Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Fünfter Abschnitt. Sceptische Vorstellung der cosmologischen Fragen durch alle vier transscendentale Ideen.
« Der Antinomie der reinen Vernunft Vierter Abschnitt. Von den transscendentalen Aufgaben der reinen Vernunft, in so fern sie schlechterdings müssen aufgelöset werden können. | Immanuel Kant Critik der reinen Vernunft (1781) Inhalt |
Der Antinomie der reinen Vernunft Sechster Abschnitt. Der transscendentale Idealism als der Schlüssel zu Auflösung der cosmologischen Dialectik. » | |||
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Wenn ich demnach von einer cosmologischen Idee zum voraus einsehen könte, daß, auf welche Seite des Unbedingten der regressiven Synthesis der Erscheinungen sie sich auch schlüge, so würde sie doch vor einen ieden Verstandesbegriff entweder zu groß oder zu klein seyn, so würde ich begreifen: daß, da iene doch es nur mit einem Gegenstande der Erfahrung zu thun hat, welcher einem möglichen Verstandesbegriffe angemessen seyn soll, sie ganz leer und ohne Bedeutung seyn müsse, weil ihr der Gegenstand nicht anpaßt, ich mag ihn derselben bequemen, wie ich will. Und dieses ist wirklich der Fall mit allen Weltbegriffen, welche auch eben um deswillen, die Vernunft, so lange sie ihnen anhängt, in eine unvermeidliche Antinomie verwickeln. Denn nehmt
Erstlich an: die Welt habe keinen Anfang, so ist sie vor euren Begriff zu groß; denn dieser, welcher in einem successiven Regressus besteht, kan die ganze verflossene Ewigkeit niemals erreichen. Setzet: sie habe einen Anfang, so ist sie wiederum vor euren Verstandesbegriff, in dem nothwendigen empirischen Regressus zu| klein. Denn, weil der Anfang noch immer eine Zeit, die vorhergeht, voraussezt, so ist er noch nicht unbedingt, und das Gesetz des empirischen Gebrauchs des Verstandes legt es euch auf, noch nach einer höheren Zeitbedingung zu fragen, und die Welt ist also offenbar vor dieses Gesetz zu klein.Eben so ist es mit der doppelten Beantwortung der Frage, wegen der Weltgrösse, dem Raum nach, bewandt. Denn ist sie unendlich und unbegränzt, so ist sie vor allen möglichen empirischen Begriff zu groß. Ist sie endlich und begränzt, so fragt ihr mit Recht noch, was bestimt diese Gränze? Der leere Raum ist nicht ein vor sich bestehendes Correlatum der Dinge und kan keine Bedingung seyn, bey der ihr stehen bleiben könnet, noch viel weniger eine empirische Bedingung, die einen Theil einer möglichen Erfahrung ausmachte (denn wer kan eine Erfahrung vom Schlechthinleeren haben). Zur absoluten Totalität aber der empirischen Synthesis wird iederzeit erfodert, daß das Unbedingte ein Erfahrungsbegriff sey. Also ist eine begränzte Welt vor euren Begriff zu klein.
Zweitens, besteht iede Erscheinung im Raume (Materie) aus unendlich viel Theilen, so ist der Regressus der Theilung vor euren Begriff iederzeit zu groß, und soll die Theilung des Raumes irgend bey einem Gliede derselben (dem Einfachen) aufhören, so ist er vor die Idee des Unbedingten zu klein. Denn dieses Glied läßt noch immer| einen Regressus zu mehreren in ihm enthaltenen Theilen übrig.Drittens, nehmet ihr an: in allem, was in der Welt geschieht, sey nichts, als Erfolg nach Gesetzen der Natur, so ist die Caussalität der Ursache immer wiederum etwas, das geschieht, und euren Regressus zu noch höherer Ursache, mithin die Verlängerung der Reihe von Bedingungen a parte priori ohne Aufhören nothwendig macht. Die blosse wirkende Natur ist also vor allen euren Begriff, in der Synthesis der Weltbegebenheiten, zu groß.
Wählt ihr, hin und wieder, von selbst gewirkte Begebenheiten, mithin Erzeugung aus Freiheit: so verfolgt euch das Warum nach einem unvermeidlichen Naturgesetze, und nöthigt euch, über diesen Punct nach dem Caussalgesetze der Erfahrung hinaus zu gehen, und ihr findet, daß dergleichen Totalität der Verknüpfung vor euren nothwendigen empirischen Begriff zu klein ist.
Viertens. Wenn ihr ein schlechthin nothwendiges Wesen (es sey die Welt selbst oder Etwas in der Welt oder die Weltursache) annehmt: so sezt ihr es in eine, von iedem gegebenen Zeitpunct unendlich entfernte Zeit; weil es sonst von einem anderen und älteren Daseyn abhängend seyn würde. Alsdann ist aber diese Existenz vor euren empirischen Begriff unzugänglich und zu groß, als daß ihr iemals durch irgend einen fortgesetzten Regressus dazu gelangen köntet.
| Ist aber, eurer Meinung nach, alles, was zur Welt (es sey als Bedingt oder als Bedingung) gehöret, zufällig: so ist iede euch gegebene Existenz vor euren Begriff zu klein. Denn sie nöthigt euch, euch noch immer nach einer andern Existenz umzusehen, von der sie abhängig ist.Wir sind also wenigstens auf den gegründeten Verdacht gebracht: daß die cosmologischen Ideen, und, mit ihnen alle unter einander in Streit gesezte vernünftelnde Behauptungen, vielleicht einen leeren und blos eingebildeten Begriff, von der Art, wie uns der Gegenstand dieser Ideen gegeben wird, zum Grunde liegen haben, und dieser Verdacht kan uns schon auf die rechte Spur führen, das Blendwerk zu entdecken, was uns so lange irre geführt hat.
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