Das Piratennest auf Neu-Helgoland

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Autor: W. Belka
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Titel: Das Piratennest auf Neu-Helgoland
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Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ein Abenteuerzyklus, welcher die Bändchen 72–73 umfaßt. Handlungsort ist Hongkong und Formosa (Taiwan).
Band 73 der Romanreihe Erlebnisse einsamer Menschen.
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[I]
73. Band. Erlebnisse einsamer Menschen Preis 15 Pf.
72. Band. Erlebnisse einsamer Menschen Preis 15 Pf.


Das Piratennest auf Neu-Helgoland.


Die Dschunke flog in die Luft …


[1]
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)


Das Piratennest auf Neu-Helgoland.
W. Belka.


1. Kapitel.
Kiato, der Mischling.

Kapitän Berger, ein breitschultriger mittelgroßer Mann mit rotblondem Vollbart, stand auf der Kommandobrücke der „Viktoria“ und winkte seinen Kindern nochmals zu, die sich eben von ihm verabschiedet hatten, da der Küstendampfer in einer halben Stunde zu seiner gewöhnlichen Tour den Hafen von Hongkong verlassen wollte.

Berger, ein geborener Hamburger, war Witwer und hing daher mit doppelt zärtlicher Liebe an seinem vierzehnjährigen [2] Jungen und dem um zwei Jahre jüngeren Mädelchen. Jedesmal, wenn er nach achttägiger Erholung daheim wieder in See gehen mußte, wurde ihm der Abschied von den Seinen recht schwer. Auch jetzt schwenkte er noch so lange seine Mütze, bis die Kinder hinter einem der Kaispeicher verschwunden waren.

Die „Viktoria“, die einem Reeder in Hongkong gehörte, war ein schon etwas altersschwacher Schraubendampfer, der sich aber noch immer sehr gut bezahlt machte. Bis Schanghai hinauf klapperte er alle Küstennester ab, nahm Fracht ein, was gerade vorkam, und beförderte auch Passagiere, zumeist freilich nur Farbige, da es auf dem Dampfer nur drei Kabinen gab, die sich zur Aufnahme von Europäern eigneten.

Heute hatte die „Viktoria“ eine ausnahmsweise wertvolle Ladung an Bord und zwar Seidenballen, die an eine Firma nach Schanghai gingen, ferner verschiedene Stückgüter für einen kleinen Hafenplatz der Insel Formosa.

Kapitän Berger wollte jetzt gerade die Trossen losmachen lassen, da der winzige Schlepper schon längsseit der „Viktoria“ lag, der sie in freies Fahrwasser hinausbringen sollte, als noch sechs Leute über die Laufplanke an Bord kamen, von denen offenbar fünf die Diener des vordersten waren, der, hochgewachsen und europäisch gekleidet, in seinem Gesicht alle Merkmale einer vielfachen Rassenmischung vereinigte, – etwas vom Chinesen, Malaien und wohl auch vom Europäer.

Gleich darauf stand dieser Mann vor Berger, lüftete leicht den Hut und fragte, ab er noch mit seiner Dienerschaft die Reise bis Pulo Kilwa – das war ein Küstenort auf Formosa – mitmachen könne. Er bot sofort sehr anständige Bezahlung, und Berger war froh, auf diese Weise für seine Reederei noch mehr zu verdienen. Die drei sogenannten Luxuskabinen standen frei und wurden nun dem Pekinger Kaufmann Kiato – als [3] solcher wies der Mischling sich durch verschiedene Papiere aus – und seinen fünf mit reichlichem Gepäck versehenen Dienern überlassen.

Vier Tage später finden wir die „Viktoria“ mit Kurs auf das Südkap von Formosa mitten in einer Windstille, die aus dem südchinesischen, wegen seiner unangenehmen, urplötzlich losbrechenden Stürme wenig beliebten Meere einen harmlosen Teich gemacht hatte. Gemächlich schob der Dampfer sich mit seinen acht Knoten Geschwindigkeit durch die im Widerschein eines prachtvollen Sonnenuntergangs rosig schimmernde Flut.

Kiato, der Mischling, stand neben Kapitän Berger auf der Kommandobrücke. Der gelbbraune Kaufmann, der nicht nur das Englische, sondern auch noch ein paar andere Sprachen ziemlich fließend sprach, hatte sich mit Berger bereits recht gut angefreundet. Dieser merkte von Tag zu Tag mehr, daß Kiato weit über den Durchschnitt eines Ostasiaten hinaus gebildet war. Anderseits hatte er aber auch das unbestimmte Empfinden, der Mischling müsse trotz seiner vielleicht dreißig Jahre bereits eine reichbewegte Vergangenheit hinter sich haben und auch zum Beispiel mit seemännischen Dingen besser vertraut sein, als er es offenbar merken lassen wollte.

Auch jetzt machte Kiato eine Äußerung, die Berger wieder sehr zu denken gab.

„Es droht zweifellos starker Nebel“, erklärte der Pekinger Kaufmann, indem er nach Osten zu auf einen kaum wahrnehmbaren milchigen Streifen am Horizont deutete.

Dann nahm er sein tadelloses Fernglas aus dem umgehängten Lederfutteral, brachte es an die Augen und spähte nach Nordosten hin, wo sehr bald die steilen Felsgestade Formosas auftauchen mußten.

Berger erwiderte jetzt, nachdem er die für eine neblige Nacht sprechenden Anzeichen gleichfalls geprüft hatte:

[4] „Es gibt Nebel, sehr richtig! – Ihr wißt überhaupt auf dem Meere gut Bescheid, Kiato.“

Der behielt das Fernglas an den Augen. Und hinten der sein Gesicht verbergenden Rechten spielte ein überlegenes Lächeln um seinen Mund. Laut aber sagte er:

„Ich bin viel gereist in meinem Leben. – – Ah – sehen Sie, Kapitän, da drüben liegt in der Flaute (Windstille) eine arme Dschunke (chinesisches, ziemlich plumpes Küstenfahrzeug), die auf eine Handvoll Wind wartet.“

Berger sah mit bloßem Auge das hochbordige Segelschiff mit den zwei niedrigen Masten, das etwas westlich des Kurses der „Viktoria“ träge auf der spiegelglatten See hin und her schaukelte, bewegt von einer langen, kaum wahrnehmbaren Dünung.

Kiato zog jetzt sein seidenes Taschentuch, ließ es einen Augenblick flattern und schaute dabei scharf nach dem Vorderdeck des Dampfers hin, wo zwei seiner chinesischen Diener sich faul an der Reling rekelten. Dann betupfte er sich die Stirn und steckte das Tuch wieder weg.

Gleich darauf brannte einer der Diener auf dem Vorderdeck eine grüne bengalische Flamme ab, die außerordentlich kräftig leuchtete.

Berger hatte dies kaum gesehen, als er auch schon ein solches Donnerwetter über den bezopften Burschen herabregnen ließ, daß dieser sofort den Feuerwerkskörper in hohem Bogen in die See schleuderte.

„Die ewige Spielerei mit bengalischem Feuer, Schwärmern, Raketen und ähnlichen feuergefährlichen Dingen ist eine wahre Nationaluntugend der Chinesen!“ schalt Berger. „Ihr müßt Eueren Dienern diesen Unfug verbieten, Kiato, – verstanden?! Ich kann derartiges an Bord nicht dulden.“

„Es ist ja das erstemal, daß einer meiner Leute sich dieses harmlose Vergnügen macht“, meinte der Mischling [5] gelassen, während um seine Lippen ein zufriedenes Lächeln zuckte. Hatte er doch soeben drüben auf der Dschunke ebenfalls ein grünes Flämmchen aufleuchten sehen. – „Aber – natürlich werde ich‘s meinen Dienern untersagen“, fügte er hinzu, hob wieder das Glas an die Augen und beobachtete den Segler drüben weiter.

Nach einer Weile – inzwischen hatte Berger sich seine kurze Pfeife frisch gestopft – rief der Steuermann des Dampfers, ein rotnasiger, bulldoggengesichtiger Engländer, dem Kapitän zu:

„He, Käp’ten, – das ist mal ein schnurriges Ding von Dschunke …! Vorhin lag sie noch westlich unseres Kurses, und jetzt befindet sie sich genau vor uns in unserer Fahrtrichtung. Und das Kunststück hat sie bei völliger Flaute mit gerefften Segeln fertiggebracht.“

Berger schaute genauer nach dem Küstensegler hin.

„Ihr habt recht, Largin, – wahrhaftig, die Padde hat mindestens um vier Seemeilen ihren Platz von vorhin geändert!“ antwortete er dem Steuermanne. Und zu Kiato gewandt meinte er:

„Könnt Ihr Euch das erklären?“

„Sehr einfach: scharfe Meeresströmung!“ sagte der Mischling, indem er sein Glas klein schraubte und in dem Lederfutterale unterbrachte.

„Wird wohl so sein“, brummte Berger. Aber so ganz einleuchtend schien ihm diese Lösung doch nicht.

Es wurde jetzt rasch dunkel. Auch die ersten lichten Nebelschleier kamen über die See dahergezogen. Gleichzeitig verspürte man einen erfrischenden Lufthauch. Die Nachtbrise setzte ein.

Von der Dschunke war nichts mehr zu sehen. Der Nebel hatte sie verschluckt. Und Kiato begab sich jetzt von der Brücke an Deck hinab, ging in seine Kabine und zog hinter sich fest die Tür zu. Hier warteten auf ihn bereits seine fünf Diener, sämtlich kräftige Burschen aus [6] Nordchina mit fraglos viel mongolischem Blut in den Adern.

Bei Kiatos Eintritt hatten sie sich tief verbeugt. Der Mischling war plötzlich ein anderer geworden. Seine Haltung hatte sich gestrafft, aus seinen Zügen, die die elektrische Deckenlampe hell beschien, sprachen brutale Energie, Grausamkeit und ungezügelte Wildheit.

„Der Streich glückt“, flüsterte er. „Der Dampfer mit seiner kostbaren Ladung wird unser. Unsere „Drachenblume“ schleicht bereits mit Hilfe ihrer Motoren hinter dem Dampfer her. Wird der Nebel dichter, kommt sie längsseit. Haltet Euch also bereit! Ihr wißt: drei in den Maschinenraum, zwei auf die Brücke. Und spart die Revolverkugeln nicht! Nur keine Schonung! Es hat keinen Zweck. Den Kapitän nehme ich auf mich. – Nun geht – und haltet die Augen offen. Sobald die „Drachenblume“ auftaucht, geht der Tanz los! Und wir spielen hier die ersten Takte!“




2. Kapitel.
Ein Piratennest.

Kiato betrat gleich darauf die Kajüte des Kapitäns.

Berger saß gerade bei der Abendmahlzeit.

„Nehmt Platz, Kiato! Darf ich Euch einen Whisky anbieten oder eine gute Zigarre?“ Er war stets höflich diesem vielgereisten Farbigen gegenüber, der ihm an Bildung und an Intelligenz kaum nachstand.

[7] Der Mischling dankte für beides, setzte sich aber und beschaute sich die Bilder der Kinder des Kapitäns, die in einem Rahmen vereinigt auf dem Tische standen.

„Ihr liebt sie wohl sehr?“ fragte Kiato dann nach einer Weile.

„Ob ich sie liebe …!! Natürlich!!“ meinte der Kapitän ernst. „Ich ersetze ihnen auch die Mutter. Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben.“

„Ihr Europäer seid seltsame Menschen“, sagte Kiato wieder nach einer Pause. „Ihr habt zuviel Gemüt. Das taugt nichts.“

Berger lächelte.

„Der Chinese, der Ostasiate überhaupt, besitzt nicht gerade das, was wir Deutschen Herz nennen, – leider nicht! – Seid Ihr verheiratet, Kiato?“

Der angebliche Kaufmann schüttelte den Kopf. In sein Gesicht war plötzlich ein undeutlicher Zug wie von Wehmut und Schmerz getreten.

„Ich war verheiratet. Die Cholera … In drei Tagen Frau und Kinder tot … Aber das ist lange her … Und es ist gut so – ja! Familie ist ein Ballast, wenn man vorwärtskommen will.“

Er sprach andauernd mit halber Stimme und lauschte angestrengt nach draußen.

Jetzt plötzlich auf Deck ein gellender Pfiff.

Kiato zog etwas die Augenbrauen hoch. Dann sagte er schnell und sehr laut, als ob er die Aufmerksamkeit Bergers ablenken wollte:

„Wie lange seid Ihr eigentlich schon in Hongkong, Kapitän?“

Aber der war doch durch den Pfiff stutzig geworden.

„Habt Ihr gehört, Kiato? Was mag …“

Er kam nicht weiter.

An Deck knallten kurz hintereinander fünf Schüsse.

Berger war jeder Blutstropfen aus dem Gesicht gewichen. Er war hochgeschnellt. Eine furchtbare Ahnung [8] stieg wie ein greller Blitz in ihm auf … Die Dschunke, das bengalische Licht, Kiatos seemännische Kenntnisse … Wie Schuppen fiel es dem Deutschen von den Augen.

Da sagte auch schon Kiato kalt, indem er einen Revolver aus der Tasche zog und ihn Berger fast auf die Stirn drückte:

„Setzt Euch wieder, Kapitän! Sofort …!! Oder …!! – Ihr habt die Partie verloren. Die Dschunke ist mein Schiff. Und darauf befinden sich vierzig Mann, die mit mir die Hölle nötigenfalls stürmen würden …“

Wieder drangen Schüsse, lautes Geschrei und das Hinundherlaufen zahlreicher Manschen.

Berger war kraftlos auf das harte Sofa zurückgesunken. Diese Überraschung kam zu plötzlich.

Und Kiato fuhr fort:

„Die grüne Flamme, die mein Diener im Bogen in die See schleuderte, war für mein Schiff das Zeichen, daß Ihr hier an Bord keinerlei Verdacht geschöpft hattet. – Wir sind jetzt schon Herren der „Viktoria“. Kein Schuß fällt mehr. Wir arbeiten immer schnell und gründlich.“

Ein grausames Lächeln glitt über sein Gesicht.

„Sehr gründlich sogar. Dampfer, die wir kapern, verschwinden stets mit der Besatzung spurlos. Dann heißt es im Heimathafen: Ein Taifun hat das Fahrzeug verschlungen. Und – wir brauchen keinen Verräter zu fürchten.“

Berger hatte sich jetzt gefaßt.

„Heißt das etwa, daß Ihr alle Leute hinmordet?“ brüllte er den Mischling mit wutverzerrter Miene an.

Kiato nickte.

„Auch Ihr hättet längst ein Loch im Schädel haben müssen“, sagte er kalt. „Wenn ich Euch schone, so dankt es jenen da!“ Er zeigte auf die beiden Photographien in dem schmalen Rahmen.

[9] „Ihr seht also, Kapitän, – manchmal hat auch ein Ostasiate Herz! Das Bild hat Euch das Leben gerettet.“

Die Kajütentür wurde aufgerissen. Die fünf Diener traten ein.

Kiato erhob sich. – „Der Kapitän ist von Euch beiden streng zu bewachen. Nehmt alles hier weg, was als Waffe dienen kann.“

Dann ging er hinaus. Zwei Chinesen blieben bei Berger, der jetzt stumpf vor sich hinstierte. Er sah eben ein, daß er gegen die Piraten doch nichts ausrichten konnte.

Eine Viertelstunde später kam Kiato abermals in die Kapitänskajüte. Sein Gesicht drückte sinnlose Wut aus. Es glich jetzt einer abschreckenden Teufelsfratze.

Sofort fuhr er den einen von Bergers Wächtern an:

„Räudiger Hund, Du hast durch Deine Dummheit zwei von uns ums Leben gebracht! Der Steuermann lebte noch, hatte noch die Kraft, seinen Revolver zu gebrauchen. Habe ich Euch nicht befohlen, ja nicht Kugeln zu sparen …!!“

Er hob die Rechte, in der sein Revolver blinkte, zielte auf den zitternden Chinesen, der jetzt heulend sich ihm zu Füßen warf.

Da mischte sich Berger ein.

„Kiato!“ rief er. – „Kiato, denkt an Euer Weib, Eure Kinder! Laßt Milde walten …!!“

Des Piratenführers erhobener Arm sank herab. Er warf einen unsicheren Blick auf Berger, wandte sich um und verließ die Kajüte wieder.

Der zitternde Chinese stand auf.

„Kapitän, ich verdanke Euch mein Leben. Es war verwirkt. Noch nie hat Kiato jemanden geschont.“ – –

Am nächsten Morgen durfte Berger an Deck. Die Piratendschunke war verschwunden. Aber die „Viktoria“ hatte jetzt eine neue Besatzung. Von der früheren war nur einer übriggeblieben – der Kapitän.

[10] Kiato trat auf ihn zu.

„Ihr seht, wir können auch einen Dampfer regieren“, meinte er.

Berger drehte ihm den Rücken und lehnte sich an die Reling. Am liebsten wäre er diesem kaltblütigen Mörder an die Kehle gesprungen.

Kiato lachte höhnisch auf.

„Ich hätte Euch doch erschießen sollen. Nun lade ich mir nur die Unbequemlichkeit auf, Euch als Gefangenen bewachen lassen zu müssen,“ sagte er mit jener eisigen Ruhe, mit der er auch Dutzende von Menschen hinschlachten ließ. – Dann schritt er der Kommandobrücke zu.

Berger gab scharf acht, welchen Kurs die „Viktoria“ steuerte. Im Westen sah er noch über dem Horizont ein paar Bergspitzen hinwegragen wie kleine Inseln. Das konnte nur das Südkap von Formosa sein. Also fuhr der Dampfer nach Osten. Dort gab es eine unbewohnte und von allen Schiffen sorgsam gemiedene Inselgruppe. Alles nackter Fels, ringsum aber gefährliche Meeresstrudel, die eine starke Strömung erzeugte. Anscheinend hatten die Piraten dort also ihren Schlupfwinkel.

Am Morgen des folgenden Tages kam der kleine Archipel in Sicht. Mit einer Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit, die Berger notwendig anerkennen mußte, steuerte Kiato den Dampfer durch Klippen und Riffe auf den versteckten Eingang einer schmalen Bucht eines der Felseneilande zu. Und bald lag die „Viktoria“ in diesem natürlichen Hafen neben der schon vorher hier eingetroffenen Dschunke vor Anker.

Berger genoß recht große Freiheiten an Bord. Zumeist durfte er sich an Deck bewegen, – ganz nach seinem Belieben. Er sah, wie die Ladung des Dampfers zum Teil auf die Dschunke, zum Teil auf die Insel geschafft wurde, in die die Bucht etwa zweihundert Metern weit sich hineinzog.

Das Eiland war wildzerklüftet, geradezu romantisch [11] mit seinen abenteuerlichen Felspartien. Es gehörte zu dem nördlichen Teil des Archipels, der von dem südlichen durch einen Kanal getrennt war, den eine sehr starke Strömung brausend durchfloß.

Inzwischen war es dem Kapitän gelungen, auf einen Zettel in einer Art Geheimschrift in deutscher Sprache aufzuzeichnen, welches Schicksal ihn betroffen hatte. Von einem Hügel dicht am Buchtstrande, den zu erklettern man ihm nicht verwehrt hatte, war er jenseits des Kanals auf eine schmale Halbinsel aufmerksam geworden, aus deren flach abfallendem Ostufer drei riesige, ziemlich gleich geformte Steinblöcke herauswuchsen. Diese Blöcke erwähnte er auf dem Zettel, dem er absichtlich eine Fassung gab, daß Kiato aus dem Inhalt nie hätte ersehen könnten, was damit beabsichtigt war.

Dann suchte Berger jenen Chinesen, den er vor der Revolverkugel des ergrimmten Piratenanführers bewahrt hatte, für seinen Plan zu gewinnen. Endlich fand er eine Gelegenheit, den Mann heimlich zu sprechen. Er bat ihn, den Zettel seinen Kindern in Hongkong auszuhändigen. Aber der Chinese hatte Angst vor Kiato, fürchtete für sein Leben. Erst nach langem Hin und Her nahm er den Zettel und verbarg ihn in seinem Stiefel.

Am Abend dieses Tages wurde Berger dann an Land gebracht. Bisher hatte man ihn in seiner Kajüte wohnen lassen.

Vorher kam der Mischling zu ihm, der jetzt kostbare chinesische Gewänder trug, und verlangte von ihm einen Schwur, daß er über die Piraten und die Wegnahme des Dampfers nie etwas den Hafenbehörden Hongkongs anzeigen würde. Dann solle er nach drei Monaten freigelassen werden. Er könne ja aussagen, er sei als einziger einem Schiffbruch der „Viktoria“ an der Westküste Formosas entgangen und dort von Strandräubern so lange festgehalten worden.

[12] Berger schlug dieses Ansinnen rundweg ab.

„Ihr gehört an den Galgen, Kiato!“ sagte er ehrlich. „Und was ich dazu tun kann, Euch eine hanfene Krawatte zu besorgen, soll geschehen.“

Kiato zuckte die Achseln.

„Und wenn ich Euch nun sofort aufknüpfen lasse, Kapitän?“ fragte er ironisch.

„Mein Leben steht in Gottes Hand“, meinte Berger kaltblütig. „Und Gott wird Euch strafen – glaubt mir, Kiato! Eure Schandtaten werden gerächt werden – so oder so!“

Da ging der Freibeuterhäuptling stumm hinaus. Vielleicht hatte ihn in dem Augenblick, als Berger ihm mit der Strafe des Himmels drohte, zum erstenmal ein Gefühl von ungewisser Furcht beschlichen. –

Dann waren ein paar Leute gekommen, hatten Berger die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Augen verbunden und waren mit ihm davongegangen, – über felsigen Boden, durch Schluchten, über Anhöhen, schließlich eine lange Steintreppe abwärts.

Und jetzt gab man ihm die Arme wieder frei, entfernte auch die Binde …

Er befand sich in einer engen, niedrigen Höhle, deren Eingang bis auf eine schmale Tür vermauert war. In einem Winkel lagen ein paar Decken auf einem Haufen Seegras – sein Lager. Sonst nichts – nichts, nur kahler Fels und die Mauer mit der kleinen, festen Holztür.

Die drei Piraten, die ihn in dieses Gefängnis gebracht hatten, nahmen jetzt auch die Laterne mit, die Bergers Kerkerzelle beleuchtet hatte. Die Tür wurde geschlossen, von draußen ein Riegel vorgeschoben. Der Kapitän war allein – allein in pechschwarzer Finsternis.

Da verließ ihn zum erstenmal der Mut. Er tastete sich nach seinem Lager hin, setzte sich, stützte den Kopf in die Hände und gab sich seiner trostlosen Verzweiflung hin.

[13] Seine Gedanken eilten nach Hongkong in das kleine Häuschen mit dem freundlichen Garten, das sein Eigentum war … Dort würden nun sein Junge und die kleine Herta umsonst auf die Heimkehr der „Viktoria“ warten.

Eine leise Hoffnung richtete ihn allmählich wieder auf: der Zettel …!! – Hielt der Chinese sein Versprechen, so mußte die Wahrheit über sein Schicksal an den Tag kommen. Dann würde Hans sicher so klug sein, diese seltsame Nachricht den Behörden zu übermitteln, und diese dürften bald hinter den Sinn der kurzen Geheimschrift kommen. Man würde nach dem Gefangenen der Piraten suchen, würde alles aufbieten, diese unschädlich zu machen …, wenn – wenn eben der Chinese nicht wortbrüchig wurde …! Freilich – der Mann hatte ja selbst gesagt, er würde bei der ersten Gelegenheit entfliehen, da er das Leben als Freibeuter satt habe, zumal unter einem Anführer wie Kiato, der kein Erbarmen kenne, keine Milde …

Endlich schlief der Kapitän ein. Er träumte von seinen Kindern, die Kiato gleichfalls zu verderben trachtete. Wirre, ungereimte Bilder schuf sein traumbefangenes Hirn. In Schweiß gebadet wachte er auf. Es dauerte eine geraume Weile, ehe er sich in die Wirklichkeit zurückfand …




3. Kapitel.
Der Blick ins Freie.

Kapitän Berger rieb sich die Augen, schaute sich um … Ein breiter Strom hellen Tageslichtes drang durch die der Mauer gegenüberliegenden Felswand hindurch …

[14] Berger glaubte noch zu träumen. – Wie – seine Zelle besaß ein Fenster …?! – Natürlich – am Abend, als man ihn hier einsperrte, hatte er es nicht bemerken können.

Er stand auf, reckte sich. Die Glieder waren ihm steif geworden auf dem harten Lager …

Dann trat er an die etwa zwanzig Zentimeter breite, natürliche Öffnung heran, die in Augenhöhe und etwa ein halben[1] Meter lang das Gestein durchbrach.

Dieses Fenster ging nach Südosten zu. Draußen schien die Sonne. Das Tagesgestirn selbst sah Berger noch nicht. Es konnte noch nicht sehr hoch stehen.

Unten rauschte die schnelle Strömung des Kanals vorüber. Und da war ja auch die Halbinsel mit den drei Steinblöcken. Ihre äußerste Spitze lag keine vierzig Meter entfernt. Da war drüben jenseits des Kanals auch die Insel, zu der die schmale Felszunge gehörte … Und weiter nach links gab es noch ein Eiland, und dann in der Ferne das weite Meer, schimmernd im Sonnenlicht, mit weißen Wellenkämmen …

Der Kapitän stand wohl eine halbe Stunde fast regungslos da und schaute sich satt an dem Landschaftsbilde, das sich seinen hungrigen Augen darbot. Wie dankbar war er der Vorsehung, die ihm dieses Geschenk in Gestalt des natürlichen Fensters beschert hatte …! Nun war er nicht von Nacht und Dunkel umgeben, nun konnte er sich trösten an diesem Blick ins Freie …!

Dann hörte er hinter sich ein Geräusch. Der Türriegel wurde zurückgeschoben. Ein Chinese trat ein, in der Rechten schußbereit einen Revolver, in der linken eine Schüssel mit Reis und einen Napf.

Der Chinese verbeugte sich höflich.

„Ich bin Liau-Tse, der für Dich sorgen soll, Herr.“

Darauf stellte er Schlüssel und Napf schnell auf den Boden und verschwand wieder. Er schien dem Gefangenen [15] nicht recht zu trauen – trotz des Revolvers in seiner Hand.

Berger aß mit gutem Appetit. Der Reis war in Fett gedünstet. Der Napf enthielt kalten Tee.

Nach der reichlichen Mahlzeit wurde er müde. Der unruhige Schlummer der Nacht hatte ihm keine Erquickung gebracht. So suchte er denn wieder sein Lager auf und schlief auch sofort ein. Erst gegen Mittag erwachte er. Die Schüssel und der Napf waren verschwunden. Dafür stand jetzt ein Mittagessen da: ein Fischgericht, eine Suppe und als Nachtisch Datteln und Feigen. – Verhungern lassen wollte man ihn also offenbar nicht …!

Während er noch, auf seinem Lager sitzend, aß, erschien Liau-Tse abermals.

Der Chinese dienerte wieder überhöflich und brachte dann sein Anliegen vor. Wenn der Master Kapitän (er radebrechte das Englische auf eine furchtbare Weise!) ihm versprechen würde, nichts Feindliches gegen ihn zu unternehmen, so würde er dem Master Kapitän manche Erleichterungen schaffen können.

Berger überlegte nicht lange. Dieser Liau-Tse war offenbar einer von jenen Zopfträgern, der die Bequemlichkeit und das Gefühl eigener Sicherheit über alles liebte. Ihm war sein Wächteramt sicher sehr zuwider, besonders weil er sich sagte, daß er jeden Moment damit rechnen müsse, daß der Gefangene ihn zu überrumpeln suchte.

Deshalb gab Berger ihm auch die verlangte Zusage, was Liau-Tse zu vielen Dankesbücklingen veranlaßte. Jedenfalls hatte er von des Kapitäns redlicher Gesinnungsart eine sehr hohe Meinung, da er ihn nun sofort mit sich in die anstoßende große Höhle nahm, die den Piraten als Stapelraum für das geraubte Gut diente und ähnlich wie Bergers Zelle ihr Licht durch verschiedene Felsspalten von außen empfing.

[16] Diese Grotte glich einem mächtigen, niedrigen Dome und hatte einen Durchmesser von gut hundert Meter. Was Berger hier an Waren aufgestapelt fand, setzte sich zumeist aus schwerer verkäuflichen Dingen zusammen. Immerhin mußte diese Piratenschatzkammer recht erhebliche Werte in sich bergen.

Jetzt erfuhr der Kapitän auch von seinem Wächter, daß die „Viktoria“ inzwischen von Kiato auf offener See versenkt worden war und der Piratenanführer selbst mit der Dschunke wieder den Archipel verlassen habe. Bei dieser Gelegenheit flocht Liau-Tse noch ein, daß außer ihm noch zwei Leute auf der Insel zurückgeblieben seien. Später stellte sich die Unwahrheit dieser Behauptung heraus, die der Chinese wohl nur zur Einschüchterung seines Gefangenen vorgebracht hatte.

Zwischen Liau-Tse und Berger entwickelte sich bald eine Art freundschaftliches Verhältnis. Nur wenn der Chinese außerhalb der Höhle zu tun hatte und nachts sperrte er den Kapitän in die Zelle ein. Im übrigen konnte dieser tun und lassen was er wollte.

Sehr kennzeichnend für die moralischen Anschauungen Liau-Tses und der chinesischen Rasse überhaupt war es, daß Bergers Wächter einmal etwa Folgendes zu seinem Gefangenen sagte:

„Kein Chinese, Master Kapitän, hätte ein Versprechen, wie Ihr es mir gegeben habt, gehalten, vielmehr die erste Gelegenheit benutzt, um mich zu überwältigen. Ihr Deutschen seid ganz unbegreifliche Leute.“

Worauf Berger erwidert hatte:

„Erstens hält jeder anständige Mensch ein gegebenes Wort unter allen Umständen. Dann aber mußt Du bedenken, Liau-Tse, daß ein Angriff auf Dich meinerseits nichts als eine sehr große Unüberlegtheit wäre. Wie sollte ich wohl ohne Fahrzeug hier vom Archipel fortkommen?! Du hast mir ja selbst gesagt, daß ein Boot oder dergleichen in der Bucht nicht vorhanden ist, damit [17] nicht, falls hier wirklich einmal zufällig ein Schiff landen sollte, der Eindruck hervorgerufen wird, die Insel sei bewohnt oder diene sonstwie besonderen Zwecken.“

Liau-Tse, der zwar ein sehr kräftiger Bursche, aber geistig auch ebenso harmlos war, machte ein sehr erstauntes Gesicht.

„Gut, Master Kapitän, sehr gut!“ meinte er. „Ihr habt recht. Es hätte keinen Zweck für Euch gehabt, sich an mir zu vergreifen.“

Trotz dieser Einsicht blieb jedoch hinsichtlich der Behandlung Bergers alles beim Alten, das heißt, zeitweise mußte er doch wieder die Zelle beziehen, und der Chinese zeigte ihm auch nicht den geheimen Ausgang aus der Höhle, der sehr versteckt liegen mußte, ebensowenig wie er ihm gestattete in einen durch eine Mauer mit einer Eisentür abgeteilten Nebenraum der Grotte einzudringen, der anscheinend einen Zugang vom Kanale aus besaß, da man die Wasser sehr deutlich rauschen hörte, wenn man dicht vor der Eisentür stand.

So vergingen zwei Wochen. Die Dschunke erschien nicht wieder. Liau-Tse erklärte, daß die „Drachenblume“, die nebenbei noch ein halbes Dutzend andere Namen ganz nach Bedarf führte, für gewöhnlich ein harmloser Kauffahrer sei, mit dem Kiato ganz ehrliche Geschäfte betriebe.

Dann ereignete sich an einem Vormittag etwas, das Bergers Verhältnis zu dem Chinesen mit einem Schlage vollständig änderte.

Es war gegen neun Uhr morgens. Der Kapitän hatte sich gerade von seinem Lager erhoben und trat jetzt an das natürliche Zellenfenster.

Plötzlich zuckte er zusammen. Fast stieren Blickes schaute er den Kanal nach Osten zu hinunter. Dort hing dicht hinter einem Strudel von gewaltiger Stärke ein Segelboot, – ein gedeckter Kutter, auf einem verborgenen [18] Riff. Und an Bord des gestrandeten kleinen Fahrzeuges befanden sich außer Kiato und dessen Haupthehler, einem dicken Chinesen namens Tschi-Mao, zwei Europäer, jüngere Leute, und dann noch … Hans und Herta, Bergers Kinder …

Der Kapitän glaubte erst an eine Sinnestäuschung, rieb sich die Augen, kniff sich in den Arm, – – das Bild blieb …! Kein Zweifel also: es waren seine geliebten Kinder, – aber es war auch Kiato dort drüben …!! Und das dämpfte nur zu stark des Kapitäns jubelnde Freude.

Gleich darauf trat sehr aufgeregt Liau-Tse ein.

Als er Berger am Fenster stehend erblickte, wurde er zum erstenmal frech, parkte ihn am Arm und wollte ihn zurückreißen. Aber der Kapitän schleuderte ihn durch einen Stoß von sich. Da zog der Chinese den Revolver. Berger sah es dem Gesichtsausdrucke seines Wärters an, daß dieser tatsächlich schießen würde. So gab er denn nach.

„Master Kapitän“, erklärte Liau-Tse nun drohend, „wenn Ihr auch nur den Versuch macht, Euch mit den Leuten draußen zu verständigen, erhaltet Ihr eine Kugel!“

Berger begriff den Chinesen nicht.

„Kiato ist doch ebenfalls auf dem Kutter“, meinte er. „Weshalb soll ich da …“

Aber der Chinese unterbrach ihn finster.

„Schweigt jetzt! Setzt Euch auf Euer Lager. Ich werde draußen vor Eurer Tür Wache halten. Sehe ich, daß Ihr Euch dem Fenster nähert, feuere ich durch das Guckloch hindurch!“

Damit verschwand er.

Eine Stunde hielt Berger es in dieser Untätigkeit aus. Möglich war es ja, daß Liau-Tse durch das runde Loch in der Tür ihn beobachtete, aber nicht wahrscheinlich.

[19] Er erhob sich jetzt. Länger ertrug er es nicht, in Ungewißheit darüber zu bleiben, was aus seinen Kindern wurde, die sich auf dem gescheiterten Boot in einer gefahrdrohenden Lage befanden.

Zunächst schritt er auf die feste Holztür zu. Das Guckloch darin hatte keine Scheibe. Und es war ein leichtes festzustellen, ob der Wächter wirklich draußen stand und aufpaßte.

Liau-Tse war nicht da. Kein menschliches Auge füllte die kleine Öffnung aus. Selbst als Berger jetzt das Loch mit dem Ärmel seiner Jacke verstopfte, meldete sich niemand.

In die Jacke aber knöpfte der Kapitän die Schüssel ein. Stieß der Chinese jetzt von draußen den Ärmel aus dem Guckloch heraus, dann mußte die mit herabfallende Schüssel Berger warnen.

Nun stand er am Fenster seiner Zelle, das etwa fünf Meter über dem Wasserspiegel des Kanals lag, nun erblickte er drüben auf der Halbinsel seinen Jungen, der mit gesenktem Kopfe dort auf und ab ging, als suche er irgend etwas am Strande. –

Die Sehnsucht nach seinem Kinde ließ den Kapitän alle Vorsicht vergessen. Er steckte den Kopf, so weit es ging, in die Spalte der Felswand, und rief mit voller Lungenkraft.

„Hans – Hans!!“

Der Knabe mußte den Ruf gehört haben. In lauschender Haltung stand er da, während seine Augen suchend über den Kanal und die gegenüberliegende Insel hinglitten.

Nochmals wollte Berger den Mund zu einem Schrei auftun.

Da – hinter ihm ein dumpfes Poltern, das nur von der herabfallenden Schüssel herrühren konnte, die der Stoff der Jacke vor einem allzu harten Aufprallen auf den Steinboden bewahrte.

[20] Mit einem Satz war Berger vom Fenster weg und ließ sich schnell auf sein Lager nieder.

Liau-Tse, den Revolver in der Rechten, trat mit grimmer Miene ein.

„Master Kapitän“, fuhr er Berger an, „wozu habt Ihr das Guckloch verstopft – he?! Ihr habt mein Verbot überschritten, ganz sicher, und ich könnte Euch daher …“

Berger lachte laut auf, so daß der Chinese verletzt schwieg.

„Du könntest mich daher totschießen“, vollendete der Kapitän jetzt den Satz. „Gewiß – Du könntet …!! Aber Dein Revolver ist nur ein Spielzeug, nichts weiter! Ich habe vorgestern heimlich aus den Patronen das Pulver entfernt, als Du unser Mittagsmahl herrichtetest.“

Liau-Tse machte ein so verblüfftes Gesicht, daß Berger abermals lachen mußte. Dann sagte der Chinese kopfschüttelnd, indem er den Revolver in die Tasche schob:

„Ihr seid noch schlauer als Kiato, Master Kapitän, – wahrhaftig! Aber Ihr seid auch ein ehrlicher Herr! Ich war jetzt wehrlos, und Ihr habt mich doch nicht zu überrumpeln versucht.“

Und nach einem Augenblick des Nachdenkens fügte er hinzu:

„Kommt mit! Ich will Euch einen Toten zeigen, den die Strömung soeben in die Höhle getragen hat.“

Berger schaute den Chinesen ungläubig an.

„Einen Toten …?! … die Strömung … in die Höhle …?! Wie hängt das zusammen?!“

„Ihr werdet schon sehen …! Folgt mir!“

Liau-Tse schritt auf die eiserne Tür zu, die an der Südseite der Höhle in die hier errichtete Mauer eingefügt war. Den Schlüssel zu dem Schloß – dieses war feinste chinesische Kunstarbeit – holte der Wächter aus einem Versteck hervor.

[21] Dann drehte sich die Pforte in den festen Angeln. Dahinter lag ein schmaler Raum, der von einem seltsam magischen Lichte mäßig erleuchtet wurde.

Der Boden dieses Gelasses senkte sich nach vorwärts, nach der Außenfelswand hin, allmählich, ohne jedoch in etwa fünf Meter Breite mit der Wand zusammenzuhängen. Vielmehr befand sich hier eine gut zwei Meter tiefe Öffnung, durch die die Wasser des Kanals gurgelnd eindrangen und so den halben Boden in einen Teich verwandelten. Und durch diese unterseeiche Spalte flutete ein heller, farbenschillernder Schimmer, die Wassermassen mit seinen Strahlen durchdringend, von außen herein und schuf eine merkwürdige Beleuchtung.

Mehr noch als dieses Farbewunder der durch das Wasser gebrochenen Lichtstrahlen (die Beleuchtung in der berühmten blauen Grotte auf Capri beruht auf ähnlichen physikalischen Vorgängen) zog aber Bergers Blicke die regungslos daliegende Gestalt eines Mannes auf sich, – eines Jünglings fast noch, dessen glattes, sonngebräuntes Gesicht doch trotz aller Merkmale der Jugend bereits einen hervorstechenden Zug von Energie um die fest zusammengepreßten Lippen zeigte.

Der Tote war ganz in Weiß gekleidet, in einen jetzt freilich durch das Wasser arg mitgenommenen Tropenanzug. Das blonde Haar hing ihm wirr in die Stirn hinein. Und in der rechten Hand hielt er noch einen Büschel dickblätteriger Meerespflanzen, während um seine Brust drei Rettungsringe befestigt waren.

Berger erkannte in ihm jetzt einen der Insassen des gescheiterten Kutters. Mithin waren nicht alle, die sich auf dem Boote befunden hatten, mit dem Leben davongekommen. Und einen Augenblick zuckte nun auch in dem Kapitän die Befürchtung auf, daß womöglich sein Töchterchen das Schicksal dieses Armen hier geteilt haben könne. Dann sagte er sich aber sofort, seines Jungen Verhalten sei nicht so gewesen, als habe dieser soeben [22] die Schwester für immer verloren. Und dieser Gedanke beruhigte ihn vollständig.

Er kniete jetzt neben dem anscheinend Leblosen nieder und fühlte ihm nach dem Puls. Vielleicht war doch noch eine geringe Hoffnung vorhanden, den Unglücklichen durch Einleitung künstlicher Atmung zu retten. Gerade als Seemann wußte Berger ja mit dieser Art von Wiederbelebungsversuchen sehr gut Bescheid.

Und wirklich: ihm war‘s, als spüre er noch ein kaum wahrnehmbares Kreisen des Blutes. Sofort begann er nun mit dem taktmäßigen Heben und Senken der Arme.

Der Chinese stand dabei mit einem Gesicht, als begreife er Bergers Bemühungen nie und nimmermehr. Doch erstaunter war er aber, als diese nach einer guten Viertelstunde Erfolg hatten, als die Lungen des Bewußtlosen von selbst zu arbeiten begannen und dessen Augen sich plötzlich öffneten.

Eine halbe Stunde darauf lag der wieder zum Leben Erwachte in Bergers Zelle auf dem Lager von Seegras, während der Kapitän mit zufriedenem Lächeln neben ihm saß.

Liau-Tse hatte sich nämlich plötzlich wieder sehr energisch auf seine Wächterpflichten besonnen. Wahrscheinlich fürchtete er, die beiden Europäer könnten jetzt doch anders gegen ihn auftreten als der Kapitän dies getan hatte. Jedenfalls war er aus der Grotte verschwunden und dann mit einem anderen Revolver zurückgekehrt, um nun Berger zu zwingen, den Geretteten in die Zelle zu tragen, wo er beide einschloß, nachdem er ihnen noch eine reichliche Mahlzeit hineinstellt hatte.

Der blonde junge Mensch war jetzt wieder genügend bei Kräften, um dem Kapitän alles das erzählen zu können, was diesen notwendig interessieren mußte, da es sich dabei eben um Bergers Kinder handelte.

Der Gerettete war ein deutscher Marineleutnant [23] namens Gerhard Reuter. Gemeinsam mit seinem Freunde, dem Ingenieur Max Gnuffke, hatten sie, um den Kapitän zu suchen, die Fahrt in Gnuffkes Kutter nach dem kleinen Archipel unternommen, zu der sie auch die Kinder mitnahmen. Unterwegs war es ihnen durch eine Verkettung merkwürdiger Umstände gelungen, Kiato und den dicken chinesischen Hehler Tschi-Mao zu Gefangenen zu machen.

Jetzt hörte Berger auch, daß bis auf Reuter und Kiato die Insassen des Bootes sämtlich auf die Halbinsel drüben gelangt seien. Ob dies auch dem Piratenführer geglückt war, vermochte der Leutnant nicht anzugeben.

Nachdem Reuter so seine und seiner Gefährten Abenteuer berichtet hatte (diese sind im vorigen Bande „Kapitän Bergers Kinder“ geschildert worden), begann nun auch der Seemann zu erzählen, was er auf der letzten Reise mit seinem Dampfer erlebt hatte. Inzwischen hatte sich Reuter bereits über die Speisen und den kalten Tee hergemacht. Er aß mit wahrem Heißhunger, und nachher erklärte er dann, er fühle sich schon wieder genau so frisch wie vor der gefährlichen Schwimmtour, die ihm beinahe das Leben gekostet hätte.

Die beiden Landsleute überlegten nun, was weiter geschehen solle. Berger, der jetzt in der Zelle auf und ab ging und hin und wieder einen Blick nach der Halbinsel hinüberwarf, bemerkte plötzlich den Ingenieur Gnuffke, die kleine Herta und den Knaben, die Kiato und Tschi-Mao, denen die Hände auf dem Rücken gefesselt waren, von der Halbinsel nach dem Innern des Eilandes zu davonführten. Der Kapitän wagte jetzt jedoch nicht zu rufen, da der Wächter draußen hin und wieder sich durch Räuspern bemerkbar gemacht hatte.

Immerhin führte dieses Bild des Abtransportes der beiden Chinesen dazu, daß der Leutnant jetzt leise erklärte, er für seine Person habe Liau-Tse keinerlei [24] Versprechen, sich nicht widersetzen zu wollen, gegeben und er werde daher auch die erste Gelegenheit wahrnehmen, um den Wächter unschädlich zu machen, damit man die Höhle verlassen und sich mit dem auf dem gegenüberliegenden Eilend Befindlichen vereinigen könne.

Hierzu sollte es jedoch nicht so bald kommen.

Der Tag verging, und der Chinese fand sich bei den Zelleninsassen nicht wieder ein. Draußen wurde es dunkler. Dann merkte man plötzlich doch etwas von Liau-Tse‘s Wachsamkeit. Dieser schob nämlich plötzlich von außen in die das Fenster bildende Spalte ein paar keilförmige Steine hinein, die er so gut festklemmte, daß am anderen Morgen alle Versuche der beiden Gefangenen, sie zu entfernen, scheiterten.

Bergers und des Leutnants Lage war jetzt eine wenig angenehme, da sie sich fast in völliger Dunkelheit nunmehr befanden. Und das schlimmste: Liau-Tse schien sie verhungern lassen zu wollen. Er zeigte sich nicht, versorgte sie weder mit Essen noch Trinken und meldete sich auch nicht, als die eingesperrten am Nachmittag dieses zweiten Tages vor Hunger und Durst wild gegen die Tür hämmerten.

Abermals kam der Abend. Da erkläre Reuter, er sei jetzt davon überzeugt, daß Liau-Tse etwas zugestoßen sein müsse. Jedenfalls sei es nötig, sofort mit einem Ausbruchsversuche zu beginnen, bevor noch Entbehrungen seine und Bergers Kräfte so geschwächt hätten, daß diese für eine Befreiung nicht mehr hinreichten.

Berger gab dem Landsmanne vollkommen recht, meinte aber, er wüßte wirklich nicht, wie man die Tür sprengen sollte, da ihnen doch sämtliche Hilfsmittel hierzu fehlten.

Reuter war so schnell jedoch nicht zu entmutigen.

„Vergessen Sie nicht, daß ich in Besitz eines starken Taschenmessers und meines Revolvers bin, die der Chinese mir abzunehmen übersehen hat,“ meinte er.

[25] Des Leutnants zuversichtliche Stimmung erhielt jedoch einen bösen Dämpfer, als er erst einmal probiert hatte, mit der großen Klinge seines Messers das harte tropische Holz, aus dem die Tür gefertigt war, zu bearbeiten.

Bedenkt man noch, daß diese Versuche, das Schloß der Tür herauszuschneiden, selbst am Tage bei fast völliger Dunkelheit vorgenommen werden mußten, dann erscheint es erklärlich, daß die Gefährten mehr als einmal ganz mutlos wurden. Aber stets peitschte ihre Energie der Gedanke an den drohenden Hungertod wieder auf, und abwechselnd schnitten sie nun an den Kerben weiter, die sie um das Schloß gezogen hatten.

Wasser- und Blutblasen drückten sie sich an Fingern und Handflächen auf, und die Rückenmuskeln schmerzten Ihnen vom gebückten Stehen. Hunger, noch mehr aber fast der Durst peinigten sie. Sie ahnten nicht, daß Max Gnuffke mit den Kindern in der Mitte des gegenüberliegenden Eilandes ein mit Strauchwerk bewachsenes Tal bezogen, dort eine Hütte errichtet und die beiden gefangenen schlitzäugigen Schurken in einem tiefen Felsloche untergebracht hatten, daß Liau-Tse hier einen Versuch zu deren Befreiung gewagt und doch nur Kiatos Tod herbeigeführt hatte, indem er in das Verließ hinab – und dem Piratenkapitän gerade auf den Kopf stürzte. – kurz, sie wußten auch nichts von der merkwürdigen Tatsache, daß zu derselben Zeit, wo sie für eine Schüssel gedünsteten Reis und einen Schluck Wasser gern Tausende bezahlt hätten, auch Liau-Tse und Tschi-Mao eine Hungerkur durchmachten, die der Ingenieur ihnen verordnet hatte, bis sie verrieten, wo sich der verborgene Schlupfwinkel der Seeräuber befand.

Dann, nach mehr als achtundvierzigstündiger Arbeit, lächelte ihnen der Erfolg: das Türschloß ließ sich herausbrechen, und die so entstandene Öffnung genügte, um [26] auch noch die beiden vorhandenen Riegel, indem man mit dem Arm durchgriff, zurückzuschieben.

Sie waren frei, – das heißt, sie konnten sich nun wenigstens auch in der großen Höhle frei bewegen.

Morgans gegen sechs Uhr trat dieser Augenblick ein, wo sie ihre Zelle verließen, um nun zuerst einmal nach etwas Trinkbarem und Eßbarem zu suchen.

Im Nordteil des natürlichen Gewölbes hatten die Piraten sich ihre Vorratskammer und ihre Küche eingerichtet. Und hier gab es alles, wonach das Herz der beiden Landsleute sich jetzt am meisten sehnte.

Nachdem sie ihren Magen befriedigt hatten, suchten sie sich aus einem Kasten, der verschieden sehr gute Zigarrensorten enthielt, als Nachtisch jeder eine echte Importe heraus und überlegten sich darauf, was nun weiter geschehen solle.

Daß ihr Wächter tatsächlich irgendwie verunglückt sei oder doch jedenfalls an der Rückkehr in das unterirdische Versteck verhindert wurde, stand ja nun fest. Es mußte also ihre Aufgabe sein, den Ausgang aus dem Felsgewölbe herauszufinden. Daß dieser sehr gut verborgen angelegt war, hatte ja Berger bereits erfahren müssen. Trotzdem machten sie sich guten Mutes nun gemeinsam auf die Suche.

Den ganzen Tag über besichtigten sie alle Stellen der Höhlenwände, die auch nur einigermaßen geeignet schienen, um hier einen geheimen Ausgang anzulegen. Doch es erging ihnen jetzt genau so wie bei ihrem Ausbruchsversuch aus der Zelle: ihre Geduld wurde auf eine sehr harte Probe gestellt.

Berger zündete jetzt einige der vorhandenen Laternen[2] an. Zumeist waren es Petroleumlaternen, die von ausgeraubten Schiffen stammten. Bis gegen Mitternacht setzten sie dann noch ihre Nachforschungen weiter mit zäher Ausdauer fort. Bei beiden sprach ja das Verlangen mit, möglichst bald mit Gnuffke und den Kindern sich [27] zu vereinigen. Außerdem sagten sie sich aber auch, daß die Piratendschunke vielleicht sehr bald wieder in die Bucht einlaufen könne, wodurch die Lage der fünf Deutschen eine recht mißliche werden mußte.

Auch den abgeteilten Raum mit der magischen Beleuchtung durchsuchten sie jetzt. Mit demselben Erfolg …

Berger wurden schon ungeduldig. Es half nichts. Kiatos Schatzkammer schien für sie eine große Falle darzustellen, aus der es kein Entrinnen gab.

Abermals gingen zwei Tage hin.

Berger und der junge Offizier waren jetzt schon ganz verzweifelt. Der Ausgang aus der Höhle blieb für sie ein ungelöstes Rätsel.

Es konnte nicht ausbleiben, daß sie bei ihren Nachforschungen auch die in der Riesengrotte aufgestapelten Beutestücke hier und da bei Seite legen mußten. Auf diese Weise gewannen sie auch einen Überblick über die Vielseitigkeit der hier vertretenen Gegenstände. Nichts fehlte, nichts: vom kostbaren Tand für putzsüchtige Frauen bis zu ein paar aus englischen Fabriken stammenden, zierlichen Revolvergeschützen nebst der nötigen Munition war einfach alles vorhanden. Sogar ein … Pianino!! Und gerade dieses bewies den beiden Landsleuten (wie hätten die Piraten selbst einen so umfangreichen Gegenstand in die Höhle schaffen können!), daß der geheime Zugang recht breit und bequem sein mußte.

Wieder brach ein neuer Morgen an.

Berger hatte gerade in der Küche für den Leutnant und sich selbst den Morgentee aufgebrüht, und Reuter wieder bemühte sich, Mehl zu einem Teige für kleine Brote einzurühren, als sie ein Geräusch im Südteile des Gewölbes hörten.

Es war noch sehr dämmerig in dem weiten Raume, da der Himmel heute bedeckt war und daher nur wenig Licht in die Grotte durch die natürlichen Fenster oben an der Decke eindrang.

[28] So bemerkten die Freunde denn auch nur undeutlich drei Gestalten, die dort hinten plötzlich auftauchten, ohne zu erkennen, mit wem sie es zu tun hatten.

Auf jede Überraschung längst vorbereitet, löschen sie schnell die beiden Laternen aus und griffen zu den Gewehren.

Waren es Piraten, die ihren Schlupfwinkel besuchen kamen, so wollten Berger und Reuter ihr Leben teuer genug verkaufen.

Aber – welch‘ freudiger Schreck durchzuckte nun plötzlich den Kapitän, als eine helle Knabenstimme mit einem Male sehnsüchtig „Vater – Vater!!“ rief.

Da gab es für Berger kein Halten mehr. Er lehnte die Büchse gegen eine Kiste und eilte seinem geliebten Jungen entgegen.

Jeder kann sich selbst leicht die bewegte Szene des Wiedersehens ausmalen, die sich nun hier in dem Piratenschlupfwinkel abspielte.

Der Kapitän hielt seinen Hans lange an die Brust gedrückt, und Reuter wieder umarmte den aufjubelnden Ingenieur, der den Freund längst als tot betrauert hatte.

Etwas abseits stand der dicke, in kostbare Gewänder gekleidete Tschi-Mao, dem die Hungerkur sehr schlecht bekommen war. Er hatte denn auch heute morgen vorgezogen den Verräter zu spielen, als noch länger die bereits bis zur Unerträglichkeit bei ihm gesteigerten Qualen des leeren Magens zu ertragen.

Dann ging‘s an ein lebhaftes Hin und Her von Fragen. Berger erfuhr so, daß die kleine Herta als Wächterin bei Liau-Tse zurückgeblieben war, den man unten in dem Felsloche gelassen hatte, von wo es höchstens für einen leichtbeschwingten Vogel ein Entweichen gab.

Dann aber führte Gnuffke die beiden Wiedergefundenen zu dem verborgenen Eingang, dessen Gesamtanlage [29] dem klugen, aber auch ebenso verbrecherischen Hirne Kiatos entstammte.

Eine breite Spalte der Felswand, die in einen ganz engen Abgrund ursprünglich mündete, war an der Südostseite des Gewölbes mit Hilfe einer aus drei Teilen zusammengesetzten Steintür so verschlossen worden, daß der für die in sechs mächtigen Angeln drehbare Tür benutzte Fels sich von der Umgebung auch nicht im geringsten abhob.

In den dahinter liegenden Abgrund wieder war eine Steintreppe einbaut worden, während die Öffnung des engen Schlundes geschickt durch Felsstücke überdacht worden war, – bis auf eine ebenfalls aus einem flachen Steine hergestellte Falltür, durch die man von außen auf die Treppe gelangte.

Diese ganze Einrichtung war so sorgfältig gearbeitet, daß ein Uneingeweihter sie nie entdecken konnte, selbst durch einen Zufall wohl kaum. Wäre der Ingenieur nicht auf den Gedanken gekommen, durch Hunger einem seiner Gefangenen die Zunge zu lösen, so hätten weder die drei in dem Tale hausenden, noch die in das Gewölbe eingeschlossenen Deutschen zueinander gelangen können.

Das Wiedersehen zwischen dem Kapitän und seinem Töchterchen war ein so rührendes, daß es Gnuffke und Reuter ganz weich ums Herz wurde. Die kleine Herta vergoß reichlich Tränen. Aber das Lächeln auf ihrem leicht gebräuntem, frischen Gesichtchen und das Strahlen ihrer Augen verrieten, daß es nur Freudentränen waren, die ihre Wangen netzten.

Auf des Ingenieurs Vorschlag wurden die beiden Chinesen dann in derselben Zelle unterbracht, in die erst Berger und dann auch der junge Offizier eingeschlossen gewesen war. Weiterhin wurde bei einer Beratung, die die drei Männer abhielten, der Entschluß gefaßt, auf Neu-Helgoland (diesen Namen hatte Hans Berger der Grotten-Insel gegeben, weil sie eine ähnliche [30] Gestalt wie die deutsche Nordseeinsel besaß) in der Nähe der Bucht eine leicht zu verteidigende kleine Niederlassung zu gründen, damit man der Dschunke, falls sie wieder einmal auftauchte, bequem einen möglichst warmen Empfang bereiten konnte.

Bereits am Nachmittag machten sich Gnuffke und Hans Berger an die Aufgabe heran, eine günstige Stelle für die zu errichtende kleine Festung auszusuchen.

Sie fanden denn auch eine flache Hügelkuppe, die allen Anforderungen entsprach.

Dieser Hügel hatte nur einen bequemen Zugang in Gestalt einer Spalte, die sich auf der Nordostseite, also der der Bucht abgekehrten, durch das Gestein hindurchzog. Von der Bucht etwa achtzig Meter entfernt, bildete er oben eine Plattform, an deren Rand vereinzelte Blöcke natürliche Zinnen darstellten, die sowohl eine hier zu erbauende Hütte als auch die Revolvergeschütze, die man aufzustellen beabsichtigte, gegen Sicht vom Wasser her verbergen mußten.

Mit Eifer gingen die Deutschen nun sofort an die Arbeit. In zwei Tagen war die aus starken Kistenbrettern zusammengeschlagene, recht bequeme Hütte fertig. Ebenso waren auch die drei Revolverkanonen, die mit zur Verteidigung dienen sollten, sehr bald in Stellung gebracht und daneben eine Munitionskammer errichtet worden.

Um nun nicht durch die plötzliche Ankunft der „Drachenblume“ überrascht zu werden, wurde sowohl am Tage als auch in der Nacht einer der Gefährten als Wache bestimmt, der das Meer zu beobachten hatte.

Doch zwei Wochen vergingen, ohne daß man auch nur ein Segel oder die Rauchfahne eines Dampfers zu Gesicht bekommen hätte.

Die Annahme, daß die „Drachenblume“ entweder in einem Sturme untergegangen oder durch einen Kreuzer als Pirat aufgebracht sei oder schließlich nach Verlust [31] ihres erprobten Kapitäns das gefährliche Handwerk aufgegeben habe, lag recht nahe, wie Reuter eines Tages erklärte. Deshalb beschlossen die Gefährten auch, den Plan auszuführen, den der junge Offizier schon vor einiger Zeit entworfen hatte: mit dem Bau eines gedeckten Kutters zu beginnen. – Holz und alles andere dazu Nötige war genügend vorhanden. Standen doch in der Grotte zahlreiche Kisten in allen Größen, ebenso wie es auch an Handwerkszeug nicht fehlte.

So sollte denn eines Morgens mit dem Bootsbau begonnen werden.

Hans Berger hatte gerade die Wache, als er im ersten Zwielicht des heraufziehenden neuen Tages im Nordwesten einen Zweimaster erspähte, der auf die Inselgruppe zuhielt. Mit Hilfe des Fernrohres stellte er bald fest, daß es eine Dschunke war, die sich in schneller Fahrt näherte.

Sofort alarmierte er nun die Gefährten. Eiligst wurden noch die allerletzten Vorkehrungen für den Kampf getroffen, der ja nach Lage der Dinge unvermeidlich war.

Ruhig ließ man dann die „Drachenblume“ in die Bucht einlaufen und ungefähr gegenüber dem in eine Festung verwandelten Hügel vor Anker gehen.

Sehr bald stieß von der Dschunke ein Boot ab, das dem Strande der Bucht unterhalb des Hügels zuruderte.

Berger, der als ältester der Fortbesatzung hier ohne weiteres den Befehl hatte, wollte das Boot jedoch nicht völlig an das Ufer lassen, sondern hatte den Ingenieur abgeschickt, der sich nun plötzlich zeigte und mit erhobenem Gewehr die Insassen des Bootes aufforderte, nach der Dschunke zurückkehren, die ungesäumt wieder in See zu gehen habe.

Ein Hohngelächter und wilde Flüche waren die Antwort. Gleich darauf feuerte einer der Chinesen auf Gnuffke, – ohne zu treffen.

[32] Damit waren die Feindseligkeiten eröffnet.

Reuter stand schon an einem der Revolvergeschütze bereit. Gleich der erste Schuß traf das Boot, daß sofort zu sinken begann, so daß die drei unverwundeten Insassen nach der Dschunke zurückschwimmen mußten. Die übrigen fanden im Wasser der tiefen Bucht ihr Grab.

Der zweite, auf die Dschunke selbst abgegebene Schuß wieder schlug dicht über der Wasserlinie des Vorderschiffes ein. Aber ehe noch die Chinesen die Motoren der „Drachenblume“ dann anwerfen konnten, um den Granaten zu entgehen, trat bereits bei dem fünften Treffer die Katastrophe ein.

Unmittelbar nach dem Donner des Schusses schien sich die Dschunke gut ein halbes Metern aus dem Wasser zu heben. Dann ertönte ein dumpfer Krach, und sie flog, gehüllt in gelbbraune Pulverschwaden, auseinander. Offenbar hatte sie also eine größere Pulverladung an Bord gehabt, die, durch das Geschoß zur Explosion gebracht, diese furchtbare Wirkung hervorrief.

Von der Mordbande Kiatos entging nicht einer diesem Strafgericht, – wenn man von den beiden Gefangenen in der Zelle des unterirdischen Gewölbes absieht, die erst in Hongkong abgeurteilt wurden und gleichfalls mit dem Leben sühnten, was sie verbrochen. –

Unsere Freunde mußten noch einen ganzen Monat auf Neu-Helgoland bleiben. Dann war das Boot fertig, dann stach man mit westlichem Kurse in See und gelangte auch wohlbehalten wieder nach Hongkong.

Das Piratennest war ausgeräuchert. Und unsere Geschichte ist jetzt auch zu Ende …


Ende.



Druck: P. Lehmann, G.m.b.H., Berlin.



Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: halbes
  2. In der Vorlage sind die folgenden Zeilen vertauscht worden.