Critik der reinen Vernunft (1781)/Des Ersten Buchs der transscendentalen Dialectik Erster Abschnitt. Von den Ideen überhaupt.

« Der Transscendentalen Dialectik Erstes Buch. Von den Begriffen der reinen Vernunft. Immanuel Kant
Critik der reinen Vernunft (1781)
Inhalt
Des Ersten Buchs der transscendentalen Dialectik Zweiter Abschnitt. Von den transscendentalen Ideen. »
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Des
Ersten Buchs der transscendentalen
Dialectik
Erster Abschnitt.
Von
den Ideen überhaupt.

Bey dem grossen Reichthum unserer Sprachen findet sich doch oft der denkende Kopf wegen des Ausdrucks verlegen, der seinem Begriffe genau anpaßt, und in dessen Ermangelung, er weder andern, noch so gar sich selbst recht verständlich werden kan. Neue Wörter zu schmieden, ist eine Anmassung zum Gesetzgeben in Sprachen, die selten gelingt, und, ehe man zu diesem verzweifelten Mittel schreitet, ist es rathsam, sich in einer todten und gelehrten Sprache umzusehen, ob sich daselbst nicht dieser Begriff samt seinem angemessenen Ausdrucke vorfinde, und wenn der alte Gebrauch desselben durch Unbehutsamkeit ihrer Urheber auch etwas schwankend geworden wäre, so ist es doch besser, die Bedeutung, die ihm vorzüglich eigen war, zu bevestigen, (sollte es auch zweifelhaft bleiben, ob man damals genau eben dieselbe im Sinne gehabt habe) als sein Geschäfte nur dadurch zu verderben, daß man sich unverständlich machte.

 Um deswillen, wenn sich etwa zu einem gewissen Begriffe, nur ein einziges Wort vorfände, das in schon eingeführter Bedeutung diesem Begriffe genau anpaßt, dessen| Unterscheidung von andern verwandten Begriffen von grosser Wichtigkeit ist, so ist es rathsam, damit nicht verschwenderisch umzugehen, oder es blos zur Abwechselung synonimisch statt anderer zu gebrauchen, sondern ihm seine eigenthümliche Bedeutung sorgfältig aufzubehalten; weil es sonst leichtlich geschieht: daß, nachdem der Ausdruck die Aufmerksamkeit nicht besonders beschäftigt, sondern sich unter dem Haufen anderer von sehr abweichender Bedeutung verliert, auch der Gedanke verloren gehe, den er allein hätte aufbehalten können.
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 Plato bediente sich des Ausdrucks Idee so: daß man wol sieht, er habe darunter etwas verstanden, was nicht allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, sondern welches so gar die Begriffe des Verstandes, mit denen sich Aristoteles beschäftigte, weit übersteigt, indem in der Erfahrung niemals etwas damit Congruirendes angetroffen wird. Die Ideen sind bey ihm Urbilder der Dinge selbst, und nicht blos Schlüssel zu möglichen Erfahrungen, wie die Categorien. Nach seiner Meinung flossen sie aus der höchsten Vernunft aus, von da sie der menschlichen zu Theil geworden, die sich aber iezt nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustande befindet, sondern mit Mühe die alte, iezt sehr verdunkelte Ideen, durch Erinnerung (die Philosophie heißt) zurückruffen muß. Ich will mich hier in keine litterarische Untersuchung einlassen, um den Sinn auszumachen, den der erhabene Philosoph mit seinem Ausdrucke| verband. Ich merke nur an: daß es gar nichts ungewöhnliches sey, so wol im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äussert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte.

 Plato bemerkte sehr wol, daß unsere Erkentnißkraft ein weit höheres Bedürfniß fühle, als blos Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabiren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkentnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kan, iemals mit ihnen congruiren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keinesweges blosse Hirngespinste seyn.

 Plato fand seine Ideen vorzüglich in allem was praktisch ist,[1] d. i. auf Freiheit beruht, welche ihrer Seits| unter Erkentnissen steht, die ein eigenthümliches Product der Vernunft sind. Wer die Begriffe der Tugend aus Erfahrung schöpfen wollte, wer das, was nur allenfalls als Beyspiel zur unvollkommenen Erläuterung dienen kan, als Muster zum Erkentnißquell machen wollte (wie es wirklich viele gethan haben,) der würde aus der Tugend ein nach Zeit und Umständen wandelbares, zu keiner Regel brauchbares zweideutiges Unding machen. Dagegen wird ein ieder inne: daß, wenn ihm iemand als Muster der Tugend vorgestellt wird, er doch immer das wahre Original blos in seinem eigenen Kopfe habe, womit er dieses angebliche Muster vergleicht, und es blos darnach schäzt. Dieses ist aber die Idee der Tugend, in Ansehung deren alle mögliche Gegenstände der Erfahrung zwar als Beyspiele (Beweise der Thunlichkeit desienigen im gewissen Grade, was der Begriff der Vernunft heischt), aber nicht als Urbilder Dienste thun. Daß niemals ein Mensch demienigen adäquat handeln werde, was die reine Idee der Tugend enthält, beweiset gar nicht etwas Chimärisches in diesem Gedanken. Denn es ist gleichwol alles Urtheil, über den moralischen Werth oder Unwerth, nur vermittelst dieser Idee möglich; mithin liegt sie ieder Annäherung zur moralischen Vollkommenheit nothwendig zum Grunde, so weit auch die, ihrem Grade nach nicht zu bestimmende Hindernisse in der menschlichen Natur uns davon entfernt halten mögen.
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|  Die platonische Republik ist, als ein vermeintlich auffallendes Beyspiel von erträumter Vollkommenheit, die nur im Gehirn des müßigen Denkers ihren Sitz haben kan, zum Sprichwort geworden, und Brucker findet es lächerlich: daß der Philosoph behauptete, niemals würde ein Fürst wol regieren, wenn er nicht der Ideen theilhaftig wäre. Allein man würde besser thun, diesem Gedanken mehr nachzugehen und ihn, (wo der vortrefliche Mann uns ohne Hülfe läßt) durch neue Bemühungen in Licht zu stellen, als ihn, unter dem sehr elenden und schädlichen Vorwande der Unthunlichkeit, als unnütz bey Seite zu stellen. Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen: daß iedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kan, (nicht von der grössesten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen) ist doch wenigstens eine nothwendige Idee, die man nicht blos im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bey allen Gesetzen zum Grunde legen muß, und wobey man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahiren muß, die vielleicht nicht sowol aus der menschlichen Natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung der ächten Ideen bey der Gesetzgebung. Denn nichts kan schädlicheres und eines Philosophen unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existiren würde, wenn iene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen| getroffen würden, und an deren statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten. Je übereinstimmender die Gesetzgebung und Regierung mit dieser Idee eingerichtet wären, desto seltener würden allerdings die Strafen werden, und da ist es denn ganz vernünftig, (wie Plato behauptet) daß bey einer vollkommenen Anordnung derselben, gar keine dergleichen nöthig seyn würden. Ob nun gleich das leztere niemals zu Stande kommen mag, so ist die Idee doch ganz richtig, welche dieses Maximum zum Urbilde aufstellt, um nach demselben die gesetzliche Verfassung der Menschen der möglich größten Vollkommenheit immer näher zu bringen. Denn welches der höchste Grad seyn mag, bey welchem die Menschheit stehen bleiben müsse, und wie groß also die Kluft, die zwischen der Idee und ihrer Ausführung nothwendig übrig bleibt, seyn möge, das kan und soll niemand bestimmen, eben darum, weil es Freiheit ist, welche iede angegebene Gränze übersteigen kan.
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 Aber nicht blos in demienigen, wobey die menschliche Vernunft wahrhafte Caussalität zeigt und wo Ideen wirkende Ursachen (der Handlungen und ihrer Gegenstände) werden, nemlich in Sittlichen, sondern auch in Ansehung der Natur selbst, sieht Plato mit Recht deutliche Beweise ihres Ursprungs aus Ideen. Ein Gewächs, ein Thier, die regelmäßige Anordnung des Weltbaues (vermuthlich also auch die ganze Naturordnung) zeigen deutlich,| daß sie nur nach Ideen möglich seyn, daß zwar kein einzelnes Geschöpf, unter den einzelnen Bedingungen seines Daseyns, mit der Idee des Vollkommensten seiner Art congruire, (so wenig wie der Mensch mit der Idee der Menschheit, die er so gar selbst als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt,) daß gleichwol iene Ideen im höchsten Verstande einzeln, unveränderlich, durchgängig bestimt und die ursprüngliche Ursachen der Dinge sind, und nur das Ganze ihrer Verbindung im Weltall einzig und allein iener Idee völlig adäquat sey. Wenn man das Uebertriebene des Ausdrucks absondert, so ist der Geistesschwung des Philosophen, von der copeylichen Betrachtung des Physischen der Weltordnung zu der architectonischen Verknüpfung derselben nach Zwecken, d. i. nach Ideen, hinaufzusteigen, eine Bemühung, die Achtung und Nachfolge verdient, in Ansehung desienigen aber, was die Principien der Sittlichkeit, der Gesetzgebung und der Religion betrift, wo die Ideen die Erfahrung selbst (des Guten) allererst möglich machen, obzwar niemals darin völlig ausgedrüet werden können, ein ganz eigenthümliches Verdienst, welches man nur darum nicht erkent, weil man es durch eben die empirische Regeln beurtheilt, deren Gültigkeit, als Principien, eben durch sie hat aufgehoben werden sollen. Denn in Betracht der Natur giebt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der Quell der Wahrheit; in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist| höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich thun soll, von demienigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was gethan wird.
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 Statt aller dieser Betrachtungen, deren gehörige Ausführung in der That die eigenthümliche Würde der Philosophie ausmacht, beschäftigen wir uns iezt mit einer nicht so glänzenden, aber doch auch nicht verdienstlosen Arbeit, nemlich: den Boden zu ienen maiestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen, in welchem sich allerley Maulwurfsgänge einer vergeblich, aber mit guter Zuversicht auf Schätze grabenden Vernunft, vorfinden und die ienes Bauwerk unsicher machen. Der transscendentale Gebrauch der reinen Vernunft, ihre Principien und Ideen sind es also, welche genau zu kennen uns iezt obliegt, um den Einfluß der reinen Vernunft und den Werth derselben gehörig bestimmen und schätzen zu können. Doch ehe ich diese vorläufige Einleitung bey Seite lege, ersuche ich dieienige, denen Philosophie am Hertzen liegt, (welches mehr gesagt ist als man gemeiniglich antrift) wenn sie sich durch dieses und das Nachfolgende, überzeugt finden sollten, den Ausdruck Idee seiner ursprünglichen Bedeutung nach in Schutz zu nehmen, damit er nicht fernerhin unter die übrige Ausdrücke, womit gewöhnlich allerley Vorstellungsarten in sorgloser Unordnung bezeichnet werden, gerathe und die Wissenschaft dabey einbüsse. Fehlt es uns doch nicht an Benennungen, die ieder Vorstellungsart gehörig angemessen sind, ohne daß wir nöthig haben, in das Eigenthum| einer anderen einzugreiffen. Hier ist eine Stufenleiter derselben. Die Gattung ist Vorstellung überhaupt, (repraesentatio). Unter ihr steht die Vorstellung mit Bewustseyn (perceptio). Eine Perception, die sich lediglich auf das Subiect, als die Modification seines Zustandes bezieht, ist Empfindung, (sensatio) eine obiective Perception ist Erkentniß (cognitio). Diese ist entweder Anschauung oder Begriff (intuitus vel conceptus). Jene bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln, dieser mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein seyn kan. Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit) heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff. Dem, der sich einmal an diese Unterscheidung gewöhnt hat, muß es unerträglich fallen, die Vorstellung der rothen Farbe Idee nennen zu hören. Sie ist nicht einmal Notion (Verstandesbegriff) zu nennen.



  1. Er dehnte seinen Begriff freilich auch auf speculative Erkentnisse aus, wenn sie nur rein und völlig a priori gegeben waren, so gar über die Mathematik, ob diese gleich ihren Gegenstand nirgend anders, als in der möglichen Erfahrung hat. Hierin kan ich ihm nun nicht folgen, so wenig als in der mystischen Deduction dieser Ideen, oder den Uebertreibungen, dadurch er sie gleichsam hypostasirte; wiewol die hohe Sprache, deren er sich in diesem Felde bediente, einer milderen und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wol fähig ist.


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