend geblieben, als seine Mutter im Kissinger Kurtheater das zweite Gesicht hatte.
Frau v. S. starb wenige Tage darauf an einem heftigen Nervenfieber.