Christenschulen in China
[128] Christenschulen in China. (Zu dem Bilde S. 129.) Mit dem Schulwesen ist es in dem großen „Reiche der Mitte“ heute noch gar übel bestellt. Staatsschulen giebt es nur wenige, der Staat kümmert sich auch kaum um die Erziehung der Kinder, und der ganze Unterricht liegt in den Händen von Privatlehrern, welche von den verschiedenen Gemeinden, von Zünften, Familiengruppen oder einzelnen Familien für kärglichen Lohn, zwei- bis fünfhundert Mark im Jahre, angeworben werden. In dieser Beschränkung freilich besitzen in China auch kleine Dörfer ihre Schulen, und es ist sehr anerkennenswert, daß es sogar die ärmsten Familien für ihre Pflicht erachten, ihre Söhne notdürftig lesen und schreiben und die Grundlehren des Konfucius lernen zu lassen. Solche Schulen hat es in China schon vor Jahrtausenden gegeben, als in den weiten Urwäldern unseres hochcivilisierten Mittel-Europa noch wilde Völkerstämme umherschweiften und es noch gar keine Staatswesen gab. Aber die chinesischen Schulen sind auf dem damaligen Standpunkte zurück geblieben und wie vor Christi Geburt, so besteht die Schulerziehung der chinesischen Jugend heute noch im Auswendiglernen der ihnen großenteils unverständlichen Lehren der alten Klassiker ihres Volkes.
Für sie giebt es keine Kindergärten, Abc-Hefte, Bilderbücher, in welchen sie durch Anschauung die Bedeutung der einzelnen Wörter kennenlernen; es giebt auch keine Sonntage, Schulferien, Prüfungen und Prämien; man versucht nicht, den Kindern den Schulbesuch leicht und angenehm zu machen, mit Gesang, Turnübungen und Spielen abzuwechseln und ihnen, ihrer Jugend entsprechend, die erforderlichen Kenntnisse „spielend“ beizubringen. Die bezopften und bebrillten Herren Schullehrer beginnen etwa in derselben Weise, als wollten wir unseren Hänschen und Gretchen, die zum erstenmal in ihrem Leben in die Schule geführt werden, gleich einen Klassiker in griechischer Sprache in die Hand geben und ihnen die Aussprache jedes einzelnen Wortes, Satz für Satz, Seite für Seite, das ganze dicke Buch von Anfang bis zu Ende beibringen, ohne ihnen aber die Bedeutung der Buchstaben oder der Wörter zu erklären. Erst wenn sie das ganze Buch auswendig gelernt haben, folgt die Erklärung des tiefen, dem kindlichen Gemüte unverständlichen Sinnes. Die Sprache der aus früheren Jahrtausenden unverändert bis auf den heutigen Tag erhaltenen Lehrbücher ist ja eine ganz andere als jene, welche die chinesischen Hänschen und Gretchen in ihrem Vaterhause zu hören bekommen; dazu hat die chinesische Schrift keine Buchstaben; jedes Ding, jeder Begriff hat sein eigenes hieroglyphisches Zeichen, weniger anschaulich und desbalb unverständlicher, als es die ägyptischen Hieroglyphen sind, und derartiger Zeichen giebt es in dem ersten Lehrbuche der chinesischen Schuljugend tausend! Die ganze Sprache aber enthält deren weit über vierzigtausend. Unsere liebe Jugend sollte sich deshalb beglückwünschen, daß sie nicht in dem „Reiche der Mitte“ das Licht der Welt erblickt hat, und daß ihr das Lernen in unseren Schulen so bequem und anschaulich gemacht wird. Die chinesischen Schulen haben auch keine Klasseneinteilung. Jeder einzelne Schüler ist sozusagen eine Klasse für sich. Hat er eine Seite des unverständlichen Lehrbuches auswendig gelernt, so tritt er vor den Lehrer, dreht sich mit dem Rücken gegen ihn und sagt seine Lektion her; je leichter er lernt, desto schneller wird er mit der Schule fertig. Das Lernen geschieht dabei laut; die kleinen Jungen sitzen auf ihren Bänken, wackeln mit dem Kopf, schlenkern die Hände, stampfen mit den Beinchen und schreien dabei ihre Lektion herunter, je lauter desto besser. Unsere Schuljugend ist gewöhnlich in der Schule recht still und brav, und erst wenn die Schulstunde zu Ende ist, geht der Heidenlärm los. Bei den Chinesen ist es, wie man sieht, umgekehrt. Das Geschrei ist erst zu Ende, wenn die Schule aus ist. Dann gehen die Schüler sittsam und ernst, müde von ihrem Lernen, nach Hause und benehmen sich dabei viel verständiger, als es bei unserer jungen Welt hier und da der Fall zu sein pflegt.
Noch schlimmer als mit den chinesischen Jungen ist es mit den kleinen Mädchen bestellt, denn sie erhalten gar keinen Unterricht. Die holde Weiblichkeit spielt ja bei den Chinesen eine ganz andere, viel weniger bedeutende Rolle als bei uns, wie ich es in der „Gartenlaube“ (siehe Halbheft 18 des Jahrgangs 1896) schon geschildert habe. Nur in den wohlhabenderen Ständen lernen die kleinen Mädchen ganz notdürftig lesen und schreiben, so daß sie vielleicht imstande sind, wenn erwachsen, die einfachsten Briefe und Geschichtenbücher zu entziffern. Erst seit die Europäer nach China gekommen sind und in den ihnen offenen Hafenstädten Ansiedlungen gegründet und Schulen für ihre eigenen Knaben und Mädchen eingerichtet haben, sehen die in diesen Hafenstädten wohnenden Chinesen ein, wie gut es ist, auch ihren Töchtern eine Schulerziehung zu geben. Die Engländer haben dementsprechend in ihrer Kolonie Hongkong im südlichen China Schulen für chinesische Mädchen errichtet, auch in Shanghai und anderen Städten giebt es jetzt schon
[129][130] solche. Am meisten haben aber für den chinesischen Mädchenunterricht die zahlreichen christlichen Missionäre beigetragen; mit einer großen Zahl von Missionen in den Hafenstädten wie auch im Inlande sind welche Mädchenschulen verbunden, und verständige Eltern senden ihre kleinen Töchter sehr gern in diese Christenschulen, wo sie an Stelle des Konfucius die Elemente unseres modernen Wissens kennenlernen.
Unser Bild zeigt eine solche Schule. Freilich sind die putzigen kleinen Mädchen noch ganz chinesisch gekleidet, aber an den Wänden hängen Landkarten mit den einzelnen Staaten, den Meeren, Gebirgen und Flüssen der Erde, von denen selbst erwachsene Chinesen in hohen Staatsstellungen häufig gar keinen Begriff haben. Die Schülerinnen lernen neben ihrer Sprache auch die englische lesen und schreiben, dazu Geschichte, Rechnen, allerhand Handarbeiten, und was das Wichtigste ist, sie lernen die Lehren unserer christlichen Religion, und wenn sie erwachsen sind, verbreiten sie diese in ihrem Familienkreise und wirken so selbst als Missionäre, nicht nur als Missionäre des christlichen Glaubens, sondern auch des allgemeinen Wissens und der europäischen Kultur. Während ihnen als kleinen Mädchen die Füßchen durch Einschnüren der Zehen so verkrüppelt werden, daß sie gar nicht gehen können und von Sklavinnen nach und aus der Schule getragen werden müssen, erfahren sie von ihren christlichen Lehrern, wie unsinnig und zwecklos diese Fußverkrüppelung ist; sie lernen körperlich auf eigenen Füßen stehen, durch den Unterricht, den sie genießen, auch geistig, und werden so zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft herangezogen. Freilich giebt es in dem großen Reiche fünfzig bis sechzig Millionen kleiner Mädchen, und vielleicht nur hundert Schulen; aber in ihnen wird der Same gesät, der mit der Zeit doch köstliche Früchte tragen und die chinesische Frauenwelt aus ihrer unwürdigen Stellung befreien wird.
Hoffen wir, daß in dem unserm deutschen Einfluß nunmehr eröffneten Gebiete deutsche Schulen erstehen und in altbewährter Weise für Bildung und Aufklärung wirken werden. Ernst v. Hesse-Wartegg.