Textdaten
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Autor: J. H.
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Titel: Das „Sechseläuten“ in Zürich
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 317–318
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das „Sechseläuten“ in Zürich.
Mit einer Zeichnung von J. Weber.

Das „Sechseläuten“ ist das Frühlingsfest der Züricher, eines der schönsten und glänzendsten Volksfeste der an Festen so reichen Schweiz.

Als das Zunftwesen noch in Blüte stand und in Zürich auch eine politische Bedeutung hatte, verkündete den Sommer hindurch abends um sechs Uhr die zweitgrößte Glocke des Großmünsters allen Werkstätten den Feierabend, und zwar wurde sie je am ersten Montag nach der Frühjahrstag- und Nachtgleiche zum erstenmal geläutet. Diesen Tag beging seit Jahrhunderten alles Volk in karnevalsähnlicher Lust, und so wird er heute noch, wenn auch unter veränderten Verhältnissen, gefeiert. Die „Zünfte“, gegenwärtig nur noch Privatvereinigungen ohne politische Bedeutung, versammeln sich um Mittag auf ihren Zunftstuben zu festlicher Mahlzeit. Viele, besonders die jungen Zünfter, erscheinen kostümiert, und nach dem Mahle bewegen sich Umzüge, die gemeinsam veranstaltet werden, durch die Stadt. Während früher meistens Begebenheiten aus der Züricher Geschichte dargestellt wurden, greift man in neuerer Zeit weiter aus und bringt, oft in geradezu großartiger Weise, weltgeschichtliche oder ethnographische Bilder zur Anschauung. Die besten künstlerischen und litterarischen Kräfte der Stadt arbeiten unter lebhafter Teilnahme aller Stände mit patriotischem Eifer an der Ausstattung dieser Umzüge mit und gelangen hierdurch zu einer Volkstümlichkeit, die ebenso wohlverdient wie festgegründet ist. Durch seine erfolgreiche Thätigkeit auf diesem Gebiete hat sich unter andern der künstlerisch und poetisch angelegte Metzgermeister Heinrich Cramer einen in weiteren Kreisen geachteten Namen gemacht.

Das „Sechseläuten“ des Jahres 1894 war das erste nach der Vereinigung der elf Außengemeinden mit der Stadt und wurde daher mit vermehrten Kräften und unter ganz besonderem Aufwand von Glanz und Pracht gefeiert. Der Festumzug brachte das „Reisen“ in den verschiedenen Zeiten zur Darstellung; dieser Grundgedanke bot natürlich reiche Gelegenheit, Kriegszüge, Raubzüge, Meerfahrten, Reisen zu Konzilien etc., Triumphzüge, Bergfahrten, kurz, alles nur Mögliche aus Vergangenheit und Gegenwart heranzuziehen und dem Ernst sowohl wie dem Humor seine Stelle anzuweisen. Wochen-, ja monatelang bereiteten sich die Teilnehmer auf die Darstellung vor; jede der verschiedenen Zünfte übernahm eine bestimmte Gruppe, und es entspann sich ein gegenseitiger Wetteifer in geschichtlich genauer Herstellung der Kostüme und in stofflich gediegener Ausstattung. Das Ganze unterstand der Leitung eines Ausschusses der Zünfte. Das Züricher „Sechseläuten“ steht unter dem erfreulichen Vorurteil, vom Wetter stets begünstigt zu sein. Diesmal jedenfalls behielt dieses Vorurteil glänzend recht, ein strahlender Frühlingshimmel wölbte sich am 9. April über Stadt und Landschaft und eine geradezu sommerliche Glut stellte die Ausdauer der zum Teil recht warm gekleideten Mitwirkenden auf eine harte Probe. Von Tagesbeginn ab flatterte von den altersgrauen Türmen des Großmünsters das blauweiße Stadtbanner, eine freundliche Einladung an die Bewohner, auch ihrerseits mit Flaggen- und Farbenschmuck der Häuser nicht zurückzubleiben. Tausend geschäftige Hände waren emsig am Werke, dieser Aufforderung nachzukommen; denn an diesem Tage ruht alle Arbeit, soweit sie nicht unmittelbar dem Feste dient.

Am Nachmittag um zwei Uhr setzte sich der Zug von der Umgebung der Tonhalle aus in Bewegung, um die verschiedenen Quartiere der Stadt zu durchziehen. An die hunderttausend Zuschauer von außen hatten sich den ungefähr hunderttausend städtischen Zuschauern beigesellt. Trotz dieses riesigen Zudranges und der Abwesenheit jeglicher militärischen Macht herrschte überall die größte Ordnung. Mit beinahe andächtigem Ernst und mit dem regsten Anteil sah das Volk die lange Reihe der geschichtlichen Gruppen vorüberziehen: Alexander den Großen mit seiner glänzenden kriegerischen Umgebung auf seinem Zug nach Indien, den römischen Kaiser Hadrian, der, seine Gemahlin zur Seite, auf prächtigem Staatswagen mit reisigem Gefolge durch die ägyptische Provinz dahinfährt; Attila mit seinen Hunnenscharen, der auf plumpem Gefährt sogar seinen Harem mit sich schleppt. Bilder aus der Völkerwanderung folgen, weiterhin Wikinger auf hochbordigem Drachenschiffe, Hansabrüder, und als Vertreter des im Punkte des [318] Reisens ganz besonders unternehmenden Zeitalters der Entdeckungen Kolumbus auf treu nachgeahmter Karavelle. Still und ernst zieht Huß zum Konzil von Konstanz, umgeben vom kaiserlichen Freigeleite, das ihn doch nicht vor dem Märtyrertode schützen sollte. Und plötzlich sind wir wieder in den Prairien Nordamerikas und verfolgen einen Indianerstamm, der mit Weib und Kind neue Jagdgründe aufsucht, oder in dem heißen Sande der Sahara, durch den das „Schiff der Wüste“ mit seinem Beduinenscheich der fernen Oase zustrebt. Dann aber findet auch die Gegenwart ihr Recht mit ihren Reisenden aller Art, den protzigen Engländern, den Handwerksgesellen „auf der Walz“, den „Commis Voyageurs“, den Orgeldrehern, Bärenführern, Savoyardenknaben, Bettelmönchen, Hochzeitsreise-Pärchen, den Säumern der Gebirgspfade, Alpenfexen und -fexinnen. An komisch zur Jungfrau gestaltetem Fels pustet ein in einem vollbesetzten Bahnwagen endigender Vogel Greif zur Spitze hinan, von der die Schweizer Fahne wirklich herabgrüßt, und dahinter werden die phantasievollen Luftreisen der Zukunft mit gutem Humor verspottet.

Hunderte von köstlichen Figuren ließen sich da herausgreifen; wir müssen uns beschränken und erwähnen nur die vorzügliche Vertretung des Pfarrers Sebastian Kneipp von Wörishofen, der auf seiner Romfahrt, ohne im mindesten karikiert zu sein, freundlich und würdig nach links und rechts grüßte, der Humor der Figur lag in dem Rüstzeug, mit dem der würdige Herr der Krankheit und dem Tode zu Leibe geht, der blechernen Gießkanne, die er in der einen Hand trug. Kostümierte Musikkorps waren in die Gruppen eingereiht und zum Gesangsfest ziehende Männer- und gemischte Chöre ließen ihre Gesänge erschallen. Ueber tausend „Zunftgenossen“ hatten sich in den Dienst der gemeinsamen Sache gestellt und die glücklicherweise wohl situierten Zunftkassen sollen an die zweimalhunderttausend Franken geopfert haben, um alles recht schön und gediegen zu machen.

Gegen 6 Uhr kehrte der Zug auf den herrlich gelegenen Platz bei der Brücke am See-Ende zurück, wo nach alter Uebung von den Knaben der Stadt auf einem haushohen Scheiterhaufen der „Bögg“, eine den Winter vorstellende Fratze, verbrannt wurde. Als die kostümierten Gruppen sich auflösten, und Hunnen, Römer, Indianer, Ritter und Handwerksgesellen, Engländer und Zigeuner sich unter das Volk mischten, als die Flamme emporlohte, den Winter ergriff, so daß das Feuerwerk, mit dem er gefüllt war, ihn knallend und zischend auseinander riß, und als in den Jubel des Volkes hinein Schlag sechs die Glocke des Münsters ertönte, da hatte das Fest seinen Höhepunkt erreicht. Blickte man dann hinaus auf den blauen See, wo die Gondeln sich wiegten, und hinauf ins Gebirge, dessen schneeige Gipfel im Schimmer der scheidenden Sonne erglänzten, so mußte Teilnehmer und Zuschauer die Empfindung ergreifen: „Welch ein herrliches Frühlingsfest, der Frühling feiert selber mit!“ J. H.