Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Transscendentalen Dialectik zweites Buch. Zweites Hauptstück. Die Antinomie der reinen Vernunft.

« Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre zu Folge diesen Paralogismen. Immanuel Kant
Critik der reinen Vernunft (1781)
Inhalt
Der Antinomie der reinen Vernunft Erster Abschnitt. System der cosmologischen Ideen. »
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Der
Transscendentalen Dialectik
Zweites Buch.
Zweites Hauptstück.
Die Antinomie der reinen Vernunft.
Wir haben in der Einleitung zu diesem Theile unseres Werks gezeigt: daß aller transscendentale Schein der reinen Vernunft auf dialectischen Schlüssen beruhe, deren Schema die Logik in den drey formalen Arten der Vernunftschlüsse| überhaupt an die Hand giebt, so wie etwa die Categorien ihr logisches Schema in den vier Functionen aller Urtheile antreffen. Die erste Art dieser vernünftelnden Schlüsse gieng auf die unbedingte Einheit der subiectiven Bedingungen aller Vorstellungen überhaupt (des Subiects oder der Seele), in Correspondenz mit den categorischen Vernunftschlüssen, deren Obersatz, als Princip, die Beziehung eines Prädicats auf ein Subiect aussagt. Die zweite Art des dialectischen Arguments wird also, nach der Analogie mit hypothetischen Vernunftschlüssen, die unbedingte Einheit der obiectiven Bedingungen in der Erscheinung zu ihrem Inhalte machen, so wie die dritte Art, die im folgenden Hauptstücke vorkommen wird, die unbedingte Einheit der obiectiven Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände überhaupt zum Thema hat.

 Es ist aber merkwürdig: daß der transscendentale Paralogism einen blos einseitigen Schein, in Ansehung der Idee von dem Subiecte unseres Denkens, bewirkte, und zur Behauptung des Gegentheils sich nicht der mindeste Schein aus Vernunftbegriffen vorfinden will. Der Vortheil ist gänzlich auf der Seite des Pnevmatismus, obgleich dieser den Erbfehler nicht verläugnen kan, bey allem ihm günstigen Schein in der Feuerprobe der Critik sich in lauter Dunst aufzulösen.

 Ganz anders fällt es aus, wenn wir die Vernunft auf die obiective Synthesis der Erscheinungen anwenden,| wo sie ihr Principium der unbedingten Einheit zwar mit vielem Scheine geltend zu machen denkt, sich aber bald in solche Widersprüche verwickelt, daß sie genöthigt wird, in cosmologischer Absicht, von ihrer Foderung abzustehen.

 Hier zeigt sich nemlich ein neues Phänomen der menschlichen Vernunft, nemlich: eine ganz natürliche Antithetik, auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen zu legen braucht, sondern in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich geräth, und dadurch zwar vor den Schlummer einer eingebildeten Ueberzeugung, den ein blos einseitiger Schein hervorbringt, verwahrt, aber zugleich in Versuchung gebracht wird, sich entweder einer sceptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen, oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen und den Kopf steif auf gewisse Behauptungen zu setzen, ohne den Gründen des Gegentheils Gehör und Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Beides ist der Tod einer gesunden Philosophie, wiewol iener allenfals noch die Euthanasie der reinen Vernunft genant werden könte.

 Ehe wir die Auftritte des Zwiespalts und der Zerrüttungen sehen lassen, welche dieser Widerstreit der Gesetze (Antinomie) der reinen Vernunft veranlaßt, wollen wir gewisse Erörterungen geben, welche die Methode erläutern und rechtfertigen können, deren wir uns in Behandlung unseres Gegenstandes bedienen. Ich nenne alle transscendentale Ideen, so fern sie die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen betreffen, Weltbegriffe,| theils wegen eben dieser unbedingten Totalität, worauf auch der Begriff des Weltganzen beruht, der selbst nur eine Idee ist, theils weil sie lediglich auf die Synthesis der Erscheinungen, mithin die empirische gehen, dahingegen die absolute Totalität, in der Synthesis der Bedingungen aller möglichen Dinge überhaupt, ein Ideal der reinen Vernunft veranlassen wird, welches von dem Weltbegriffe gänzlich unterschieden ist, ob es gleich darauf in Beziehung steht. Daher, so wie die Paralogismen der reinen Vernunft den Grund zu einer dialectischen Psychologie legten, so wird die Antinomie der reinen Vernunft die transscendentalen[WS 1] Grundsätze einer vermeinten reinen (rationalen) Cosmologie vor Augen stellen, nicht, um sie gültig zu finden und sich zuzueignen, sondern, wie es auch schon die Benennung von einem Widerstreit der Vernunft anzeigt, um sie als eine Idee, die sich mit Erscheinungen nicht vereinbaren läßt, in ihrem blendenden aber falschen Scheine darzustellen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: transscendentale


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