Das Dynamit-Attentat gegen den Polizei-Oberst Krause

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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Das Dynamit-Attentat gegen den Polizei-Oberst Krause.
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aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2, S. 160–197
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Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
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Das Dynamit-Attentat gegen den Polizei-Oberst Krause.

In der Nacht vom 29. zum 30. Juni 1895 traf auf dem Berliner Paketpostamt in der Oranienburger Straße eine 25 Pfund schwere Kiste aus Fürstenwalde ein, die an „Herrn Oberst Krause, Berlin NO, Alexanderplatz 2“ adressiert war. Auf der Paketadresse war als Absender „C. Becker, Fürstenwalde“ angegeben. Die Kiste war am Sonnabend, den 29. Juni 1895, abends zwischen 7 und 8 Uhr auf dem Postamt zu Fürstenwalde als unfrankiertes Postpaket aufgegeben worden; sie war in braunes Packpapier eingehüllt. Das nachts 11 Uhr von Fürstenwalde abgegangene Paket war 121/2 Uhr nachts auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin angekommen und gegen 2 Uhr nachts auf dem Paketpostamt in der Oranienburger Straße eingegangen. Der Posthilfsbote Borck bemerkte dort, daß aus dem Paket eine Flüssigkeit tropfte. Als er es näher besichtigte, nahm er einen starken Benzingeruch wahr. Borck machte seine Vorgesetzten sofort auf den augenscheinlich sehr gefährlichen Inhalt der Kiste aufmerksam. Die Postbeamten benachrichtigten noch in der Nacht die Kriminalpolizei. Sehr bald erschienen mehrere Kriminalbeamte auf dem Paketpostamt. Ein Kriminalschutzmann begab sich noch in der Nacht in die am Alexanderplatz 5 belegene Privatwohnung des Polizdoberst Krause und fragte ihn, ob er eine Kiste oder sonst ein Paket aus Fürstenwalde erwarte. Der Polizeioberst verneinte. Daraufhin wurde die Kiste auf den Hof des Paketpostamts gebracht und unter Anwendung der größten Vorsichtsmaßregeln geöffnet. Die Kiste barg eine Höllenmaschine. Eine in der Mitte befindliche kleine Holzkiste war mit Pulverbehältern versehen. Rechts und links davon lagen sechs mit heller Flüssigkeit gefüllte, mit dunklen Schnüren und weißen Gipstuten versehene Flaschen. Eine weitere Flasche war zerbrochen und der Inhalt zum größten Teil ausgelaufen. Eine kleinere Kiste, die ein Uhrwerk in sich schloß, war auf dem Boden der großen Kiste festgeschraubt. Das Innere des Flaschenhalses und der Tülle der um die kleinere Kiste herumgepackten Rotweinflaschen war mit Pulver gefüllt und mit einer Zündschnur in Verbindung gebracht. Die Zündschnüre führten nach dem Innern der kleinen Kiste und endeten in einem Pulvermagazin. Letzteres bestand in einem extra dazu gebauten Papierkasten und war an der schmalen Innenfläche der kleinen Kiste festgeklebt. Unmittelbar vor diesem Pulvermagazin befand sich die Mündung eines kleinen Taschenrevolvers; letzterer war an einem kleinen Holzpflock festgenagelt und künstlich mit einem Uhrwerk in Verbindung gebracht. Die Uhr war eine gewöhnliche Wecker-Uhr. Durch sinnreiche Hilfsmittel sollte es ermöglicht werden, daß zu einer bestimmten Stunde durch das Abschnurren des Weckers eine Schnur an dem Revolverabzug auf eine Rolle aufgewickelt und der Revolver durch den Abzug erst gespannt und gleichzeitig abgeschossen werden würde. Der Revolver war mit Patronen geladen. Das Geschoß der abgeschossenen Patronen sollte vermutlich die Hülle des Pulvermagazins durchschlagen und eine Öffnung für die folgende Feuergarbe bilden. Durch das Pulvermagazin mußten die Zündschnüre zu den Flaschen entzündet, die Flaschenhälse durch das darin befindliche Pulver zersprengt und der Inhalt der Flaschen zur Explosion gebracht werden. Um die Wirkung noch zu sichern, waren sowohl die Flaschen als auch die Innenwände der größeren Kiste mit sogenannten Schlagröhren versehen, deren Zündschnüre auch nach dem Pulvermagazin führten. Da die Weckeruhren nur auf zwölf Stunden einstellbar sind, die Explosion aber wahrscheinlich erst nach 24 Stunden erfolgen sollte, ist durch eine mechanische Vorrichtung auch diese Möglichkeit erreicht worden. Endlich führte an dem Revolverabzuge noch eine Schnur über eine der Wirbelrollen hinweg nach dem Deckel der Kiste. Diese Schnur soll den Zweck gehabt haben, den Abzug des Revolvers bei einem etwaigen früheren Öffnen der Kiste loszureißen und die Kiste zur Explosion zu bringen. Die Uhr war eine sogenannte Junghans-Weckeruhr aus der Fabrik der Gebr. Junghans in Schramberg. Die Vorbereitungen an der Uhr waren so getroffen, daß die Explosion der Kiste am Sonntag, den 30. Juni 1895, vormittags 101/2 Uhr erfolgen mußte, aber auch schon früher, wenn vorher der Kistendeckel abgenommen wurde. Nach dem Gutachten des Gerichtschemikers Dr. Paul Jeserich (Berlin) enthielt die Kiste in ihren verschiedenen Teilen 203 g Pulver. Hierzu kommen noch aus drei Papierröhren 25 g Pulver. Ferner enthielt jede der sieben Flaschen einen Zünder mit 4-5 g Pulver. Unter der Weckeruhr befand sich noch eine Mauserpatrone mit 41/2 g Pulver. Die sieben Flaschen enthielten insgesamt beinahe 5000 g Ligroin, das häufig als Benzin verkauft wird und viel leichter flüssig als dieses ist. Die Anordnung war so getroffen, daß der ganze Raum, in dem die Explosion stattfand, mit brennender Flüssigkeit erfüllt worden wäre. Der Revolver war ein sogenannter 5 Millimeter-Lefaucheux geringerer Güte; das Packpapier, mit dem die Kiste umhüllt war, war mit einem Petschaft gesiegelt, auf dem die Buchstaben C. B., von einer Schleife umgeben, standen.

Es wurde sehr bald festgestellt, daß die Kiste von einem jungen bartlosen Mann, der etwas derartig Mädchenhaftes an sich hatte, daß er für eine verkleidete Frauensperson gehalten werden konnte, am Abend des 20. Juni 1895 zwischen 7 bis 8 Uhr auf dem Postamt in Fürstenwalde aufgegeben worden ist. Dieser Mensch, der auch einen trippelnden Gang hatte, ist mehreren Leuten in Fürstenwalde und auch den Postbeamten, die ihm die Kiste abnahmen, aufgefallen. Auch einigen Leuten, die mit dem Zuge, der abends 8 Uhr 52 Min. auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin eintraf, ist ein solch junger Mann infolge seines mädchenhaften Aussehens aufgefallen. Die Kriminalpolizei und politische Polizei entfalteten sofort eine fieberhafte Tätigkeit, um des Täters habhaft zu werden. Es wurde auch sogleich eine Belohnung von 1000 M. auf die Ergreifung des Täters ausgesetzt. Der Verdacht fiel sehr bald auf den damals 21 jährigen Mechaniker Paul Koschemann, der in der Gewehrfabrik von Ludwig Löwe u. Co. in Martinikenfelde arbeitete. Auf diesen paßte die Beschreibung des Menschen, der in Fürstenwalde und auch im Eisenbahnzuge bei der Rückreise nach Berlin seines mädchenhaften Aussehens wegen aufgefallen war. Es kam hinzu, daß Koschemann der Polizei als Anarchist bekannt war, der in anarchistischen Klubs vielfach Reden gehalten und zur Anwendung von Gewalt aufgefordert haben soll. Ein entfernter Verwandter des Koschemann‚ Bibliotheksdiener Brede, hatte außerdem, als er von dem Attentatsversuch hörte, der Polizei mitgeteilt, daß Koschemann, mit dem er am 4. Juni 1895 bei Verwandten in dem Berliner Vororte Königs-Wusterhausen zusammen war, sich dort eine Weckuhr gekauft und sich offen als Anarchist bekannt habe. Koschemann habe geäußert: „es müsse Gewalt angewendet werden. Der erste, der fallen wird, ist Krause.“ Daraufhin wurde Koschermann verhaftet, nach einiger Zeit aber wieder entlassen, da sich nicht genügende Anhaltspunkte für seine Täterschaft ergaben. Sehr bald darauf wurde Koschemann wegen Aufreizung zu Gewalttätigkeiten, begangen durch Verbreitung anarchistischer Schriften, zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Infolgedessen wurden nochmals eingehende Nachforschungen angestellt, die schließlich dazu führten, daß gegen Koschemann und den Metallarbeiter Max Westphal die Anklage, erhoben wurde: a) gemeinschaftlich die Ausführung des Verbrechens, vorsätzlich durch Anwendung von Sprengstoffen Gefahr für das Eigentum, die Gesundheit und das Leben des Polizeioberst Krause herbeizuführen, verabredet, b) einen Mordversuch gegen den Polizeioberst Krause unternommen zu haben. Außerdem wurden die geschiedene Ehefrau Elise Westphal und der Schuhmacher Wilhelm Weber angeklagt: von dem Vorhaben der Ermordung des Polizeioberst Krause zu einer Zeit, in welcher die Verhütung des Verbrechens möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten und es unterlassen zu haben, hiervon der Behörde oder dem Polizeioberst Krause Anzeige zu machen. Endlich war noch die Händlerin Josephine Gürtler wegen Begünstigung des Koschemann und außerdem wegen Majestätsbeleidigung angeklagt. Alle Angeklagten, auch die Frauen, bekannten sich zum Anarchismus, bestritten aber mit voller Entschiedenheit ihre Schuld. Die Verhandlung begann am 6. April 1897 vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I und dauerte bis einschließlich den 15. April. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Rieck. Die Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Kanzow, der in seiner jetzigen Eigenschaft als Landgerichtsdirektor den bekannten Prozeß wegen wissentlichen Meineids und versuchter Verleitung zum Meineid gegen den Fürsten Philipp Eulenburg und Hertefeld leitete. Die Verteidigung führten die Rechtsanwälte Dr. Werthauer und Dr. Schöps und Referendar Dr. Koch für Koschemann und Rechtsanwalt Dr. Bieber für die vier anderen Angeklagten. Der mittelgroße Angeklagte Koschemann machte mit seinem völlig bartlosen Gesicht und in seiner ganzen Haltung den Eindruck eines Sekundaners, dem die blonde Dichterlocke in die Stirn hineinstrebt. Westphal und Weber sahen bedeutend energischer aus. Der Angeklagte Koschemann gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Sein Vater sei Grenzaufseher. Er habe zunächst in Kriedhausen (Kreis Cleve) die Gemeindeschule besucht, dann nach Übersiedelung seines Vaters nach Zeitz die dortige Mittelschule. Hierauf sei er zu einem Mechaniker in Zeitz in die Lehre gekommen, sei dann Elektrotechniker geworden und habe als solcher in Zeitz, Nürnberg und Budapest gearbeitet. Alsdann sei er auf die Wanderschaft nach dem Salzkammergut und die Schweiz gegangen und habe sich einige Zeit in Zürich aufgehalten. Bis dahin habe er sich mit politischen Angelegenheiten nicht beschäftigt. Als er nach Berlin gekommen, sei er bei der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft tätig gewesen. lm April 1895 habe er seine Arbeit eines Augenleidens wegen aufgegeben; als er wiederhergestellt worden, sei er bei Ludwig Löwe in Martinikenfelde in Arbeit getreten und habe dort gearbeitet, bis er verhaftet wurde. Hier habe er sich mit technisch-wissenschaftlichen Werken beschäftigt, aber auch mit Geschichtswerken, wie Schlosser, Voigt und mit philosophischen Werken wie Kant, Schopenhauer, Büchner. Er sei in Berlin mit Anarchisten in Verbindung getreten, über die Persönlichkeiten verweigere er aber die Aussage. Er habe auch anarchistische Gedanken in Versammlungen ausgetauscht; wo solche stattgefunden, wolle er nicht sagen. Auf Befragen des Vorsitzenden gab er zu, daß eine solche Versammlung einmal bei Späth stattgefunden habe. Mit Westphal sei er als Arbeitsgenosse freundschaftlich in Verbindung gekommen, nicht aber als Parteigenosse. So viel er wisse, stehe Westphal ebenso wie er auf wirtschaftlichem Boden. Auf Befragen des Vorsitzenden gab der Angeklagte in längerer, durch viele Zwischenfragen des Vorsitzenden unterbrochenen Ausführung ein Bild von seiner philanthropischen Weltanschauung und dem Ideal des Zukunftsstaates. Die Anarchisten wollen nicht die Gewalt, das wollen nur die Terroristen. Nach seiner Ansicht gliedern sich die Anarchisten in drei Gruppen: in den Individualismus der Stirner und Nietzsche, den Kollektivismus Mackays und den Kommunismus, den er für den vernünftigsten halte und der nach seiner Ansicht zum Teil schon jetzt durchführbar sei. Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Angeklagte: Es sei ihm bekannt, daß der Kommunismus einmal in Paris blutige Szenen verursacht habe. Dies entspreche aber seinen Ansichten ebensowenig wie die Greuelszenen in Barcelona. Er habe den „Sozialist“ und die Mostschen „Freiheit“ gelesen. Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte Koschemann: Nach meiner Ansicht kann die Absendung der Kiste nur ein persönlicher Racheakt oder ein Akt des Spitzeltums sein. – Vors.: Sie haben gehört, daß nach den angestellten Recherchen ein persönlicher Racheakt ausgeschlossen erscheint. Was verstehen Sie unter „Spitzeltum“? – Koschemann: Daß etwas provoziert wird, um Haussuchungen zu veranlassen, Ausnahmegesetze zu begründen und die Zügel straffer in die Hand zu bekommen. – Vors.: Was hat das Spitzeltum mit dieser Kiste zu tun? – Koschemann: Die Kiste kann nur ein Laie gemacht haben. – Vors.: Sind denn alle Laien „Spitzel“? Sind denn alle Personen, die im Zuschauerraum sitzen und doch wohl Laien sind, „Spitzel“? – Angekl. K.: Unter Spitzel ist verschiedenes zu verstehen, zum Teil sind es Agents provocateurs, die in Versammlungen erscheinen und verschwinden, nachdem sie Leute aufgeputscht haben. Ich erinnere an den Lütticher Anarchistenprozeß, wo ein Mann, namens Ungern-Stemberg sich als gekauftes Individuum entpuppte, der unschuldige Leute hineinlegen sollte. – Vors.: Von wem sollen solche Leute gekauft sein? – Koschemann: Von der Polizeibehörde selbst. In Zürich haben Agenten einem unschuldigen Menschen Sprengstoff ins Haus geschafft, sie waren aber beobachtet worden, und der Sprengstoff wurde schnell beseitigt. Unmittelbar darauf erschien die Polizei auf der Bildfläche, um dort eine Haussuchung abzuhalten. Bei der Kiste handelt es sich sicher nicht um eine politische Sache; bei irgend welcher ernstlichen Absicht wäre es doch sehr leicht gewesen, ein Auslaufen der Flüssigkeit zu verhindern. – Kriminalkommissar Bösel: Gegenüber der Behauptung, daß die Polizei sich Leute kaufe zu solchen Attentaten‚ erkläre ich hier unter ausdrücklicher Berufung auf meinen Eid: Ich habe die Absendung der Kiste nicht veranlaßt und auch nichts ermittelt, was darauf schließen ließe, daß das Attentat bezahlte Arbeit wäre. – Staatsanwalt Kanzow: Wenn es Polizeiarbeit wäre, würde doch die Polizei sofort mit der Behauptung gekommen sein: „Seht, hier ist ein anarchistisches Attentat!“ – Koschemann: Das ist ja auch sofort geschehen. – Vors.: Sie haben bei einer Vernehmunug in der Voruntersuchung auch einmal gesagt, das germanische Blut sei ruhiger, als das romanische, letzteres sei zu solchem persönlichen Racheakte leichter geneigt. – Koschemann: Das ist allerdings meine Ansicht. – Kriminalkommissar Bösel gab hierauf einen Überblick über den Gang der anarchistischen Bewegung in Berlin. Diese erhielt in den Jahren 1893/94 einen besonderen Aufschwung durch die Schandtaten eines Ravachol‚ Vaillant u. a. Letztere übten ihren unverkennbaren Einfluß auch auf die Berliner Anarchisten aus, die zu dem Gedanken kamen, sie müßten doch nun auch einmal zeigen, daß sie da sind. Namentlich zeigten die jüngeren Anarchisten die Verquickung ihrer Neigung zum politischen Radikalismus und zum gemeinen Verbrechen. Sie begeisterten sich an dem Gedanken der Gewalttat. Daß dies nicht bloß Geschwätz war, zeigte ein Vorfall, dessen Bedeutung s. Z. dem Publikum nicht recht klar geworden war. Ein gewisser Vormälcher ging mit einem Mann namens Moldenauer nach den Müggelbergen und machte Sprengversuche, worauf sie verunglückten. Eine Strafverfolgung konnte damals nicht eintreten, weil es an einer gesetzlichen Handhabe fehlte, da die Leute behaupteten, daß sie im wesentlichen nur Pulver verwendet hätten. Der eine der Verunglückten ist gestorben. Vormälcher ist Mitglied des anarchistischen Diskutierklubs bei Späth gewesen. Die Anarchisten hatten zwei Sammelpunkte: der eine war das Laubenterrain in der Petersburger Straße, und namentlich die Laube der Florentine Weber, der andere das Späthsche Schanklokal in der Georgenkirch-Straße. Zu erinnern sei auch an den Zusammenstoß, den die Anarchisten Schewe und Dräger mit den Schutzleuten Busse und Finke hatten und wobei auf die Schutzleute geschossen wurde. Finke hat infolge der dabei erlittenen Verletzung pensioniert werden müssen. Dieser Vorfall gab Anlaß zu Haussuchungen bei bekannten Anhängern der Propaganda der Tat, die die Angaben durchaus bestätigten, wonach die Leute sich auf Gewalttaten vorbereiteten. Die hohen Strafen, die über Schewe und Dräger ausgesprochen wurden (Schewe erhielt 12 Jahre Zuchthaus, Dräger 5 Jahre Gefängnis), hatten einen sehr heilsamen Einfluß. Diese Kategorie der Anarchisten war vorläufig lahm gelegt. Dann kam die andere Kategorie. im Juni 1894 wurde der anarchistische Diskutierabend bei Späth eingerichtet. Gleich am ersten Abend wurde über einen Artikel der Mostschen „Freiheit“ und die dort empfohlenen Stoß- und Explosiv-Instrumente diskutiert. Zu den eifrigsten Besuchern dieses Diskutierabends gehörten Westphal, Wilhelm Weber und Koschemann. Letzterer hat wiederholt dort so radikale Redensarten geführt, daß er für einen Agent provocateur gehalten wurde und auch einmal durchgeprügelt worden sein soll. – innerhalb dieses Klubs bildeten Koschemann, Westphal, Weber und Frau Westphal eine kleine, eng aneinander geschlossene Gruppe. Gelegentlich einer Haussuchung ist bei Koschemann ein Dolch vorgefunden worden; bei einer Festnahme des Weber wurde ein anscheinend von ihm selbst geschriebenes Sprengstoff-Rezept vorgefunden, das noch nicht einmal in dem Mostschen Buch über die revolutionäre Kriegführung enthalten war. Dies war nicht lange vor dem Attentat auf den Polizeioberst Krause. Als letzteres sich ereignet hatte, habe er (Bösel) mit seinen Beamten sofort die Überzeugung erhalten, daß, wenn überhaupt ein anarchistisches Attentat vorliege, dieses nur von der Gruppe Koschemann ausgegangen sein könne. Sie waren aber nicht der Ansicht, daß ein solches anarchistisches Attentat vorliege. Man hielt es für möglich, daß sich unter den entlassenen Schutzleuten ein persönlicher Feind des Obersten Krause befinden könnte. Ferner wurde damals das Nachtwachtwesen umgewandelt und die Entlassung mancher Nachtwächter konnte bei einzelnen Personen auch böses Blut erregt haben. Auch der verstorbene Polizeirat von Mauderode vertrat die Ansicht, daß ein persönlicher und nicht ein politischer Racheakt den Attentat zugrunde liege. Deshalb wurden die Ermittelungen nicht der politischen, sondern der Kriminalpolizei übertragen. Die politische Polizei beschäftigte sich aber auch mit der Sache und man ließ bei mehreren bekannten Anarchisten, unter anderem bei Koschemann und Westphal, Haussuchung vornehmen. Das Ergebnis bewies zwar, daß die Genannten Anarchisten waren, aber dafür, daß sie mit dem Attentat in Verbindung standen, gaben sich nicht genügende Anhaltepunkte. lm stillen wurden die Beobachtungen jedoch fortgesetzt, zumal da die Annahme, daß doch ein politisches Attentat vorliege, wieder an Boden gewonnen hatte. Es wurde bemerkt, daß Koschemann und Westphal ein verändertes, scheues Benehmen zur Schau trugen. Bald darauf wurde Koschemann wegen Verbreitung anarchistischer Schriften zur Haft gebracht. Aus dem Gefängnis kam die Nachricht, daß auch dort Koschemann ein angsterfülltes Wesen zeige, als sei sein Gewissen von einer schweren Tat bedrückt. Der Verdacht gegen ihn habe neue Nahrung gewonnen. Daß die Polizei mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben würde, darauf war man vorbereitet. War es doch anzunehmen, daß der Täter, als er mit der Kiste das Hain verließ, um sich nach dem Bahnhofe zu begeben, auch die geringste Spur hinter sich verwischt hatte. Es wurde allen Personen, die die verdächtige Person gesehen haben wollten, die Photographie Koschemanns gezeigt. Einige waren in betreff der Wiedererkennung bestimmter. Am 19. Juli 1896 wurde noch einmal eine Haussuchung in der Koschemannschen Wohnung vorgenommen. Es galt diesmal, den hellgrauen Anzug zu finden, den der junge Mann mit der Kiste getragen haben sollte. Frau Koschemann leugnete anfangs beharrlich, daß ihr Neffe einen hellgrauen Anzug getragen habe, später gestand sie aber dem Untersuchungsrichter, daß sie die Unwahrheit gesagt habe. Der graue Anzug sei auch gefunden worden, es sei derselbe, den Koschemann jetzt trage. Auffallend sei der Umstand, daß mehrere Abendblätter bereits die Nachricht von der Beschlagnahme des grauen Anzuges brachten, bevor sie erfolgt war. Dies spreche doch gewiß am deutlichsten gegen die, ebenfalls in einigen Blättern kundgegebene Unterstellung, daß die Polizei selbst erst den grauen Anzug in die Koschemannsche Wohnung geschmuggelt habe, um eine Handhabe gegen Koschemann zu bekommen. Übrigens müsse er noch nachholen, daß im Hause Alexanderstraße 2 niemals ein Oberst Krause gewohnt habe. Man hatte der Polizei auch den Vorwurf gemacht, daß sie in den Versammlungen der Anarchisten Spione hielten, welche zu aufrührerischen Reden anreizen müßten. Er (Zeuge) müsse sich entschieden dagegen verwahren, daß er solche Mittel anwende. Es sei dies selbst vor einiger Zeit in einer Anarchistenversammlung anerkannt worden. Er bedauere es sehr‚ daß er die Benutzung von Agenten nicht vermeiden könne, das liege aber einmal in den Verhältnissen. – Vert. R.-A. Dr. Werthauer: Ist es richtig, daß sich unter den Leuten, die ihnen Nachrichten zutragen, auch bestrafte Personen befinden? – Zeuge: Es kann möglich sein, aber ich kann es nicht ändern. Wenn ich imstande sein soll, die Ausführung von verbrecherischen Plänen zu verhindern, muß ich sie auch kennen. – Vert.: Nun behauptet Koschemann, daß die Anarchisten gar nicht so schlimm seien wie die Terroristen, die letzteren seien die eigentlichen Vertreter der Propaganda der Tat. – Zeuge: Ausgesprochen und gedruckt ist es ja, daß unter den Anarchisten nur wenige sind, welche vor keiner Tat zurückbeben, aber es wird ja immer Leute geben, die sich hervortun und besonderen Mut haben. Koschemann und Westphal geben zu, daß sie Abonnenten der in New-York erscheinenden „Freiheit“ sind, Weber will die Zeitung ohne sein Zutun regelmäßig zugeschickt erhalten haben. – Vert. Rechtsanwalt Bieber: Gehörten die männlichen Angeklagten zu denjenigen Personen, welche die Versammlungen von Anarchisten schärferer Richtung in der Petersburger Straße besuchten? Zeuge: Ich weiß es nicht. – Vert.: Wie sind Sie zu der Annahme gekommen, daß auch Weber mit dem Gedanken umging, nach Amerika auszuwandern? – Zeuge: Es ist mir zu Ohren gekommen. – Vert.: Weber bestreitet entschieden, daß er auswandem wollte. – Vert. R.-A. Dr. Werthauer: Ist dem Kriminalkommissar die Broschüre von Tucker „Die Lehre des Anarchismus“ bekannt und weiß er, daß Tucker in New-York als einer der hervorragendsten Lehrer des Anarchismus bekannt und angesehen ist? – Zeuge: Ja. – Vert.: Dann werden Sie wohl bestätigen, daß dieser Lehrer des Anarchismus mit der Propaganda der Tat nichts zu tun hat? – Zeuge: Das ist richtig, die Anarchisten und die Angeklagten lesen aber doch auch andere Bücher. – Staatsanwalt: Die Angeklagten haben doch auch die Mostsche „Freiheit“ gehalten und in diesem Blatte hat einmal gestanden, daß Mr. Tucker ein philosophischer Quatschkopf sei. – Koschemann bemerkte auf weiteres Befragen: Er habe wohl, als er von dem Attentat durch die Zeitungen erfuhr, von der Existenz eines Polizeioberst Krause in Berlin Kenntnis erhalten. Wie er gehört habe, sei Polizeioberst Krause der Kommandeur der uniformierten Berliner Schutzmannschaft und habe mit politischen Angelegenheiten nicht das geringste zu tun. Die Kiste wäre im übrigen nicht an Krause abgeliefert worden, da sie an den „Oberst Krause, Alexanderplatz 2“ adressiert war, Polizeioberst Krause wohne aber Alexanderplatz 5. – Postsekretär Finster, der der Verhandlung als Sachverständiger beiwohnte, bemerkte: Der Postbote wäre in diesem Falle nicht berechtigt gewesen, die Kiste kurzerhand nach Alexanderplatz 5 zu bringen, er hätte sie zunächst nach dem Postamt zurückbringen müssen. – Schutzmann Kurzhals bekundete: An einer Bedürfnisanstalt am Friedrichshain habe er folgende mit Bleistift hergestellte Inschrift gefunden: „Nieder mit ihm! Wir sind unser Acht – Krause nimm Dich in Acht – Wenn nicht zu Hause – So geschieht’s nach einer Pause! Acht entlassene W.“ – Obertelegraphen-Assistent Steger (Wilmersdorf), der von der Verteidigung als Sachverständiger geladen war, bemerkte: Nach seiner Ansicht hätte jeder Mechaniker die Vorrichtungen an der Kiste anders hergestellt. Die Sache sei so wenig kunstgerecht und so stümperhaft, daß man einen Mechaniker nicht für den Verfertiger halten könne. Daß es möglich gewesen sei, in der beabsichtigten Weise die Explosion herbeizuführen, gebe er zu. – Koschemann bemerkte: Ein Mechaniker hätte sicherlich Sägespäne in die Kiste eingefüllt. Nach seiner Ansicht sei die Kiste nur hergestellt worden, um jemanden hineinzulegen.

Unter allgemeiner Spannung wurde Polizeioberst Krause vernommen: Er habe eine Reihe Zuschriften erhalten, die sich auf das Attentat bezogen. Die eine trage die Unterschrift „Magistratssekretär Wiering, Friedrichstraße“ und enthalte nur die Mitteilung, daß er den Absender der Kiste kenne. Dieser „Wiering“ existiere nicht. Ein zweiter Brief war in Fürstenwalde aufgegeben und lautete folgendermaßen: „Wenn Sie etwas von dem Urheber des Attentats wissen wollen, so erlaube ich mir Ihnen eine Adresse aufzugeben, nämlich die des Gutsbesitzers C. Biermann zu Karlshof bei Fürstenwalde. Wenn die Adresse stimmt, werde ich bei Ihnen vorkommen, um mir die 1000 M. Belohnung zu holen.“ – Der Zeuge verneinte die Frage, ob er je mit der Überwachung von Anarchisten und Sozialdemokraten zu tun gehabt habe. Nur einmal habe er tätlich eingreifen müssen, das sei im Jahre 1894 bei dem Krawall der Arbeitslosen gewesen. Eine Vermutung in betreff des Täters habe er nicht. „Wenn die Kiste angenommen und geöffnet worden wäre, so wäre wahrscheinlich mein Sohn das Opfer des Anschlags geworden“, erklärte Polizeioberst Krause mit bewegter Stimme. – Ein Verteidiger Koschemanns richtete an den Zeugen die Frage, ob er die Gesinnung der Schutzleute gegen sich kenne, und ob er bei seinen Untergebenen als streng gelte. Der Zeuge erwiderte, daß dies möglich sei, aber jedenfalls würden sie ihm auch das Zeugnis geben, daß er gerecht sei. Auf die Frage der Verteidigung, ob er wiederholt Drohbriefe bekommen, antwortete der Zeuge, daß er nach dem Attentat wohl eine Reihe von Zuschriften des allerunflätigsten Inhalts erhalten habe, darunter sogar eine Karte, welche behauptete, er habe sich die Kiste selbst bestellt. Er versichere auf seinen Eid, daß er von der Kiste erst an jenem Morgen Kenntnis erhalten habe, als er durch die Nachtglocke geweckt und von einem Kriminalbeamten gefragt wurde, ob er eine Kiste aus Fürstenwalde erwarte. – Auf die Frage der Verteidigung, ob er Schutzleute entlassen habe, antwortete der Zeuge, daß die Disziplinarsachen natürlich alle durch seine Hand gehen. – Eine ganze Reihe anderer Fragen der Verteidigung bezogen sich auf die Familienverhältnisse des Polizeioberst Krause, auf seine Kinder erster Ehe und auf die von diesen geschlossenen ehelichen Verbindungen bzw. eingegangenen Verlobungen. Der Zeuge erklärte, daß er keinerlei Verdacht nach dieser Richtung hin habe. – Eine große Anzahl Zeugen bekundete: Koschemann habe wohl mit dem Menschen, der auf dem Postamt in Fürstenwalde das Paket aufgegeben habe, große Ähnlichkeit, mit Bestimmtheit vermochte jedoch kein Zeuge zu behaupten, daß es Koschemann war. Die Zeugen vermochten auch den Angeklagten nicht wiederzuerkennen, obwohl er ein Jackett anziehen mußte, das die Untersuchungsbehörde extra für Koschemann anfertigen ließ, und zwar genau in Farbe und Fasson nach dem, das nach den übereinstimmenden Bekundungen der Zeugen der junge Mann getragen, der am 29. Juni 1895 die Kiste in Fürstenwalde zur Post gegeben hatte. Der Angeklagte mußte auch vielfach aus der Anklagebank treten und mit der im Gerichtssaal stehenden Kiste in der Hand auf und ab gehen. Zwei Fürstenwalder Sextanern‚ dem Obersextaner Karl Hofmann, Sohn des früher in Fürstenwalde, später in Westend bei Berlin wohnenden Restaurateurs Hofmann und dem Obersextaner Willy Karl, Sohn des Schlächtermeisters Karl in Fürstenwalde, die der Auflieferer der Kiste nach dem Postamt gefragt hatte, mußte Koschemann die Frage stellen: Wo ist das Postamt? Die Schüler vermochten aber nicht mit Bestimmtheit zu sagen, daß der Auflieferer der Kiste mit Koschemann identisch war. Auch bezüglich des Kaufs einer Weckuhr in Königs-Wusterhausen wußten die Zeugen nichts Positiver zu bekunden. – Ein Vetter Koschemanns, Schmied Heinrich Koschemann, bekundete: Er wisse sich der Vorgänge am zweiten Pfingstfeiertage 1895 nicht mehr zu entsinnen, er glaube aber, daß sein Vater einen halben Napfkuchen mitbekommen habe, der in einem roten Taschentuch getragen wurde. – Uhrmacher Hübscher: Er habe in Königs-Wusterhausen dicht am Bahnhof einen Laden. Er führe solche Junghans-Uhren, wie eine zur Höllenmaschine verwendet worden sei. Nach seinem Buche habe er am 4. Juni 1895 eine solche Uhr verkauft. Ursprünglich stand in dem Buch der 3. Juni angegeben. Er wisse nicht, wie das zusammenhänge. Der 3. Juni war der zweite Pfingstfeiertag, an diesem Tage hatte er seinen Laden schon um 91/2 Uhr vormittags geschlossen. Der Persönlichkeit das Käufers könne er sich nicht erinnern. – Arbeiter Grell bekundete als Zeuge: Er sei am 3. Juni mit dem Angeklagten Koschemann zu dessen Oheim nach Königs-Wusterhausen gefahren. Der Berliner Zug traf 9 Uhr 39 Min. vormittags in Königs-Wusterhausen ein. Die Ausflugsgesellschaft sei auch immer beisammen gewesen. Er erinnere sich nicht, daß der Angeklagte Koschemann längere Zeit verschwunden gewesen sei. Er habe auch bei der Heimfahrt kein Paket in der Hand Koschemanns gesehen. – Bibliotheksdiener Johannes Brede: Er sei am zweiten Pfingstfeiertag 1895 mit Koschemann zusammen in Königs-Wusterhausen gewesen. Bei dieser Gelegenheit habe Koschemann über die Zustände in Deutschland gesprochen und gesagt, daß es besser werden müsse, „Der erste der fällt, ist der Oberst Krause“. „Welcher Krause?“ – „Nun, der Polizei-Oberst“. – „Warum denn gerade dieser, der hat ja doch mit der politischen Polizei nichts zu tun?“ – „Ja, das ist ganz egal“ habe der Angeklagte geantwortet. – Am Abende des zweiten Pfingstfeiertages habe er gesehen, daß der Angeklagte einen in einem roten Taschentuch befindlichen Gegenstand auf einem Stuhle neben sich liegen hatte, als die ganze Gesellschaft noch vor der Abfahrt von KönigsWusterhausen in einem Gartenlokale eingekehrt war. Er habe gefragt, was in dem Paket sei und die Antwort erhalten: „Es ist eine Weckeruhr, die ich gekauft habe, ich wohne in Rixdorf und arbeite in der Ackerstraße.“ – Vors.: Herr Brede‚ ich halte Ihnen vor, daß der Angeklagte Koschemann entschieden bestreitet, was Sie über ihn bekunden. Sie sagen auch, daß er Sie gefragt hat, was ein Polizeispitzel sei, wann der Dienst der Polizeibeamten beginnt und ähnliche Redensarten. Er bestreitet dies mit aller Entschiedenheit und ebenso, daß Ihre übrigen Bekundungen der Wahrheit entsprechen. Sie sind zu einem Ihnen bekannten Schutzmann gegangen, dem Sie Ihre Wissenschaft von dieser Sache mitgeteilt haben, darauf sind Sie als Zeuge vernommen worden. Ich frage Sie nun, haben Sie sich bei dem betreffenden Schutzmann gemeldet, nachdem die Belohnung von 1000 M. auf die Entdeckung des Täters durch die Anschlagsäulen bekannt gegeben war? – Zeuge: Ja, es ist nachher gewesen, aber ich habe es nicht deswegen getan, sondern weil ich es für meine Pflicht hielt. Ich habe die Äußerungen Koschemanns früher für Renommisterei gehalten, erst später, als das Attentat durch die Zeitungen bekannt wurde, fielen sie mir wieder ein. – Vors.: Sind Sie nicht einmal zur Verantwortung gezogen worden, weil Sie Bücher aus der Königlichen Bibliothek entwendet haben? – Zeuge: Nein, niemals. – Vors.: Haben Sie nicht einmal unbefugterweise Bücher verliehen? – Zeuge: Ja, das muß ich einräumen. – Vors.: Wollen Sie also alle Ihre Behauptungen in betreff Koschemanns unter Ihrem Eide aufrecht erhalten? – Zeuge: Ja, das will ich. – Vors: Sie haben früher auch erzählt, daß Koschemann Sie kurz vor Pfingsten 1895 gebeten hat, ihm eine alte Weckeruhr zu überlassen? – Zeuge: Ja, das ist auch wahr, ich konnte ihm aber keine geben. – Auch auf eingehendes Befragen des Verteidigers Rechtsanwalts Dr. Werthauer hielt der Zeuge alle seine Bekundungen aufrecht. Koschemann habe einmal geäußert: Was schadet es, wenn vier Personen draufgehen. Bei einer späteren Gelegenheit habe sich Koschemann nach den Bureaustunden des Oberst Krause erkundigt. – Barbier Breuer und Barbiergehilfe Otzdorf bekundeten: Westphal und Koschemann seien am 29. Juni 1895 in ihren in der Andreasstraße belegenen Barbierladen gekommen. Westphal habe sich rasieren und frisieren, Koschemann das Haar schneiden und frisieren lassen. Sie sprachen von „Judenflinten“ und einem Fest bei Sternecker in Weißensee. (Unter „Judenflinten“ versteht man in den Berliner Volkskreisen Ludwig Löwe in Erinnerung an den bekannten Judenflinten-Prozeß Ahlwardt. Der Verf.) Otzdorf gab der Ansicht Ausdruck, daß es zwischen 4–6 Uhr nachmittags gewesen sei, Breuer war der Meinung, es sei später gewesen, er habe bereits Licht anstecken müssen. – Frau Breuer: Sie wisse sich des Tages ganz genau zu erinnern. Es sei am Sonnabend, den 29. Juni 1895, zwischen 7 bis 8 Uhr abends gewesen. Sie könne sich nicht irren, da sie nur Sonnabends abends im Geschäft ihres Mannes sei. Westphal‚ einen alten Kunden ihres Mannes, kannte sie ganz genau. Koschemann war ihr unbekannt, sie kenne ihn aber mit voller Bestimmtheit wieder. Sie habe ihn auch, als er ihr im Juli 1895 vorgestellt wurde, sofort mit voller Bestimmtheit wiedererkannt. – Es erschien hierauf eine ganze Reihe von Frauen und Männern als Zeugen. Alle diese wurden vom Vorsitzenden nach ihrer politischen Parteizugehörigkeit und auch gefragt, welche Zeitungen sie lesen. Fast sämtliche Zeugen bekundeten, daß sie Koschemann am 29. Juni 1895 auf dem Fest der Ludwig Löweschen Fabrik bei Sternecker in Weißensee gesehen haben. Einige wollten Koschemann schon gegen 6 Uhr nachmittags‚ andere um 8 Uhr, einige bedeutend später gesehen, zum Teil auch gesprochen haben. – Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurde der Redakteur des damaligen Berliner Anarchistenorgans „Der Sozialist“, Schriftsteller Gustav Landauer, der sich selbst als Zeuge gemeldet hatte, vernommen. Landauer bekundete: Der Expedient des „Sozialist", Wilhelm Spohr, erhielt eines Tages von einem Uhrmacher Richard Henkmann‚ Friedrichsgracht 62, einen vom 23. Januar d. J. datierten Brief, in welchem er sich auf eine von Spohr angeblich geschriebene Postkarte bezog und darin einen von ihm erfundenen mechanischen Zünder empfahl, der von ihm in einfachster Weise konstruiert sei und immer eine genau vorausbestimmte Zeit laufe, also nach 3, 5, 10, 20 Minuten, wie er gerade berechnet sei, mit absoluter Sicherheit zünde. Spohr habe eine solche Postkarte überhaupt nicht geschrieben; letztere werde jeden davon überzeugen, daß die Postkarte von Henkmann selbst geschrieben sein müsse. Der Eindruck, den die Sache auf Spohr gemacht, sei gewesen, daß hier eine Spitzelarbeit verrichtet würde. Am 26. Januar sei dann ein Mann auf der Expedition des „Sozialist“ erschienen, der sich als der Briefschreiber Henkmann vorstellte. Er behauptete, auf ein von ihm in der „Berliner Zeitung“ aufgegebenes Inserat, worin ein Geldmann einen Teilhaber eines Patent-Unternehmens suchte, eine Postkarte, unterzeichnet von Spohr, erhalten zu haben, worin dieser um nähere Auskunft über das Unternehmen gebeten haben sollte. Henkmann machte entschieden den Eindruck eines Provokateurs und man beschloß, die weiteren Aktionen des Henkmann abzuwarten. Letzterer suchte sich in der großen Barcelona-Protestversammlung bei Keller dem Spohr zu nähern und lud ihn zum Kneipen ein. Henkmann habe keineswegs den Eindruck gemacht, daß er Anarchist sei, er habe aber sowohl Spohr als ihm selbst gegenüber sehr aufreizende Redewendungen gebraucht. So habe er u. a. gesagt: Die deutschen Anarchisten seien doch sehr schlappe Kerle, daß sie sich so etwas gefallen ließen. Als man ihm entgegenhielt, daß die deutschen Anarchisten doch in Barcelona nichts tun könnten, habe Henkmann erwidert: auch in Deutschland haben die Anarchisten genug zu tun. Er habe ferner gesagt: Wenn ich einmal aus der Welt gehe, dann muß Krause mit. Er, Zeuge, habe damals geglaubt, Henkmann habe mit dem Namen Krause nur eine Umschreibung des Namens des Kaisers geben wollen, erst der Prozeß Koschemann habe ihn auf den Gedanken gebracht, daß mit dieser Wendung doch etwas anderes gemeint gewesen sei. Er habe es deshalb für seine Pflicht gehalten, Henkmann, der einen sehr gedrückten, heruntergekommenen Eindruck gemacht, noch einmal aufzusuchen. Als er sich am 8. April in die Henkmannsche Wohnung begab, fand er letztere gerichtlich versiegelt. Er habe mit Schaudern vernommen, daß sich am 24. März Henkmann mit seiner Frau selbst getötet, nämlich verbrannt habe. – Auf Befragen des Vorsitzenden erklärte der Zeuge, daß er Anarchist sei und zweimal wegen Aufforderung zum Ungehorsam gegen obrigkeitliche Erlasse mit 2 und 9 Monaten Gefängnis bestraft worden sei. Damals sei er Redakteur des „Sozialist“ gewesen. – Vors.: Haben Sie auch früher den „Sozialist“ gelesen? – Zeuge: Jawohl. – Vors.: Kennen Sie die im Jahre 1892 erschienenen Artikel betreffend den Eid eines Anarchisten, wenn er gegen einen Gesinnungsgenossen als Zeuge aufzutreten hat? – Zeuge: Ja, die habe ich gelesen. – Vors.: Billigen Sie die darin vertretene Ansicht? – Zeuge: Nein, ich stimme ihr nicht zu. – Staatsanwalt Kanzow: Herr Landauer, Sie sind, wie ich weiß, anarchistischer Schriftsteller, warum traten Sie in den Spalten des „Sozialist“ nicht als Verfechter der entgegengesetzten Ansicht auf? – Zeuge: Ich hielt es nicht für richtig, durch Veröffentlichung einer Kritik zur Gegenäußerung herauszufordern und dadurch vielleicht einen Verstoß gegen die Gesetze herbeizuführen. – Staatsanwalt Kanzow: Lesen Sie den Lokalanzeiger? – Zeuge: Selten. – Staatsanwalt: In diesem Blatte hat eine Notiz über den Tod Henkmanns gestanden, sollten Sie diese nicht gelesenen haben? – Zeuge: Die Nachricht ist erst am 8. April zu meiner Kenntnis gelangt – Staatsanwalt: Stehen Sie zu dem in der gestrigen Nummer des „Sozialist“ erschienenen Artikel: „Wie Dynamit-Attentats-Prozesse entstehen“ und der im wesentlichen das enthält, was Sie uns heute erzählt haben, in irgendwelcher Beziehung? – Zeuge: Nein. – Staatsanwalt: War es Ihnen nicht auffallend, daß ein Mann wie Henkmann, den Sie als einen Polizeispitzel hinstellen, seine Machinationen erst im Januar d. J. begann, während Koschemann bereits im Juli vorigen Jahres verhaftet wurde? – Zeuge: Nein, das ist mit nicht aufgefallen. – Vert.: Wie sah Henkmann aus? – Zeuge: Ein Mann, gedrungen und von Mittelgröße, mit einem vollen roten Gesicht und einem braunen Vollbart. Er machte wie gesagt, einen unheimlichen Eindruck. – Staatsanwalt: Verkehrten Sie auch im Späthschen Diskutierklub? – Zeuge: Nein, die dort verkehrenden Anarchisten vertreten einen anderen Standpunkt. Wir verkehrten auch schon deshalb nicht bei Späth, weil das Lokal uns als Spitzelfalle bekannt war. – Vert. R.-A. Dr. Werthauer: Können Sie uns Tatsachen angeben, wonach Polizeiorgane selbst derartige Sachen angestiftet haben? – Zeuge: Ja, ich erinnere nur an den Fall Wohlgemuth. – Kriminalkommissarius Bösel: Es wird hier wieder der Versuch gemacht, die Polizei der Provokation zu beschuldigen. Ich habe schon einmal kategorisch erklärt, daß ich keine Provokationen dulde. Ich bin von Anfang an der Ansicht gewesen, daß die Gesinnungsgenossen Koschemanns den Versuch machen werden, die Angeklagten der Justiz zu entziehen und daß die Anarchisten in der Wahl ihrer Mittel nicht wählerisch sind, ist bekannt. Im „Sozialist“ hat auch schon vor längerer Zeit ein Artikel gestanden, in welchem die Überzeugung ausgesprochen wurde, daß die Nachforschungen nach dem Absender der Kiste ohne Erfolg bleiben werden. Ich habe schon damals mir gesagt, daß wohl im letzten Augenblick Herr Landauer als Retter in der Not auftreten werde. Mir ist es sehr interessant, daß diese Vermutung jetzt bestätigt wird. Ich habe genau so, wie Landrichter Hallervorden die Empfindung gehabt, daß in dieser Angelegenheit allerlei dunkle Mächte arbeiten. Das bewiesen auch verschiedene Artikel in den Zeitungen. Ein Artikel – ich glaube, er stand in der Tägl. Rundschau – ging sogar so weit, zu behaupten, daß der Eifer untergeordneter Polizeiorgane, mit aller Gewalt in dieser Angelegenheit die Tätigkeit von Anarchisten zu entdecken, schon in maßgebenden Kreisen Anstoß erregt und zu Beratungen im Polizeipräsidium Veranlassung gegeben habe. Ich war sofort bemüht, mir Gewißheit darüber zu verschaffen, ob jene Notiz auf Wahrheit beruhe und habe erfahren, daß dies keineswegs der Fall ist. lm Gegenteil: Meine Vorgesetzten haben meinen unermüdlichen Eifer, in diese dunkle Angelegenheit Licht zu bringen, anerkannt. Die Akten werden zeigen, daß nicht von Anfang an ein bestimmter Verdacht obwaltete, sondern daß mühsam Baustein an Baustein gereiht werden mußte, um endlich das erdrückende Belastungs-Material zusammenzubringen. Daß man nun hier wieder versucht, diese ganze Arbeit als Spitzelarbeit hinzustellen, dafür habe ich keinen parlamentarischen Ausdruck. – Vert. Rechtsanwalt Dr. Bieber: Der Zeuge hat hier von einem „erdrückenden“ Belastungsmaterial gesprochen. Hat er nach dem Gange des Prozesses auch heute noch die Ansicht, da8 „erdrückendes Belastungsmaterial“ gegen sämtliche Angeklagte vorliegt? – Zeuge: Ich bin in meiner Erregung, die wohl begreiflich ist, wohl etwas zu weit gegangen und habe mich in der Wahl des Ausdrucks vergriffen. Ein solches Urteil darf ich natürlich hier nicht abgeben. – Vert. Rechtsanwalt Dr. Bieber: Ich bitte also die Herren Geschworenen, auf dieses Urteil keinerlei Gewicht zu legen. – Staatsanwalt Kanzow: Ich nehme keinen Anstand, als Vertreter der Anklage zu erklären: Ich halte nach dem bisherigen Gang der Dinge noch nicht für dargetan, daß „erdrückendes Belastungsmaterial gegen sämtliche Angeklagte“ vorliegt. Wir sind ja aber noch nicht zu Ende und müssen das weitere abwarten. – Auf Befragen der Verteidigung erklärte Landauer weiter, daß er und seine Freunde den Späthschen Diskutierklub stets mit Vorsicht behandelt haben, da er ihnen nicht unverdächtig erschien, weil dort doch manchmal auffallend unvorsichtige Reden gehalten wurden. – Staatsanwalt Kanzow: Ist Ihnen der Anarchist Dempwolff bekannt? – Landauer: Jawohl. – Staatsanwalt: Ist Ihnen bekannt, daß dieser Dempwolff, der Ihnen befreundet und schon oft bestraft ist, erst vor kurzem Äußerungen getan hat, daß man die Taten von 1848 wiederholen müßte? – Zeuge: Ich bin in jener Versammlung nicht zugegen gewesen und kann kaum annehmen, daß Dempwolff solche Äußerungen gemacht hat. – Zeuge Landauer erklärte weiter: Er habe sich zur Zeit der Absendung der Kiste in Bregenz am Bodensee dauernd aufgehalten und sei erst jetzt wegen einer schweren Erkrankung seiner Frau nach Berlin gekommen. Obgleich nun die Polizei nach einer einzigen bestimmten Person, der Frauensperson mit dem Tituskopf‚ recherchierte, habe sie sich nicht gescheut, auch seine Frau, bei welcher keine Spur von Ähnlichkeit obwaltete, als Absenderin der Kiste zu verdächtigen. – Polizeirat Wolff: Die Recherchen haben sich nicht auf eine einzige, sondern auf 70 bis 80 Frauenspersonen erstreckt. – Kriminalkommissar Bösel erklärte nochmals, daß er Henkmann absolut nicht kenne, auch ihn niemals als Agenten benutzt habe. Henkmann sei niemals als Polizeiagent verwendet worden.

Hierauf wurde der Vater des Angeklagten Koschemann, der Steueraufseher Koscheman aus Weißenfels, als Zeuge vernommen. Er war 53 Jahre alt; seine Brust war mit Kriegsdenkmünzen und anderen Auszeichnungen bedeckt. Er bekundete: Am zweiten Pfingstfeiertag 1895 sei er auch in Königs–Wusterhausen gewesen. Es sei ihm nicht erinnerlich, daß sein Sohn einmal längere Zeit verschwunden war, so daß er Gelegenheit gehabt hätte, im Geheimen eine Uhr zu kaufen. Am Tage nach diesem Ausflug habe ihm Brede allerlei Schlechtes über seinen Sohn Paul erzählt. Er habe ihm gesagt, sein Sohn sei von der Polizei auf die Anarchistenliste gesetzt und photographiert worden. – Brede bestritt die positive Form dieser Erzählung. Er habe allerdings in längerer Unterredung mit dem Vater Koschemanns die Überzeugung geäußert: sein Sohn sei Anarchist und dürfte auf die Anarchistenliste gesetzt und photographiert werden. – Koschemann Vater bemerkte auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Werthauer: Er habe seinem Sohn ernste Vorhaltungen gemacht. Letzterer habe geantwortet: Die Sache sei nicht so schlimm, er werde sich aber von aller politischen Tätigkeit vollständig zurückziehen. – Der Expedient des „Sozialist“, Spohr, bekundete: Henkmann habe sich in sehr auffälliger Weise an ihn herangedrängt. Er habe ihn ebenfalls für einen Agent provocateur gehalten. – Staatsanwalt: Ist es richtig, daß Sie einmal gesagt haben: Ob die Anarchisten dies oder jenes tun, ist eine Frage der Taktik und nicht eine Frage des Gewissens? – Zeuge: Das habe ich niemals gesagt. – Spohr und Landauer wurden darauf vereidigt – Vors.: Koschemann, am 30. Juni 1895 ist bei Ihnen ein auf eine Kiste genageltes Uhrwerk gefunden worden, was hatte es damit für eine Bewandtnis? – Koschemann: Das Uhrwerk habe ich in den Allgemeinen Elektrizitätswerken für 50 Pfg. gekauft. – Vors.: So wie es da ist? – Angekl.: Jawohl, das waren ausrangierte Uhrwerke, welche für Bogenlichtlampen gedient hatten und dann für 50 Pfg. das Stück verkauft wurden. – Vors.: Was wollten Sie denn mit dem Uhrwerk? – Angekl.: Ich hatte die Absicht, einen Apparat zu konstruieren, mittelst dessen man sehen konnte, ob, wenn man des Nachts an der Glocke eines Arztes zieht, sich der Arzt sprechen lassen will. – Vors.: Angeklagter Westphal‚ bei Ihnen wurden auch Uhrräder und dergleichen Dinge gefunden? – Westphal: Ich wollte den von Koschemann beschriebenen Apparat mit diesem zusammen ausnutzen. – Kriminalschutzmann Busse: Er habe bei Koschemann außer einer Nummer der „Freiheit“ und mehreren anarchistischen Werken ein Fläschchen Benzin und Kupferdraht gefunden. Koschemann habe auf Befragen gesagt: er habe das Benzin zum Fleckenreinigen verwenden wollen. – Kriminalschutzmann Schwerdthelm hatte bei dem Angeklagten Weber außer der Mostschen „Freiheit“ auch zwei Hefte Rundschrift-Vorlagen und einen halben Bogen mit Rundschrift-Proben vorgefunden. (Die Begleitadresse der Sprengkiste war in Rundschrift geschrieben.) Weber behauptete, daß die Rundschrifthefte seinem Bruder gehören; er habe danach Übungen angestellt. – Bei Westphal war ein Brief aus Johannesburg mit Mitteilungen über die dort erfolgte Dynamit-Explosion gefunden worden, der nach seiner Behauptung von einem Schlachter Winkler herrühre. –

Am letzten Verhandlungstage bekundete Schlosser Jaworski: Er arbeite seit fünf Jahren bei Ludwig Löwe. Er erinnere sich mit voller Bestimmtheit, daß er auf dem Feste in Weißensee den Koschemann an seinem Tisch habe vorbeigehen sehen. Es mochte nach 8 Uhr abends gewesen sein, jedenfalls war es vor dem Fackelzug. – Vors.: Wie kommt es, daß Sie sich heute nach beinahe zwei Jahren und obwohl Sie damals doch nicht wissen konnten, daß die Sache einmal Bedeutung erlangen werde, so genau erinnern, unter den Tausenden von Menschen Koschemann gesehen zu haben? – Zeuge: Ich erinnere mich mit voller Bestimmtheit, Koschemann an jenem Abend gegen 8 Uhr auf dem Feste gesehen zu haben. – Vors.: Welcher politischen Parteirichtung gehören Sie an? – Zeuge: Der Zentrumspartei. –

Nach beendeter Beweisaufnahme nahm das Wort Staatsanwalt Kanzow: Meine Herren Geschworenen! Wir stehen am Schlusse langwieriger und erschöpfender Verhandlungen. Was geschehen konnte, um eine Aufklärung des Tatbestandes und der Täterschaft beizubringen, ist geschehen. Es liegt weder an dem Gerichtshofe, noch an den Verteidigern, noch an mir, wenn irgend etwas in dieser Beziehung unterlassen sein sollte. Ich als Staatsanwalt habe nach Gesetz und Gewissen die Pflicht, objektiv alles vorzutragen, nicht nur was belastend, sondern auch was entlastend für die Angeklagten ist. Ich habe schon neulich keinen Anstand genommen, zu erklären, daß gegen sämtliche Angeklagte bei der derzeitigen Sachlage ein erdrückendes Material nicht beigebracht worden ist, und ich werde das Beweismaterial sachlich und ruhig prüfen. Leicht wird mir diese Ruhe nicht, schon wenn ich die beiden Hauptpersonen, die hier in Frage kommen, berücksichtige. Da ist auf der einen Seite derjenige, der das Opfer des Anschlages werden sollte, der Polizeioberst Krause. Sie haben selbst diese sympathische, ehrbare Persönlichkeit gesehen. Dieser Mann hat sich von der Pike auf emporgearbeitet; das kann ihm aber doch nur zum Ruhme und zur höchsten Ehre gereichen, wie dies ja auch bei dem verstorbenen Staatssekretär Stephan der Fall war. In Deutschland ist es eben noch immer möglich, durch eisernen Fleiß zu den höchsten Stellen zu gelangen. Das ist erfreulich, denn es ist immer gut, wenn alle Stände durcheinander gehen und immer neues Blut in die Verwaltungen kommt. Auf der anderen Seite steht Koschemann. Er stammt am guter Familie. Sie haben den alten, ehrwürdigen, mit Kriegsdenkmünzen geschmückten Vater Koschemann gesehen und werden fragen, wie ist es möglich, daß der Sohn eines solchen Mannes unter der Anklage des Mordversuches stehen kann – des Mordversuchs gegen einen Mann, der ihm niemals etwas zuleide getan hat? Die Erklärung liegt nicht zu fern. Der große Franzose Taine, der uns die französische Revolution erst so recht hat verstehen gelehrt, hat einmal von dem „Jakobinertum der Zwanzigjährigen“ gesprochen. So ein junger Mensch, der gar keine eigene Lebenserfahrung und gar keinen historischen Sinn hat, der kommt hinaus in die Welt und gerät in Kreise, in denen jede Autorität untergraben, in welchen die Erziehung zur Ehrfurcht, die nach Goethe das Wichtigste ist, mit Füßen getreten wird. Koschemann ist schon mit jungen Jahren weit in der Welt herumgekommen, der Giftstoff ist ihm überall in der Welt zugetragen worden, besonders durch die „Mostsche Freiheit“. Das besagt genug! Reif sein ist alles, sagt Shakespeare, und nun denke man, wie es in dem Kopfe eines solchen unreifen, phantastischen Menschen aussehen muß, wie da der Größenwahn und die Verleumdungssucht Platz greift und zum Massen-‚ Klassen- und Rassenhaß führt, wie ein solcher junger Mensch innerlich vergiftet werden muß. Der objektive Tatbestand ist ziemlich einfach, weit schwieriger ist die Frage: Wer ist der Täter. Bände über Bände sind über diese Frage zusammengeschrieben worden. Alle entlassenen Schutzleute sind geprüft worden, ohne Erfolg. Und wenn man bedenkt, daß selbst entlassene Beamte dem Polizeioberst Krause das Zeugnis ausgestellt haben, daß er zwar streng, aber gerecht ist, so ist es unwahrscheinlich, daß ein entlassener Polizeibeamter in Frage kommt, ebensowenig die Familie des Oberst Krause. Gegen das Vorliegen eines persönlichen Racheakts spricht auch die Tatsache, daß die Weckeruhr auf 1/211 Uhr gestellt war, um diese Zeit aber am Sonntag Oberst Krause regelmäßig zur Kirche zu gehen pflegt. Es liegt eine anarchistische Schreckenstat vor! Während die Sozialdemokratie proklamiert hat, daß sie nur gesetzmäßigen Widerstand leistet, kämpft die Anarchie mit allen Mitteln, die ihr in die Hände fallen. Es gibt ja verschiedene Gruppen von Anarchisten, aber zweifellos ist es, daß es auch eine ganz bestimmte Richtung darunter gibt, die Anhänger der Propaganda der Tat sind. So verrückt es ist, so glauben diese Leute, daß es ihren Zwecken dienlich ist, wenn sie die bürgerliche Gesellschaft hin und wieder in Angst und Schrecken setzen und damit von ihrem Dasein Kunde geben. Wenn sie im Auslande einen Ravachol hatten, so hatten wir hier einen Rheinsdorf‚ der die Fürsten am Niederwalddenkmal in die Luft sprengen wollte. Wir haben vom Kriminalkommissar Bösel gehört, daß wir unter den Berliner Anarchisten Leute haben, die vor keiner Tat zurückschrecken. Natürlich muß es Aufgabe der Polizei sein, den friedlichen Bürger zu schützen und Verbrechen zu verhüten. Westphal und Koschemann standen bei der Polizei im Verdacht, daß sie Anarchisten der enragiertesten Art seien und durch das Ergebnis der Haussuchungen, sowie durch andere Umstände ist dieser Verdacht vollauf bestätigt worden. Man fand bei beiden gravierende Schriften, bei Koschemann die „Freiheit“ von Most, direkt aus New-York bezogen, bei Westphal einen ganzen Jahrgang der „Autonomie“. Koschemann hat ferner die bluttriefende und zu Verbrechen auffordernde Schrift „Gretchen und Helene“ vertrieben und ist deshalb bestraft worden. Also zuzutrauen ist diesen beiden Angeklagten sicher die Tat. Nun hieß es zuerst in der Presse, es sei eine Frau in Männerkleidern gewesen. Ich glaube nicht daran. Ich meine, es ist eine Mannsperson gewesen, welche einen frauenartigen Eindruck machte. Ich frage Sie, meine Herren Geschworenen, tut dies nicht Koschemann? Koschemann hat auffallend breite Hüften, einen trippelnden Gang. Das mädchenhafte Gesicht, welches er heute noch zeigt, war vor zwei Jahren gewiß noch mädchenhafter. Dazu kommt, daß die Kiste 25 Pfund schwer war, ein solches Gewicht konnte ein schwaches weibliches Geschöpf nicht tragen. Wenn wir nun die Zeugenaussagen derjenigen Personen vergleichen, welche die verdächtige Person in Fürstenwalde und derjenigen, die sie auf dem Schlesischen Bahnhofe gesehen haben, so muß man zu dem Schlusse kommen, daß beide Personen identisch waren. Kennzeichnend ist die Handbewegung Koschemanns, wenn er sich die Haare zurückstrich. Und übereinstimmend sagten die Zeuginnen‚ welche für dergleichen Sachen doch eine scharfe Beobachtungsgabe haben, „das ist er!“, als er ihnen durch den Untersuchungsrichter vorgeführt wurde. Man berücksichtige ferner, daß Koschemann die Sache lange vorher in allen Einzelheiten durchdacht und dann mit großem Raffinement durchgeführt hat. Natürlich ist es nicht so leicht, ihm auf allen seinen Wegen zu folgen und sein Tun bei diesem Verbrechen zu entlarven. Dazu gehört ein sorgfältiges und mühsames Zusammenfügen aller verdächtigen Momente und der Nachweis, daß der vorbereitete Alibibeweis mißlungen ist. Der Angeklagte hat ja zwei Zeuginnen auftreten lassen, die anscheinend zu seinen Gunsten ausgesagt haben. Ich erinnere aber daran, in welchen persönlichen Beziehungen diese Zeuginnen zu Westphal gestanden haben und ich erinnere an die Meineidstaktik der Anarchisten. Die Beobachtungen des Barbiers Breuer und seiner Ehefrau sind gewiß mit bestem Wissen wiedergegeben worden, es ist aber nicht ausgeschlossen, daß sie sich irren. Es ist bezeichnend, daß Koschemann und Westphal bei dem Barbier Breuer mit Nachdruck von dem „Judenflinten“-Fest gesprochen haben; sie wollten wahrscheinlich hiermit dem Barbier ein Stichwort beibringen, damit er sich später noch besinnen könnte, daß sie an jenem Tage nach Weißensee gehen wollten. Daß Koschemann nicht um 7 Uhr bei Breuer gewesen sein kann, geht schon daraus hervor, daß Koschemanns eigene Entlastungszeugen behauptet haben, er sei schon gegen 6 Uhr in Weißensee gewesen. Dann kann er nicht um 7 Uhr bei Breuer gewesen sein. Der Staatsanwalt ging alsdann die einzelnen Zeugenaussagen durch, die sich auf die Zeitabschnitte des 29. Juni 1895, auf die Anwesenheit Koschemanns in Weißensee usw. beziehen und zeigte, daß sowohl in den Angaben Koschemanns, als auch in den Bekundungen der Zeugen, die ihn gesehen haben, erhebliche Widersprüche festzunageln seien. Koschemann hat offenbar seinen Alibibeweis von vornherein sehr schlau sich zusammengestellt. Niemand bestreitet‚ daß Koschemann am Abende des 29. Juni 1895 in Weißensee war – es fragt sich bloß, zu welcher Zeit? Der Zug ging um 8 Uhr 56 Minuten vom Schlesischen Bahnhof nach Weißensee, von da sind es nur 10 Minuten bis zu Sternecker. Dies ist festzuhalten. Die Aussagen der Zeugen, die den Koschemann draußen gesehen haben wollen, sind doch zu unbestimmt, um darauf etwas zu geben. Der Alibibeweis ist mißlungen! Und dann die Hauptsache: Wo ist Koschemann am 29. Juni vormittags gewesen? Er behauptet steif und fest, bei Gürtlers. Frau Gürtler verneint dies aufs entschiedenste. Hat Frau Gürtler, die in intimem Freundschaftsverhältnisse zu Koschemann stand, die liebevoll für ihn eingezahlt hat, irgend ein Interesse daran, Koschemann hineinzulegen? Nimmermehr! Dann bedenken Sie die Art der Zusammenstellung der Kiste. Koschemann ist ein geschickter Mechaniker. Der Sachverständige hat zwar gesagt, ein Mechaniker würde es anders gemacht haben, ich bin aber anderer Ansicht und dann, kann nicht ein Mechaniker ganz absichtlich irgend etwas an der Kiste ungeschickt und kunstwidrig gemacht haben, gerade um den Verdacht von einem Mechaniker abzulenken? Nun kommt die Schrift der Adresse. Ich erkläre, daß ich von der Kunst der Graphologie nur insoweit etwas halte, als sich jeder einzelne von den Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten von Schriftzügen überzeugen kann. Aber das steht doch fest, daß in der Schreibart Koschemanns manche große Ähnlichkeiten mit der Schrift auf der Adresse zu finden sind. Endlich kommt die Frage der Weckeruhr. Ich meine doch, daß Koschemann der Käufer des Weckers in Königs-Wusterhausen gewesen ist. Er wird vom Uhrmacher nach seinem Namen gefragt; seinen richtigen darf er nicht nennen, so gibt er den Namen Kurte an, der denselben Anfangsbuchstaben hat wie der Name Koschemann. Ein kleines Zeichen, aber es gibt zu denken. Koschemann stellt dann die Behauptung auf, er habe gehört, daß ein Schankwirt Krüger einen Wecker gekauft habe und wahrscheinlich mit ihm verwechselt werde. Krüger wird vernommen, es zeigt sich, daß er nie einen Wecker gekauft hat. Wer derartige Kniffe zu seiner Entlastung anwendet, der kann sich nicht unschuldig fühlen, ein Unschuldiger beschränkt sich darauf zu sagen: „Ich war es nicht!“ Erwiesen ist ferner, daß Koschemann wiederholt auf die Polizei und besonders auf den Polizeioberst Krause geschimpft und sich nach dessen Bureaustunden erkundigt hat. Es hängt viel davon ab, ob man dem Zeugen Brede Glauben schenkt. Ich halte ihn für glaubwürdig. Er erhält das beste Zeugnis von seiner Behörde und er sagt sofort dem Schutzmann „auf eine Belohnung verzichte ich“. Er hat den Vater des Angeklagten Koschemann gewarnt, er sagt, „heilen Sie Ihren Sohn, er ist auf Abwegen, er ist Anarchist!“ So handelt kein Mann, der im Solde der Polizei steht, wie man ihn von gewisser Seite hinstellen möchte. – Nun sehe man sich ferner den Apparat an, den Koschemann als ein Läutewerk für Ärzte bezeichnet. Ich behaupte, daß dies eine Ausrede ist, das angebliche Läutewerk ist eine Maschinerie, die in ihrem ganzen System dem Attentats-Apparat ähnlich ist. Wenn bei jemandem ein Dietrich gefunden wird, muß er sich gefallen lassen, daß er für einen Dieb gehalten wird, bis er den Nachweis vom Gegenteil erbringt. Die Furcht hatte den Angeklagten aber doch gepackt; in der Nacht zum 30. Juni kam er nicht nach Hause und ebensowenig am folgenden Tage. Dies läßt auf ein böses Gewissen schließen. Und wie viele Widersprüche sind ihm nachzuweisen! Bei seiner Vernehmung erklärte er gerade heraus „ich kenne Westphal nicht!“ Bald darauf sagt er bei einem anderen Punkt: „Ich ging mit meinem Freunde..“ da stockt er, beinahe hätte er den Namen „Westphal“ ausgestoßen. Er sagte auch einmal: „Die Kiste ist ja gar nicht an den Polizeiobersten Krause, sondern an den Obersten Krause adressiert.“ Ich behaupte, daß dieser Mangel in der Adresse absichtlich herbeigeführt wurde, um den Anschein zu erwecken, als gehe das Attentat von einer Privatperson aus. Alles Berechnung. Vor dem Untersuchungsrichter hat Koschemann erklärt, daß er keine Anträge zu stellen habe, um die Glaubwürdigkeit des Zeugen Brede zu erschüttern. In seinem Kassiber erklärt Koschemann: „Brede muß bei seiner Behörde verdächtigt werden.“ Und richtig, bald trifft bei den Vorgesetzten Bredes ein anonymer Brief ein, worin dieser beschuldigt wird, Bücher aus der Königlichen Bibliothek unterschlagen zu haben. So handelt kein Unschuldiger. Ich komme also zu dem Schluß: Koschemann ist der Absender der Kiste, er hat das Attentat auf den Polizeioberst Krause selbst ausführen wollen, er ist schuldig zu sprechen! Mindestens aber ist er schuldig zu befinden, Beihilfe zu dem Verbrechen geleistet zu haben.

Was nun die übrigen Angeklagten betrifft, so liegt gegen Westphal nicht so sehr schwer belastendes Material vor, ich bin aber dennoch überzeugt, daß er seine Hand mit im Spiele hatte. Er ist auch Anhänger der Propaganda der Tat, er ist mit Koschemann eng befreundet, beide haben sich häufig besucht und gegen ihn spricht folgendes schwerwiegende Moment: er hat behauptet, er habe sich am 29. Juni nicht von Koschemann getrennt. Das ist als wahrheitswidrig nachgewiesen worden‚ er ist nicht mit Koschemann in Weißensee gewesen. Ferner ist belastend für ihn, daß er gesagt hat, der Plan, ein „Läutewerk für Ärzte zu konstruieren“, sei von ihm ausgegangen. Nicht aufrecht erhalten kann ich die frühere Behauptung der Anklage, daß Westphal mit Koschemann die Sprengkiste gemeinschaftlich angefertigt hat. Das ist nicht erwiesen; dagegen ist nachgewiesen, daß Westphal Koschemann bei dem Verbrechen geholfen und ihm die Hilfe vorher zugesagt hat. Für Frau Westphal und den Angeklagten Weber hat sich die Verhandlung günstiger gestaltet. Zwar sind sie auch Besucher des Späthschen Diskutierklubs, aber es ist nicht erwiesen, daß sie um das Verbrechen gewußt haben. Gegen sie beantrage ich die Freisprechung. Frau Gürtler erscheint mir dagegen ganz zweifellos überführt, dem Koschemann Hilfe geleistet zu haben. Dagegen ist sie der Majestätsbeleidigung nicht für schuldig zu erachten. Fällen Sie, meine Herren Geschworenen, lhren Spruch nach bestem Wissen und Gewissen, dann wird dem Rechte Genüge geleistet sein.

Vert. R.-A. Dr. Werthauer: Das Beweismaterial ist so schwach, daß die Verteidigung, die den Stoff unter sich verteilt hat, sich ziemlich kurz fassen kann, um die Herren Geschworenen von der Notwendigkeit eines freisprechenden Wahrspruchs zu überzeugen. Vieles von dem, was anfänglich belastend erschien, hat sich in der Verhandlung als ganz unverdächtig und wenig belastend herausgestellt. Nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme darf man ohne weiteres behaupten: es ist erwiesen, daß Koschemann nicht der Täter ist. Kein Mensch hat gesehen, daß K. irgend etwas mit der verhängnisvollen Kiste zu tun gehabt hat, die Anklagebehörde operiert mit keiner positiven Tatsache, sondern lediglich mit Indizien. Es ist mit dieser Verhandlung wie in einer Premiere, wo man vier Akte hindurch allerlei Dinge an sich vorüberziehen sieht und man beim Fallen des Vorhanges ganz erstaunt sitzen bleibt, in der Meinung, daß der Haupteffekt nun erst kommen soll. Auch bei dieser Verhandlung kann man nach dem, was sieben Tage hindurch vorgeführt wurde, sich schließlich erstaunt fragen, was denn nun eigentlich bewiesen worden ist. Nichts, gar nichts! Die Herren Geschworenen können vielleicht sagen: es ist hier etwas Dunkles geschehen, wer es aber getan, ist uns auch heute noch verborgen. Es ist keine Spur von Beweis dafür erbracht, daß es sich hier um ein anarchistisches Attentat handelt, der versuchte negative Beweis, daß kein Akt persönlicher Rache vorliegt, kann doch nach keiner Richtung hin ausreichen. Koschemann behauptet, daß hier ein Akt polizeilichen Spitzeltums vorliege. Ich halte das für Wahnsinn, denn ich glaube Herrn Kriminalkommissar Bösel aufs Wort, daß die Polizei sich dies Attentat nicht selbst bestellt hat. Ich gehe sogar so weit, daß ich mit dem Staatsanwalt annehme: es ist ein anarchistisches Attentat, aber keineswegs von Koschemann ausgehend, sondern von auswärtigen Anarchisten ausgeheckt. Ich erinnere daran, daß vor längerer Zeit einmal hier ein russischer Nihilist Iwanoff verhaftet worden war, der vielleicht mit der Sache in Zusammenhang stehen könnte, denn er ist in Kopenhagen, in Paris und in Berlin gesehen worden. 1894 sind in Paris Bomben geworfen worden und es ist bezeichnend, daß in der Kiste eine Zeitungsnummer der „Cote libre“ vom 22. August 1894 und der „Frankfurter Oderzeitung“ vom 23. August 1894 gefunden worden ist. Damals ist Koschemann noch nicht hier gewesen. Es läßt sich nicht von der Hand weisen, daß diese Kiste im anarchistischen Lager im Auslande gefertigt, schon 1894 in der Hauptsache hergerichtet und vielleicht erst 1895 noch im letzten Teile vollendet und nach Berlin geschickt worden ist. Man möge doch auch daran denken, daß ein Zeuge die verdächtige, als Mann verkleidete Frauensperson in Begleitung zweier Männer gesehen hat. Ist es so sehr ausgeschlossen, daß die Kiste aus Dänemark herübergebracht worden ist? Der Verteidiger erörterte alsdann ausführlich die Frage, ob man sich bei den Angeklagten, die bisher völlig unbescholten waren, einer solchen Tat versehen könne. Was den Belastungszeugen Brede betrifft, so solle man doch bedenken, daß Äußerungen Schäume sind und daß man doch absolut nichts daraus folgern könnte, wenn Koschemann wirklich den Brede nach den Sprechstunden des Polizeioberst Krause gefragt haben sollte. Äußerungen sind Schäume und Indizien keine Beweise! Der objektive Befund der Kiste deutet durchaus nicht darauf hin, daß Koschemann sie verfertigt hat, der angebliche Uhrkauf in Königs-Wusterhausen schwebt vollständig in der Luft. Wie sollte denn der Mann darauf kommen, nach Königs-Wusterhausen zu fahren, dort eine Uhr zu kaufen und sie mit nach Berlin zu schleppen. Als ob es in Berlin gar keine Drei-Mark-Bazare und keine Weckeruhren gäbe! Koschemann ist an seinem ganzen Körper genau geprüft worden. Man hat seine Füße geschildert, die Hände geschildert und die ganze Figur in allen möglichen Farben geschildert – aber nirgendwo hat es mit den Maßen der verdächtigen Person gepaßt. Da hätte man denn doch zu dem Schluß kommen müssen, daß Koschemann die Person nicht ist. Weit gefehlt! Man sagte, er könne die Füße in enge Stiefel gezwängt haben und man fertigte ihm extra ein Jackett an, zog es ihm an und fragte die Zeugen, ob die verdächtige Person etwa so ausgesehen haben könne. Das erinnert an eine Geschichte der „Fliegenden Blätter“, in welcher ein Mann an eine junge Dame mit der Frage herantrat: „Fräulein, darf ich Ihnen meinen Regenschirm anbieten?“ Als die Dame erwiderte: „Aber mein Herr, es regnet ja gar nicht“, erfolgte die Antwort: „Ich habe ja auch gar keinen Regenschirm.“ Zum Schluß suchte der Verteidiger den Nachweis zu führen, daß Koschemann gar nicht der Täter sein könne. Er sei wohl von verschrobenen anarchistischen Gedanken erfüllt, man könne aber nicht ohne weiteres annehmen, daß der Sohn eines solch braven, ehrwürdigen Vaters ganz aus heiler Haut zum Verbrecher werde. Koschemann müsse nach den Bekundungen der Zeugen spätestens gegen 9 Uhr abends in Weißensee gewesen sein. Mit Rücksicht auf den Eisenbahnfahrplan sei es unmöglich, daß er die Kiste in Fürstenwalde aufgegeben habe, er müßte denn wie Phileas Fogg in der „Reise um die Welt in 80 Tagen“ ohne jeden Aufenthalt von der Eisenbahn zum Dampfschiff und umgekehrt geeilt sein. Er (Vert.) ersuche die Geschworenen mindestens ein Non liquet auszusprechen. –

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Schöps: Berufsrichter haben ein Urteil mündlich und schriftlich zu begründen, bei den Geschworenen heißt es „Ja ja“ oder „Nein nein“. Was darüber ist, ist vom Übel. Dies entbindet aber nicht die Geschworenen von der Verpflichtung, genau und gewissenhaft zu prüfen, bevor sie ihren Wahrspruch abgeben. Zur Sache muß ich bemerken, das Attentat war weder auf den Polizeioberst Krause abgesehen, noch ist es von Berliner Anarchisten ausgegangen. Der ganze Apparat war im übrigen so hergestellt, daß er den angeblich beabsichtigten Zweck erfüllen konnte. Polizeioberst Krause ist gar keine politische Persönlichkeit; es wäre etwas anderes gewesen, wenn Kriminalkommissar Bösel das Opfer hätte werden sollen. Der Verteidiger wies im weiteren auf die vielen Widersprüche der Zeugen hin, als diese die Merkmale der verdächtigen Person in Fürstenwalde und auf dem Schlesischen Bahnhof beschreiben sollten. So viele Aussagen, so viele Widersprüche. Es stehe schlecht um eine Anklage, in der seitens der Staatsanwaltschaft so schwache Verdachtsmomente ins Gefecht geführt werden. Fast sämtliche Zeugen hatten den Eindruck, daß sie eine Frau in Männerkleidung gesehen haben. Wenn man Koschemann in Frauenkleidung steckte, dann würde er trotz seines mädchenhaften Gesichts aussehen wie ein verkleideter Mann. Die verdächtige Person habe aber ausgesehen wie eine in Männerkleidung steckende Frau, das sei doch ein ganz gewaltiger Unterschied. Er (Vert.) könne die Ansicht des Staatsanwalts nicht teilen, daß der Alibibeweis mißlungen sei. Wenn Koschemann in den Zeitangaben schwankend gewesen sei, so sei zu bemerken, daß auch der Staatsanwalt sich nicht genau an die Zeitangaben gehalten habe. Das ganze Äußere des Angeklagten Koschemann deute nicht darauf hin, daß Leidenschaft und Energie in seiner Brust schlummern. Dieser junge blasse Mensch mit der Schillerlocke über der Stirn habe unmöglich die Tat begangen, die man ihm zur Last lege. Was sollen Redensarten wie: „Wir“ brauchen keine Obrigkeit“ und „Religion gibt es nicht, es ist alles Natur“ aus dem Munde des jugendlichen unreifen Angeklagten für ein Gewicht haben? Es gebe doch auch Leute in den höheren Gesellschaftsklassen, die sich vom Glauben abgewandt haben. Sollte man deshalb diesen anarchistische Verbrechen zutrauen? Die Anklagebehörde kämpfe mit kleinlichen Argumenten. Koschemann solle nach Angabe eines Gefängnisbeamten im Untersuchungsgefängnis ein scheues und mißtrauisches Wesen gezeigt haben. Wenn man sich auf Schritt und Tritt von Polizeibeamten verfolgt sehe, dann sei das sehr erklärlich. Der Verteidiger führte ferner aus, daß das Material zu einem Schuldigspruch nicht ausreiche, er sei daher der Überzeugung, die Geschworenen werden ihren Wahrspruch auf Nichtschuldig abgeben. –

Vert. R.-A. Dr. Bieber: Es sei schwer, in einem Sensationsprozeß als Verteidiger aufzutreten, wenn man in der Hauptsache mit Vermutungen und Indizien zu tun habe. Die Stimmung sei gegen die Angeklagten, weil sie Anarchisten seien. Darum habe sich aber der Verteidiger nicht zu kümmern, sondern seine Pflicht sei es, dazu beizutragen, daß den Angeklagten ihr Recht werde, d. h. das Recht, daß sie ins Zuchthaus kommen‚ wenn sie dahin gehören. Daß dies aber im vorliegenden Falle nicht zutreffe, sei seine innerste Überzeugung. Der Verteidiger suchte alsdann in eingehender Weise nachzuweisen, daß den vier letzten Angeklagten nicht das mindeste bewiesen sei, er erwarte daher mit Bestimmtheit ihre Freisprechung. –

Nachdem die Angeklagten sämtlich nochmals ihre volle Unschuld beteuert, gab der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Rieck den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung und bemerkte dabei: Meine Herren Geschworenen, ich habe Ihnen nur noch einige Belehrungen allgemeiner Natur zu geben. Es ist vieles Vortreffliche hier im Saale gesagt worden, aber auch manches, womit ich nicht einverstanden bin. Wenn ich es unterließe, Ihnen das zu sagen, so würde ich glauben, meine Pflicht nicht getan zu haben, ich bin aber gewöhnt, meine Pflicht stets ganz zu tun. Es war ein vortrefflicher Satz, daß Sie nur nach Ihrer eigenen Überzeugung urteilen sollen. Jawohl, richten Sie sich nach keines anderen Überzeugung, wer es auch sein mag, der sie hier ausgesprochen hat. Denn Sie können ja einem anderen Menschen nicht ins Herz sehen. Können Sie denn wissen, ob wirklich das, was er sagt, seine innerste Überzeugung ist? Ich spreche hier nicht mit Bezug auf irgend jemanden im Saale, sondern nur im allgemeinen. Der eine Herr hat aus dem Umstande, daß Sie sich an einer bestimmten Stelle Notizen gemacht haben, gefolgert, Sie befänden sich in einem verhängnisvollen Irrtum. Zu dieser Behauptung wäre doch die Feststellung notwendig gewesen, was für Notizen Sie sich gemacht haben. Wer wollte sonst so vermessen sein, Sie eins verhängnisvollen Irrtums zu zeihen. Nein, ich habe mich gefreut, daß Sie sich so fleißig Notizen gemacht haben, und möchte sagen: „Wehe dem Geschworenen, der sich während dieser langen Verhandlung keine Notizen gemacht hat und sich allein auf sein Gedächtnis verlassen will. Der eine Herr hat auch den Indizienbeweis ganz verworfen. Ja ohne den Indizienbeweis hätten wir Richter sehr wenig zu tun. So schwächlich steht es aber mit unserer Strafrechtspflege nicht, wie jene Ausführungen des Verteidigers den Anschein erwecken konnten. Derselbe Herr hat diesen Prozeß mit einem Skatspiel ohne Atouts verglichen. Ob dieser Vergleich sehr geschmackvoll war, überlasse ich Ihrem Urteil, aber der Herr Verteidiger hat zugeben müssen, daß auch ein Spiel ohne Atouts unter Umständen gewonnen werden kann. Ich meine, damit hat er sich selbst und seine Ansicht von der Wertlosigkeit des Indizienbeweises widerlegt. Der eine Herr Verteidiger hat das Stimmungs-Erzeugen verworfen, der andere hat uns aber hier die Geschichte von einem unschuldig zum Tode verurteilten Postillon erzählt, der nur noch durch einen glücklichen Zufall von dem Schaffot gerettet wurde. War das etwas anderes als Stimmungs-Erzeugung? Der eine Herr ruft: Halt vor dem Eide – – bei den Zeuginnen Knappe und Jeschke, er öffnet aber die Barriere und läßt freie Bahn vor dem Eide des alten Koschemann und des Zeugen Brede. Meine Herren! Das römische Recht und das englische Recht gehen Sie gar nichts an, wir haben es hier allein mit dem deutschen Strafrecht zu tun. Gehen Sie an die Beratung frei, ohne Menschenfurcht, aber auch ohne Menschenhaß. Auch das war ein goldenes Wort des einen Herrn Verteidigers: „Haben die Angeklagten die Tat begangen, so soll ihnen auch ihr Recht werden.“ Jawohl, auch wenn das Recht das Zuchthaus ist. Handeln Sie nach Recht und Gerechtigkeit.

Nach etwa zweistündiger Beratung bejahten die Geschworenen bezüglich Koschemann die Schuldfragen wegen Beihilfe zum versuchten Morde und der Beihilfe zum Verbrechen gegen das Sprengstoffgesetz, bezüglich Westphal wegen Begünstigung des Koschemann nach geschehener Tat, um ihn der Bestrafung zu entziehen. Die Schuldfragen bezüglich der anderen Angeklagten wurden verneint. – Staatsanwalt Kanzow beantragte gegen Koschemann mit Rücksicht darauf, daß er einerseits noch jung und ein verrannter Fanatiker sei, andererseits aber ein schweres Verbrechen vorliege und es erforderlich sei, vor ähnlichen Verbrechen abzuschrecken, unter Einrechnung der neunmonatlichen Gefängnisstrafe‚ zehn Jahre und einen Monat Zuchthaus, zehn Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht, gegen Westphal ein Jahr Gefängnis. – Vert. R.-A. Dr. Bieber beantragte: Da sich die Geschworenen offenbar zu Ungunsten des Angeklagten Westphal geirrt haben, auf Grund des § 317 der Strafprozeßordnung den Spruch aufzuheben und die Sache an ein anderes Schwurgericht zu verweisen. Nach Löwe könne dies bereits geschehen, sobald der Gerichtshof einstimmig der Ansicht sei, daß ein Non liquet vorliege. – Die Angeklagten Koschemann und Westphal versicherten nochmals, daß sie vollständig unschuldig seien und sie die Strafe nicht annehmen. – Während der Beratung des Gerichtshofs trat der Obmann der Geschworenen an den Berichterstattertisch und ersuchte die Berichterstatter, mit ihrem Urteil noch zurückzuhalten. Er werde alsdann begründen, wie die Geschworenen zu ihrem Wahrspruch gekommen seien. Die Berichterstatter bemerkten dem Herrn, daß eine Begründung des Geschworenenwahrspruchs gesetzlich unzulässig sei. Der Obmann verlangte auch nicht das Wort. – Der Gerichtshof verurteilte Koschemann zu zehn Jahren einem Monat Zuchthaus, unter Anrechnung von drei Monaten auf die Untersuchungshaft und zu zehn Jahren Ehrverlust, Westphal zu einem Jahre Gefängnis, unter Anrechnung von vier Monaten auf die Untersuchungshaft und sprach Frau Westphal, Weber und Frau Gürtler frei. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Rieck bemerkte in der Urteilsbegründung: Koschemann sei ganz besonders schwer zu bestrafen, da die menschliche Gesellschaft vor so schweren Verbrechen geschützt werden müsse. –

Die von den Angeklagten eingelegte Revision wurde vom zweiten Strafsenat des Reichsgerichts verworfen. Koschemann hat im Sommer 1907, an Geist und Körper gebrochen, das Zuchthaus verlassen; er soll noch heute seine volle Unschuld beteuern.