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Autor: Kurt Schwitters
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Titel: Dadaismus in Holland
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aus: Merz, Nr. 1 (Januar 1923): S. 3-11.
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Erscheinungsdatum: Januar 1923
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Quelle: Digital Dada Library
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GROOTE KOE
DADA


ISMUS IN HOLLAND

DADA

in Holland ist ein Novum. Nur ein Holländer, I. K. BONSET, ist Dadaist. (Er wohnt in Wien.) Und eine Holländerin, PETRO VAN DOESBURG, ist Dadaistin. (Sie wohnt in Weimar.) Ich kenne dann noch einen holländischen Pseudo-dadaisten, er ist aber kein Dadaist. Holland aber,

HOLLAND IST DADA

     Unser Erscheinen in Holland glich einem gewaltigen Siegeszug. Ganz Holland ist jetzt dada, weil es immer schon dada war.
     Unser Publikum fühlt, daß es DADA ist und glaubt, dada kreischen, dada schreien, dada lispeln, dada singen, dada heulen, dada schelten zu müssen. Kaum hat jemand von uns, die wir in Holland Träger der dadaistischen Bewegung sind, das Podium betreten, so erwachen im Publikum die verschlafenen dadaistischen Instinkte, und es empfängt uns ein dadaistisches Heulen und Zähneklappen. Aber wir sind die dadaistischen Hauskapelle, wir werden Ihnen eins blasen.

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DADA COMPLET

     Ein fürchterliches Menetekel wird ihnen bereitet werden, wir gießen aus den spiegelgassendadaistischen Geist der großen URDADAS: hans arp und TRISTAN TZARA, und auf allen Köpfen flammt eine bläuliche Flamme, in deren Spiegel man deutlich den Namen PRA lesen kann. Wir blasen eins, wir tragen DADA vor, het publiek fait DADA. Wir wecken, wecken, wecken. DADA erwacht.

ADA

STILTE + STEM (VERS IN W.)

ANTONY KOK


[urheberrechtlich geschützt]


Wir wecken den schlafenden Dadaismus der Masse. Wir sind Propheten. Wir entlocken wie einer Flöte der Menge unserer Zuhörer Töne von dadaistischer Schöne. Wie ein Meer. Wie eine Ziege ohne Hörner. Selbst der Herr Polizeikommissar, der heute nicht Publikum, sondern Vertreter der staatlichen Ordnung gegenüber der dadaistischen Ordnung ist, wird von der Kraft dadas erschüttert. Ein Lächeln zittert über seine beamteten Gesichter, als ich sage: »DADA ist der sittliche Ernst unserer Zeit!« Wie Hörner ohne Propheten. Nur einen Augenblick lächelt er, aber wir haben es bemerkt, wir, die Träger der dadaistischen Bewegung in den Niederlanden.

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     Darf ich uns vorstellen? Kijk eens, wij sijn Kurt Schwitters, nicht dada, sondern MERZ; Theo van Doesburg, nicht dada, sondern Stijl; Petro van Doesburg, Sie glauben es nicht, aber sie nennt sich dada; und Huszar, nicht dada, sondern Stijl. Sie werden erstaunt fragen: »Warum kommen nicht Dadaisten, um uns dada vorzumachen?« Kijk eens, das gerade ist das Geraffineerde van onze Kultuur, daß ein Dadaist, weil er eben Dadaist ist, nicht den im Publikum schlummernden Dadaismus wecken und künstlerisch läutern kann. Begrijp U dat? Und alle Euten läuten. Kijk eens, die Zeit der Gegenwart ist nach unserer Meinung dada, nicht als dada. Es gab ein klassisches Altertum, ein gothisches Mittelalter, eine Renaissance, eine Biedermeierzeit und eine Dadaneuzeit. Unsere Zeit heißt dada. Wir leben im Dadazeitalter. Wir erleben im Zeitalter dada. Nichts ist für unsere Zeit so charakteristisch wie dada.
     Denn unsere Kultur ist dada. In keiner Zeit gab es so enorme Spannungen wie in unserer. Es gab keine Zeit, die so stillos war wie unsere. DADA ist das BEKENNTNIS zur STILLOSIGKEIT. Dada ist der Stil unserer Zeit, die keinen Stil hat. Begrijp U dat?
     Ihr mein nun, Holland wäre doch nicht dada, denn Holland ist doch nicht so stillos wie Deutschland. Oder? Aber Ihr irrt Euch. Auch Holland ist dada, und unser Publikum versucht sogar zu beweisen, daß Holland noch weit dadaistischer ist als Deutschland. Nur schläft Holland noch, und Deutschland weiß schon, wie stillos es ist. Wenn z.B. ich mit D-Zug 1. Klasse an den lyrischen Windmühlen vorbeifahre, und unten fährt ein Bursch Mist, über uns aber fährt die Post durch die Luft, dann ist das eine enorme Spannung. Ich sende vom fahrenden Zuge ein Telegramm an meinen neuen Impresario in Nordamerika, während ein kleiner Hund den Mond anbellt. Soeben fährt ein Hundekarren ein Auto um. Sehen Sie, das ist Dada. Ich habe z. B. eine Kinderpistole mit Kork am Band. Ich lade, indem ich den Kolben herausziehe und kann 300 Schuß in der Sekunde abgeben, und in Helder stehen große Kanonen. Und die geistigen Spannungen? Hier wie überall wohnen dicht beieinander als Mitglieder derselben Gemeinde, untereinander befreundet Anarchisten, Sozialisten, Monarchisten, Impressionisten, Expressionisten, Dadaisten. Und die Schönheit, gewissermaßen Kunst? Wo finden Sie Spuren davon? Kijk eens, Häuser z. B. sind zum Bewohnen da. Häuser sind keine Anschlagsäulen. Der leere Giebel aber ist die Unterhose des Hauses¹. Und hier wie in Berlin sind die Unterhosen


¹ Architektur.

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der Häuser mit Reklame bemalt. Soll das schön sein? Oder? Es ist dada, wenn einer Unterhose dadaistische Reklame trägt. Oder soll etwa das Haus eine Janssensche Fleischpastete sein, ich muß das doch glauben, wenn das auf seinen Giebel ausdrücklich geschrieben ist. Ist das nicht verrückt, Häuser, von denen wir alle wissen, daß sie kein Fleisch sind wie wir, solche Häuser, aus Stein und Eisen, eine Janssensche Fleischpastete zu nennen? Ich finde sowas idiot. Ein Haus ist keine Janssensche Fleischpastete, und wer an ein Haus schreibt, es wäre eine Janssensche Fleischpastete, der irrt selbst sehr, oder er will uns für dumm halten. Ich aber sage Euch, Eure Häuser sind meist dada, aber sehr selten Janssensche Fleischpasteten. Reklame ist Zeichen unserer Zeit. Unsere Zeit ist sachlich, praktisch, unsachlich und unpraktisch, je nach Belieben. Oder? Unsere Zeit läßt die Reklame selbst auf Kosten der Schönheit wuchern. Hinzu kommt der Kitsch, bewußt und unbewußt. In Amsterdam habe ich einen Lunchroom gesehen, der mit alten Tropfsteinresten wie eine künstliche Tropfsteinhöhle zurechtgemacht war. Ich frage mich verwundert: »warum?« Finden Sie in Amsterdam eine Tropfsteingrotte stilvoll? ja? Dann habe ich eben recht, daß der Stil von Amsterdam Stillosigkeit ist. Das ist aber dada. Wie in Berlin. Und wenn schon Tropfsteinhöhle, warum muß diese durch riesenhafte Spiegel bis ins Unendliche vergrößert werden? Das kleine Zimmer in Amsterdam, welches sagt: »Die ganze Welt ist unendlicher Lunchroom in Form einer Tropfsteinhöhle,« dieses kleine Zimmer ist dada complet. Und wenn dieses Tropfsteinzimmer Blumen und Blätter ranken und tropfen und spiegeln läßt, daß man meint, in einer orientalischen unendlichen Tropflunchsteingrotte zu sitzen, so haben Sie dada garniert. Sozusagen dada hors d’œuvre varié. Oder finden Sie die Emser Wasserflasche auf dem Dache eines Hauses im Haag etwa stilvoll? Ich zeifle sogar daran, daß das eine Flasche wäre, denn sie ist reichlich groß dafür. Und welche Verschwendung wäre es, so viel kostbares Selterswasser aufs Dach zu stellen, statt auf den Tisch. Verzeihen Sie, aber ich z. B. halte sowas für Reklame. Wollen Sie aber sehen, wie gute und sachliche Architektur aussieht, fahren Sie mit lijn drie bis Endstation und sehen Sie sich den Papaverhof und die Kliemopstraat an. Eine Oase in einer Wüste von mißverstandener Architektur. Das sind Häuser, die mit dem Bewußtsein ihrer Bestimmung aus ihrem Material und ihrer Zeit wachsen, wie eine Blume wächst und blüht. Blumen sind immer schön. Haben Sie schon ein Veilchen gesehen, das für den Zoologischen Garten Reklame macht?

[7]      Wir Träger der dadaistischen Bewegung versuchen nun der Zeit einen Spiegel vorzuhalten, daß die Zeit deutlich die Spannungen sieht. Ich erinnere an das Lied: »Und wenn du denkst, der Mond geht unter, er geht nicht unter, es scheint bloß so.« Und nun erkläre ich, warum gerade wir, die wir nicht Dadaisten sind, am meisten befähigt sind, Träger der dadaistischen Bewegung zu sein.
     Wir haben uns hier zufällig zusammengefunden. Wie das so kommt. Aber es gibt doch keine Zufälle. Eine Tür kann zufallen, aber selbst das ist kein Zufall, sondern eine bewußte Tat der Tür. Nichts ist Zufall. Wir fanden uns, nachdem wir uns gefunden hatten, in gemeinsamer Arbeit. Unser Publikum gab der Bewegung die Richtung. Wir spiegelten und waren das Echo des vor uns in dadaistischer Begeisterung lärmenden Publikums. Und nun erkennen Sie, weshalb wir den Dadaismus nicht wollen. Der Spiegel, der Dein wertes Antlitz empört zurückweist und hinwegspiegelt, dieser Spiegel will Dich nicht, er will das Gegenteil. Und wir wollen den Stil. Wir spiegeln dada, weil wir den Stil wollen. Darum sind wir die Träger der dadaistischen Bewegung. Aus Liebe zum Stil setzen wir unsere ganze Kraft ein für die dadaistische Bewegung.
     Unser Erscheinen in Holland glich einem gewaltigen, unerhörten Siegeszuge. In der Zeit, als die Franzosen mir Kanonen und Tanks das Ruhrgebiet besetzten, besetzten wir das künstlerische Holland mit dada. Die Zeitungen schreiben endlose Dadaartikel und kleine Abhandlungen über Ruhr und Reparation. Während die Franzosen großen Widerstand in der Ruhr fanden, siegte dada in Holland ohne Widerstand. Denn der enorme Widerstand unseres Publikums ist dada und deshalb entkräftet. Dieser Widerstand ist »unser« Kampfmittel. Die Presse, die einsichtiger als die Masse ist, hat das erkannt und ist mit fliegenden Fahnen zu uns übergegangen. Sie bietet uns Widerstand, indem sie ihre Begeisterung über die dadaistische Bewegung unverhohlen ausdrückt. In 24 Stunden lernte ganz Holland das Wort »dada«. Jeder kann es jetzt, jeder weiß eine Nuance des Wortes, wie er es blöde schreien kann, so blöde wie möglich. Das ist ein enormer Erfolg. Der sonst so würdig scheinende moderne Kulturmensch erkennt plötzlich, wie blöde er sein kann, und wie blöde er also im Grunde seiner Seele ist. Das ist ein enormer Erfolg. Denn nun sieht der Kulturmensch plötzlich, daß seine große Kultur vielleicht gar nicht so groß ist, wie sie aussieht. Es war ein gewaltiger Moment in Utrecht, als plötzlich das Publikum aufhörte, Publikum zu sein. Eine Bewegung wie Würmer durchwogte den Leichnam des verschiedenen Publikums. Auf die

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[8] Bühne (het toneel) kamen Würmer gekrochen. Ein Mann mit Zylinderhut und Gehrock verlas ein Manifest. Ein gewaltiger alter Lorbeerkranz vom Friedhofe, verrostet und verwittert, wurde für dada gespendet. Eine ganze Groentenhandlung etablierte sich op het toneel. Wir konnten uns eine Zigarette anzünden und zusehen, wie unser Publikum statt unser arbeitete. Es war ein erhabener Augenblick. Unser Beweis war komplett.
     In absehbarer Zeit hoffen wir, daß unsere aufklärende Tätigkeit über die enorme Stillosigkeit in unserer Kultur einen starken Willen und ein große Sehnsucht nach Stil wachrufen wird. Dann beginnt für uns die wichtigste Tätigkeit. Wir wenden uns gegen dada und kämpfen nun nur noch für den Stil. Unsere Tätigkeit in dieser Hinsicht hat schon längst begonnen, schon bevor wir dada und seine Bedeutung erkannten. Auf verschiedene Weise versuchen wir das Ziel zu erreichen. Stil ist das Resultat kollektiver Arbeit. Gibt es das? Seit 7 Jahren besteht die Zeitschrift »De stijl« unter Leitung von Th. v. Doesburg. Dort kann man sich über die Arbeit und den Erfolg der Stijlkünstler überzeugen. Ich drucke hier aus dem Stijl ein Gedicht von J. K. Bonset:

LETTERKLANKBEELDEN (1921)
IV (in dissonanten)


     Nun komme ich zu meinem Thema, zu der Bedeutung des Merzgedankes in der Welt. Wenn Sie anderer Ansich sind, so ist das für Merz gleichgültig, aber MERZ, und nur Merz ist befähigt, einmal, in einer noch unabschätzbaren Zukunft die ganze Welt zu einem gewaltigen Kunstwerk umzugestalten. Sie fragen: »Wieso?« Kijk eens, MERZ rechnet mit

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allen Gegebenheiten, und das ist seine Bedeutung, sowohl praktisch als auch ideell. Merz ist bezüglich seines Materials so tolerant wie möglich:

Und ist die Arbeit noch so schlecht,
MERZ macht schon alles recht.

     Merz rechnet sogar mit Materialien und Komplexen im Kunstwerk, die es selbst nicht übersehen und beurteilen kann. Wenn wir aber je einmal die ganze Welt als Kunstwerk gestalten wollen, so müssen wir damit rechnen, daß gewaltige Komplexe in der Welt bestehen, die uns unbekannt sind, oder die wir nicht beherrschen, weil sie nicht im Bereich unserer Kraft liegen. Vom Standpunkt

MERZ

aus ist das aber gleichgültig. Es ist im Kunstwerk nur wichtig, daß sich alle Teile aufeinander beziehen, gegeneinander gewertet sind. Und werten lassen sie auch unbekannte Größen. Das große Geheimnis von Merz liegt in dem Werten von unbekannten Größen. So beherrscht Merz, was man nicht beherrschen kann. Und so ist Merz größer als Merz. Das Geheimnis liegt darin, daß man in einer Gemeinschaft von einer bekannten und einer unbekannten Größe die unbekannte mit verändert, wenn man die bekannte verändert. Weil sie Summe von bekannt und unbekannt stets gleich bleibt, stets gleich bleiben muß, und zwar absolutes Gleichgewicht. Kijk eens, wenn man Mühlen hat, kann man auch unter dem Meeresspiegel das Land trockenpumpen. (Beweis Holland.)
     Einstweilen schafft MERZ Vorstudien zur kollektiven Weltgestaltung, zum allgemeinen Stil. Diese Vorstudien sind die Merzbilder.
     Das einzig Wichtige im Gemälde ist der Ton, die Couleur. Das einzige Material dafür ist die Farbe. Alles im Bilde entsteht durch die Farbe. Hell und dunkel sind Werte der Couleur. Linien sind Grenzen von verschiedenen Couleuren. Also ist beim Bilde nichts wichtig außer dem Werten der Farbe. Alles Unwichtige stört die Konsequenz des Wichtigen. Daher muß ein konsequentes Bild abstrakt sein. Nur Wertung der Farbe. Wie das Farbmaterial entstanden ist, bleibt gleichgültig beim Bilde. Wichtig ist nur, daß durch Wertung aller Farben untereinander das für das Kunstwerk charakteristische Gleichgewicht entsteht. Jedes Mittel ist recht, wenn es zweckdienlich ist. Ob der Künstler die im Bilde verwendeten Farbtöne selbst erkennt oder nicht, ist gleichgültig, wenn nur das Gleichgewicht hergestellt wird. Was das verwendete Material vor seiner Verwendung im Kunstwerk bedeutet hat, ist gleich-

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[urheberrechtlich geschützt]
HANNAH HÖCH ZEICHNUNG


gültig, wenn es nur im Kunstwerk seine künstlerische Bedeutung durch Wertung empfangen hat.
     So habe ich zunächst Bilder aus dem Material konstruiert, das ich gerade bequem zur Hand hatte, wie Straßenbahnfahrscheine, Garderobemarken, Holzstücken, Draht, Bindfaden, verbogene Räder, Seidenpapier, Blechdosen, Glassplitter usw. Diese Gegenstände werden, wie sie sind, oder auch verändert in das bild eingefügt, je nachdem es das Bild verlangt. Sie verlieren durch Wertung gegeneiander ihren individuellen Charakter, ihr Eigengift, werden entmaterialisiert, und sind Material für das Bild. Das Bild ist ein in sich ruhendes Kunstwerk. Es bezieht sich nach außen hin. Nie kann sich ein konsequentes Kunstwerk außer sich beziehen, ohne seine Beziehung zur Kunst zu verlieren. Nur umgekehrt kann sich jemand von außen auf das Kunstwerk beziehen: der Beschauer. Material der Dichtung sind Buchstabe, Silbe, Wort,

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[11] Satz, Absatz. Worte und Sätze sind in der Dichtung weiter nichts als Teile. Ihre Beziehung untereinander ist nicht die übliche der Umgangssprache, die ja einen anderen Zweck hat: etwas auszudrücken. In der Dichtung werden die Worte aus ihrem alten Zusammenhang gerissen, entformelt und in einen neuen, künstlerischen Zusammenhang gebracht, sie werden Form-Teile der Dichtung, weiter nichts.
     Ich will hier nicht näher eingehen auf die Verwischung der Grenzen zwischen den Kunstarten, etwa Dichtung und Malerei. Ich muß darüber eine lange Abhandlung schreiben, vielleicht MERZ 2 oder 3. Kunstarten gibt es nicht, sie sind künstlich voneinander getrennt worden. Es gibt nur die Kunst. Merz aber ist das allgemeine Kunstwerk, nicht Spezialität.
     Das umfassendste Kunstwerk ist die Architektur. Sie umfaßt alle Kunstarten. MERZ will nicht bauen, MERZ will umbauen. DIE AUFGABE VON MERZ IN DER WELT IST: GEGENSÄTZE AUSGLEICHEN
UND SCHWERPUNKTE VERTEILEN.
     Die Architektur nimmt heute noch zu wenig Rücksicht auf Bewohnbarkeit, sie berücksichtigt zu wenig, daß Menschen durch ihre Anwesenheit ein Zimmer verändern. Ist der Raum gut balanciert, so stört der hineintretende Mensch das künstlerische Gleichgewicht. MERZ allein kann und muß mit nachträglich hinzukommenden Zufälligkeiten rechnen. Ich werde in einem der kommenden Merzhefte darüber mehr schreiben. Ich rege einstweilen nur an, daß man z. B. Gewichte schaffen könnte, die durch Betreten eines Raumes mechanisch aus- und eingeschaltet werden, um den Menschen ins absolute Gleichgewicht zu bringen. Aber man kommt auch ohne Mechanik aus, wenn auch nicht so vollkommen. Man muß eine intensive Beziehung schaffen zwischen Mensch und Raum. Und das erreicht man durch Einbeziehen der Fährte in die Architektur. Dieses ist eine ganz neue Idee, die die Unbewohnbarkeit der Häuser wird ausmerzen können. Ich schreibe darüber noch ausführlich. Jetzt kann ich schon verraten, daß ganz in der Stille Experimente mit weißen Mäusen gemacht werden, welche eigens dazu konstruierte Merzbilder bewohnen. Einstweilen wird die Fährte der weißen Mäuse studiert. Auf der Werft befinden sich aber Merzbilder, die mechanisch die Bewegung der weißen Mäuse ausbalancieren werden. Einige Kontakte lösen verschiedene Beleuchtung aus, mechanisch, im Verhältnis zur Bewegung der Mäuse. Das mechanische Zimmer aber ist der einzige konsequente Raum, der künstlerisch geformt und trotzdem bewohnbar ist.

KURT SCHWITTERS
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