Textdaten
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Autor: C. Falkenhorst
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Titel: Buchstaben und Nerven
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 399–400, 402
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Buchstaben und Nerven.

Hygieinische Skizze von C. Falkenhorst.


Mit der Zunahme der Volksbildung sind Lesen und Schreiben zu unentbehrlichen, ja selbstverständlichen Fertigkeiten des Kulturmenschen geworden. Die Zahl der „Analphabeten“, d. h. derer, die diese Fertigkeiten nicht besitzen, schmilzt von Jahr zu Jahr zusammen, jedes Kind muß lesen und schreiben lernen. Das ist ein großer Kulturfortschritt, der tausendfachen Segen mit sich bringt; aber wie alles in der Welt, hat er auch seine Schattenseiten.

Wie leicht auch Lesen und Schreiben nach einmal gewonnener Uebung erscheinen mögen, sie sind doch eine Arbeit, welche Auge und Gehirn, ja den gesamten Menschen in hohem Maße anstrengt. Die Schäden des Lesens und Schreibens sind auch nicht spurlos an den Menschen vorübergegangen: ihnen haben wir in erster Linie die Zunahme der Kurzsichtigkeit, der Verkrümmungen der Wirbelsäule und die Vermehrung verschiedener nervöser Leiden zuzuschreiben. Die Gesundheitslehre hat darum seit geraumer Zeit auf diese so wichtigen Thätigkeiten des heutigen Menschen ihre Aufmerksamkeit gelenkt, eine Physiologie des Lesens und Schreibens zu schaffen gesucht. Durch Erteilen guter Ratschläge ist sie eifrig bestrebt, namentlich in der Schule zweckmäßige Schreib- und Lesemethoden einzuführen und so die gesundheitlichen Schäden zu mildern. Soweit der Schutz des Auges und des Rückgrats in Frage kommt, ist auf diesem Gebiete viel geleistet worden. Geklärt sind aber die Ansichten noch keineswegs, denn gerade gegenwärtig streitet man über die Vorzüge der Steilschrift im Vergleich zu der allgemein üblichen Schrägschrift.

Gar wenig erforscht sind aber bis jetzt die Wirkungen des Lesens und Schreibens auf das Nervensystem, und doch ist es notwendig, nicht nur das Auge, das Rückgrat und die Hand, sondern auch das Gehirn vor Ueberanstrengung zu schützen – notwendig namentlich in einer Zeit, in welcher über die Zunahme nervöser Leiden so viel geklagt wird.

Leute, die nur zum Vergnügen, zu ihrer Erholung lesen, werden vielleicht darüber lächeln, daß man von der „schweren Arbeit“ des Lesens spricht; Menschen, die berufsmäßig lesen und studieren müssen, wissen dagegen aus Erfahrung, daß durch diese Thätigkeit nicht nur das Auge, sondern auch der Geist ermüdet wird, und zwar in weit höherem Maße als durch das Schreiben. Kein Wunder! In wenigen Minuten durchfliegen wir die Spalte einer Zeitung; sie mag einen dürftigen Inhalt aufweisen, der wenig zu denken giebt, und doch haben wir in diesen wenigen Minuten eine höchst verwickelte, bei näherem Nachdenken staunenerregende Arbeitsleistung vollbracht. Auf dieser Spalte stehen Tausende von Buchstaben, die in ihren Gruppen Worte und fernerhin Sätze ergeben. Wir haben diese Buchstaben sehen und unterscheiden müssen, bevor wir den Sinn auffassen konnten. Tausende von Eindrücken sind in dieser kurzen Zeit durch das Auge in unser Gehirn gestürmt und diese „Lesereize“ haben dort Tausende von Vorstellungen geweckt, die wir zu Sätzen, zu Gedanken geordnet haben.

Man hat wiederholt versucht, festzustellen, wie rasch wir lesen können. Der berühmte Physiologe Preyer hat gefunden, daß er von einem in seiner Muttersprache gedruckten Buche beim schnellsten Lesen in einer Sekunde 30 bis 31 Buchstaben aufzufassen vermochte, eine Wahrnehmung, die auch von Grashey und Wernicke bestätigt wurde, indem sie ermittelten, daß beim schnellsten Lesen auf je einen Buchstaben im Durchschnitt die Zeit von Sekunden verwendet wurde. Diese Geschwindigkeit gilt aber nur für das Lesen in der Muttersprache; als Preyer Englisch las, faßte er nur 28 Buchstaben auf, im Französischen brachte er es auf 22, von der altgriechischen Schrift endlich vermochte er nur 15 Buchstaben in der Sekunde zu bewältigen.

Die Leichtigkeit, mit der wir zu lesen vermögen, wird aber auch durch die äußere Form der Buchstaben in hohem Maße beeinflußt; denn die Lesbarkeit der einzelnen Buchstaben ist sehr verschieden.

Dem Amerikaner James Mac Keen Catell gebührt das Verdienst, diese hochwichtige Frage durch eine Reihe mühevoller, 15000 Einzelbeobachtungen umfassender Versuche im Laboratorium von Professor Wundt in Leipzig in sehr lehrreicher Weise beleuchtet zu haben. Unter Zuhilfenahme sinnreicher Einrichtungen wurden einzelne Buchstaben dem Leser 1/100Sekunde lang sichtbar gemacht – selbstverständlich, ohne daß dieser wußte, welcher Buchstabe ihm erscheinen würde; er sah hin, gab an, was er gesehen und erkannt hatte; seine Treffer und Fehler wurden aufgeschrieben und so entstanden Listen für die Lesbarkeit der Buchstaben verschiedener Alphabete.

Am ausführlichsten wurden die großen lateinischen Buchstaben geprüft und es stellte sich heraus, daß unter 270 Versuchen W 241 mal, E dagegen nur 63 mal richtig erkannt wurde. W, Z, M, D waren die vier lesbarsten, F, U, J, E die vier am wenigsten lesbaren Buchstaben. Aehnliche Ergebnisse lieferten die Proben mit den kleinen lateinischen Buchstaben; unter 100 Versuchen wurde d 87 mal, k 84 mal, m 79 mal richtig gelesen, während dies bei c nur 34 mal und bei s nur 28 mal der Fall war. Sehr unlesbar erwies sich die deutsche Schrift. Von den kleinen Buchstaben erzielte w die meisten Treffer, denn es wurde unter hundert Fällen 42 mal richtig gelesen; bei f war dies nur 10 mal, bei i sogar nur 6 mal der Fall. Was die Lesbarkeit der einzelnen Buchstaben beeinträchtigt, ist nicht nur ihre Form, sondern auch die Aehnlichkeit mit anderen Buchstaben. So wurden die lateinischen Buchstaben O, Q, G und C oft miteinander verwechselt, während das deutsche i 11 mal als l, 10 mal als t, 5 mal als k und je 3 mal als x, f oder r gelesen und t 10 mal als k, 7 mal als l und 3 mal als r aufgefaßt wurde. Zu ähnlichen Verwechslungen gab auch die Gruppe der schlanken kleinen lateinischen Buchstaben i j l f t Anlaß.

Diese Fehler und Verwechslungen begehen wir tagtäglich beim Lesen, nur berichtigen wir sie schleunigst im Geiste, wenn wir merken, daß die herausgebrachten Worte keinen Sinn ergeben. Zunächst vollziehen sich die Richtigstellungen mit blitzartiger Geschwindigkeit, so daß sie uns gar nicht zum klaren Bewußtsein kommen; aber das Lesen wird infolgedessen doch anstrengender. Diese Berichtigungen nehmen verschwindend kleine Zeiträume in Anspruch, wenn wir aber die Tausendstel und Hundertstel von Sekunden zusammenrechnen wollten, so würden wir über die Größe der Zeit staunen, die wir tagtäglich vergeuden müssen, um uns in einem mangelhaften Alphabet zurechtzufinden. Und nicht nur die Zeit kommt dabei in Betracht! Wir verschwenden auch eine große Summe geistiger Kraft, strengen das Gehirn an, um zwischen den Fallen durchzuschlüpfen, die uns von den leicht zu verwechselnden Buchstaben gestellt werden.

Diese Fallen sind darum besonders lästig, weil wir in der Regel nicht buchstabierend, sondern erratend lesen. Hat der Blinde seine betastbare Schrift vor sich, so eilt er mit dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand voraus, um die Worte abzugrenzen, während die entsprechenden Finger der linken Hand über die Punkte gleiten und buchstabieren; aber nur ein Teil der Buchstaben wird dabei betastet, der Rest wird erraten. Ebenso gleitet das Auge des Sehenden über die Schriftzeichen hin, greift die auffallendsten Buchstaben heraus und aus diesen Eindrücken sucht der Geist das Wort zu ergänzen. Je mehr verwechselbare Buchstaben in einer Schrift vorhanden sind, desto mehr Irrtümern sind wir bei dem Raten ausgesetzt, desto mehr unnötige Arbeit muß unser Gehirn verrichten, und das ergiebt ein Mehr von Leistung, eine Summe von Vergeudung an nervöser Kraft, die in einer Zeit, wo an das Nervensystem die höchsten Anforderungen gestellt werden, schwer ins Gewicht fällt. Es wäre gewiß von unberechenbarem Vorteil, wenn man diesen Teil der Lesearbeit vereinfachen, die Fehlerquellen verringern könnte.

Mit Recht dringt man darauf, daß die Schrift eine bestimmte Größe habe, daß der Druck klar sich vom Papier abhebe; nun steht man vor der wichtigen Frage, ob man auch eine Aenderung der gegenwärtig gebräuchlichen Alphabete zum Heile des überbürdeten Gehirnes fordern solle. Das ist eine schwerwiegende, tief eingreifende Frage, die nicht in einigen Jahren und nicht in einigen Jahrzehnten gelöst werden kann, aber schließlich doch im Sinne der Reform gelöst werden wird.

Die Lautsinnbilder, welche die Menschen als Schriftzeichen benutzen, sind mangelhaft. Das ist durchaus nicht wunderbar, denn wir benutzen noch immer uralte Schriftzeichen. Die Erfinder der alten Alphabete hatten die erste Schwierigkeit besiegt, indem sie überhaupt Lautsinnbilder erfanden. Dieselben waren ursprünglich nur das geistige Gut eines auserlesenen Kreises, Lesen und Schreiben zählten nicht zum täglichen Handwerk. Jetzt ist das [400] anders geworden; nachdem das Lesen im Laufe der Zeit zum gewöhnlichen täglichen Bedürfnis geworden ist, wird auch der Wunsch rege, es leichter zu gestalten. Den alten Alphabeten fehlen leitende Gesichtspunkte, sie sind ein reines Werk der Willkür; die Lautzeichen der Zukunft werden sich den Gesetzen anpassen, nach welchen wir überhaupt Zeichen mit dem Gesichtssinne wahrnehmen und auffassen. Betrachten wir diese Gesetze näher, so enthüllen sich uns von selbst die Grundlinien eines Alphabets der Zukunft.

Vor einiger Zeit haben Goldscheider und Müller in Berlin sehr lehrreiche Beiträge zur „Physiologie des Lesens“ veröffentlicht. In ihren Versuchen machten sie verschiedene Zeichen und Buchstaben gleichfalls 1/100 Sekunde lang den Blicken des Lesers sichtbar. Zunächst richteten sie ihre Beobachtungen auf die Wahrnehmbarkeit gerader Striche, und es stellte sich heraus, daß vier Striche, die in beliebiger Anordnung zu einander gestellt waren, bei einmaliger Betrachtung in der Zeit von 1/100 Sekunde richtig erkannt wurden. Wurden fünf Striche vorgeführt, so konnte der Leser sie nicht sofort erkennen; in seinen Angaben über das, was er gesehen, machte er nach der erstmaligen Beobachtung Fehler, die er erst bei der zweiten oder dritten Beobachtung verbessern konnte. Die Unsicherheit der Auffassung wuchs mit der Zunahme der Zahl der Striche. es ist aber hervorzuheben, daß mehr als vier Striche auf den ersten Blick von 1/100 Sekunde Dauer richtig erkannt werden konnten, sobald sie eine symmetrische Anordnung hatten, wie z. B. die nachfolgenden sieben Striche: |0ǀ0|0|0|0ǀ0|

Quadrate von gleicher Größe waren schwieriger als Striche zu erkennen, indem bei einmaliger Beobachtung nur 2 bis 3 Quadrate sofort in ihrer Zahl und gegenseitigen Anordnung richtig aufgefaßt wurden. Mehr Quadrate konnten erst nach mehrmaliger Beobachtung richtig erkannt werden, wohl aber sofort auf den ersten Blick, wenn sie in eine symmetrische Anordnung gebracht wurden, wie z. B. die nachfolgenden 5 Quadrate: □ □ □ □

Wir erfahren daraus, daß das Gesicht ähnlich auf Eindrücke reagiert wie das Gehör: mehr als 4 bis 5 Schalleindrücke kann man nicht richtig schätzen, wenn sie in sehr kleinen gleichmäßigen Zwischenpausen aufeinanderfolgen; wohl aber gelingt uns dies, wie Wundt nachgewiesen hat, selbst bei 40 aufeinanderfolgenden Glockenschlägen, sobald sie symmetrisch geordnet werden oder rhythmische Gruppen bilden.

Diese Thatsachen sind sehr beachtenswert.

Wir bedienen uns heute des Rhythmus nur in der Kunst, in der Poesie; im täglichen Leben hat er keine praktische Bedeutung. Und doch hat er einmal eine solche gehabt, in der alten Vorzeit, da die Schrift noch nicht erfunden oder noch nicht volkstümlich geworden war. Vor der Erfindung der Schrift mußte das Gedächtnis mehr als heute in Anspruch genommen werden; was wir heute in Büchern für spätere Geschlechter niederlegen, mußte früher im Gedächtnis der Menschen fortleben. Da erwies sich die rhythmisch gebundene Sprache als ein großes, bewundernswertes Hilfsmittel. In rhythmischen Gesängen pflanzten sich Volkssagen und Heldengeschichten von Jahrhundert zu Jahrhundert fort, bis sie niedergeschrieben und schließlich gedruckt werden konnten. Heute hat der Schiffskapitän ein geschriebenes Verzeichnis der Waren, die er auf seinem Schiffe führt; die ältesten Händler im Mittelländischen Meere pflegten das Warenverzeichnis im Kopfe zu tragen; sie, die nicht schreiben konnten, dichteten für die Handelsfahrt das Verzeichnis in der ihnen geläufigsten rhythmischen Form. Diese Hilfsmittel sind überflüssig geworden, seitdem die Menschen sich auf ihre Bücher und Zettel verlassen können, die sie in feuersicheren Schränken aufbewahren oder durch den Druck vervielfältigen.

Die lesende Menschheit erstrebt indessen eine höhere Kulturstufe; immer größer wird der Gesichtskreis, der sich ihrem Geiste eröffnet, immer höher werden die Ansprüche, welche an das Gehirn, an die geistige Thätigkeit gestellt werden, und so entsteht der Wunsch, die häufigsten geistigen Bethätigungen einfacher, weniger mühevoll zu gestalten.

Betrachten wir nun von diesem Standpunkte unsere Buchstaben, unsere Lautsinnbilder. Wie schon gesagt, sind sie durch kein einheitliches Gesetz geordnet, vielmehr reine Erzeugnisse der Willkür. Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende hat man sie geändert, aber beileibe nicht verbessert. Betrachten wir nur die lateinische Schrift! Wie wissenschaftliche Versuche lehren, erkennen wir die Buchstaben wesentlich an den dicken Linien. Das alte Alphabet der Römer hatte lauter dicke Linien – wir haben die Schriftzeichen vielfach zierlicher gemacht und wenden beim Druck Zusammenstellungen von dicken und dünnen Linien an, aber dadurch erschweren wir dem Auge das Erkennen der Buchstaben und machen uns das Lesen schwerer. Man hat im Mittelalter das lateinische Alphabet verschönern wollen und hat die deutsche Frakturschrift geschaffen, die im gesundheitlichen und praktischen Sinne einen Rückschritt bedeutet. Da wir mehr als unsere Vorfahren lesen müssen, so empfinden wir jetzt die Uebelstände der Schrift und möchten sie, kurzsichtig und nervös geworden, verbessern, möchten das Auge und das Gehirn von aller unnötigen Arbeit entlasten.

Man hat vorgeschlagen, die schwer lesbaren und leicht zu verwechselnden Buchstaben durch andere, deutlichere zu ersetzen.

In welcher Weise müßte dies geschehen? Durch willkürliche Abänderungen wird wenig erreicht. Wie die Urvölker die Sprache in rhythmische Formen zu zwingen wußten, so werden wir in die regellosen Buchstaben Symmetrie hineinbringen müssen; denn die neueren Forschungen haben, wie oben ausgeführt, das Gesetz enthüllt, daß durch Symmetrie die Auffassung vielfacher und verwickelter Gesichtseindrücke erleichtert wird. Auch die Verlängerung der Buchstaben über oder unter die Schriftlinie dürfte in einem verbesserten Alphabet nicht so regellos und willkürlich sein, wie dies in dem heutigen der Fall ist.

Bevor aber solche Aenderungen mit Aussicht auf Erfolg vorgeschlagen werden, muß die noch vielfach dunkle Wissenschaft von der Natur des Lesens weiter ausgebaut werden; dann wird ihr wohl auch mit der Zeit eine Lösung der Frage gelingen. Wir glauben nicht, daß die Mitlebenden die vollen Früchte dieser Arbeit ernten werden, die alten Alphabete werden uns und unsere Kinder überdauern; aber unsterblich sind die heute herrschenden Buchstaben nicht; sie haben ihre Vorgänger gehabt und sie werden einmal dem vollendeteren praktischeren symmetrischen Alphabet der Zukunft weichen müssen.

Aber wir sollten nicht vergessen, daß im Rahmen der heute gegebenen Schrift sich manche Verbesserung anbringen ließe, welche beim Lesen eine Ersparnis an Nerven- und Geisteskraft zur Folge haben würde. Wir lassen die Ersetzung der deutschen Schrift durch die leserlichere, lateinische unerörtert, die Frage ist oft besprochen, aber leider nicht immer von rein gesundheitlichem und praktischem Standpunkte entschieden worden. Aber man sollte wenigstens beachten, daß der Gebrauch zweier Arten von Buchstaben, großer und kleiner, Auge und Gehirn eher anstrengt als entlastet, man sollte nicht vergessen, daß alle Verzierungen und Schnörkel der Auffassung in hohem Grade hinderlich sind, ebenso, daß dünne Linien das Erkennen der Buchstaben erschweren. Auch einer zweckmäßigen Abänderung der leicht zu verwechselnden Buchstaben würde nichts im Wege stehen. O und Q werden so oft verwechselt; wenn wir anstatt Q als neues Zeichen Φ wählen würden, würde die Verwechslung mit O, C und G geradezu ausgeschlossen sein, und doch würde es sich dabei nur um eine zweckmäßige Verlegung des Querstriches in dem Buchstaben handeln. A wird, wie die Versuche von Catell ergaben, sehr häufig mit X, V und N verwechselt. Daran ist der Umstand schuld, daß diese vier Buchstaben eine gleich geneigte dicke Linie haben, die am meisten auffällt, während die dünnen Linien übersehen werden. Diese Irrungen würden vermieden werden, wenn man den Buchstaben mit zwei dicken Schenkeln drucken wollte, denn dann würde der Eindruck des dem A eigentümlichen Winkels beim ersten Blick vorwiegen.

Es kommt aber nicht nur auf die Gestalt der Buchstaben, sondern auch auf deren Gruppierung zu Wörtern an. Goldscheider und Müller stellten fest, daß man vier Buchstaben bei einmaliger Betrachtung von 1/100 Sekunde Dauer richtig erkennen konnte, selbst wenn sie keinen Sinn ergaben, wie z. B. m r i n. Sollten fünf Buchstaben in derselben Zeit gelesen werden, so wurden bereits Fehler gemacht, selbst wenn die Buchstaben ein Wort ergaben. Je länger das Wort war, desto größer wurden die Schwierigkeiten des Erkennens. Das Wort erblich wurde bei der ersten Betrachtung erblio, bei der zweiten erblic und erst bei der dritten richtig gelesen.

Beim Lesen von Wörtergruppen oder Sätzen wurde die Beobachtungszeit auf 3/100 Sekunden erweitert. „Eintritt streng verboten“ wurde von sämtlichen Versuchspersonen beim ersten Male richtig gelesen, also konnten 22 Buchstaben in 3/100 Sekunden erkannt werden. In Wirklichkeit aber wurde das Ganze erraten; [402] denn eine der Versuchspersonen sah z. B. nur „streng“ deutlich; „verboten“ wurde annähernd erkannt und „Eintritt“ ergänzt.

Es ist bekannt, wie leicht Druckfehler übersehen werden, wenn man den Schriftsatz nach dem Sinne liest.

So wurde auch in einem der Versuche Goldscheiders das Bild

Brot- und
Kucken-
Bäckerei

auf 3/100 Sekunden zu lesen gegeben. Alle lasen „Brot- und Kuchen-Bäckerei“ und fanden den Druckfehler erst beim achten Male heraus, als sie besonders aufmerksam gemacht wurden, daß sie nicht richtig gelesen hätten.

Vorwort
zur viert
Auftape

lautete eine andere Leseprobe. Gleich auf den ersten Blick lasen die Herren, mit denen die Probe vorgenommen wurde, richtig „Vorwort zur vierten Auflage“ Gefragt, was er gesehen habe, erklärte der eine, er habe ganz genau die Worte „Vorwort“ und „vierten“, von der dritten Zeile nur die Buchstaben A und l gesehen, daraus habe er erraten und das Wörtchen „zur“ ergänzt. Er sah also in „vierten“ die Buchstaben en, die nicht da waren, und las l anstatt t.

Wir lernen daraus, daß beim Lesen unser Gehirn sich schöpferisch verhält, den ersten unvollkommenen Leseeindrücken wirft es sozusagen die Erinnerungsbilder der Wörter und ganzer bekannter Sätze entgegen und glaubt schon den Sinn erfaßt zu haben, wenn nur einige wichtige Punkte des Eindruckes oder Lesereizes und des Erinnerungsbildes sich decken.

Diese Versuche beweisen wieder, von welcher Bedeutung die Lesbarkeit der einzelnen Buchstaben für die Gehirnarbeit ist, aber sie lehren ferner, daß die Worte um so leichter aufgefaßt werden, je kürzer sie sind. Dies spricht wieder für die Vorzüge einer möglichst einfachen Rechtschreibung und für die Trennung zusammengesetzter Worte durch Bindestriche.

Doch das sollen nur Beispiele sein, wie man ohne tiefer gehende Eingriffe schon heute unsere Buchstaben und unsere Schreibweise verbessern, sie den Gesetzen der Wahrnehmung und Auffassung durch den Gesichtssinn anpassen könnte. Die Tragweite einer solchen zielbewußten Reform liegt auf der Hand; denn sie bedeutet für die lesende, ermüdete und nervöse Menschheit … Zeitersparnis und Entlastung des überbürdeten Gehirns.