Biografisches, März 1935
Einführung
BearbeitenDer Artikel Biografisches, März 1935 zeigt die von Stefan Isensee im Rahmen seines Werkes „Biografisches“ zusammengestellten Tagebuchauszüge von März 1935. Textauslassungen wurden mit [...] gekennzeichnet, eingefügte Erläuterungen von Stefan Isensee in eckigen Klammern kursiv [Erläuterung]. Mit Ergänzungen von Bettina Brass.
Tagebuchauszüge
Bearbeiten[...] [2] Die Großmutter war eine schöne Frau, aber eine oberflächliche Gesellschaftsdame, französische Luxemburgerin – der Großvater ein braver u. gutmütiger, blauäugiger Franzose, wenngleich auch als Emigrant in Deutschland erzogen u. deutscher Offizier. Er hieß Emil Chevalier u. hat es bis zum Oberstleutnant gebracht. Er war Festungsbaumeister in Wesel, – er gehörte zum Pionier-Corps, – und in Wesel lernte die Mutter den Vater kennen, als sie 17 Jahre alt war. Der Vater war damals Leutnant im Infantrie-Regiment 57. Die Mutter muß ein sehr reizendes junges Mädchen gewesen sein, sie sieht heute noch kindlich mädchenhaft aus; aber sie war erzogen auf den oberflächlichen Luxusstil jener Zeit. Mit 18 Jahren hat sie den Vater geheiratet, völlig gedankenlos, tändelnd, in dem Glauben, das Leben sei ein einziger Spaß.
Sie hat zwar bitter lernen müssen, daß dem nicht so ist; – aber begriffen hat sie das bis auf den heutigen Tag noch nicht. Es war eine bitterböse Schule, die sie durchmachen mußte, nachdem mein leider etwas leichtfertiger Vater sein ganzes Geld vertan u. darüber hinaus noch recht leichtfertige Schulden gemacht hatte. Auch er war schließlich ein Kind seiner Zeit, ich kann ihm keinen Vorwurf daraus machen, daß er keinen ernsteren Charakter besaß. Er war bei all dem ein ehrenhafter, anständiger u. sehr gutmütiger Mann, dem die Wirklichkeit des Lebens letzten Endes ebenso fremd u. unverständlich geblieben ist, wie der Mutter. Beide waren richtige Dilettanten. Nur daß es mein Vater verstand, mit Optimismus u Sorglosigkeit selbst durch die schwierigsten Situationen hindurch zu kommen, während die Mutter schwermütig wurde. Aber wieso das alles so war u. so hat kommen müssen, das versteht sie heute noch nicht. Sie ist heute noch überzeugt, daß sie selbst, wie auch der Vater, mit hervorragendem Verständnis das Leben gemeistert hätte, – wenn nicht eben dieses Leben so ganz anders gewesen wäre. Sie sieht wie ein naives Kind die Tragik ihres Lebens darin, daß sie selbst u. der Vater alles richtig gemacht haben, jedoch war das Leben verkehrt. Wäre das Leben richtig gewesen, – d.h. wäre das Leben so gewesen, wie sie sich gedacht hatte, daß es sein müsse, – dann wäre ihrer Meinung nach alles gut gegangen, – so aber hat eben das Leben versagt, nicht sie selbst. [...]