Bismarck und das deutsche Gemüt

Textdaten
Autor: Hermann von Bezzel
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Titel: Bismarck und das deutsche Gemüt
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Auflage: 3
Entstehungsdatum: 1916
Erscheinungsdatum: ca. 1916
Verlag: Paul Müller
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Erscheinungsort: München
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Quelle: Commons
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Bismarck
und das
deutsche Gemüt


Von
Oberkons.-Präsident D. Dr. von Bezzel



3. unveränderte Auflage, 6.–15. Tausend


Taschenformat • Preis 25 Pfg.
In Partien:
10 Stück Mk. 2.20 – 50 Stück Mk. 10.-
100 Stück M. 18.- – 500 Stück M. 80.-
1000 Stück M. 150.-, post- und frachtfrei.



[Druck und Ver]lag von Paul Müller, München, Schwanthalerstr. 55


| Es war am letzten Sonntag (31.) des Juli 1898, als Bauern von der Hesselberger Gegend, welche von Ansbach zu Fuß nach meinem damaligen Berufsort gegangen waren, mir berichteten, sie hätten in Ansbach einen Anschlag gelesen, daß in der Nacht der Fürst Bismarck gestorben sei. Und ein Bauer fügte die Worte hinzu: Jetzt meint man schon, die Welt müsse bald untergehen. Dies fiel mir wieder ein, als ich in Schmollers jüngsten Aufsätzen über den Fürsten die Äußerung des schwäbischen Bauersmannes nach dem Tode Friedrich des Großen las: Wer wird nun noch die Welt regieren?

 Es wäre nicht unrichtig, wenn zwischen den beiden Männern, dem größten Fürsten und dem größten Staatsmanne Deutschlands ein Vergleich durchgeführt würde. Beide nennt das Volk, das mehr aus der Unmittelbarkeit der Empfindung und aus der unbewußten Klarheit des Gefühls als aus langer Überlegung und mit eingehender Begründung urteilt, die „Großen“. Der König hatte gleich nach seiner Thronbesteigung 1740 aus dem Kirchengebete die Worte „Segne den König, unseren Herrn“ tilgen und an ihre Stelle setzen lassen, ähnlich wie sein Nachfolger Friedrich III.: „Segne den König, deinen Knecht“! Bismarck wollte nichts anderes sein, als ein „treuer deutscher Diener Kaiser Wilhelm I.“, wie die von ihm gewählte Grabinschrift bekundet.

 Die großen sozialen Gesetze von 1878–1890, in denen die Krankheits-, Unfall- und Altersansprüche der Arbeiter geregelt wurden, damit nicht mühsam als Almosen erbettelt werden müsse, was als Recht angesprochen werden kann| die Gesetze über Arbeitsschutz und Kinderarbeit, die Schaffung von Arbeiterkammern haben in den Maßnahmen des Königs Friedrich des Großen ihre erste Vordeutung. „Quand je serai roi, je serai und vrai roi des gueux“, ein echter und rechter König der Armenleute. „Ich bin niemals froher, und ist mir nie wohler, als wann ich einem armen Manne kann lassen ein Haus hauen“.

 „Es ist nicht notwendig, daß ich lebe. Aber es ist nötig, daß ich arbeite. Denn mein Leben gehört meinem Volke“. Berühmte Worte des großen Königs, die in der unfreiwilligen Mußezeit des Reichskanzlers ihr Gegenstück finden: „Wie schwer ist es, wenn man am Morgen meint, man habe seine Pflicht für den Tag erfüllt, wenn man die Uhr aufzogen hat“. Wenn vordem der Fürst nicht gewußt hatte, wie er den Forderungen des Tages gerecht werden sollte, so wußte er jetzt kaum, wie der Tag ihm anderes als eine Last von Geschäftslosigkeit bringen müsse.

 Aber den Vergleich im einzelnen auszuführen ist weder möglich noch ganz gut. Schließlich schafft Gott doch jedes einzelne Leben und gestaltet es zu und in der Eigenart, die als solche genommen und gewürdigt werden will und mit jeder andern nur die Berührungen aus der allgemeinen Menschennatur und deren Bedingungen, nicht aus eben der Einzelgeschichte hat. –

 Ich will hier nicht den Staatsmann zeichnen, der nach seinen eigenen Worten Deutschland in den Sattel gesetzt und es reiten gelehrt, den Traum der Edelsten und Besten unseres Volkes, der Jahrhunderte beherrschte, zur Erfüllung brachte und ein Deutsches Reich schuf, ganz im Gegensatze zu jenem, das weder heilig noch römisch noch deutsch war, der die Grenzen deutschen Landes enger zog, nicht um es arm, sondern um es echt zu machen und die stolze Rede des alten Metternich, daß man zuerst eine Sache wohlfeil machen, dann wegschaffen könne, mit „Blut| und Eisen“ zurückwies. Das Jahr 1866 hat kommen müssen, um 1870 und 1914 heraufzuführen.

 Auch den Diplomaten kann ich nicht schildern, an dessen Lippen die Augen Europas hingen. Wenn man vordem ängstlich auf die Neujahrsansprachen im Elysee lauschte, ob Friede sei, was Napoleon III. sagte oder ob es Krieg bedeute, so hat nach den Maitagen des Jahres 1871 die Welt auf die Worte des Kanzlers gelauscht, der im Gegensatz zu jenem französischen Diplomaten die Sprache nicht die Gedanken verbergen, sondern aussprechen ließ, und wegen seiner Wahrhaftigkeit nicht Glauben fand. Thukydides, der griechische Geschichtsschreiber, sagt von dem Athener Themistokles, er habe in kürzester Zeit immer das Nötigste gedacht, gesagt, getan. Und das sei dann ausreichend gewesen. Was die zwanzig Jahre Bismarckischer Politik nicht Preußen allein, nicht einmal dem Deutschen Reiche allein, sondern der gesamten Welt gebracht haben, also daß es von ihm bei seinem Tode heißen konnte: „Er ward geboren in Preußen, er starb in Deutschland, er ward betrauert in der Welt“, – das hat erst die Folgezeit erwiesen, in der unser Urteil warb, nicht umworben ward, Liebe suchte und nicht Furcht erzwang, Freundschaften begehrte, wo starkes Übergewicht Geltung sich hätte erzwingen müssen.

 Ja, wenn einer den Feldherrn Bismarck zeichnen wollte, der mit strategischem Tiefblick bei Königsgrätz die Lage der Dinge an der Ruhe Moltkes kennen lernte, mit der er von zwei Zigarren die bessere sich auswählte, trotz aller Abneigung der „Halbgötter“ oft kernige Worte in die Kriegsberatungen hineinwarf und durch die Rede für den Militäretat, für das Septennat (Rede vom 3. Februar 1888) Unüberbietbares für die deutsche Schlagfertigkeit und die Waffentüchtigkeit unseres Heeres tat, – so würde er das Urteil Kaiser Friedrich III. für sich haben, der am 25. März 1888 schrieb: „Wo es galt, das Wohl| des Heeres zu vervollkommnen, fehlten Sie nimmer. Soviel dankt Ihnen das Heer für erlangte Segnungen.“ Mehr als Kuriosum sei angeführt, daß der Arzt, der Jahre lang die Lebensweise des Fürsten regelte und ihn so der Welt erhalten durfte, eine Broschüre über Bismarck als Arzt schreiben wollte.

 Von dem allen sei hier nicht die Rede. Aber wenn es wahr ist, daß die größten Leistungen in der Ruhe des Hauses, im Stilleben, das sich sammeln kann, ehe es zum vollen tatenreichen Leben erstarkt, heranreifen, so sei es erlaubt, das Innenleben des Fürsten hier zu schildern, das immer wieder neue Seiten aufweist und uns seiner nicht nur mit dem Stolze gedenken läßt: Solch ein Mann war unser, sondern auch mit der dankbaren Freude, daß er so ganz unser war, ein evangelischer Christ, der durch Gnade etwas werden und aus Gnaden etwas sein wollte, ein kerndeutscher Mann, der die Eigenart seines Volkes in sich verkörperte und darum von ihm als Vollendetheit des Eigenwesens jauchzend begrüßt ward. Jener kluge Franzose hatte gut gesagt (1890): „Bismarck ist nicht mehr Ministerpräsident, nicht mehr auswärtiger Minister, auch nicht mehr Kanzler des Deutschen Reiches, er ist nur noch Herr von Bismarck. Aber wahrhaftig, das ist noch etwas.“

 Das Land, aus dem der große Mann stammte, gab ihm die eigenwillige trotzige Bodenständigkeit mit, die lieber sich zerbrechen als sich biegen läßt und in der Behauptung des Erworbenen und Erkämpften sich eher noch genug tut als in neuen Siegen. Ein alter Chronist nennt das niedersächsische Volk dort am linken Elbeufer eine gens robustissima, eine starke, urkräftige Sippe. Ein Urahn, Patrizier in Stendal hatte dem Markgrafen das Recht der Münze abgerungen. Ein anderer war unter den hartnäckigen streitbaren Gegnern der Hohenzollern, die „aus purem Neide“ den Bismarcks ihre weiten Forsten| und schönen Jagden abrangen. Und noch im Jahre 1722 warnt Friedrich Wilhelm I., der große Realpolitiker und wehrhafte König „seinen lieben Sukzessor“ vor den schlimmsten Adeligen, den Arnims, Schulenburgs und Bismarcks, denen man „den Kitzel der Opposition gegen ihren Landesherrn“ austreiben müsse. Im späteren Zeitverlaufe freilich haben der Urgroßvater, der Großvater und der Vater des Fürsten ihre Vasallentreue ernstlich bewährt. Aber selbständig und selbstwillig sind sie geblieben. „Das Wegkraut sie sollen lassen stah’n; hüt dich, Jung, sind Nesseln dran“, so deutete sich das alte Wappen des Geschlechts mit freudigem Mute.

 Am 1. April 1815 ist Otto Leopold von Bismarck geboren, eines humorvollen und kernhaften Vaters Sohn, der ihm die kühn zugreifende Energie übererbte. – „Wenn einer drunten auf der Straße den Fuß bricht, wird Ludwig Gerlach über die Ungewißheit des Menschenloses weise Betrachtungen anstellen, Radowitz die besten Mittel zur Hilfe und Heilung angeben, und ich werde hinunterspringen, um den Verunglückten aufzuheben“, so Bismarck im Gespräch mit Friedrich Wilhelm IV. – Anders geartet war die Mutter Minna, geb. Menken, reich begabt, phantasievoll, schwärmerisch. Der elastische Zug im Charakter des Fürsten, die Anlehnungsbedürftigkeit, die dem Gewaltigen so eigen stand, die bestrickende Anmut und Artigkeit in Wort und Bewegung hat wohl das mütterliche Erbteil gebildet. Und die schwere, große Zeit von Anno 1813, der Sieg von Waterloo, die ersten Strahlen eines freien Preußens, eines einigen Deutschlands beglänzten und bestimmten die Anfänge eines Lebens, das ganz der Größe seines Landes geweiht war.

 Das Joch einer entbehrungsreichen Jugend stärkte die weiche Seele des Knaben und die Entsagungen, die das Unvermögen der geliebten Eltern nicht nur auferlegte, sondern mittrug, haben das größte Heimweh wachgerufen,| das den Fürsten bis ins Alter begleitete, das Verlangen nach beschaulicher Stille und enger Beschränkung, die in die Tiefe den Eindrücken nachgeht, nicht in die Weite sie vergeudet und in der Nähe vergißt. Wo Liebe zur heimatlichen Scholle, die ein karges Leben freundlich getragen hat, zu Berg und Tal, den Stätten der kindlichen Spiele und erwartungsvollen Freuden, Wurzel schlägt, da kehrt die ernste, hingebende, ins Einzelne sich versenkende Liebe zur Natur ein, zu dem großen Gottesparadiese, in dem trotz aller Schäden und Schatten noch Kindheitsfreude und Jugendglück, aus ewig treuen Händen gespendet, lebt und blüht, zu dem familienhaften Gottesleben, das eine weislich ordnende Treue Jahr um Jahr verneut, damit an ihr der müde Mensch im Genuß des Gegenwärtigen und in hoffender Vorahnung des Zukünftigen genese. Wie im Plamann’schen Institute, in das der Knabe, dem ein Hauslehrer nicht gehalten werden konnte, allzufrüh verbracht ward, mitten im Häusermeer des „großen“ Berlin seine Sehnsucht nach Wald und Seen der Heimat ging, so hat später aus dem Zwang und Drang der lästigen Geschäfte der Mann sich in die Natur geflüchtet, die zu schildern, zu loben und zu rühmen er nicht müde ward. Nicht nur die Herrlichkeit der Pyrenäen und des Meeres bei Biarritz, die wunderbaren Farbentöne der ungarischen Ebene, zu der die blauen Berge hinabgrüßen, die unvergeßliche Eigenart des russischen Winters und die sieghafte Pracht des Frühlings in der Steppe weiß Bismarck in immer neuen Worten zu beschreiben und auszumalen, sondern auch die Anspruchslosigkeit des Heimatwaldes mit seinen alten Eichen, mit der Sabbathstille und dem tiefen Frieden lobt er gerne, wie einer, der alter Freunde treulich gedenkt. Wenn einmal deutsche Lesebücher wieder geschaffen werden nach Wackernagels und Masius’ Art, werden Bismarcks Naturschilderungen in sie aufgenommen werden, nicht schillernde Prachtstücke in Stifters Weise, sondern wirkungsvoll| in ihrer Schlichtheit und durch ihre Innerlichkeit zu den schönsten Proben deutscher Gemütstiefe zu rechnen.
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 Auf die Jugend greift der Mann gerne zurück, dem die Erinnerung auch den schweren Tag verklärt. Wie die Mutter zum Feste sich rüstet und der Vater zur Winterszeit auf die Jagd auszieht, wie in Berlin die treue Magd des Hauses all die Eierkuchen, auf die spät heimkehrenden Brüder scheltend, verloren gibt, wie wenig das Lernen nach der Schablone gefiel und wie erst Karl Eduard Bonell, der Lehrer auch seiner Söhne, der Rektor des Gymnasiums zum Grauen Kloster, in dessen Hause er als gerne gesehener, allen lieber Zögling weilte, ihn für Studien begeistern konnte, das kehrt in den Gesprächen des Alters wieder. Das Alter, sagt Bengel, schreibt gerne Personalien. Und in den Tischreden des Fürsten spielen diese Personalien gerne in die ernstesten Probleme hinein. Über allem Gewölke am politischen Himmel zieht lächelnd und leuchtend der Humor wie in Silberwolken dahin. Der Humor ist nicht der neckende, noch weniger der verletzende Witz, sondern das frohe Behagen, in dem das Bild zur Wirklichkeit und diese zum freundlichen Bilde wird. Es ist das selbst sich lösende Behagen am Scherze, der das Kleine ins Große zu erheben liebt und das Große am Unscheinbaren verständlich macht, der wohl tut, indem er verletzt, weil mit der Wehtat der Balsam gegeben ist. Wir sehen tief durch das helle, weltfrohe Auge, das auch den Blick ins Innere verstattet, in eine Welt von Gemüt und stillem Frieden, den die Stürme berühren und erschüttern, aber nicht entführen können. Und durch die „Lust am Fabulieren“, die der phantasievollen Mutter eigen war, hat der Sohn die wunderbare Gabe der Kleinmalerei gerade bei Schilderung von Erlebnissen und Vorgängen erhalten; wir lesen nicht, sondern wir erleben mit, nehmen Partei, werden dazu gezwungen und ruhen doch wieder in der geruhsamen Zuversicht aus, daß alles ja| schon vollendet ist und nicht mehr erst zu Ende geführt werden muß.
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 Wenn die Universitätsjahre, die den jungen Stürmer und Dränger durch frohe Lust und ernste Besinnlichkeit führten, weniger in die Ordnungen und Gesetze des akademischen Lebens und Lernens, als in die große Schule, da man Menschen sucht und an ihnen sich erzieht, wiesen und die nächsten Jahre sich anließen, als wollten sie die gärende, brausende Kraft – wie oft denkt man an Carlyles Wort über den alten Dessauer, eine „wahre Windsbraut von einem Menschen“ –, die überschäumende Gabe des Willens, dem der seiner würdige Gegenstand der Betätigung gebricht, in enge Grenzen dämmen und versickern und verinnen lassen, was stromgleich segnend und befruchtend, umschaffend und erneuernd wirken wollte und sollte, so hat die am 12. Januar 1847 erfolgte Vermählung mit Johanna von Puttkamer die Wendung im Leben des Mannes heraufgeführt, die sein Gott für ihn brauchte. Die „getraute Treue“, welche unser Volk als die beste rühmt, da des Mannes Herz sich auf das Weib verlassen kann, das gibt, indem es leidet und nie leidet, wenn es gibt, hat Bismarck vor der selbstverzehrenden, unnützen Überhast gerettet, die einen Mirabeau früh verbrauchte und vor der öden Alltäglichkeit bewahrt, in die das Landleben ihn vielleicht geführt hätte, wo die edelste Kraft an die kleinlichen Sorgen als Tat und an die großen Fragen nur als Kritik sich hätte geben müssen. An Heinrich Sybel, dem Geschichtsschreiber des neuen deutschen Kaisertums wird gerügt, er habe „aus dem edlen Königstiger eine zahme Hauskatze“ gemacht, weil er aus Bismarcks Lebensbild das Übermäßige, das Titanenhafte austilgte. Die Gemahlin Bismarcks hat das Naturell ihres großen Gatten wirken und walten lassen und eben weiter nichts anderes sein wollen, als die Gehilfin um ihn, die Sorgen- und Zornesfalten glättet und wie ein linder Gotteshauch den| Geliebten umgibt, hat es geheiligt und gewürdigt. Durch Frauenpolitik aufs empfindlichste verwundet, die in der „Reichsglocke“ unseligen Angedenkens, in Harry Arnims bösen Veröffentlichungen, in manchem geschickten Schachzuge das Große aufhielt und durch Kunst über das Genie siegen wollte, wußte Bismarck in seinem Hause sich von solchen Einflüssen und Einwirkungen frei. Johanna Bismarck war froh, dem gewaltigen Manne etwas zu sein – wie viel sie ihm war, hat er ihr öfter gesagt, als sie selbst es erkannte – ihm das Haus wohnlich und die Ruhe von aller Unrast begehrenswert zu machen. Sie hat die Wahrheit des Dichterwortes darum auch bestätigen dürfen: Ein edler Mann wird durch ein gutes Wort der Frauen weit geführt. Und wenn wir kein Vermächtnis seiner Liebe zu ihr hätten als den weltberühmten Brief vom 2. September 1870, in dem Napoleons Sturz und Leid so menschlich schlicht der Gefährtin erzählt wird, so wüßten wir genug, – daß das Beste im Leben für den Fürsten das Weib seiner Jugend war. Nicht ansehnlich und anziehend, auch nicht durch Geist blendend, war sie die echte deutsche Haus-, die fromme Ehefrau, zu deren Erlangung der durch manchen Zweifel und religiöse Kämpfe hindurchgegangene Mann ein Glaubensexamen hatte ablegen müssen, das die Brauteltern den besten Grund des Glaubenwollens erkennen ließ. Durch 47 Jahre, durch gute und böse Tage, durch die Todesangst um den von Mörderhand und Kriegsschrecken gefährdeten Gemahl, durch viele Kümmernisse, die schonungslosen Angriffe, welche den machtvoll im Amte Waltenden, und durch die undankbaren, verbissenen Schmähungen, welche den zur Ruhe Gesetzten verfolgten, hat Johanna das Beste erzeigt, was ein Mensch dem andern geben kann, Treue und standhafte Liebe und das Größte dafür geerntet, rückhaltloses Vertrauen. Wie der Hirtenknabe die Schwermut und den Zorn von der Stirne des Königs durch sein Harfenspiel| scheuchte, vermochte die edle Hausmusik, die von der Fürstin und ihren Freundinnen Jakob gepflegt ward, den Fürsten zu erquicken. Auf ihn und seine Fragen hörte sie, seine Klagen und deren Grund waren ihr ganz bewußt, sein Können und Vermögen drückte sie nicht darnieder, sondern hob sie zu freudiger Zuversicht. Immer wieder klingt es durch die Briefe, wie dankerfüllt der Gemahl für das sonnige Leben und das mit Kindern geschmückte Haus ist. Als in ihren letzten Tagen die Fürstin ihrem Gemahle ihr Bild zeigte, das den Fortschritt des Leidens allzu deutlich bewies, konnte er es nicht über sich gewinnen, ihr die Wahrheit dieses Bildes zuzugestehen. Die weise Rose aber, die bei der Beerdigungsfeier der Fürst an sich nahm, als er für sich ging, war das Sinnbild ihrer klaren, zarten Liebe, des Adels ihrer Seele, der Lauterkeit ihres Sinnes.

 Neben der Gemahlin aber hat nur noch ein weibliches Wesen, seiner Art vielleicht noch näher verwandt, Einfluß auf Bismarck gewonnen und behalten, seine Schwester Malwine Arnim, die er bald mit „teure Kleine“ und „Madam“, bald „teuerste Kreusa“, „liebe Arnimin“ in den köstlichen Briefen anredet, die wichtige und kleinliche Dinge, politische Fragen und ländliche Sorgen in buntem Wechsel besprechen.

 Der Brief vom 16. Januar 1847, in dem er seine Verlobung anzeigt, ist eine Perle von Humor. „Reinfeld (der Wohnort der Braut) liegt hier dicht bei Polen.... man hört die Wölfe und die Kassuben allnächtlich heulen und in diesem und in den sechs nächsten Kreisen wohnen achthundert Menschen auf der Quadratmeile; Polis spoken here. Ein sehr freundlich Ländchen.“ Mit der Schwester tauscht er die Jugenderinnerungen am liebsten aus, sie geht auf seine Gedanken gerne ein und weiß die häusliche Zufriedenheit des Bruders zu schätzen und zu schützen. Die harte Jugend hat Bismarck zum fürsorglichen und| zärtlichen Vater gemacht. Seine Kinder sollten es besser haben, als er’s hatte. Sie haben ihre Hauslehrer, ihre sorgenlose und sonnige Kindheit in der wohligen Nähe der Elternliebe; sie genießen vom Vater fast noch zärtlichere Fürsorge als von der Mutter. Den ihm innerlich am meisten gleichenden Sohn Herbert, bei dessen Vermählung in Wien (mit Gräfin Hoyos) der Fürst durch den „Uriasbrief“ seines Nachfolgers die schwerste Kränkung erlitten hatte, schätzte er wegen seiner Pünktlichkeit und Arbeitsamkeit besonders hoch und fragte wohl scherzend, was aus ihm geworden wäre, wenn er solchen Fleiß gezeigt hätte! Daß sein Schwiegersohn Rantzau die aussichtsreiche Laufbahn verließ, um mit den Seinen dem alternden Großvater nahe zu sein, rechnete er ihm hoch an.

 Wie die Seinen ihn liebend umgaben, damit das Haus ersetze, was Amt und Staat vorenthielten, hat der Fürst seinen „Gedanken und Erinnerungen“ anvertraut, deren Entstehung die Welt der Treuesten einem, Lothar Bucher († 12. Oktober 1892 bei Montreux) verdankt.

 Am 27. April 1849 von seinem großen Freunde zum erstenmale angeredet – es war nach der Kammerauflösung wegen Aufhebung des Belagerungszustandes – erklärte Bucher, daß er (wie der bedeutendere Karl Schurz) „über das Wasser den Verfolgungen entgehen wolle.“ 1864 kehrte er ins alte Vaterland zurück und ward Bismarcks rechte Hand, der nicht nur für ihn, sondern auch mit ihm arbeitete, im Gegensatz zu der „politischen Häckselmaschine Abecken“, der redigierte und feilte, was ihm gegeben ward. Die Beziehungen Bismarcks und Buchers wurden, sagt Heinrich von Poschinger, immer mehr gemütlicher und freundschaftlicher Natur. Und als der Größere in die Verbannung ging, folgte ihm der Mann, in dem der Fürst seinen „selbstlosesten Freund“, dimidium suae vitae, die Hälfte des Lebens verloren zu haben beklagt. Schweigsam, geduldig, aufopfernd, dem Manne, der Geschichte gemacht| hat, wie wenige, ganz ergeben, seines Geistes kundig, hat keiner besser vermocht, was der Fürst in mitteilsamen Stunden ihm anvertraute, zu fassen, zu formen und festzuhalten.

 Die Arbeit zweier Jahre, äußerlich besehen undankbar und mühereich, durch die Gewalt des Empfangenen reich und groß, liegt jetzt vor uns, nicht als Geschichtsquelle untrüglicher Art, sondern als Denkschrift aus Erlebtem, Erfahrenem, Erlittenem und Erstrittenem. Der Mann der Tat schreibt sich und für sich. Es ist eine apologia, eine Verteidigungsschrift für sich selbst, will nicht objektiv, kann nicht unparteiisch sein, aber wahr durch und durch, soweit Menschenmaß an Wahrheit reicht und verlässig, wenn man in Erwägung nimmt, daß Zwergenhaftes und sein Recht dem Auge des Gewaltigen leicht entschwindet, der kaum imstande ist, weil er über sich niemand weiß, die neben sich gerecht einschätzen. –

 Viele Memoiren besitzt unsere Literatur. Was Bucher ihr schenkte, ist fürderhin unerreichbar. Denn von wem es handelt, derselbige hat seine Maßstäbe nötig, die er als Mensch in sich hat: Der Mensch war das Maß aller Dinge.

 Bismarcks Freunde! Wenn der heidnische Denker melancholisch klagt: „O Freunde, es gibt keinen Freund“, so meint er das von der einsamen Höhen philosophischer Selbstzufriedenheit, die in sich und an sich genug hat. Aber der Christ kennt die Notwendigkeit der Ergänzung und die Pflicht der Erziehung, da einer des andern Gewissen ist. Der Große braucht mehr Freunde und findet ihrer weniger als der des Empfangens mehr Bedürftige. Ein reges Leben der Freundschaft im Austausch von Erlebnis und Erfahrung, von Problemen und Lösungen steht dem Werdenden besser an und geht im leichter ein als dem Gewordenen. Denn der Werdende ist immer dankbar, während der Gewordene oder der es zu sein wähnt,| verpflichten will. Auf der Höhe des Lebens gewinnt der Mann selten mehr Freunde, es beginnen die Jahre der Involution, wie sie unsere Alten nannten, denn „der Mensch gehet dahin, wo er ewig bleibt“, zieht sich auf sein Innenleben zurück und wird karg und spröde. Aber die in der mitteilsfrohen und leicht sich erschließenden, gerne sich anschließenden Jugend gewordenen Freundesbündnisse, wie sie Hochschule und gemeinsame Lernarbeit, gleicher Dienst erwecken, bleiben, je älter ihre Träger werden und retten ein Stück Jugendglanz und -Größe in das freudlosere Alter und seine Beschaulichkeit. Ja, ihre Fortdauer ist die Probe auf die Echtheit und der Erweis, daß sie wert waren, geschlossen zu werden und zu bleiben.
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 Der Amerikaner Lothrop Motley, den er einst im Studentenkorps der Hannoveraner kennen und lieben gelernt hatte – mit ihm oder mit seinem Freunde Coffin hatte er die berühmte Wette eingangen, daß Deutschland in zwanzig Jahren einig sein werde! – blieb der treue Jugendfreund, dem der Fürst schrieb (24. 6. 1864), „er werde Zeit für ihn und alte Zeiten finden, die Unionsflagge solle über dem Hause wehen und das Gespräch und der Wein solle Verdammnis über den (amerikanischen) Rebellen ausströmen.“ Ihm schickt er auf die Bitte um Bilder „zwei melancholische Zivilisten und einen fetten melancholischen Herrn, der durch alle Plage gar nicht bekümmert scheint.“ Mit ihm will er streiten, ob Byron und Goethe miteinander in Vergleich zu stellen sind und beschwört ihn, zu kommen, da er sonst krank vor Sehnsucht werde, und „das müßte dann die übelsten Wirkungen auf die gesamte Politik haben.“ Der Brief Motleys an seine Gemahlin (25. Juli 1872) hat dem Freunde das schönste Denkmal gesetzt: „Ganz gewiß lebte nie ein Sterblicher, der so unaffektiert war und auch kein genialerer.“ Anders ist die Freundschaft mit Roon beschaffen. – Es ist die Freundschaft, die nie genießen, sondern schwer| arbeiten will. Edler vielleicht ist die neidlose Anerkennung, die der frühere Ministerpräsident seinem Nachfolger spendet: „Ihn, Bismarck, krank wissen, heißt die Schlacht von Kollin (gegen Österreich) zum zweiten Male verlieren, denn er habe an Sicherheit, Umsicht, geordneter Tätigkeit, Klarheit gewonnen.“ Ihm schreibt er mehrmals und warnend, er solle seiner extravaganten Natur die Lebensführung eines ehrsamen deutschen Hausvaters aufnötigen. Roon wußte trotz mancher Unstimmigkeiten, die nur kleine Leute auseinander bringen, große zu ernster Prüfung bestimmen, genug von der von Jugendheimweh getragenen Freundschaft, die jener bewahren werde. Mehr kann der Fürst nicht von dem Freunde sagen, als daß dem König gegenüber der Beistand der Autorität Roons gar nicht zu ersetzen sei, da „niemand so viel Salz mit dem Herrn gegessen habe.“ Die drei Männer, der Jugendfreundschaft, der Arbeitsgemeinschaft, der Anhänglichkeit zu verdankende Freunde sind bis zuletzt dem Kanzler geblieben, während andere, ein Ludwig von Gerlach, ein Kleist Retzow von ihm, aus Überzeugung, die auch am Gegner zu achten ist, zurücktraten, andere zu Feinden wurden, die den in Ungnade Gefallenen wie einen Pestkranken mieden.
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 Aber der leuchtendste Edelstein in dem reichen Kranze der Gaben und Ehren in dem Leben des Kanzlers ist zugleich der wahrhaft deutsche, den unsere Dichter wie keinen anderen besungen haben und unsere Geschichte in tausendfachem Glanze ausstrahlen läßt, die Treue des Untertanen gegen den angestammten Herrn. Zwei Brüder aus dem Hohenzollernhause haben um die Treue des Edelmanns geworben, erlangt haben sie beide, aber nur einer mit der ganzen freudigen Selbstverständigkeit der dienenden, dankbaren, Leib und Leben zu Willen stellenden Eifrigkeit. Friedrich Wilhelm IV., den David Friedrich Strauß den Romantiker auf dem Throne nannte, der reichstbegabte und unglücklichste Fürst aus Hohenzollernstamm,| voll edelster Pläne, denen er die Ausreifung nicht gönnte, bezaubernd in Wesen und Rede, verschwenderisch in großen Gedanken, an denen er sich berauschte, hat frühzeitig den ihm nach Höhe und Tiefe ebenbürtigen, an Standhaftigkeit und Ausdauer des unermüdlichen Willens weit überlegenen Geist erkannt und an sich gezogen. Ihm vertraute er sich und sein Urteil an, von dem Ermessen Bismarcks erholte er sich das Urteil über Volk und Kammer, über Minister und Berater der Krone. Der Mann, der im Lieblingsgarten, zu Sans-Souci dem verzagten Könige zusprach, er müsse mehr Mut haben, so daß die Königin Elisabeth, zeit ihres Lebens die Gegnerin Bismarcks, erzürnt herbeieilte, ob man so mit dem Könige sprechen dürfe, war zugleich bereit, mit seinen Bauern den König zu schützen und trat ihm näher, je mehr die Bedenklichkeit des einen von dem kühnen Wagemut des andern sich entfernte. Minister prüfen und ernennen, das wollte er dem Junker anvertrauen, aber zum Minister ihn zu machen trug er Bedenken, denn er sei „roter Reaktionär und rieche nach Blut“, wie die deutsche Kaiserkrone, die das Frankfurter Parlament dem Könige anbot. „Nur zu gebrauchen sei er, wenn das Bajonett schrankenlos walte.“ Aber wie eine magnetische Gewalt zog die rücksichtslose Eigenwilligkeit, dem nur das Wohl Preußens Regel und Gesetz war, den König an. Hier fand er, was kein Radowitz, der „Garderobier der Romantik“, kein Bunsen und kein Manteuffel ihm geben konnte, klaren Blick, erwogenes Wort auch in der überraschenden Kühnheit und den starken Willen zur Tat. Die zögernde Politik des Königs, die den Gedanken billigte, aber vor der Ausführung zurückschreckte, ließ es nicht zu, daß schon um 1850 geschah, was 1866 eintrat, Reinigung und Einigung Deutschlands. Als aber Friedrich Wilhelm IV. nach schwerstem Leiden entschlafen war, hat der damals dem Alter nahe brüderliche Nachfolger| den Gesandten von Petersburg und Paris, dessen Name schon eine Welt von Einfluß und ein Programm heilsamer Gewalt einschloß, zum Minister berufen, der ihm den Gedanken an Abdankung benahm und mit Eisen und Blut Fragen zu lösen verhieß, die in Strömen von Tinte wie ertrunken waren. – Zwar über die ersten Reden des Ministers spottete die Kölner Zeitung, man habe Geist in ihnen vermutet, es sei aber nur brausende Soda gewesen. Aber das Land merkte, daß in „der ministeriellen Schlachtordnung nicht nur ein Bataillon, sondern eine ganze Armee“ erschienen sei. Und diese Armee wohnte im Haupte eines einzigen Mannes und kämpfte in seiner Faust. „Dem Fürsten treu bis in die Vendée, für alle anderen keinen Blutstropfen!“ Das war die Losung des Mannes, der bei dem ihm so teueren Königlichen Herrn alles vermochte, weil dieser die Treue sah, die alles wagte und an sie glaubte, auch wenn er sie nicht verstand. 26 Jahre haben die beiden Männer nebeneinander gestanden, eins in der Liebe zum Vaterlande, in dem Opfermute, der sich nicht liebt noch schont und das Lob nicht begehrt, wenn das Recht nur durch Schmähungen siegt. Fest aneinander gekettet, nicht, weil die Notwendigkeit empfindlich es gebot, sondern weil die Freiheit, die der Herr dem Diener ließ, dieser nicht mißbrauchte, sondern bewucherte, und die Wahrheit, das Beste, was der Diener dem Herrn geben und gönnen kann, mit dem königlichen Geschenkt des Vertrauens gelohnt ward, durch schwere Tage einander versichert und durch große und siegbeglänzte Stunden ohne Ruhmrätigkeit im Dank gegen Gott verbunden, haben Kaiser Wilhelm I. und sein Kanzler ihr Jahrhundert in die Schranken gefordert, nicht um es zu knechten, sondern um es zu prägen. Ranke sagt einmal: „Nicht von umsichtigen Bewegungen werden die Völker geleitet, sie werden von großen Gefühlen bestimmt“. Und diese Gefühle haben| Bismarck den großen Kanzler genannt und dem Kaiser den Beinamen verweigert, weil sie den höheren des Gerechten und Getreuen für ihn hatten.

 Auf welche Proben ward durch Bismarcks gewaltig vorwärts drängende Politik, die mit dem Uberalteten und Morschen brach und Tradition nicht nur als Größe, die man achten, sondern als Gefahr, die man fürchten müsse, bewertete, die gelassene, vorsichtige Art des Königs gestellt! Schaffot und Tod, Schmach und Untergang sah, von fremden und undeutschen oder frauenhaften Einreden beirrt, der König. Aber der Diener sah nur die Pflicht des preußischen Offiziers, der für Land und Volk kämpfend fällt oder siegt. Und der König fühlte sich an seiner Soldatenehre gefaßt und war immer tatenfreudiger, dem Konflikt entgegen, an dem er hatte vorbeikommen wollen. Durch die Feldzüge hat der Staatsmann den Kriegsmann geleitet und aus dem letzten hat er die Kaiserkrone herausgerettet, die kein würdigeres Haupt zierte seit Karl und Otto dem Großen.

 Aber nicht beherrscht wollte König Wilhelm sein, auch Bismarck mußte und sollte den königlichen Willen spüren. Zweimal, am Ausgange des Krieges mit Österreich und am Ende des Kampfes gegen Frankreich hat der König die Treue des Dieners auf harte Proben gestellt. Einmal wollte er, was Bismarck ihm verweigerte, Fortschritt der Armee ins Herz der österreichischen Monarchie, größeren Landzuwachs und von Bayern den „Streifen Hof bis Crailsheim“ als Weg zu den Stammlanden und der Burg der Ahnen und wiederum wollte er nicht, was der Kanzler ihm bot, die Würde des deutschen Kaisers, die er fast spöttisch als die des „Charaktermajors“ zurückwies, annehmen, wie sie König Ludwig II., Bismarcks bewundernder Gönner angeboten hatte. Der Kronprinz hat das erste –, das andere Mal der Großherzog von Baden, Sohn und Schwiegersohn Wilhelms vermittelt, beide Gegner| Bismarcks, aber seinem Genie ergeben. Wenn der König von dem „Ministerpräsidenten, der ihn verlassen wollte“, sprach und an dem Reichskanzler vorbeiging, der doch die Kaiserkrone aus Eisen geschmiedet und den Edelstein der deutschen Treue ihr eingesetzt hatte, so haben diese Verdrießlichkeiten so wenig wie die Wolken die Sonne, die Einigkeit vertreiben können. Hinter dem Gewölke steht die Sonne siegreich auf, und aus Gegensätzen ward echte, gesunde Einträchtigkeit bereitet.

 Gegenseitiges Nachgeben hat ersprießliches Zusammenwirken ermöglicht und gesichert. Als jenes fehlte, mußte dieses zerfallen.

 Soweit deutsche Geschichte reicht, hat kein Blatt solch edles Bild aufzuweisen, als das Bild der Freundschaft Kaiser Wilhelms und seines Kanzlers, die einander in stillschweigendem Verspruche vor Gott und ihrem Gewissen zu Deutschlands Ehre, Blüte und Herrlichkeit erforderten.

 Mit Ehren überhäuft und mit dem Namen begabt, wie ihn die Großen auf Erden haben, hat der Kanzler als schönsten Titel den eines treuen Dieners sich erkoren und der König als bestbezeichnendes Wort das „In treuer Dankbarkeit“ gewählt.

 Um seines alten Herrn willen hat der greise Fürst seine Jahre und ihre Beschwerden nicht geachtet, sondern die trüben hundert Tage Friedrich III. treulich getragen, an dem Sohne den Dank für den Vater bezahlend. Der wehmütige Glanz herben Leidens, der diese ritterliche Siegfriedgestalt umgab und im Tode auf ihm ruhen blieb, verleiht seinem Gedächtnis einen schmerzvollen Zauber.

 An dem Sarge aber stand die Treue Wacht, die das Gedächtnis des Toten trotz Tagebuch und Veröffentlichungen in Ehren hielt.

 Ob diese deutsche Treue standhielt, als sie schmerzlich geprüft ward, ob der schwer Gekränkte in Abwehr und| Kampf das rechte Wort und die würdige Weise fand, das zu entscheiden ist weder möglich noch bräuchlich. Auch über die letzte Lebenszeit Bismarcks hat der Wille seines kaiserlichen Herrn manch versöhnliches und klärendes Licht fallen lassen. Und es steht in diesen schweren Tagen, da Kaiser und Heer mit einer Welt von Feinden zu kämpfen hat, niemandem wohl an, durch Rückerinnerungen die Pflicht der Dankbarkeit für die Gegenwart abzulenken und den Dank zu verweigern. Die neue Zeit, in die 1888 ein jugendlicher Herrscher mit einer Welt von edlen Gedanken und reichen Absichten eintrat, verstand den Kanzler nimmer, der mehr der Vergangenheit lebte. Wie er einst selbst mit dem vorwärtsdringenden, weiter drängenden Mute und Willen zum Neuen Neues heraufführte, so mußte er es an sich erleben, daß ein anderes Geschlecht heraufgekommen war. Und die Bitterkeit über Streber und Kleber, über Minister, die brav alles unterschreiben, über Capriviaden und Reichsverdrossenheit schwand vor der Erkenntnis, daß Wilhelm II. seiner Väter nicht unwürdig sein wollte. Wie dieser einst dem Kanzler als Jüngling zugeführt worden war, so führte er seinen Sohn, den jetzigen Kronprinzen des deutschen Reiches nach Friedrichsruh, damit er Geschichte studiere, indem er ihrer Größten einen besuchte. Der Erbprinz aber legte jüngst am Denkmal des Fürsten den ersten Kranz nieder. Die Hohenzollern scharen sich in fünf Generationen um den treuesten Diener des deutschen Namens. – „Laßt sehen, ob sie das Angesicht noch kennen, das ihre Sonne war in dunkler Nacht!“ Ein alter Geschichtsschreiber der Griechen aber trifft das Beste, wenn er sagt: „Berühmter Männer Grabrede ist jedes Land und nicht nur die Inschrift einer Säule in der Heimat bezeichnet sie!“
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 Garve hat in seiner Schrift (1786): „Über den Charakter des Bauern“ betont, daß dieser aus Erfahrung| alles, nichts aus Büchern lerne, mit freiem Auge die Dinge sich ansehe und mit klarem Sinn sehe und erfasse, wie sie sind, nicht mit gefärbten Brillen sich etwas vorzeichne, was nur in der Phantasie bestehe und nur so lange währe, als diese vorhält. Es ist darum auch eines Bismarcks Ehrentitel, daß er „Bauernverstand“ gehabt habe, der mit gesundem Mißtrauen das Neue betrachtet und mit sicherer Hand seine Tauglichkeit erprobt. Aber der schönste Zug dieses Bauernverstandes ist doch das „durch Dick und Dünn“ für einmal Erprobtes und Liebgewordenes.

 Bauern sind scharfe Beobachter und Leute von wenig Worten. Aber in ihren Worten wohnt die Wahrheit für die Wirklichkeit, und der rechte Ton trifft jeweils die Sache. Wer so reden kann, daß man ihm unwillkürlich beifällt und die Begriffe so plastisch darstellt, daß sie Fleisch und Blut erhalten und als Persönlichkeiten vor uns stehen, der hat das Ohr und Herz des Volkes.

 Ob nun Bismarck: spricht oder schreibt, im Reichstage Worte prägt, die bald zu den „geflügelten“ gehören – das bekannte „Wir fürchten Gott und sonst nichts in der Welt“ ist von ihm an-, nicht eingeführt –, ob er in seinen Berichten gegen Zwangsenteignung von dem Staate spricht, der „bald im Schlafrock, Pantoffeln und Schreibärmeln über die Felder schleicht, bald als Junker Dampf über die Täler hinbraust, der seines Vaters Park in einen See und das Grab der seligen Tante in einen Aalsumpf verwandeln wolle“, ob er mit unnachahmlicher Feinheit Gortschakoff, den russischen Staatsmann zeichnet, den die Reichshunde anfallen – und „er kam doch in den besten Absichten!“ der so eitel war, daß er in jeder Regenlache sein Bild besah und von seinen Sekretären bewundernde Blicke verlangte, dabei so gierig, daß „er um eine goldene Dose mit großen guten Steinen bat“, immer steht ihm das rechte Wort zu Diensten, das kurz und schlagend, oft vielleicht schonungslos – denn zu hassen| war ihm Lebensbedürfnis und Element – Lage und Persönlichkeiten schildert.

 Thiers, der ausfällig werden will, erzieht er, indem er ihn deutsch zu reden nötigt, dem Hohne eines Diplomaten über ein Verblichenes Ordensband im Knopfloch erwidert er, das habe er erhalten, weil er die Gewohnheit habe, manchmal einen Menschen zu retten. Und an dem Beispiel des Generals Peuker erläutert er, wie schwer es sei, eine Kaskade von Orden auf der Brust unterzubringen. Damit die fünf Milliarden Kriegskosten, zu deren Zählung einer von Christi Geburt an brauche, wirklich gezählt werden können, nimmt er Bleichröder mit, der von Erschaffung der Welt her zähle! Mit feiner Ironie und verletzendem Spotte, mit aufwallender Heftigkeit weiß er seine Feinde, Virchow und Lasker, Bamberger und Richter zu behandeln, die „Perle von Meppen“ schätzt er nicht immer wegen ihrer Farbe. Eine durch und durch verbibelte Sprache, mit Luthers Deutsch durchsättigt und erfüllt, eignet dem Manne, der deutsch dachte, redete und schrieb, wie seit Goethe kein anderer.

 Es ist bei einer Gedächtnisrede, die dem Danke Ausdruckt geben soll, nicht Brauch, auf die Fehler dessen einzugehen, dem sie gilt. Denn daß dem reichen, überallhin flutenden Lichte mächtige Schatten nicht fehlen, ist der Sterblichen Los und Schuld. So wäre es ein Leichtes, Fehler und Gebrechen aufzudecken und das große Bild vor den Mängeln und Makeln, die ihm anhaften, zurücktreten zu lassen. Aber ob es leicht wäre –, treu wäre es nicht.

 Fürst Bismarck steht nicht allein vor dem immerhin noch nicht abgeschlossenen und geklärten Urteil der Geschichte, die ihn nicht wegen seiner Fehler, sondern trotz ihrer den Ehrenplatz unter den Großen und Größten anweisen wird, sondern vor dem Herrn, dem er dienen wollte, dessen Auge da Licht sieht, wo wir Kurzsichtige Schatten und Trübung| wahrnehmen und dessen untrügliches Urteil von Schatten spricht, wo die Welt eitel Licht wahrnimmt und wähnt.

 Es ist nachgerade Brauch und zur Unart geworden, jeden auf seine Stellung zu Gott und den höchsten Fragen nach äußerlichen Kriterien zu prüfen und etwa mit etlichen religiösen Äußerungen, die obendrein aus dem Zusammenhang gerissen sind, Verteidigung der christlichen Wahrheit zu treiben, als ob diese menschlicher Stützen bedürfte und Anleihen bei der Anerkennung der Erde zu machen hätte! Das Christliche an Goethe, die Religion Schillers, Alex. von Humboldts Stellung zum Christentum – so schießen die Schriften empor, und so wird auch Bismarcks Stellung zur Kirche behandelt.

 Wir sehen nicht in das Verborgene und was vor aller Augen lag, sprach nicht für Bismarcks äußerliche Kirchlichkeit, für deren Mangel er Erklärung wußte und Entschuldigung suchte. Daß er ein Gebetsleben führte und in den Losungen der Brüdergemeinde Erbauung fand, die reichen Wirklichkeiten der Gnade Christi gläubig erfaßte und von der Erbarmung sich getragen bekannte, der Halbheit Feind und der Verflachung und Umdeutung des Gotteswortes abhold war, darf aus dem Leben eines Mannes bezeugt werden, der öffentlich bekannte, daß an dem Felsen Christi das Narrenschiff der Zeit scheitern werde und das Leben nicht der Rede und Mühe wert sei, wenn es nicht auf Gott angelegt sei. Von der Vergebung getragen, welche die Torheit und Missetat bedeckt, hat der Fürst den Einsegnungsspruch, den ihm Schleiermacher in der alten Dreifaltigkeitskirche aus Col. 3, 23 mitgab, innerlich befolgt und dem Herrn, von dem er sich abhängig wußte und bekannte, dienen wollen. In trinitate robur, „meine Kraft in dem dreieinigen Gott“ war ihm nicht nur Wahrspruch des Wappens, sondern des Lebens.

 Und ein Wort soll ihm in diesen Tagen, da der Glaube der Christenheit als überaltet und seine Bekenner| als Leute des befangenen Rückschrittes gescholten werden, besonders gedankt sein! „Einem ernsten Katholiken verargt man nicht, wenn er zu seiner Lehre steht, noch weniger einem orthodoxen Juden. Aber dem Evangelischen, der ganz auf dem Grunde der Schrift stehen will, soll dies als unevangelisch verwehrt sein!“

 Daß er, der die Weltgeschichte kannte, nicht nur die, an der er ein großes Stück gearbeitet hatte, für den Gang und das Wirken der Kirchengeschichte wenig Verständnis hatte, den sogenannten Kulturkampf ohne das Evangelium begann und die Bestrebungen der evangelischen Kirche gründlich verkannte, soll nicht geleugnet werden. Wenn aber diejenigen, welche über Bismarcks Stellung zum Christentum abschätzig urteilen, sei es, weil er ihnen allzu anerkennend oder zu wenig „gläubig“ erscheint, das praktische Christentum in täglicher Aufnahme ihres Jochs und in der ernsten wurzelgründigen Selbstschau üben wollten, wäre es wohlgetan.

 An der Grabstätte dort in dem Wald von Friedrichsruh hat Pfarrer Westphal das, was an dem Fürsten sterblich war, zur Ruhe eingesegnet, in der Einfachheit und Wahrhaftigkeit des kirchlichen Brauchs. „Dieweil es dem allmächtigen Gott gefallen hat, unseren christlichen Mitbruder, den Fürsten Otto Leopold von Bismarck, Herzog von Lauenburg, aus dieser Zeitlichkeit abzufordern, befehlen wir seine Seele der Gnade Gottes und legen seinen Leib zur Ruhe, Erde zur Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube. Denn der Tod ist der Sünde Sold, aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserem Herrn!“ Nicht das Fortleben in der Geschichte, nicht das geistige Weiterleben in den Erinnerungen ist das Teil der Christen, sondern das ewige Leben, daß sie den wahren Gott und den Er gesandt hat, Jesum Christum von Angesicht zu Angesicht erkennen.

|  Der Hebräerbrief zeigt eine erlauchte Geschichtsreihe auf. Könige, im Streite erprobt, Dichter und Richter, Denker und Lenker der Staaten neben unscheinbaren Namen, die von der Welt kaum gekannt, geschweige denn genannt sind, gehen und stehen nebeneinander. Was sie scheidet, ist die Verschiedenheit äußeren Tuns, was sie eint, ist die Großtat des Glaubens. Welle um Welle zieht an dem Auge des geschichtskundigen Sehers vorüber, Sünde und Schuld senken hinab, Güte und Gnade heben empor, – aber über allem Kommen und Gehen steht wie ein Fels Jesus Christus, Anfänger, Heerführer und Herzog, Vollender und Herr des Glaubenslebens. Diesem allein Gewaltigen danken wir für die teure Gabe, welche er in Otto von Bismarck unserem Volke geschenkt hat, für das edle, erlauchte Vorbild der Treue und Liebe das er gegeben, für die Segnungen, die heiß erstritten, jetzt wieder in schwerem Kampfe umdroht sind.

 Evangelisches Kirchtum dankt, indem es betet: Misericordias Domini: Nimm Deinen heiligen Geist, den Geist der Geschichte nicht von mir. Denn ein geschichtloses Volk, dem die Wolke von Zeugen verdämmert und entfließt, ist ein sterbendes, ein todverfallenes Geschlecht.

 Als Antwort auf die Bitte nehmen wir das Selbstzeugnis des Evangeliums: Ich bin ein guter Hirte auch des deutschen Volkes. – Möge es, sagt Giesebrecht in seiner Geschichte der deutschen Kaiserzeit, nie vergessen, daß die Zeiten, in denen unser Volk das Christentum erlebte und erfaßte, seine größten Zeiten waren und für die Zukunft daraus das Rechte lernen!