Das erste Dresdner lutherische Gesangbuch 1593

Theodor Körners Vorfahren Das erste Dresdner lutherische Gesangbuch 1593 (1894) von Reinhard Rade
Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 1 (1892 bis 1896)
Ursprung der Sachsenhymne
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Das erste Dresdner lutherische Gesangbuch
1593.
Von Oberlehrer Dr. Reinhard Rade.

Drei Jahrhunderte haben sich nunmehr vollendet, seit in Dresden das erste lutherische Gesangbuch erschien. Es ist das für die Entwickelung unserer städtischen Kirchenmusik ein zu bedeutendes Vorkommniß, als daß man es mit Stillschweigen übergehen dürfte.

Zwar erwähnen Wackernagel (Bibliographie) und Fischer (Kirchenliederlexikon) gelegentlich ein Dresdner Gesangbuch von 1589. Gesehen hat es keiner von beiden. Erschien dann 1590 wirklich eine Liedersammlung unter dem Titel: „Kirchen Geseng und Geistliche Lieder“, so ist dies doch nur ein Erzeugniß des Crellschen Kryptocalvinismus und kaum ein Gesangbuch zu nennen, wie es ja auch nicht einmal diese Bezeichnung an der Stirn trägt. Dazu ist es – wie Dibelius (Beiträge zur Sächs. Kirchengeschichte I, 231) treffend bemerkt – bei dem zeitweiligen Drucker Hieronymus Schütz und nicht bei dem streng protestantischen Hofbuchdrucker Gimel Bergen gedruckt.

Verschwand daher jenes geistliche Liederbuch ebenso schnell wieder, wie die ganze neu aufgekommene Richtung, der es seinen Ursprung verdankte, so hatte das erste lutherische Gesangbuch von 1593 dauernden Werth, ja maßgebenden Erfolg nicht blos für Dresden, sondern auch für spätere Sammlungen der Art in anderen Städten Sachsens.

Der Verfasser und Herausgeber ist der vierte Dresdner Kapellmeister seit Anbeginn dieses Kunstinstituts: Rogier Michael. Er selber nennt sich einmal „Michel von Bergen“ und eine spätere Personalliste setzt hinzu: „von Berg in Hennigaw“. Damit kann nur die belgische Stadt Mons unweit der französischen Grenze gemeint sein, in der er um 1550 geboren wurde. Der Vater durfte den Titel eines wohlbestallten „Mechanikus und Musikus“ Sr. Majestät des Kaisers Ferdinand I. tragen; die Familie war also eine musikalische. 1574 finden wir unsern Künstler in Onolzbach wieder, wo er sich unter den Sängern der Kapelle des Markgrafen Georg Friedrich befindet und von da durch die Markgräfin Emilia, die Schwester des Kurfürsten August, nach Dresden empfohlen wird. Der Kurfürst gab aus Torgau unterm 26. Juni 1574 den Befehl, der Kapellmeister Antonius Scandellus wolle „Rogier Michelln hören, ob er zu unserer Kapelle zu gebrauchen, sich auch bei ihm erkunden, was er zu Onolzbach zur Besoldung gehabt, alle Gelegenheit hinwieder schriftlich berichten und des Bescheides darauf gewarten.“ Schon 14 Tage später befahl der Kurfürst, er wolle ihn selbst hören und sich seiner Besoldung halber mit ihm vergleichen. Am 1. Februar 1575 traf von Annaburg die Bestallung ein, die ihn „zum Singer und Musiko“ in die Hofkapelle aufnahm unter dem Beding, daß er „getreu, holt und dienstgewärtigk sei und die Wohlfahrt befürdere.“ Er bezog einen Gehalt von 144 Gulden.

Doch die Sängerthätigkeit gab nur die Einleitung zu Weiterem. Scandellus war hochbetagt 1580 gestorben. Man glaubte wieder einen Italiener holen zu müssen und ließ sich einen Edlen aus Genua, Pinellus de Gerardis, von Kaiser Rudolph II. empfohlen sein. Aber üble Erfahrungen mit diesem aufbrausenden Künstler bewiesen deutlich, daß er zu dem Amte eines Kirchendieners sich nicht eigne. Nach des Kurfürsten Tode griff man zunächst zu dem um 6 Jahre länger bediensteten Georg Forster aus Annaberg, doch als dieser schon nach 18 Monden starb, stellte man am 12. Dezember 1587 Rogier Michael an. „Doch soll er auch guten, getreuen Fleiß anwenden, damit unsere Hofkantorei in Würden und gutem Wesen verbleibe und wir daran eine Zier und Ehre gegen Fremde haben mögen.“ Sein Gehalt betrug anfangs 400 Gulden, erfuhr aber 1592 eine Beschränkung auf 300 Gulden; vier Söhne und eine Schaar Sänger umgaben ihn, unter denen sich berühmte Leute heranbildeten, wie der spätere Freiberger Superintendent Abraham Gensreff und der Leipziger Thomaskantor Hermann Schein.

Wesentlich bleibt nun sein Antheil bei der Herausgabe des Dresdner Gesangbuches. Der erste Theil führt den Titel:

Gesangbuch: | Christlicher Psalmen, vnd | Kirchen Lieder D. MARTINI LVTHERI, | und anderer frommen Christen. | Alle sampt mit den Noten, vnnd ihren rech- | ten Melodeyen, wie solche in der Churfürstlichen Sächsischen | Schloßkirchen zu Dreßden gesungen werden. | Desgleichen etliche mit Vier stimmen, künstlichen | abgesetzet, Wie im andern Theil zu finden. | Jetzt vffs new nach den Festen, und nach D. Lutheri | Catechismo, auch vff die begräbnis Lateinisch vnd Deutsch, | fein ordentlich in zwey Theil verfasset, vnd zusammen gebracht, | desgleichen zuvor niemals geschehen. | Allen Christlichen frommen Haußvätern vnd Haußmüttern inn ihren | Heusern, mit ihren Kinderlein, so wol als in Kirchen vnnd | Schulen, sehr nützlichen und dienstlichen. | Gedruckt in der Churf. Stad Dreßden, durch Gimel Bergen. | Cum Privilegio, Friderici Wilhelmi Electi Sax: Administ: | ANNO M. D. XCIII. |

Dieser erste Theil enthält auf 9 Seiten eine Dedikation, „den Herren, Praefecto ... Burgermeistern unnd Rath der Kayserlichen Stad Breßlau ... dat. 25. Jul. [146] 1593“, gezeichnet von dem Herausgeber: „Martinus Fritzsch neben dem Churf. Sächsi. Capelmeister verordneter Musicus“". Auf der 14. Seite befindet sich das Portrait Luthers, von Seite 15–21 die bekannte Vorrede Luthers, darauf folgen Titelordnung und 24 Seiten Register, woran sich Bl. 1–352 die Gesänge mit den Melodien anschließen, beginnend mit „Nu komm der Heyden Heilandt“ und endigend mit: „Von meines Herzens Grunde“. Nur 2 Lieder (Bl. 308–10), „Lobet den Herrn“ und (Bl. 345-47) „O Lamb Gottes unschuldig“, sind vierstimmig gesetzt, die übrigen alle nur einstimmig gegeben. Auf dem letzten Blatt stehen nochmals Drucker und Druckort, sowie „In Vorlegung des Erbarn und Wolgeachten Bernhardt Schmidt, Bürger und Materialist inn Dreßden. Anno 1593“ (vgl. Wackernagel, Kirchenlied Nr. 1026). Exemplaren begegnen wir häufig, z. B. auf der Dresdner kgl. Bibliothek und in der Breßlauer Stadtbibliothek (vgl. Emil Bohn, Bibliographie Seite 199).

Der zweite Theil aber, von dem schon der Titel des ersten sprach, ist ungleich seltener und viel werthvoller, weil er die vierstimmigen Bearbeitungen Michaels enthält. Dibelius (a. a. O.) kennt ihn wohl nicht, da er glaubt, die Ausgabe von 1597 sei der 2. Theil derjenigen von 1593. Er führt den besonderen Titel:

Der Ander Theil: | der Gebreuchlichsten und vor – | nembsten Gesenge, D. Mart. Luth. | und anderer frommen Christen. || (Luthers Portrait) || Jtzo auffs newe mit fleis Componieret, | vnd den Choral durchaus in Discant | geführet, durch | Rogier Michael, dieser zeit, Churf. Sächsi. | verordneten Cappelmeister. | Cuni gratia et privilegio. |
Dreßden bey Gimel Bergen. || Anno M. D. XCIII. |

Der Band enthält auf 39 Blatt 32 deutsche Gesänge; die 4 Stimmen sind sich gegenüber gedruckt und auf der letzten Seite stehen Drucker, Druckort und folgende Notiz angegeben: „In Vorlegung des Namhafften Martini Fritzschen, Churf. Sächsi. Verordenten und bestallten Hoff Musici: auch von ihm selbst Gecorrigiret, angeordnet, unnd inn Druck vorfertiget.“

Dieser Band ist von der äußersten Seltenheit und es hat mir nur 2 Exemplare davon nachzuweisen gelingen wollen: das eine in Wittenberg, das andere in der Breslauer Stadtbibliothek (vgl. E. Bohn, a. a. O. Seite 200). Freilich bietet Michaels jahrelanges Werk nur kleine, unscheinbare Tonstücke, Kunstwerke in beschränktem Rahmen; aber die Neuerung, die Melodie durchweg in den Discant zu verlegen, war für Sachsen wenigstens ganz neu; sie war nur von Osiander in Württemberg schon versucht worden, während die ältere Zeit die Melodie nur im Tenor zu hören gewöhnt war, ein Verfahren, das uns ebenso überraschend erscheint, wie seiner Zeit die Hinüberlegung des Cantus firmus in den Discant. –

Zehn Jahre später veröffentlichte Michael die ergänzende Parallelarbeit zu dem Dresdner Gesangbuch, die 5 stimmigen Introiten, „uff alle Sonn- und Feiertage durchs ganze Jahr gerichtet.“ Es war wiederum ein Werk, wie es Sachsen bis dahin nicht kannte. Mit welchem Geschick sich Michael der schwierigen Aufgabe entledigte, können wir nicht mehr beurtheilen, da das Werk sich nur unvollständig in 2 gedruckten Stimmbüchern auf der Leipziger Stadtbibliothek erhalten hat. Ueberhaupt haben sich ja die Kompositionen Michaels sehr selten gemacht. Außer einigen Gelegenheitsstücken (in Grimma und Regensburg) entdeckte ich im hiesigen Königl. Hauptstaatsarchiv noch drei ganz unbekannte, geschriebene Hochzeitslieder für die Vermählungen des Kurfürsten Johann Georg mit Elisabeth und Magdalena Sibylla zu 8 und 12 Stimmen in 2 Chören. Das berühmteste Werk von ihm war aber unzweifelhaft sein sechsstimmiges Tedeum von 1595, das, von seiner eigenen Hand geschrieben, in der Freiberger Gymnasialbibliothek liegt und von mir der Vergessenheit entrissen wurde. Es ist noch nicht gedruckt und lohnte wohl einer kundigen Veröffentlichung.

Die letzten Jahre Michaels hüllen sich wieder recht in Dunkel. Schon 1613 wurde zum Ersatz der herzoglich Braunschweigische Kapellmeister Michael Praetorius herbeigerufen, und zur Kindtaufe des Herzogs August 1614 wartet ein neuer Leiter auf: er hieß Heinrich Schütz. Um 1619 ist Rogier Michael gestorben.

Sein Gesangbuch blieb das Muster für die nächstfolgende Zeit; das Dresdner Gesangbuch von 1656 ist noch ganz nach dem Vorbilde des ersten zusammengestellt, nur daß es statt ungefähr 200 Lieder deren 684, also dreimal soviel, enthält. Auch dieses erschien aber bei Gimel Bergen, dem rührigen Musikverleger und Drucker Dresdens, dem eine Monographie wohl einmal zu wünschen wäre.

Noch verdient hier hinzugefügt zu werden, daß von diesem ersten Dresdner lutherischen Gesangbuch von 1593 eine zweite Ausgabe von 1597 sich auf der hiesigen Stadtbibliothek (Dresd. var. 61) befindet. Der Band stammt aus der Sammlung des verstorbenen Commissionsrathes Klemm, der ihn aus dem Nachlaß des Professor Ritter in Magdeburg erwarb. Vorn sind 8 Blätter handschriftlich ergänzt. Der Titel des ersten Theiles (vgl. Wackernagel Seite 613, Nr. 352) weicht in mehreren Stücken ab und enthält besonders die Worte nicht mehr: „allesampt mit den Noten und ihren rechten Melodeyen“. Auch hat den Verlag Gimel Bergen selbst übernommen; eine Dedikation fehlt. Blattzahl (352 Bl. und 7 Regist.) wie innere Einrichtung sind die gleichen geblieben. – Ganz anders aber hat sich der zweite Theil [147] gestaltet: „Ander Theil, Ein schön auserlesenes New Gesangbuch darinnen 130. Christliche Gesenge ... Dreßden. Gedruckt im Jar 1597“ (153 Bl. und 5 Bl. Regist.). Die Melodien sind alle einstimmig vorgedruckt: das ist nun zwar ein zweiter Theil des Dresdner Gesangbuchs, aber nicht mehr Michaels Werk.