Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Transscendentalen Analytik Zweytes Buch. Die Analytik der Grundsätze.


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Der
Transscendentalen Analytik
Zweytes Buch.
Die
Analytik der Grundsätze.
Die allgemeine Logik ist über einem Grundrisse erbauet, der ganz genau mit der Eintheilung der oberen Erkentnißvermögen zusammen trift. Diese sind: Verstand, Urtheilskraft und Vernunft. Jene Doctrin handelt daher in ihrer Analytik von Begriffen, Urtheilen[WS 1] und Schlüssen gerade den Functionen und der Ordnung| iener Gemüthskräfte gemäß, die man unter der weitläuftigen Benennung des Verstandes überhaupt begreift.

 Da gedachte blos formale Logik von allem Inhalte der Erkentniß (ob sie rein oder empirisch sey) abstrahirt und sich blos mit der Form des Denkens (der discursiven Erkentniß) überhaupt beschäftigt: so kan sie in ihrem analytischen Theile auch den Canon vor die Vernunft mit befassen, deren Form ihre sichere Vorschrift hat, die, ohne die besondere Natur der dabey gebrauchten Erkentniß in Betracht zu ziehen, a priori, durch blosse Zergliederung der Vernunfthandlungen in ihre Momente eingesehen werden kan.

 Die transscendentale Logik, da sie auf einen bestimten Inhalt, nemlich blos der reinen Erkentnisse a priori, eingeschränkt ist, kan es ihr in dieser Eintheilung nicht nachthun. Denn es zeigt sich: daß der transscendentale Gebrauch der Vernunft gar nicht obiectiv gültig sey, mithin nicht zur Logik der Wahrheit, d. i. der Analytik gehöre, sondern, als eine Logik des Scheins, einen besondern Theil des scholastischen Lehrgebäudes, unter dem Namen der transscendentalen Dialectik, erfodere.

 Verstand und Urtheilskraft haben demnach ihren Canon des obiectiv gültigen, mithin wahren Gebrauchs, in der transscendentalen Logik, und gehören also in ihren analytischen Theil. Allein Vernunft in ihren Versuchen, über Gegenstände a priori etwas auszumachen, und das Erkentniß über die Grenzen möglicher Erfahrung zu erweitern,| ist ganz und gar dialectisch und ihre Scheinbehauptungen schicken sich durchaus nicht in einen Canon, dergleichen doch die Analytik enthalten soll.

 Die Analytik der Grundsätze wird demnach lediglich ein Canon vor die Urtheilskraft seyn, der sie lehrt, die Verstandesbegriffe, welche die Bedingung zu Regeln a priori enthalten, auf Erscheinungen anzuwenden. Aus dieser Ursache werde ich, indem ich die eigentlichen Grundsätze des Verstandes zum Thema nehme, mich der Benennung einer Doctrin der Urtheilskraft bedienen, wodurch dieses Geschäfte genauer bezeichnet wird.


Einleitung.
Von der
Transscendentalen Urtheilskraft
überhaupt.
Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urtheilskraft das Vermögen unter Regeln zu subsumiren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht. Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften vor die Urtheilskraft, und kan sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte der Erkentniß abstrahirt; so bleibt ihr nichts übrig, als das Geschafte, die blosse Form der Erkentniß in Begriffen, Urtheilen| und Schlüssen analytisch aus einander zu setzen, und dadurch formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zu Stande zu bringen. Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumiren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urtheilskraft, und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urtheilskraft aber ein besonderes Talent sey, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt seyn will. Daher ist diese auch das Specifische des so genanten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kan, weil, ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und gleichsam einpfropfen kan; so muß doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist, in Ermangelung einer solchen Naturgabe, vor Mißbrauch sicher.[1] Ein Arzt daher, ein| Richter, oder ein Staatskundiger kan viel schöne pathologische, iuristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kan, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstossen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urtheilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kan, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beyspiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urtheile abgerichtet worden. Dieses ist auch der einige und grosse Nutzen der Beyspiele: daß sie die Urtheilskraft schärfen. Denn was die Richtigkeit und Präcision der Verstandeseinsicht betrift, so thun sie derselben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil sie nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen, (als casus in terminis) und überdem dieienige Anstrengung des Verstandes oftmals schwächen, Regeln im Allgemeinen, und unabhängig von den besonderen Umständen der Erfahrung, nach ihrer Zulänglichkeit, einzusehen, und sie daher zulezt mehr wie Formeln, als Grundsätze zu gebrauchen angewöhnen. So sind Beyspiele der Gängelwagen der Urtheilskraft, welchen derienige, dem es am natürlichen Talent desselben mangelt, niemals entbehren kan.
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|  Ob nun aber gleich die allgemeine Logik der Urtheilskraft keine Vorschriften geben kan, so ist es doch mit der transscendentalen ganz anders bewandt, so gar daß es scheint, die leztere habe es zu ihrem eigentlichen Geschäfte, die Urtheilskraft im Gebrauch des reinen Verstandes, durch bestimte Regeln zu berichtigen und zu sichern. Denn, um dem Verstande im Felde reiner Erkentnisse a priori Erweiterung zu verschaffen, mithin als Doctrin scheint Philosophie gar nicht nöthig, oder vielmehr übel angebracht zu seyn, weil man nach allen bisherigen Versuchen, damit doch wenig oder gar kein Land gewonnen hat, sondern als Critik, um die Fehltritte der Urtheilskraft (lapsus iudicii) im Gebrauch der wenigen reinen Verstandesbegriffe, die wir haben, zu verhüten, dazu (obgleich der Nutzen alsdenn nur negativ ist) wird Philosophie mit ihrer ganzen Scharfsinnigkeit und Prüfungskunst aufgeboten.  Es hat aber die Transscendental-Philosophie das Eigenthümliche: daß sie ausser der Regel (oder vielmehr der allgemeinen Bedingung zu Regeln), die in dem reinen Begriffe des Verstandes gegeben wird, zugleich a priori den Fall anzeigen kan, worauf sie angewandt werden sollen. Die Ursache von dem Vorzuge, den sie in diesem Stücke vor allen andern belehrenden Wissenschaften hat, (ausser der Mathematik) liegt eben darin: daß sie von Begriffen handelt, die sich auf ihre Gegenstände a priori beziehen sollen, mithin kan ihre obiective Gültigkeit nicht a posteriori| dargethan werden; denn das würde iene Dignität derselben ganz unberührt lassen, sondern sie muß zugleich die Bedingungen, unter welchen Gegenstände in Uebereinstimmung mit ienen Begriffen gegeben werden können, in allgemeinen aber hinreichenden Kennzeichen darlegen, widrigenfals sie ohne allen Inhalt, mithin blosse logische Formen und nicht reine Verstandesbegriffe seyn würden.

 Diese transscendentale Doctrin der Urtheilskraft wird nun zwey Hauptstücke enthalten: das erste, welches von der sinnlichen Bedingung handelt, unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d. i. von dem Schematismus des reinen Verstandes; das zweyte aber von denen synthetischen Urtheilen, welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Bedingungen a priori herfliessen, und allen übrigen Erkentnissen a priori zum Grunde liegen, d. i. von den Grundsätzen des reinen Verstandes.



  1. Der Mangel an Urtheilskraft ist eigentlich das, was man Dumheit nent, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts, als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wol, so gar bis zur Gelehrsamkeit, auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdenn auch an ienem [134] (der secunda Petri) zu fehlen pflegt, so ist es nichts ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die, im Gebrauche ihrer Wissenschaft, ienen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Urtheien
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