Das kurzsichtige Geschlecht

Textdaten
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Autor: C. F.
(= Carl Falkenhorst)
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Titel: Das kurzsichtige Geschlecht
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 122–123
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das kurzsichtige Geschlecht.

Man hat wohl allgemein eingesehen, daß die heutige Schule einseitig wirkt, daß sie zu Mängeln führt, welche die Gesundheit der Jugend schädigen. Der Staat hat auf dem Gebiete der Schulgesundheitspflege bereits viel gethan und ist fortgesetzt mit eingehenden Reformplänen beschäftigt. Aber an all dem Unglück, über das man so sehr klagt, an unserem nervösen blassen kurzsichtigen Geschlecht ist die Schule nicht allein schuld; wir wollen nicht abwägen, wer da mehr sündigt, die Schule oder das Haus – nur das eine wollen wir hervorheben, daß alle staatlichen Reformen nichts oder nur wenig nützen werden, wenn nicht auch das Haus reformiert.

Für heute wollen wir uns auf ein Beispiel beschränken, auf die Kurzsichtigkeit der Schüler.

Das Uebel ist eins der ersten, das man in der modernen Erziehung erkannt hat, und man hat es ganz und gar der Schule in die Schuhe schieben wollen. Die Schulkurzsichtigkeit bildet eine Streitfrage, in der die Meinungen heftig aneinander geraten sind; allein bei diesem Streite ist glücklicherweise soviel Sicheres festgestellt worden, daß wir planmäßig Maßregeln zur Verhütung des Uebels ergreifen können.

Kurzsichtige hat es zu allen Zeiten gegeben, aber die Zahl der brillentrageden Leute hat sich erst während der letzten Jahrzehnte in Deutschland überraschend stark gemehrt. Das kommt nun nicht etwa davon, daß die Brille billiger, sondern davon, daß die Augen des jüngeren Geschlechts wirklich geschädigt wurden.

Die Aerzte unterscheiden zwei Hauptformen von Kurzsichtigkeit: die eine umfaßt die höchsten Grade und ist in der Regel mit inneren Augenerkrankungen (Glaskörpertrübungen, Gefäßhautentzündungen etc.) verbunden, sie ist oft erblich; die zweite ist eine erworbene, eine Folge übermäßiger Naharbeit, das heißt einer Arbeit, bei der das Auge dem Gegestand, den es ansieht, zu sehr genähert wird. Gewöhnlich hält sich diese Art der Kurzsichtigkeit in niederen und mittleren Graden, ohne daß innere Augenkrankheiten hinzukommen, sie kann jedoch unter Umständen auch in die erste schwerere Form übergehen.

Aus den vielen Untersuchungen, welche in den Schulen von Fachärzten angestellt wurden, geht unzweifelhaft hervor, daß unsere Kinder vielfach während der Schuljahre kurzsichtig werden; bei den höheren Schulanstalten ist es auch ziffernmäßig erwiesen, daß die Zahl der kurzsichtigen Schüler in den unteren Klasse geringer ist als in den oberen, daß sie von Klasse zu Klasse steigt. Professor Schmidt-Rimpler, der im Auftrag des preußischen Kultusministers die Augen der Schüler an einer Anzahl von Gymnasien untersucht hat, ist dabei zu einem bemerkenswerten Ergebnis gelangt. Er hat zunächst 702 Schüler eines Gymnasiums untersucht und dieselben nach dreieinhalb Jahren einer zweiten Augenprüfung unterzogen; nach dem Maßstab ihrer Leistungen hat er sie hierauf in drei Klassen: die Fleißigeren, die Fauleren und die Faulsten eingeteilt. Nun fand er, daß die Fleißigeren im Durchschnitt etwas häufiger kurzsichtig wurden als die Fauleren; daß aber die faulsten Jünglinge sich mit Erfolg dem Einfluß der Schulschädlichkeiten entzogen hatten, denn von diesen wurde der geringste Prozentsatz kurzsichtig.

Das Schutzmittel der Faulheit entspricht aber weder den Anforderungen der Schule noch den Wünschen der Eltern. Die Schulhygieine muß andere Mittel zur Verfügung stellen, um das Uebel zu bekämpfen. Sie hat zunächst erwiesen, daß die heutige Erziehung der Jugend in der That Kurzsichtige schafft, ferner weiß sie, daß die Kurzsichtigkeit erblich ist, und erblickt darin eine drohende Gefahr für die Nation selbst; daraus leitet sie mit vollem Rechte ab, daß die Forderungen, die sie an die Schule stellt, unbedingt erfüllt werden müssen, selbst wenn die Ausdehnung des Unterrichts darunter leiden sollte; denn es wäre widersinnig, einen gewissen Bildungsgrad des heranwachsenden Geschlechtes durch Schädigung an dessen Gesundheit zu erkaufen. Nun können aber die Vorschriften, die für die Schule zu erlassen sind, nicht wirksam werden ohne ein gleichzeitiges Vorgehen der Eltern. Für diese erwächst die Frage, wie sie zu Hause die Augen ihrer Kinder schützen sollen.

Die nächste Antwort ist die: es muß für richtige Beleuchtung gesorgt werden, und zwar sowohl am Tage, wie abends beim Lampenlicht. Lichtmessungen oder Messungen der Helligkeit eines Arbeitsplatzes werden die Laien nicht ausführen können; für sie muß man ein praktisches Mittel angeben, das eine allgemeine Prüfung der Helligkeit ermöglicht, wenn es auch naturgemäß nicht ganz genau ist. Um also zu entscheiden, ob die Tagesbeleuchtung eines Arbeitsplatzes zu Hause genügend ist, mögen die Eltern, vorausgesetzt, daß sie selbst normalsichtig sind, ein Zeitungsblatt zur Hand nehmen und darin an dem Arbeitsplatz des Kindes einen in kleiner Schrift gedruckten Artikel lesen. Ist das Lesen in einer Entfernung von 30 cm bereits mit Schwierigkeit verbunden, so ist die Beleuchtung ungenügend und man muß einen besseren Arbeitsplatz beschaffen. Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß die Tagesbeleuchtung wechselt; ein Platz, der an hellen Tagen noch gut und zweckmäßig erscheint, wird an trüben Tagen nicht mehr den Anforderungen der Hygieine genügen. Am gefährlichsten sind die Abendstunden. „Wenn die Schüler ihre Arbeiten gemacht haben,“ schreibt Professor Schmidt-Rimpler, „benutzen sie gern die Dämmerung, um sich in ihre Privatlektüre zu vertiefen. Da diese in der Regel aber die jungen Köpfe etwas mehr erregt als die Schularbeiten, so kommt noch zu dem angestrengten Sehen die geistige Anspannung und der dadurch bedingte stärkere Blutandrang nach dem Kopfe hinzu. Es muß daher besonders darauf Gewicht gelegt werden, daß in der Dämmerung jede Augenarbeit überhaupt fortfalle. Man verdunkle nötigenfalls etwas früher und zünde Licht an.“

Damit stehen wir vor der Frage der künstlichen Beleuchtung im Hause. Professor Hermann Cohn hat die Bedingungen einer zweckmäßigen künstlichen Beleuchtung dahin zusammengefaßt: das Licht soll nicht blenden, nicht zucken, nicht zu heiß und nicht zu schwach sein. Die Petroleumlampe, wie sie jetzt gebräuchlich ist, [123] entspricht am besten diesen Anforderungen. Mit Milchglasglocke versehen, blendet sie nicht, sie ist, in richtige Entfernung gestellt, auch nicht zu heiß, ihr Licht zuckt nicht; nur in einer Beziehung muß man auf ihre richtige Verwendung achten: sie muß so gestellt werden, daß sie genügende Helligkeit auf den Arbeitsplatz wirft. Das hängt wieder von der Leuchtkraft der Lampe ab. Zahlreiche Prüfungen der im Handel vorkommenden, für den Familiengebrauch bestimmten Lampen haben nun ergeben, daß eine gute Petroleumlampe in einem halben Meter Entfernung noch genügendes Licht giebt, darüber hinaus sollte man aber nicht gehen; sonst schädigt man das Auge durch eine zu schwache Beleuchtung. Nur bei wenigen Lampen wie z. B. bei den hygieinischen Normallampen oder bei den „Mitrailleusenbrennern“ kann man auch bei einer Entfernung des Lichts von 0,75 m und mehr genügende Helligkeit erzielen. Solche Lampen sind darum dort zu empfehlen, wo mehrere Kinder an einem Tische arbeiten. Das Ideal, daß jedes Kind seine eigene Arbeitslampe haben solle, wird sich im praktischen Leben nicht gut durchführen lassen.

Daß das Licht beim Schreiben stets von der linken Seite auf das Heft fallen müsse, ist so bekannt, daß man es hier nur zu erwähnen braucht.

Eine schlechte, namentlich eine zu schwache Beleuchtung übt hauptsächlich darum einen verderblichen Einfluß aus, weil das Auge durch sie gezwungen wird, sich dem Sehgegenstand übermäßig zu nähern, wodurch das Anpassungsvermögen des Auges überangestrengt wird. Diese Ueberanstrengung findet aber auch bei guter Beleuchtung statt, wenn wir unnötigerweise die Augen zu nahe an das Heft oder das Buch bringen. Auch in dieser Beziehung giebt es einen Maßstab für das richtige Verhalten.

Medizinalrat Rembold erklärt, daß eine Annäherung des Sehobjektes um mehr als 25 cm an das normale Auge unter allen Umständen als gefährlich zu bezeichnen ist; geschieht dies dauernd, so kann es zur Entwicklung der Kurzsichtigkeit Veranlassung geben.

Nun ist diese übermäßige Annäherung des Sehobjekts gerade bei Kindern am meisten üblich. Nach den Beobachtungen Rembolds, die sich auf über 500 Schulkinder im Alter von 6 bis 14 Jahren erstreckten, hielt nur ein Drittel derselben beim Schreiben die Augen 25 cm oder mehr von der Federspitze entfernt, zwei Drittel näherten ihre Augen dem Papier in unmittelbar gesundheitsschädlicher Weise. Je jünger die Kinder, desto schlimmer mitunter das Verhältnis; in einer Klasse sechsjähriger Mädchen hielt nicht ein einziges die Entfernung von 25 cm ein, fast alle kamen mit dem Auge auf 15 cm und noch näher heran. Beim Lesen ist es nicht besser: auch hier stecken die Kinder die Köpfchen viel zu tief in die Bücher hinein. So wird schon in den frühesten Jahren der Grund zur Kurzsichtigkeit gelegt.

Zu einem derartigen gesundheitswidrigen Lesen und Schreiben werden die Kinder in erster Linie durch unzweckmäßige Bänke, Stühle und Tische verleitet oder geradezu gezwungen. Darum ist zwischen Tisch und Stuhl eine richtige Uebereinstimmung herzustellen; ein Stuhl, der für ein Erwachsenes paßt, eignet sich nicht als Arbeitssitz für ein Kind. Es giebt nun eine ganze Anzahl von Arbeitstischen, die gleich mit verstellbaren Sitzen verbunden sind und für eine Reihe von Altersstufen ausreichen; aber abgesehen vom Kostenpunkt, lassen sich solche Möbel nicht immer zweckmäßig im Wohnzimmer unterbringen, namentlich da, wo eine kinderreiche Familie mit dem Raume sparen muß. Dagegen giebt es höher und niedriger zu stellende Stühle von so einfacher Einrichtung, daß selbst ein sechsjähriges Kind das Stellen besorgen kann. Dieselben kosten nur wenige Mark und lassen sich leicht in ein richtiges Verhältnis zur Höhe des Familientisches bringen. Einen solchen Stuhl sollte zu Hause ein jedes Kind besitzen.

Ist die Sitzfrage erledigt, so kommt es darauf an, daß das Kind auch dann noch die richtige Haltung bewahrt, daß es sich nicht überbeugt und das Auge so wieder dem Papier oder dem Buche zu sehr nähert. Um das zu verhüten, hat man eine ganze Anzahl Geradehalter, Kinnstützen u. dergl. empfohlen. Wir möchten denselben nicht das Wort reden, nur im äußersten Notfall sollte man zu ihnen greifen. Ebenso dürfte den wenigsten ein Vorschlag Schmidt-Rimplers annehmbar erscheinen, welcher lautet: „Mädchen kann man auch mit ihrem Zopfe an die Stuhllehne binden.“

Die Haltung des Körpers hängt ab von der Lage des Heftes und der Art der Schrift. In dieser Beziehung ist nun leider unter den Pädagogen keine Einigkeit zu finden. Bald wird die Schrägschrift, bald die Steilschrift empfohlen, bald wird das Heft so gelegt, daß dessen unterer Rand mit der Tischkante gleich läuft, bald so, daß er mit dieser einen Winkel von etwa 45° bildet.

Mit Rücksicht auf diese Verschiedenheit ist es zweckmäßig, im Hause diejenige Methode zu üben, die in der betreffenden Schule gehandhabt wird. Die Schule ist hier maßgebend, das Haus muß sich ihr unterordnen; denn die Einwirkung auf die Schüler muß einheitlich sein, damit keine Verwirrung entstehe.

Nun hat Professor Schmidt-Rimpler einen Vorschlag zur Bekämpfung der Kurzsichtigkeit gemacht, welcher die höchste und dringendste Beachtung verdient. Er lautet: „Den Eltern ist eine gedruckte Belehrung über gesundheitsgemäßen Sitz und Haltung der Kinder beim Arbeiten, über Subsellien und Beleuchtung zu geben. Es läßt sich das Wichtigste in einige Sätze fassen und es könnten dieselben der Schulordnung, die fast überall bei der Aufnahme den Schülern übergeben wird, beigefügt werden. Die ungünstigen Verhältnisse im elterlichen Hause schädigen sicher oft mehr die Augen als die Arbeit in der Schule; wenn man die Aufmerksamkeit hierauf besonders lenkt und die erforderlichen Maßnahmen angiebt, so wird recht oft der gewünschte Erfolg erreicht werden.“

Der Schutz der Augen, den die Eltern im Hause anstreben müssen, soll sich aber auch auf andere Beschäftigungen erstrecken, die mit den Schularbeiten nicht zusammenhängen. Man klagt über das Uebermaß der Arbeit in der Schule und für die Schule, überbürdet aber die Jugend mit verschiedenen Nebenstunden, von denen vor allem der Musikunterricht in Betracht kommt. Dieser sollte nur dann durchgesetzt werden, wenn wirkliche Begabung und Lust vorhanden sind. Auch allerlei Liebhaberkünste, welche die Schüler betreiben, können die Augen übermäßig anstrengen; hier ist ebenso darauf zu achten, daß des Guten nicht zuviel geschehe. Man verlangt, daß die Kinder die Nachmittage frei bekommen; aber diese Zeit soll dann nicht zum Stubenhocken verwendel werden. Die Jugend muß hinaus in die freie Natur, wo sich der Blick erweitert und stärkt, wo er an die Fernsicht gewöhnt wird.

Eine besonders gefährliche Rolle spielt die Privatlektüre der „reiferen“ Jugend, die Indianergeschichten und Erzählungen aller Art. Auch sie ist vom augenpolizeilichen Standpunkt zu überwachen. Bücher mit schlechtem Papier, auf dem der Druck von der anderen Seite durchscheint, sollten verbannt sein, ebenso solche mit kleiner Druckschrift. Diese augenmörderischen Erzeugnisse passen nicht für die Jugend; denn wir dürfen nicht vergessen, daß gerade das jugendliche Auge am leichtesten die Kurzsichtigkeit erwerben kann, und diese Empfänglichkeit reicht bis in das fünfzehnte und sechzehnte Lebensjahr, unter Umständen noch darüber hinaus.

Den Müttern gegenüber muß betont werden, daß auch die weiblichen Handarbeiten ebenso behandelt werden müssen wie das Lesen und Schreiben. Die Nähterin oder die Stickerin ist im frühen Alter der Gefahr, kurzsichtig zu werden, in erhöhtem Maße ausgesetzt.

Für die jugendlichen Fabrikarbeiter wird von allen Parteien ohne Ausnahme ein besonderer Schutz angestrebt. Diesen Schutz verdienen die kleinen geistigen Arbeiter um so dringender, denn die geistige Arbeit ist angreifender als die körperliche. Der Staat thut augenblicklich, was in seinen Kräften steht, überall wird die bessernde Hand angelegt, damit ein thatkräftiges, lebensfrohes, mit gesunden Sinnen begabtes Geschlecht herangezogen werde. Den Eltern fällt die dankbare Aufgabe zu, dieses Reformwerk zu Hause zu fördern. Der Gegensatz zwischen Haus und Schule, von dem mitunter so viel gesprochen und geschrieben wird, ist in der Natur der Sache nicht begründet. Schule und Haus müssen sich in ihrem Wirken ergänzen.

Alle Erfahrungen der hervorragendsten Aerzte haben erwiesen, daß ein Kampf gegen das weitere Umsichgreifen der Schulkurzsichtigkeit auf Erfolg rechnen kann, wenn Staat, Lehrer und Eltern sich zielbewußt vereinigen. „Aber,“ möchten wir mit den Worten Schmidt-Rimplers schließen, „man stelle dabei auch alle selbstsüchtigen Erwägungen, wer mehr zu leisten habe oder mehr verschulde, hintan und gehe in guter Kameradschaft und Energie dem Feinde zu Leibe!“ C. F.