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Titel: Das Sühnungslinnen in Japan
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aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 722
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[722] Das Sühnungslinnen in Japan. Der Fremde, welcher die entlegenen Quartiere und Vorstädte Yeddos durchstreift, sieht gelegentlich seine Aufmerksamkeit wohl durch eine am Wege angebrachte Vorrichtung gefesselt, über deren Zweck er sich vergeblich den Kopf zerbricht. Dieselbe besteht in ihrem Hauptbestandtheile aus einem Stück japanesischer Leinwand, auf welches ein Name geschrieben und das mit seinen vier Enden an ebenso vielen in die Erde eingerammten Pfählen befestigt ist. Dahinter steht eine hölzerne Tafel aufgepflanzt, auf der verschiedene Worte zu lesen sind, und zur Seite ein mit Wasser angefülltes kleines Faß mit einem Schöpflöffel darin. Tritt man dem seltsamen Apparate näher, so bemerkt man wohl, wie einer der Vorübergehenden einen Löffel Wasser über die Leinwand ausgießt und andächtig wartet, bis die Flüssigkeit durch das Zeug hindurchsickert, ehe er dann seinen Weg fortsetzt.

„Was mag das Alles bedeuten?“ forscht der Fremde, nicht ahnend, daß dieses wunderliche Gebahren sich stets an ein sehr schmerzliches Begebniß knüpft, welches der Aberglaube der Japanesen für die Betroffenen zu einem noch traurigeren Vorkommnis macht. Stirbt nämlich eine Frau im Kindbette, so wähnt der Japanese, daß ein solcher Tod, zu einer Zeit, wo sich die süßesten Hoffnungen des Weibes erfüllen, nur die Strafe für irgend eine schwere Versündigung der Wöchnerin sein kann, für welche die Unglückliche in jener Welt noch härtere Bußen erwarten.

Die Art dieser letzteren und die Zeit, welche erfordert wird, die Seele von der begangenen Sünde zu reinigen und unter die Schaar der Jöbutz oder seligen Wesen zu versetzen, sind nach der Behauptung der Priester in jedem einzelnen Falle verschieden. Merkwürdiger Weise jedoch richtet sich Beides genau nach den Vermögensverhältnissen der Hinterbliebenen; das heißt: je nach der kleineren oder größeren Summe, die sie den Göttern oder vielmehr deren Priestern opfern, währt der Aufenthalt der armen Seele im Fegefeuer länger oder kürzer – ein Dogma, welches den Lehren unsrer römisch-katholischen Kirche auf’s Haar gleicht. Widersteht das ausgespannte Linnen den beständig erneuten Angriffen des Wassers nicht mehr, so ist die büßende Seele endlich von ihren Qualen erlöst. Nun geschieht es aber wohl, daß der Reiche, der das Geld nicht anzusehen braucht, vom Priester eine Leinwand empfängt, welche in der Mitte schon dünn geschabt ist, so daß sie beim ersten Tropfen Wasser auf der Stelle auseinanderfällt, während der Arme in Geduld harren muß, bis das grobe Segeltuch, das ihm übergeben zu werden pflegt, zerreißt. Indeß die Theilnahme aller Vorüberwandelnden ist ihm sicher; Keiner geht je an der Vorrichtung vorbei, ohne seinen Löffel voll Wasser über das Sühnungszeug auszugießen, denn so mannigfaltige Fehler man den Japanesen auch zuschreiben muß, der Hartherzigkeit und Gleichgültigkeit gegen den Nächsten kann man sie nicht zeihen. Auch ohne daß sie Christen sind, gilt ihnen doch das „Liebet euch untereinander“ als höchstes Gebot.