Das Kinder-Neujahrssingen in Tirol

Textdaten
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Autor: J. C. Platter
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Titel: Das Kinder-Neujahrssingen in Tirol
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 878–879, 881
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das Kinder-Neujahrssingen in Tirol.

Eine Skizze aus der Weihnachts- und Neujahrszeit von J. C. Platter.
(Mit dem Bilde S. 881.)

Wer von den sommerlichen Alpenfahrern die Landschaftsreize der Berge nur in der schönen Jahreszeit genossen und dabei Einblick gewonnen hat in das Volksleben, der würde Land und Leute des Gebirges im Winter wohl kaum mehr wiedererkennen. Während der Sommerszeit lebt ein großer Teil der männlichen Bevölkerung der Alpenthäler im Hochgebirge zerstreut; so die Sennen und Schäfer, die Jäger und ihre schlauen Gegner, die Wildschützen, ferner die Edelweißsammler. Enzianbrenner und Steinklauber, und auch die Angehörigen der Bergführergilde halten sich mehr auf in den Regionen der Gletscher und Kletterschrofen als im geordneten Haushalt im Thale.

Ganz anders jedoch wird es im Winter.

Wenn nach „Martini“ die Berge in weiße Nebelschleier sich hüllen, wenn die Flocken auf den Thalbach niederwirbeln, bis dieser mit Schnee und Eis überzogen auf kurze Strecken eine kleine, weißglänzende Ebene bildet, während die Wasserfälle [879] als bläulich schimmernde Eiskaskaden erscheinen, dann haust niemand mehr in den schneebegrabenen Alpenhütten. Dafür herrscht daheim in den Dörfern der Niederung ein um so regeres Leben und Treiben, das in Tirol besonders um die Weihnachts- und Neujahrszeit sowie auch im Fasching in mancherlei Hinsicht sehr interessant sich gestaltet. Da blüht der Rodel- oder Kleinschlittensport als Lieblingsergötzen der kleinen und größeren Jugend, ferner am Sonntag auf der glatten Eisbahn das Eisschießen, und im Grödnerthale werden Schlittenfeste veranstaltet, welche seit altersher stets für die ganze Gegend ein Hauptereignis bilden. Im Zillerthale hat man die bekannten Berchten-Tänze; noch immer sind da und dort mancherlei Wintervolksspiele gebräuchlich, so z. B. das Nikolausspiel oder das Dreikönigsspiel zu Jnzing; dazu kommt dann das Schellenschlagen und das besonders interessante Schemenlaufen zu Jmst im Oberinnthal, kurz, wer Tirol einmal im Winter besuchen wollte, der würde außer der in ihrer Schneewildheit doppelt großartigen Berglandschaft auch ganz mühelos eine Reihe ihm bis dahin vollkommen unbekannter Einzelheiten aus dem intimsten Volksleben kennenlernen.

Besonders reichhaltig in dieser Beziehung erweist sich die Weihnachts- und Neujahrszeit, für welche Feste die alten Bräuche sich noch allenthalben in Berg und Thal so ziemlich erhalten haben, ja in neuester Zeit sogar eine Bereicherung erfahren, indem die schöne deutsche Sitte des Weihnachtsbaumes nun auch in den Tiroler Alpen mehr und mehr Eingang findet. Allerdings wird dadurch Sankt Nikolaus, der bisherige Gabenspender und Freund der Kinderwelt, nebst seinem bösen Knechte Ruprecht, dem gefürchteten „Klaubauf“, mehr und mehr verdrängt, wie man dies am besten in Innsbruck aus dem Rückgang des früher so ausgedehnten, eigenartigen Sankt Nikolaus-Marktes ersehen kann.

Rückt also Weihnachten und Neujahr im Dorfe heran, so herrscht überall große Rührigkeit, die Bäuerin unternimmt bereits acht Tage vor dem Heiligen Abend eine sorgsame Revision ihrer Speisekammer. Dies ist aber auch sehr notwendig, da sie nicht nur für die Hausleute allein sich vorzusehen hat, sondern auch für allfällige Festgäste Sorge tragen muß. So besteht im Zillerthal ein alter, sehr schöner Brauch, nach welchem jeder einigermaßen wohlhabende Bauer arme Kinder aus der Paten- oder Verwandtschaft für die Dauer der Festtage (und diese währen dort reichlich eine Woche) zu sich nimmt und sie mit den eigenen Kindern an all den Genüssen von Krapfen, Strauben und Kücheln etc. teilnehmen läßt, welche ihre armen Eltern ihnen nicht gewähren können. Einen besonders feierlichen erhebenden Eindruck macht vorzüglich auf den Fremden die Christnacht selbst.

In später Abendstunde erglänzen an den Thalwänden erst einzelne Lichter, welche sich jedoch mit jeder Minute vermehren, so daß gegen Mitternacht weithin die Berge und Wälder in hellem Feuerscheine widerstrahlen, während vom dunklen Nachthimmel Millionen Sterne freundlich niederblinken auf die endlos weißen Hügelwellen im Thale. Dazu klingen von sämtlichen Kirchtürmen in feierlich langgezogenem Tone die Glocken, näher und immer näher kommen von allen Seiten die funkensprühenden Lichter, bis sie als ausgebrannte Fackeln auf dem Kirchplatze im Schnee erlöschend verschwinden. Dafür erglänzt nun im Innern der Dorfkirche der Hochaltar in hundertfältigem Kerzenscheine, und die Orgel verkündet im harmonischen Einklang mit den Stimmen der Chorsänger den Beginn der Mitternachtsmette, zu welcher auf Stunden im Umkreise die Gläubigen bei rotglühendem Fackelscheine wallfahrten. Auch im Dorfe selbst schläft niemand vor Mitternacht. Wo nicht schon der Christbaum sich Zutritt in die Bauernstube verschafft hat, da nehmen die älteren Leute irgend ein dickleibiges Erbauuugsbuch aus dem Wandschranke und lesen darin beim Licht der Unschlittkerze oder beim matten Lampenscheine die Kapitel, welche sie vorher mit einem Heiligenbilde angemerkt haben.

Die Bursche und Mädchen spielen um Haselnüsse oder um den „Scherz“ (das Anschneidestück) des Weihnachtzeltens, welch letzteren – einen mit Schnitten von gedörrten Birnen, Nüssen etc. versüßten Brotlaib – in manchen Hochthälern jedes Familienmitglied, vom Hausvater bis zum geringsten Dienstboten, von der Bäuerin als Weihnachtsgabe erhält. Auch die Schulkinder schlafen nicht in der Christnacht: spielt doch gerade für sie die Weihnachts- und Neujahrszeit eine ganz besonders wichtige Rolle. Abgesehen vom Kirchenbesuch, der Krippenbesichtigung und dem Essen all der guten Sachen während der ganzen Feierwoche haben die „Buabmen“ und „Diandlen“, oder die „Gitschelen“, wie die kleinen Mädchen am Eisak und im Pusterthal heißen, genug zu thun, um die Lieder fürs Weihnachts- und Neujahrssingen zu lernen, damit sie mit Ehren bestehen bei den Nachbargemeinden, dem Dorf keine Schande machen und dann auch besonders bei der Neujahrsgratulation eine reiche Ernte an Geschenken verschiedener Art einheimsen.

Am Neujahrsmorgen kommen dann die jugendlichen Leutchen vom Lande wohl auch bis in die nahen Städte und singen dort in kleinen Trüpplein oder auch nur zu Zweien ihre Christkindl’lieder, an welche sich, kaum daß an den Häusern die Thüren sich öffnen, der stereotype Wunschspruch: „Glück’s neu’s Jahr!“ anschließt. Bekommen die Kinder nach Absingung ihres Liedes für dasselbe sowie für den Glückwunsch ein kleines Geschenk, so ziehen sie fröhlich von dannen: geschieht dies aber nicht oder wird ihnen nicht einmal die Thür geöffnet, was in den Städten ja auch manchmal vorkommt, so machen sich die Gratulanten nicht viel daraus, giebt es ja doch noch zahlreiche andere Hänser in der Stadt, wo frohgesinnte, freundliche Menschen wohnen. Besonders hübsch und herzlich spielt sich das Neujahrssingen auf dem Lande und in den Bergdörfern ab. Da stapfen die Kinder schon in aller Morgenfrühe auf den verschneiten Wegen dem nächsten Dorfe zu, und gleich beim ersten Bauernhause beginnt mit jugendhellen Stimmen der Gesang:

„O liebe Brüder mein,
Freu’t Enk[1] von Herzen,
Lögt ab die Traurigkeit,
Vergößt alle Schmerzen!

Weil uns geboren ist
Der wahre Friedensfürst,
Der der Messias, der Weltheiland ist.“

Vorstehende Zeilen entstammen einem alten Weihnachtsliede aus der Gegend von Brixen.[2]

Bilden die Weihnachts- und Neujahrsgesänge schon in den Thälern von Nordtirol oft wahre Sträußchen von blühender Ursprünglichkeit und Naivetät, so besitzen sie in Südtirol, an der dreifachen Grenze des deutsch-italienisch-ladinischen Sprachgebietes, mitunter einen bei aller Innigkeit des Gefühles und der Auffassuug humoristischen Beigeschmack.

Wenn auch beim Neujahrssingen von den Kindern meist Weihnachts- oder Christkindl’lieder vorgetragen werden, so wird doch außer dem Gratulationsspruch: „Glück’s neu’s Jahr!“ oft auch ein kleines Neujahrsliedchen gesungen, so zum Beispiel:

„Glückselig’s neu’s Jahr
Und deren unzählbar!
Wir wünschen Fried’ von Herz’n,
Glück, G’sundbeit ohne Schmerzen,
Frieden Euch und Fröhlichkeit
Für alle Zeit und Ewigkeit!

Es grünet schön die Wiesen,
Das Treid[3] sei auserkiesen,
Voll Frucht der Stock der Reben;
Lang dauer’ Euer Leben:
Glückselig’s neu’s Jahr
Und deren unzählbar!“ –

So ziehen die Kinder mit vor Kälte und Fröhlichkeit geröteten Wangen singend von Haus zu Haus durch die Dörfer, und begegnen sich solch kleine Sängertrüpplein auf dem Wege, so begrüßen sie einander ebenfalls mit einem lustigen Liedchen. An den Häusern aber finden sie wohl überall ein freundliches Willkommen, nach den ersten Liederstrophen öffnen sich die Thüren, und dann giebt es Geschenke in Gestalt von schmalzigen Bauernkrapfen, von Aepfeln und Nüssen, Zeltenschnitten; bei den „größeren Bauern“ fällt speciell für etwaige Patenkinder wohl auch eine silberne Geldspende ab, welche dann dem betreffenden Seppele, Jörgl oder Thresele allein verbleibt, während die in eigenen Säcklein gesammelten eßbaren Herrlichkeiten sorgfältig und unparteiisch unter die Mitglieder jeder dieser improvisierten Kleinsängergesellschaften verteilt werden.

Um die Bauernmittagszeit, das ist so gegen 11 Uhr vormittags, findet das Neujahrssingen sein Ende. Die Kinder streben dem Festmahl in der warmen Stube zu – bald ist der letzte Neujahrswunsch gesprochen, und verklungen auch für die Gaben das letzte „Vergelt’s Gott!“, das sich manchmal gleichfalls zu einem Liedchen ausgestaltet.



  1. Enk = Euch.
  2. Das lied ist vollständig enthalten in dem Werke „Weihnachtslieder und Krippenspiele aus Oberösterreich und Tirol von Wilh. Pailler.
  3. Treid = Getreide.




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Datei:Die Gartenlaube (1898) b 0881.jpg

Das Kinder-Neujahrssingen in Tirol.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Bergen.