Märchen-Almanach auf das Jahr 1828 von Wilhelm Hauff
Das Wirtshaus im Spessart
Die Sage vom Hirschgulden
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Das Wirtshaus im Spessart.


Vor vielen Jahren, als im Spessart die Wege noch schlecht und nicht so häufig als jetzt befahren waren, zogen zwei junge Bursche durch diesen Wald. Der eine mochte achtzehn Jahre alt sein und war ein Zirkelschmidt[1]; der andere, ein Goldarbeiter, konnte nach seinem Aussehen kaum sechzehn Jahre haben und tat wohl jetzt eben seine erste Reise in die Welt. Der Abend war schon heraufgekommen, und die Schatten der riesengroßen Fichten und Buchen verfinsterten den schmalen Weg, auf dem die beiden wanderten. Der Zirkelschmidt schritt wacker vorwärts und pfiff ein Lied, schwatzte auch zuweilen mit Munter, seinem Hund, und schien sich nicht viel darum zu kümmern, daß die Nacht nicht mehr fern, desto ferner aber die nächste Herberge sei; aber Felix, der Goldarbeiter, sah sich oft ängstlich um. Wenn der Wind durch die Bäume rauschte, so war es ihm, als höre er Tritte hinter sich; wenn das Gesträuch am Wege hin und her wankte und sich teilte, glaubte er Gesichter hinter den Büschen lauern zu sehen.

Der junge Goldschmidt war sonst nicht abergläubisch oder mutlos. In Würzburg, wo er gelernt hatte, galt er unter seinen Kameraden für einen unerschrockenen Burschen, dem das Herz am rechten Flecke sitze; aber heute war ihm doch sonderbar zu Mut. Man hatte ihm vom Spessart[2] so mancherlei erzählt; eine große Räuberbande sollte dort ihr Wesen treiben, viele Reisende waren in den letzten Wochen geplündert worden, ja man sprach sogar von einigen greulichen Mordgeschichten, die vor nicht langer Zeit dort vorgefallen seien. Da war ihm nun doch etwas bange [116] für sein Leben, denn sie waren ja nur zu zwei und konnten gegen bewaffnete Räuber gar wenig ausrichten. Oft gereute es ihn, daß er dem Zirkelschmidt gefolgt war, noch eine Station zu gehen, statt am Eingang des Waldes über Nacht zu bleiben.

„Und wenn ich heute nacht totgeschlagen werde und ums Leben und alles komme, was ich bei mir habe, so ist’s nur deine Schuld, Zirkelschmidt, denn du hast mich in den schrecklichen Wald hereingeschwätzt.“

„Sei kein Hasenfuß“, erwiderte der andere, „ein rechter Handwerksbursche soll eigentlich sich gar nicht fürchten. Und was meinst du denn? Meinst du, die Herren Räuber im Spessart werden uns die Ehre antun, uns zu überfallen und totzuschlagen? Warum sollten sie sich diese Mühe geben? etwa wegen meines Sonntagsrocks, den ich im Ranzen habe, oder wegen des Zehrpfennigs von einem Taler? Da muß man schon mit vieren fahren, in Gold und Seide gekleidet sein, wenn sie es der Mühe wert finden, einen totzuschlagen.“

„Halt! hörst du nicht etwas pfeifen im Wald?“ rief Felix ängstlich.

„Das war der Wind, der um die Bäume pfeift, geh nur rasch vorwärts, lange kann es nicht mehr dauern.“

„Ja, du hast gut reden wegen des Totschlagens“, fuhr der Goldarbeiter fort. „Dich fragen sie, was du hast, durchsuchen dich und nehmen dir allenfalls den Sonntagsrock und den Gulden und dreißig Kreuzer. Aber mich, mich schlagen sie gleich anfangs tot, nur weil ich Gold und Geschmeide mit mir führe.“

„Ei, warum sollten sie dich totschlagen deswegen? Kämen jetzt vier oder fünf dort aus dem Busch, mit geladenen Büchsen, die sie auf uns anlegen, und fragten ganz höflich: ‚Ihr Herren, was habt ihr bei euch, und machet es euch bequem, wir wollen’s euch tragen helfen‘, und was dergleichen anmutige Redensarten sind; da wärest du wohl kein Tor, machtest dein Ränzchen auf und legtest die gelbe Weste, den blauen Rock, zwei Hemder und alle Halsbänder und Armbänder und Kämme und was du sonst noch hast höflich auf die Erde und bedanktest dich fürs Leben, das sie dir schenkten?“

„So? meinst du“, entgegnete Felix sehr eifrig, „den Schmuck [117] für meine Frau Pate, die vornehme Gräfin, soll ich hergeben? eher mein Leben; eher lass’ ich mich in kleine Stücke zerschneiden. Hat sie nicht Mutterstelle an mir vertreten und seit meinem zehnten Jahr mich aufziehen lassen, hat sie nicht die Lehre für mich bezahlt und Kleider und alles? Und jetzt, da ich sie besuchen darf und etwas mitbringe von meiner eigenen Arbeit, das sie beim Meister bestellt hat, jetzt, da ich ihr an dem schönen Geschmeide zeigen könnte, was ich gelernt habe, jetzt soll ich das alles hergeben und die gelbe Weste dazu, die ich auch von ihr habe? nein, lieber sterben, als daß ich den schlechten Menschen meiner Frau Pate Geschmeide gebe!“

„Sei kein Narr!“ rief der Zirkelschmidt; „wenn sie dich totschlagen, bekommt die Frau Gräfin den Schmuck dennoch nicht; drum ist es besser, du gibst ihn her und erhältst dein Leben.“

Felix antwortete nicht; die Nacht war jetzt ganz heraufgekommen, und bei dem ungewissen Schein des Neumonds konnte man kaum auf fünf Schritte vor sich sehen; er wurde immer ängstlicher, hielt sich näher an seinen Kameraden, und war mit sich uneinig, ob er seine Reden und Beweise billigen sollte oder nicht. Noch eine Stunde beinahe waren sie so fortgegangen, da erblickten sie in der Ferne ein Licht. Der junge Goldschmidt meinte aber, man dürfe nicht trauen, vielleicht könnte es ein Räuberhaus sein; aber der Zirkelschmidt belehrte ihn, daß die Räuber ihre Häuser oder Höhlen unter der Erde haben, und dies müsse das Wirtshaus sein, das ihnen ein Mann am Eingang des Waldes beschrieben.

Es war ein langes, aber niedriges Haus, ein Karren stand davor, und nebenan im Stall hörte man Pferde wiehern. Der Zirkelschmidt winkt seinem Gesellen an ein Fenster, dessen Laden geöffnet waren. Sie konnten, wenn sie sich auf die Zehen stellten, die Stube übersehen. Am Ofen in einem Armstuhl schlief ein Mann, der seiner Kleidung nach ein Fuhrmann und wohl auch der Herr des Karren vor der Türe sein konnte. An der andern Seite des Ofens saßen ein Weib und ein Mädchen und spannen; hinter dem Tisch an der Wand saß ein Mensch, der, ein Glas Wein vor sich, den Kopf in die Hände gestützt hatte, so daß sie sein Gesicht nicht sehen konnten. Der Zirkelschmidt aber wollte [118] aus seiner Kleidung bemerken, daß er ein vornehmer Herr sein müsse.

Als sie so noch auf der Lauer standen, schlug ein Hund im Hause an; Munter, des Zirkelschmidts Hund, antwortete, und eine Magd erschien in der Türe und schaute nach den Fremden heraus.

Man versprach ihnen, Nachtessen und Betten geben zu können; sie traten ein und legten die schweren Bündel, Stock und Hut in die Ecken und setzten sich zu dem Herrn am Tische. Dieser richtete sich bei ihrem Gruße auf, und sie erblickten einen feinen jungen Mann, der ihnen freundlich für ihren Gruß dankte.

„Ihr seid spät auf der Bahn“, sagte er; „habt ihr euch nicht gefürchtet, in so dunkler Nacht durch den Spessart zu reisen? Ich für meinen Teil habe lieber mein Pferd in dieser Schenke eingestellt, als daß ich nur noch eine Stunde weiter geritten wäre.“

„Da habt Ihr allerdings recht gehabt, Herr!“ erwiderte der Zirkelschmidt. „Der Hufschlag eines schönen Pferdes ist Musik in den Ohren dieses Gesindels und lockt sie auf eine Stunde weit; aber wenn ein paar arme Bursche wie wir durch den Wald schleichen, Leute, welchen die Räuber eher selbst etwas schenken könnten, da heben sie keinen Fuß auf!“

„Das ist wohl wahr“, entgegnete der Fuhrmann, der, durch die Ankunft der Fremden erweckt, auch an den Tisch getreten war; „einem armen Mann können sie nicht viel anhaben seines Geldes willen, aber man hat Beispiele, daß sie arme Leute nur aus Mordlust niederstießen oder sie zwangen, unter die Bande zu treten und als Räuber zu dienen.“

„Nun, wenn es so aussieht mit diesen Leuten im Wald“, bemerkte der junge Goldschmidt, „so wird uns wahrhaftig auch dieses Haus wenig Schutz gewähren. Wir sind nur zu vier und mit dem Hausknecht fünf; wenn es ihnen einfällt, zu zehen uns zu überfallen, was können wir gegen sie? und überdies“, setzte er leise flüsternd hinzu, „wer steht uns dafür, daß diese Wirtsleute ehrlich sind?“

„Da hat es gute Wege“, erwiderte der Fuhrmann. „Ich kenne diese Wirtschaft seit mehr als zehen Jahren und habe nie etwas Unrechtes darin verspürt. Der Mann ist selten zu Hause, [119] man sagt, er treibe Weinhandel; die Frau aber ist eine stille Frau, die niemand Böses will; nein, dieser tut Ihr unrecht, Herr!“

„Und doch“, nahm der junge vornehme Herr das Wort, „doch möchte ich nicht so ganz verwerfen, was er gesagt. Erinnert euch an die Gerüchte von jenen Leuten, die in diesem Wald auf einmal spurlos verschwunden sind. Mehrere davon hatten vorhergesagt, sie werden in diesem Wirtshaus übernachten, und als man nach zwei oder drei Wochen nichts von ihnen vernahm, ihrem Weg nachforschte und auch hier im Wirtshaus nachfragte, da soll nun keiner gesehen worden sein; verdächtig ist es doch.“

„Weiß Gott!“ rief der Zirkelschmidt, „da handelten wir ja vernünftiger, wenn wir unter dem nächsten besten Baum unser Nachtlager nähmen, als hier in diesen vier Wänden, wo an kein Entspringen zu denken ist, wenn sie einmal die Türe besetzt haben; denn die Fenster sind vergittert.“

Sie waren alle durch diese Reden nachdenklich geworden. Es schien gar nicht unwahrscheinlich, daß die Schenke im Wald, sei es gezwungen oder freiwillig, im Einverständnis mit den Räubern war. Die Nacht schien ihnen daher gefährlich; denn wie manche Sage hatten sie gehört von Wanderern, die man im Schlaf überfallen und gemordet hatte; und sollte es auch nicht an ihr Leben gehen, so war doch ein Teil der Gäste in der Waldschenke von so beschränkten Mitteln, daß ihnen ein Raub an einem Teil ihrer Habe sehr empfindlich gewesen wäre. Sie schauten verdrüßlich und düster in ihre Gläser. Der junge Herr wünschte, auf seinem Roß durch ein sicheres, offenes Tal zu traben, der Zirkelschmidt wünschte sich zwölf seiner handfesten Kameraden, mit Knütteln bewaffnet, als Leibgarde, Felix, dem Goldarbeiter, trug Bange, mehr um den Schmuck seiner Wohltäterin als um sein Leben; der Fuhrmann aber, der einigemal den Rauch seiner Pfeife nachdenklich vor sich hingeblasen, sprach leise: „Ihr Herren! im Schlaf wenigstens sollen sie uns nicht überfallen. Ich für meinen Teil will, wenn nur noch einer mit mir hält, die ganze Nacht wach bleiben.“

„Das will ich auch“ – „ich auch“, riefen die drei übrigen; „schlafen könnte ich doch nicht“, setzte der junge Herr hinzu.

„Nun, so wollen wir etwas treiben, daß wir wach bleiben“, [120] sagte der Fuhrmann; ich denke, weil wir doch gerade zu vier sind, könnten wir Karten spielen; das hält wach und vertreibt die Zeit.“

„Ich spiele niemals Karten“, erwiderte der junge Herr, „darum kann ich wenigstens nicht mithalten.“

„Und ich kenne die Karten gar nicht“, setzte Felix hinzu.

„Was können wir denn aber anfangen, wenn wir nicht spielen“, sprach der Zirkelschmidt; „singen? Das geht nicht und würde nur das Gesindel herbeilocken; einander Rätsel und Sprüche aufgeben zum Erraten? Das dauert auch nicht lange. Wisset ihr was? wie wäre es, wenn wir uns etwas erzählten? Lustig oder ernsthaft, wahr oder erdacht, es hält doch wach und vertreibt die Zeit so gut wie Kartenspiel.“

„Ich bin’s zufrieden, wenn Ihr anfangen wollet“, sagte der junge Herr lächelnd. „Ihr Herren vom Handwerk kommet in allen Ländern herum und könnet schon etwas erzählen; hat doch jede Stadt ihre eigenen Sagen und Geschichten.“

„Ja, ja, man hört manches“, erwiderte der Zirkelschmidt, „dafür studieren Herren wie Ihr fleißig in den Büchern, wo gar wundervolle Sachen geschrieben stehen; da wüßtet Ihr noch Klügeres und Schöneres zu erzählen als ein schlichter Handwerksbursche wie unsereiner. Mich müßte alles trügen, oder Ihr seid ein Student, ein Gelehrter.“

„Ein Gelehrter nicht“, lächelte der junge Herr, „wohl aber ein Student und will in den Ferien nach der Heimat reisen; doch was in unsern Büchern steht, eignet sich weniger zum Erzählen, als was Ihr hie und dort gehört. Darum hebet immer an, wenn anders diese da gerne zuhören!“

„Noch höher als Kartenspiel“, erwiderte der Fuhrmann, „gilt bei mir, wenn einer eine schöne Geschichte erzählt. Oft fahre ich auf der Landstraße lieber im elendesten Schritt und horche einem zu, der nebenher geht und etwas Schönes erzählt; manchen habe ich schon im schlechten Wetter auf den Karren genommen, unter der Bedingung, daß er etwas erzähle, und einen Kameraden von mir habe ich, glaube ich, nur deswegen so lieb, weil er Geschichten weiß, die sieben Stunden lang und länger dauern.“

„So geht es auch mir“, setzte der junge Goldarbeiter hinzu, „erzählen höre ich für mein Leben gerne, und mein Meister in [121] Würzburg mußte mir die Bücher ordentlich verbieten, daß ich nicht zu viel Geschichten las und die Arbeit darüber vernachlässigte. Drum gib nur etwas Schönes preis, Zirkelschmidt, ich weiß, du könntest erzählen von jetzt an, bis es Tag wird, ehe dein Vorrat ausginge.“

Der Zirkelschmidt trank, um sich zu seinem Vortrag zu stärken, und hub alsdann also an:


  1. Mechaniker[WS 1].
  2. Dieses Waldgebirge am Main stand Anfang des 19. Jahrhunderts noch in dem Rufe, der Schlupfwinkel von allerlei räuberischem Gesindel zu sein.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Zirkelschmied, so v. w. Zeugschmied.
    Zeugschmied (Sägeschmied), 1) ein Eisenarbeiter, welcher eiserne u. stählerne Werkzeuge, Sägen, Beile, Äxte, Nagelbohrer, Meisel, Hämmer, auch Kaffeemühlen u. dgl. verfertigt; 2) an einigen Orten so v. w. Grob- u. Hufschmied. aus: Pierer’s Universal-Lexikon, Band 19. Altenburg 1865, S. 655 und S. 592.
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