« Einleitung Das vierte Buch Esra Kapitel 4 »
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Erstes Gesicht[1].

1[2] Im dreißigsten Jahre[3] nach dem Untergange der Stadt verweilte ich Salathiel[4] (der auch Esra heißt) in Babel, und als ich einmal auf meinem Bette lag, geriet ich in Bestürzung, und meine Gedanken gingen mir zu Herzen[5], 2 weil ich Zion verwüstet, Babels Bewohner aber im Überfluß[6] sah. 3 Da ward mein Gemüt heftig erregt, und in meiner Angst[7] begann ich, zum Höchsten zu reden.

Das Problem: Woher kommt die Sünde und das Elend dieser Welt?[8].

4 Ich sprach: Herr Gott[9], bist du es nicht, der im Anfang[10], als du die Erde bildetest, gesprochen, du ganz allein[11], und dem Staube befohlen hast, 5 daß er dir Adam hervorbrachte [353] als leblosen Körper; aber auch der war ein Gebilde deiner Hände[12]. Du hauchtest ihm den Odem des Lebens ein, daß er vor dir lebendig ward. 6 Dann führtest du ihn ins Paradies, das deine Rechte gepflanzt hatte, ehe die Erde ward[13], 7 und legtest ihm ein einziges Gebot[14] von dir auf; er aber übertrat es. Allsobald verordnetest du über ihn den Tod, wie über seine Nachkommen[15]. — Aus ihm wurden geboren Völker und Stämme, Nationen und Geschlechter ohne Zahl. 8 Aber jedes Geschlecht wandelte nach seinem eigenen Willen; sie handelten gottlos vor dir und fielen ab[16]: du aber hast sie nicht gehindert! 9 Wiederum aber, als die Zeit gekommen[17], brachtest du die Sintflut über ’die Erde und‘[18] die Bewohner der Welt[19] und vertilgtest sie; 10 über sie alle kam der Untergang mit einem Male. Wie über Adam der Tod, so kam über sie die Flut. — 11 Einen aber von ihnen hast du verschont, Noah samt seinem Hause, alle Frommen, die von ihm stammten[20]. 12 Als nun die Erdenbewohner sich zu mehren begannen[21] und viele Kinder, ja Völker und zahlreiche Geschlechter erzeugten, da[22] begannen sie wiederum gottlos zu handeln, mehr als die Geschlechter vor ihnen. 13 Als sie nun so böse vor dir lebten, erwähltest du dir Einen von ihnen; der hieß Abraham. 14 Den hattest du lieb und offenbartest ihm allein das Ende der Zeiten, im Geheimen bei Nacht[23]; 15 du schlossest mit ihm einen ewigen Bund und versprachst ihm, seinen Samen niemals zu verlassen[24]. Du schenktest ihm Isaak, Isaak aber schenktest du Jakob und Esau[25]. 16 Und du erkorst dir Isaak, Esau aber verschmähtest du[26]. Und Jakob wurde zu einem großen Heer[27]. — 17 Als du aber seinen Samen aus Ägypten führtest und sie an den Berg[28] Sinai brachtest,

18 da[29] neigtest du die Himmel[30],
’bewegtest‘[31] die Erde
und erschüttertest den Weltkreis,
daß die Tiefen erbebten
und ’die Äonen‘[32] erschraken.



[354] 19 Dann ging deine Herrlichkeit durch die vier Thore[33], des Feuers, Erdbebens, Sturms und Hagels,


um dem Samen Jakobs Gesetz zu geben

und dem Geschlechte Israels Gebot[34].

20 Aber du nahmst das böse Herz nicht von ihnen, daß dein Gesetz in ihnen Frucht trüge. 21 Denn um seines bösen Herzens willen geriet der erste Adam[35] in Sünde und Schuld[36], und ebenso alle, die von ihm geboren sind. 22 So ward die Krankheit dauernd: das Gesetz war zwar im Herzen des Volks, aber zusammen mit dem schlimmen Keime[37]. So schwand, was gut ist; aber das Böse blieb. — 23 Als aber die Zeiten um waren und die Jahre zu Ende, da erwecktest du dir einen Knecht Namens David. 24 Du befahlst ihm, die Stadt, die nach dir heißt[38], zu bauen[39] und dir darinnen von deinem Eigentum[40] Opfer zu bringen[41]; 25 und so geschah es lange Jahre. — Die Bürger der Stadt aber sündigten 26 und handelten in Allem wie Adam und alle seine Nachkommen[42], denn sie hatten ja selber das böse Herz. 27 Da gabst du deine Stadt deinen Feinden preis. 28 Damals aber sprach ich bei mir: Handeln etwa Babels Bewohner besser? Hat er deshalb Zion ’verworfen‘?[43]29 Als ich dann hierher kam und die Gottlosigkeiten ohne Zahl sah, und meine Seele viele sündigen sah, nun schon dreißig Jahre, da[44] entsetzte sich[45] mein Herz; 30 denn ich sah,

wie du sie, die Sünder, trägst

und die Gottlosen ’verschonst‘[46],
wie du dein Volk vernichtet

und deine Feinde erhalten hast,

31 und niemand offenbart hast, wie dieser dein Weg geändert werden soll[47]. ’Hat‘[48] Babel besser gehandelt als Zion? 32 Hat dich ein anderes Volk erkannt außer Israel? oder welche Stämme haben so deinen Bündnissen geglaubt wie die Jakobs? 33 deren Lohn nicht erschienen, deren Mühsal[49] keine Frucht getragen! Denn ich habe die Völker hin und her durchwandert[50] und sie im Glück gesehen, obwohl sie deine Gebote vergessen hatten. 34 Nun aber wäge unsere Sünden und die der Weltbewohner auf der Wage, daß sich zeige, wohin der Ausschlag des Balkens sich neigt[51]. 35 Oder wann hätten die Bewohner der Welt vor dir nicht gesündigt? oder welches Geschlecht hätte so deine Gebote erfüllt? 36 Einzelne zwar, mit Namen zu nennen[52], wirst du wohl finden, die deine Gebote gehalten, Völker aber findest du nicht!



  1. In der Einteilung nach „Gesichten“ folge ich der griech. Rekonstruktion in Hilgenfelds Messias Judaeorum 1889.
  2. Die Zählung der Kapitel und Verse nach Bensly-James. Es wäre sehr wünschenswert, wenn eine neue, zum Gedankengang besser passende Zählung geschaffen und dann von allen Herausgebern befolgt würde. In der Vulgata gehen der jüd. Apokalypse zwei christliche Kapitel voraus; vgl. die Einl. S. 332.
  3. Hes. 1,1. Ebenso beginnt die christl. Apoc. Esdrae.
  4. שְׁאַלְתִּיאֵל֙ Esra 3,2; 5,2; Neh. 12,1, Vater des Serubabel.
  5. ἀναβαίνειν ἐπὶ τὴν καρδίαν Hilg. = עָלָה עַל־לֵב.
  6. περισσεία Hilg. = יֶתֶר; Ar¹ paraphrasiert gut plenitudinem divitiasque.
  7. Lat timoratus = εὐλαβής. Rönsch, Itala u. Vulgata, S. 145.
  8. Im Folgenden wirft der Verfasser zwei Fragen auf, die für ihn zusammengehören: 1) die abstrakte: Woher kommt Sünde und Not in der Menschheit? Diese Frage aber ist angeregt und verbindet sich ihm mit der konkreten: 2) Warum ist Israel so sehr in Sünde und Not? Die letztere Frage bekommt ihren Stachel durch die Beobachtung des Glücks der Weltmacht, die doch nach Gott nicht fragt. Der Verfasser [353] hat in diesem ersten Gebet alle seine Gedanken zusammenfassen wollen. Darüber und über der Form der Geschichtserzählung, die er gewählt hat (vgl. die Stephanuspredigt) und die ihn zwingt, mancherlei der Sache ferner Liegendes mitzuerzählen, hat die Durchsichtigkeit der Ausführungen etwas gelitten.
  9. [353] δέσποτα κύριε Hilg. = אדני יהוה.
  10. [353] Dieser Beginn des geschichtlichen Rückblicks mit Adam ist im Gegensatz zu den Propheten, die mit dem Auszuge beginnen, für die Apokalypsen und die neutest. Spekulation charakteristisch. Es ist dies eine Folge des weiteren Horizonts der späteren Zeit.
  11. [353] Gen 2,7f. Dieser Zusatz hat den Zweck, das Problem: woher das böse Herz komme 4,4, zu verschärfen. Woher kommt die Sünde im Menschen, da doch der Mensch ganz allein von Gott herrührt?
  12. Derselbe Ausdruck Apoc. Mosis (ed. Tischendorf) 37 τὸ πλάσμα τῶν χειρῶν αὐτοῦ Ἀδάμ.
  13. πρὶν τὴν γῆν παραγενέσθαι, jüd. Erklärung von מׅקֶּדׅם Gen. 2,8; vgl. Dillmann, Genesis⁶ zur Stelle.
  14. Syr Aeth Ar¹ Arm mandatum; zu dieser Bedeutung von diligentia vgl. Bensly, Missing Fragment S. 56.
  15. Syr (vgl. Aeth) et in generationes eius, Arm et omnibus, quae ex illo gentes erant, Lat et in nationibus eius = καὶ εἰς τὰς γενεὰς αὐτοῦ (דוֹרוֹת).
  16. Lat spernebant wie 7,76.79 ohne Objekt, = ἀθετεῖν (etwa פשׁע) oder καταφρονεῖν = בָגַד (Wellhausen).
  17. Nach der Anschauung 4,37.
  18. Syr super terram et super inhabitantes saeculum; vgl. Aeth.
  19. saeculum = αἰών.
  20. τοὺς ἐξ αὐτοῦ δικαίους πάντας (Volkmar).
  21. Gen. 6,1.
  22. Hier beginnt der Nachsatz; in diesem hebraisierenden Griechisch hat auch der Nachsatz καί.
  23. Gen. 15,9ff. Die Offenbarung, die nach Gen. 15 an Abraham geschehen ist, daß Israel 400 Jahre in Ägypten bleiben und von dort erlöst werden sollte, genügte der späteren Zeit nicht; daher wurde hineininterpretiert, daß dem Abraham auch das Ende der Zeiten damals geoffenbart worden sei; vgl. Ap. Bar. 4,4.
  24. Gen. 17,7.
  25. Nach Jos. 24,3 f.
  26. Syr Ar¹ odisti = ἐμίσησας = שָׂנֵאתָ vgl. Mal. 1,3. Bei Esau denkt der Verfasser nach 6,7-10 an die Weltmacht, Rom.
  27. Gen. 32,11.
  28. ἐπὶ τὸ ὄρος.
  29. Hier folgt der Nachsatz; vgl. zu 3,12.
  30. Ex. 19, 16; vgl. 1 Kön. 19,11 f. Ps. 18,8ff.
  31. Lat statuisti = ἔστησας; Syr Aeth Ar² commovisti = ἔσεισας Volkmar.
  32. Syr Ar¹ saecula = αἰῶνες = עוֹלָמׅים. αἰών ist hier wie 6,1; 8,20 = „Himmel“.
  33. Diese vier Thore sind die Thore der vier (unteren) Himmel, in denen Feuer, Erdbeben, Sturm und Hagel aufbewahrt wird. Diese Anschauung von den (sieben) Himmeln ist ursprünglich eine astronomische Hypothese babylonischer Gelehrten, die damit die verschiedene Bewegung der Planeten haben erklären wollen; im Judentum umgedeutet.
  34. Vgl. zu 3,7.
  35. primus Adam, ὁ πρῶτος Ἀδάμ אָדָם הַקַּדְמוֹנׅי oder הָרִאשׁוֹן, Name des Urmenschen in der Spekulation.
  36. Lat Syr Aeth Ar² et victus est = ἡττήθη (ward verurteilt) Hilg.
  37. D. h. dem Keime der Sünde.
  38. Sie heißt: Gottes Stadt.
  39. Dem Verfasser ist David der Erbauer von Jerusalem.
  40. Weil Gott Alles gehört.
  41. Jerusalem ist dem Verfasser ganz und gar die heilige Stadt; sie ist gebaut, um dort zu opfern.
  42. γενεαί vgl. zu 3,7.
  43. Lat dominavit, wohl korrumpiert aus abominavit nach Syr Ar¹.² Arm.
  44. Hier der Nachsatz; vgl. zu 3,12.
  45. Syr et commotum (turbatum) est, Lat excessit = ἐξέστη Volkmar = חׇרַד.
  46. Syr Aeth pareis.
  47. Lat wird durch Aeth quomodo finis sit huius viae und At¹ cur reieceris tuam viam bestätigt (gegen Hilg.); wörtlich: wie dieser Weg verlassen werden soll, ἀπολείπειν ὁδόν vgl. Jes. 55,7.
  48. Syr Ar¹ Arm fecit; Lat Aeth facit.
  49. Der Ausdruck ist charakteristisch für die spätere jüdische Stimmung, daß das Gesetz den Menschen große Lasten auferlege, eine Stimmung, die uns aus Paulus bekannt ist; ganz anders die Psalmisten, die am Gesetz ihre Freude haben.
  50. Das Particip ist hier wie im 4. Esra sehr häufig an die Stelle des hebr. Inf. abs. getreten; vgl. Bensly, Missing Fragment S. 27, A. 3.
  51. Syr et apparebit momentum scapi non inclinatum; aber für Lat spricht Ar¹.² Arm — momentum puncti = ῥοπὴ ζυγοῦ Hilg.
  52. κατ’ ὀνόματα; gemeint sind Männer wie Hiob und andere gerechte Nicht-Israeliten.
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