Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Fünfter Abschnitt. Sceptische Vorstellung der cosmologischen Fragen durch alle vier transscendentale Ideen.


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Der
Antinomie der reinen Vernunft
Fünfter Abschnitt.
Sceptische Vorstellung der cosmologischen
Fragen durch alle vier transscendentale
Ideen.
Wir würden von der Forderung gern abstehen, unsere Fragen dogmatisch beantwortet zu sehen, wenn wir schon zum voraus begriffen: die Antwort möchte ausfallen, wie sie wolte, so würde sie unsere Unwissenheit nur noch vermehren und uns aus einer Unbegreiflichkeit in eine andere, aus einer Dunkelheit in eine noch grössere und vielleicht gar in Widersprüche stürzen. Wenn unsere Frage blos auf Beiahung oder Verneinung gestellt ist, so ist es klüglich gehandelt, die vermuthliche Gründe der Beantwortung vor der Hand dahin gestellt seyn zu lassen und zuvörderst in Erwägung zu ziehen, was man denn gewinnen würde, wenn die Antwort auf die eine und was, wenn sie auf der Gegenseite ausfiele. Trift es sich nun: daß in beiden Fällen lauter Sinnleeres (Nonsens) herauskömt, so haben wir eine gegründete Auffoderung unsere Frage selbst critisch zu untersuchen, und zu sehen: ob sie nicht selbst auf einer grundlosen Voraussetzung beruhe und mit einer Idee spiele, die ihre Falschheit, besser in der Anwendung und durch ihre Folgen, als in der abgesonderten Vorstellung verräth. Das ist der grosse Nutzen,| den die sceptische Art hat, die Fragen zu behandeln, welche reine Vernunft an reine Vernunft thut, und wodurch man eines grossen dogmatischen Wustes mit wenig Aufwand überhoben seyn kan, um an dessen Statt eine nüchterne Critik zu setzen, die, als ein wahres Catarcticon, den Wahn zusamt seinem Gefolge, der Vielwisserey, glücklich abführen wird.

 Wenn ich demnach von einer cosmologischen Idee zum voraus einsehen könte, daß, auf welche Seite des Unbedingten der regressiven Synthesis der Erscheinungen sie sich auch schlüge, so würde sie doch vor einen ieden Verstandesbegriff entweder zu groß oder zu klein seyn, so würde ich begreifen: daß, da iene doch es nur mit einem Gegenstande der Erfahrung zu thun hat, welcher einem möglichen Verstandesbegriffe angemessen seyn soll, sie ganz leer und ohne Bedeutung seyn müsse, weil ihr der Gegenstand nicht anpaßt, ich mag ihn derselben bequemen, wie ich will. Und dieses ist wirklich der Fall mit allen Weltbegriffen, welche auch eben um deswillen, die Vernunft, so lange sie ihnen anhängt, in eine unvermeidliche Antinomie verwickeln. Denn nehmt

 Erstlich an: die Welt habe keinen Anfang, so ist sie vor euren Begriff zu groß; denn dieser, welcher in einem successiven Regressus besteht, kan die ganze verflossene Ewigkeit niemals erreichen. Setzet: sie habe einen Anfang, so ist sie wiederum vor euren Verstandesbegriff, in dem nothwendigen empirischen Regressus zu| klein. Denn, weil der Anfang noch immer eine Zeit, die vorhergeht, voraussezt, so ist er noch nicht unbedingt, und das Gesetz des empirischen Gebrauchs des Verstandes legt es euch auf, noch nach einer höheren Zeitbedingung zu fragen, und die Welt ist also offenbar vor dieses Gesetz zu klein.

 Eben so ist es mit der doppelten Beantwortung der Frage, wegen der Weltgrösse, dem Raum nach, bewandt. Denn ist sie unendlich und unbegränzt, so ist sie vor allen möglichen empirischen Begriff zu groß. Ist sie endlich und begränzt, so fragt ihr mit Recht noch, was bestimt diese Gränze? Der leere Raum ist nicht ein vor sich bestehendes Correlatum der Dinge und kan keine Bedingung seyn, bey der ihr stehen bleiben könnet, noch viel weniger eine empirische Bedingung, die einen Theil einer möglichen Erfahrung ausmachte (denn wer kan eine Erfahrung vom Schlechthinleeren haben). Zur absoluten Totalität aber der empirischen Synthesis wird iederzeit erfodert, daß das Unbedingte ein Erfahrungsbegriff sey. Also ist eine begränzte Welt vor euren Begriff zu klein.

 Zweitens, besteht iede Erscheinung im Raume (Materie) aus unendlich viel Theilen, so ist der Regressus der Theilung vor euren Begriff iederzeit zu groß, und soll die Theilung des Raumes irgend bey einem Gliede derselben (dem Einfachen) aufhören, so ist er vor die Idee des Unbedingten zu klein. Denn dieses Glied läßt noch immer| einen Regressus zu mehreren in ihm enthaltenen Theilen übrig.

 Drittens, nehmet ihr an: in allem, was in der Welt geschieht, sey nichts, als Erfolg nach Gesetzen der Natur, so ist die Caussalität der Ursache immer wiederum etwas, das geschieht, und euren Regressus zu noch höherer Ursache, mithin die Verlängerung der Reihe von Bedingungen a parte priori ohne Aufhören nothwendig macht. Die blosse wirkende Natur ist also vor allen euren Begriff, in der Synthesis der Weltbegebenheiten, zu groß.

 Wählt ihr, hin und wieder, von selbst gewirkte Begebenheiten, mithin Erzeugung aus Freiheit: so verfolgt euch das Warum nach einem unvermeidlichen Naturgesetze, und nöthigt euch, über diesen Punct nach dem Caussalgesetze der Erfahrung hinaus zu gehen, und ihr findet, daß dergleichen Totalität der Verknüpfung vor euren nothwendigen empirischen Begriff zu klein ist.

 Viertens. Wenn ihr ein schlechthin nothwendiges Wesen (es sey die Welt selbst oder Etwas in der Welt oder die Weltursache) annehmt: so sezt ihr es in eine, von iedem gegebenen Zeitpunct unendlich entfernte Zeit; weil es sonst von einem anderen und älteren Daseyn abhängend seyn würde. Alsdann ist aber diese Existenz vor euren empirischen Begriff unzugänglich und zu groß, als daß ihr iemals durch irgend einen fortgesetzten Regressus dazu gelangen köntet.

|  Ist aber, eurer Meinung nach, alles, was zur Welt (es sey als Bedingt oder als Bedingung) gehöret, zufällig: so ist iede euch gegebene Existenz vor euren Begriff zu klein. Denn sie nöthigt euch, euch noch immer nach einer andern Existenz umzusehen, von der sie abhängig ist.
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 Wir haben in allen diesen Fällen gesagt: daß die Weltidee vor den empirischen Regressus, mithin ieden möglichen Verstandesbegriff entweder zu groß, oder auch vor denselben zu klein sey. Warum haben wir uns nicht umgekehrt ausgedrückt und gesagt: daß, im ersteren Falle, der empirische Begriff vor die Idee iederzeit zu klein, im zweiten aber zu groß sey und mithin gleichsam die Schuld auf dem empirischen Regressus hafte, an statt, daß wir die cosmologische Idee anklageten, daß sie im Zuviel oder Zuwenig von ihrem Zwecke, nemlich der möglichen Erfahrung, abwich? Der Grund war dieser. Mögliche Erfahrung ist das, was unseren Begriffen allein Realität geben kan; ohne das ist aller Begriff nur Idee, ohne Wahrheit und Beziehung auf einen Gegenstand. Daher war der mögliche empirische Begriff das Richtmaas, wornach die Idee beurtheilt werden mußte, ob sie blosse Idee und Gedankending sey, oder in der Welt ihren Gegenstand antreffe. Denn man sagt nur von demienigen, daß es verhältnißweise auf etwas anderes zu groß oder zu klein sey, was nur um dieses lezteren willen angenommen wird, und darnach eingerichtet seyn muß. Zu dem Spielwerke der alten| dialectischen Schulen gehörete auch diese Frage: wenn eine Kugel nicht durch ein Loch geht, was soll man sagen: Ist die Kugel zu groß, oder das Loch zu klein? In diesem Falle ist es gleichgültig, wie ihr euch ausdrücken wollt; denn ihr wißt nicht, welches von beiden um des anderen willen da ist. Dagegen werdet ihr nicht sagen: der Mann ist vor sein Kleid zu lang, sondern das Kleid ist vor den Mann zu kurz.

 Wir sind also wenigstens auf den gegründeten Verdacht gebracht: daß die cosmologischen Ideen, und, mit ihnen alle unter einander in Streit gesezte vernünftelnde Behauptungen, vielleicht einen leeren und blos eingebildeten Begriff, von der Art, wie uns der Gegenstand dieser Ideen gegeben wird, zum Grunde liegen haben, und dieser Verdacht kan uns schon auf die rechte Spur führen, das Blendwerk zu entdecken, was uns so lange irre geführt hat.



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