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Autor: Otto Henne-Am Rhyn und Carl Stieler
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Titel: Die Landsgemeinde
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, 30, S. 393–396, 476–478
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Erster Teil: Bilder aus den deutschen Alpen
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Bilder aus den Alpen.

2. Die Landsgemeinde.
Ein Frühlingsfest der Demokratie.

„Wenn der Kukuk ruft, wenn erwachen die Lieder, wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu, wenn die Brünnlein springen im lieblichen Mai“, da lebt nicht nur der einzelne Mensch wieder frisch auf und schüttelt die Sorgen des langen Winters von sich, sondern auch die Staatsorganismen treiben im freien Schweizerlande ihre Blüthen. Obschon in politischer Beziehung nicht mehr zu Deutschland gehörend, ist dennoch die Schweiz das Land, in welchem sich altdeutsche Rechtsinstitute am längsten erhalten haben. Wie im alten Frankenreiche das März-, später Maifeld den Eintritt des Frühlings im Staatsleben verkündete, so wiederholten sich diese Versammlungen der Freien im Kleinen in den vielen städtischen und ländlichen Gemeinwesen, in welche das große Reich zerfiel.

Immer, wenn der Frühling herannahte, traten die Freien zusammen und wählten sich ihre Vorsteher und Räthe. Viele dieser Gemeinwesen verloren aber durch Kriege und Eroberungen ihre Freiheit, sie wurden mit anderen zu größeren Staaten verschmolzen, und es dauerte lange, bis sie wieder zum Genusse bürgerlicher Rechte kamen, aber in ganz anderer, modernerer Weise. Von diesem Assimilirungsprocesse machten nur wenige, durch Berge und Seen von der übrigen Welt abgeschlossene Thäler eine Ausnahme und behielten ihren altdeutschen Wahl- und Abstimmungsmodus bei. Die Landsgemeinde, in welcher derselbe seinen Ausdruck findet, ist nicht nur ein Staatsact, sondern ein Volksfest im wahren Sinne des Wortes, es ist die Huldigung, welche das Volk [394] jährlich seiner eigenen Freiheit und Majestät darbringt. Man hat vielfach das Wesen und den Kern der Landsgemeinde mit ihren Formen und den äußeren, sie begleitenden Umständen verwechselt. Unseres Erachtens sind aber diese theilweise veralteten und selbst fortschrittfeindlichen Formen und Umstände zu reformiren, ohne die Grundlage des Institutes anzutasten, und diese Grundlage besteht in praktischer Verwirklichung des Grundsatzes, daß das Volk in seinem Lande Herr und Meister ist und sich seine Gesetze und Behörden selbst giebt. In mehren größeren Cantonen der Schweiz hat man bereits mehr oder weniger weit gehende Versuche gemacht, den Grundsatz der Selbstregierung mit modernen Formen zu verbinden; ganz in alter Weise aber hausen noch einige der kleineren Alpencantone, so: Uri, Glarus, die beiden Theile von Unterwalden: Ob- und Nidwalden, und die beiden Theile von Appenzell: Inner- und Außerroden.

Das Ländchen Appenzell, aus herrlichen grünen Matten, lieblichen Hügeln und imposanten Bergen bis zum ewigen Schnee des Säntis hinauf bestehend, bildet eine Stufenfolge der abwechselndsten, von jenem Höhepunkt nach und nach immer tiefer bis in die Nähe des Rheins und Bodensees sich niedersenkenden Landschaften. Es ist ein von Natur zusammengehöriges Ganzes, das sich nach allen Seiten durch Bergabhänge ziemlich scharf von den es umgebenden Gegenden sondert. Im Mittelalter größtentheils dem nahen Kloster St. Gallen verschrieben, befreite sich Appenzell im Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts durch die unsterblichen Freiheitsschlachten bei Vögelinseck und am Stoß gegen den Abt und dessen Verbündete und setzte sogar die ganze Nachbarschaft bis tief nach Tirol hinein durch Raubzüge in Schrecken, bis die Macht der Ritter und die bevormundende Bundesgenossenschaft der schweizerischen Cantone dem aufbrausenden Geiste der Zügellosigkeit Schranken anlegten.

Die Reformation führte im folgenden Jahrhundert den größeren Theil des Ländchens dem neuen Glauben zu, und ohne allen Zwist und Hader lebten volle fünf Jahrzehnte die Anhänger beider Confessionen zufrieden neben einander, bis die Ränke des römischen Nuntius den Glaubensfanatismus unter den appenzellischen Katholiken gegen ihre reformirten Brüder so anzuschüren wußten, daß eine ernste Krise hereinbrach und nur durch die 1897 erfolgte Trennung des Cantons in die katholischen inneren und die protestantischen äußeren Roden (Abtheilungen, Gemeinden, Rotten) zu beseitigen war. Seither bestehen auf diesem kleinen Fleck Erde, rings von dem größeren (seit 1803 gebildeten) Canton St. Gallen umgeben, zwei souveraine Kleinstaaten, jeder mit tirolischer „Glaubenseinheit“ und beide mit unter sich ähnlicher Verfassung. Das Gebiet dieser beiden Stäätchen ist auf die wunderlichste Weise untereinander vermengt und verquickt, so daß Inner- und Außerroder, wenn sie in ihre beiderseitigen Landsgemeinden ziehen, sehr oft ihre Straßen gegenseitig durchkreuzen und einander „Guten Morgen“ bieten können. Innerroden treibt nämlich einen mächtigen Keil zwischen die beiden Theile von Außerroden „vor und hinter der Sitter“, und ein District im Nordosten des Cantons, der, wie es scheint, bei der Theilung vergessen wurde, ist noch so desorganisirt, daß die dort wohnenden Katholiken Inner- und die Protestanten Außerroder sind, obschon ihr Gebiet gar nicht ausgeschieden ist. Seitdem indessen die neue Bundesverfassung allgemeine Niederlassungs- und Glaubensfreiheit und allgemeines Stimmrecht der Schweizer eingeführt hat, verliert die Trennung immer mehr ihren Sinn, indem auch in Außerroden Katholiken und in Innerroden Protestanten sich ansiedeln und ihr Stimmrecht ausüben dürfen.

Am letzten Sonntage im April jeden Jahres versammeln sich in jedem der beiden Halbcantone die sämmtlichen stimmberechtigten Bürger (oder wie man in den kleinen Cantonen, wo es keine Städte giebt, officiell sagt: „Landleute“) auf einem bestimmten Platze zur Landsgemeinde, in Außerroden abwechselnd zu Trogen und zu Hundwil, in Innerroden immer zu Appenzell, dem ursprünglichen Hauptorte des ganzen Cantons. Jede der beiden Landsgemeinden hat ihre Eigenthümlichkeiten. In Außerroden ist sie weit zahlreicher, da dieser Halbcanton die mehr als vierfache Bevölkerung des andern hat, und bietet das Bild eines wohlhabenderen, gebildeteren Volkes dar. In Innerroden ist sie origineller, alterthümlicher und durch die eigenthümliche Tracht der zuschauenden Frauenwelt anziehender. Außerdem aber bringt die Zeit oft Verhandlungsgegenstände mit sich, die in dem einen oder andern Halbcanton mehr Interesse darbieten.

Das in größerem Maße dem Fortschritt huldigende Außerroden hat bereits vor zehn Jahren seine Verfassung zeitgemäß reformirt und seine Landsgemeinde ist blos noch das alte Kleid eines neuen Körpers. In Innerroden dagegen ist bisher jeder Antrag auf Verbesserung beharrlich abgewiesen worden, und der Wahlspruch des dortigen, größtentheils aus Sennen bestehenden Volkes war stets: „Nüts Neu’s!“ (nichts Neues!) Nachdem nun aber selbst die stabilsten Cantone, Uri und Unterwalden, dem Zeitgeist Concessionen gemacht haben, kann Appenzell-Innerroden kaum mehr zurückbleiben. Die jüngere Generation, dem Fortschritte zugeneigt, hat deshalb alle Triebfedern in Bewegung gesetzt, ihrem Ländchen nicht mehr den letzten Platz in der Stufe schweizerischer Civilisation angewiesen zu sehen, und heute, den 26. April 1868, ist der Tag, an dem sich diese Frage auf dem großen Platze im Dorfe Appenzell entscheiden soll. Unsere Wahl fällt deshalb nicht schwer, indem in Trogen heute Geschäfte von untergeordneter Bedeutung abgesponnen werden. Frisch auf daher, nach Appenzell, wenn auch der Himmel umwölkt ist und die Sonne umsonst kämpft, ihren rechtmäßigen Platz am blauen Gewölbe zu behaupten. Die Luft ist indessen warm und angenehm, der Boden trocken und schneefrei; nur die Spitzen der Berge und höheren Hügel sind noch weiß bedeckt. Herrlich grünen die Wiesen, besäet mit den goldgelben Frühlingsblumen. Unser Weg führt am hohen Ufer der Sitter, sie mehrmals überschreitend auf altersgrauen bedeckten Brücken, zuerst in der romantisch-schauerlichen Schlucht von Zweibrücken, zu welcher wir auf der steilen, halsbrechenden Hundwilerleiter hinabsteigen, und dann, jenseits des weithin sichtbaren Dorfes Stein, bei der malerischen Capelle von Lank vorüber.

Die Gegend bietet die anziehendsten Scenen, bald Fels-, bald Waldpartien, und dazwischen zerstreute Weiler und Höfe mit braunen Häusern, auf deren Gesimsen Bienenstöcke prangen. Von Zeit zu Zeit begegnen uns Männer, alte und junge, im Sonntagskleide, den Cylinderhut auf dem Kopfe und einen Degen, Säbel oder Hirschfänger, – nicht etwa angeschnallt, sondern an Griff oder Scheide in den Händen tragend oder auch mit dem Regenschirm zusammengebunden; es ist dies das Symbol des freien Mannes, das seit Menschengedenken in die Landsgemeinden mitgenommen wird; doch hält man sich nicht mehr streng daran, und man sieht viele Stimmberechtigte, namentlich wenn sie nicht geborene Appenzeller sind, ohne Waffen erscheinen. Der Tag der Landsgemeinde gilt allgemein als ein Ehrentag des Volkes, und selbst die ältesten Männer lassen es sich nicht nehmen, den oft viele Stunden betragenden Weg zurückzulegen.

Endlich erreichen wir das Gebiet von Innerroden. Wir erkennen es an zweierlei Dingen: erstens an den häufigen Capellen und Bildstöcken, und zweitens leider an dem – Bettel! Vor einem Jahrzehnt war dieser Uebelstand indessen noch ärger. Man konnte in Innerroden absolut keinem Kinde begegnen, ohne um den „Landsgmändchrom“ (Landsgemeindekram) angegangen zu werden. Jetzt huldigt nur noch ein Theil dieser verwerflichen Unart, und zwar darunter ganz wohl gekleidete Kinder, denen man keinen Mangel ansieht, ja deren frische und fröhliche Gesichter eher das Gegentheil anzuzeigen scheinen. Die besser erzogenen aber halten sich ruhig vor ihren Häusern und verrathen damit, daß sie von vernünftigen, anständigen Eltern stammen. Auf der letzten Sitterbrücke vor dem Dorfe Appenzell, das in einem Thalkessel zwischen den emporragenden Bergeshäuptern liegt, beginnt bereits der Landsgemeindemarkt. Confect und Ellenwaaren werden auf demselben feilgeboten.

Bald sind wir nun im Dorf und Laudeshauptort. Sein Inneres ist städtisch gebaut, mit aneinanderstoßenden Häusern, gepflasterten Straßen und Petroleumbeleuchtung. Auf dem größten Platze, den früher eine uralte Linde, die Zeugin der Ereignisse von Jahrhunderten, schmückte, wird die Landsgemeinde gehalten. Wie zu den Zeiten der Väter steht hier die Bühne da, bekleidet mit den Landesfarben schwarz und weiß, an ihren beiden Enden die „Schwerter der Gewalt“ aufgepflanzt, ihr gegenüber eine einfache Erhöhung für die „Hauptleute“ (Vorsteher, Schulzen) der einzelnen Roden und seitwärts eine solche für die Rathsmitglieder, die man, nicht sehr demokratisch, „Rathsherren“ nennt.

Noch ist die Stunde der Eröffnung des Volksthings nicht gekommen, und wir durchbummeln daher den Flecken noch ein wenig. Die Straßen sind sehr belebt. Ueberall Verkaufslocale; Leckerbissen aller Art, Kinderspielzeug, Kleidungsstücke werden feil geboten [395] und gekauft. An einem Laden hängt eine ganze Sennentracht in Miniatur für einen Knaben (Lederkäppchen, rothe Weste, gelbe Hosen, messingbeschlagene Träger mit darauf abgebildeten Kühen). Die Männer, die zur Landsgemeinde kamen, sind indessen nicht so gekleidet, sondern feierlich schwarz, mit dem unvermeidlichen Zylinder. Die Frauen dagegen tragen ihr malerisches buntes Landescostüm: rothe Mütze, gold- und silberblitzendes Mieder und färben- und faltenreichen Rock. Die in Trauer befindlichen schmücken das Haupt mit einer großen schwarzen Flügelhaube. Alles summt und schwirrt durch einander, man unterhält sich angelegentlich über die Fragen des Tages, kritisirt die Vorübergehenden, macht Geschäfte ab und fragt dem Befinden der Familie nach, wohl auch mit oft ebenso vielem Interesse jenem des lieben Viehes. Und könnten wir nun unbemerkt diesen Gesprächen lauschen, so vernähmen wir ohne Zweifel manche dankenswerthe Aufschlüsse über das Land und seine Verhältnisse.

Sonst nahmen die von der Landsgemeinde zu treffenden Wahlen an diesem Tage das ungetheilte Interesse in Anspruch. Es war von ungeheurer Wichtigkeit, wer Landammann, Landeshauptmann, Landesfähnrich (diese Aemter sind noch Ueberreste früherer kriegerischer Zeiten) werden sollte. Heute aber sind diese persönlichen Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung; die Frage der Verfassungsrevision beschäftigt alle Gemüther in der eingreifendsten Weise. Wird sie dem Lande zum Wohle gereichen oder nicht? Müssen wir uns dem Zeitgeiste beugen? Müssen wir Neues einführen, blos weil es Andere thun? Oder sollen wir im Fortschritt zurückbleiben, blos weil wir den Eigensinn haben, nichts Neues zu wollen? So ungefähr hören wir fragen.

Die Verfassung von Appenzell-Innerroden – fügen wir zur Erläuterung dieser Fragen bei –, eines Ländchens von zwölftausend Seelen auf sieben und einer halben Quadratstunde, die zur Hälfte von unbewohnbaren Bergen und Felsen eingenommen sind, datirt von 1829, eigentlich aber von mehreren Jahrhunderten her und ist die einzige der Schweiz, welche noch ganz den ursprünglichen, von der französischen Revolution nicht beeinflußten Geist verräth. Ihre größten Uebelstände (von vielen anderen zu schweigen) sind die Wahlart der Behörden und die Vermengung der Staatsgewalten. Die (nach der Landsgemeinde) oberste Behörde, der Große Rath, wird nämlich nicht nach der Volkszahl, sondern zu gleichen Theilen von den sieben Roden gewählt, und diese bilden nicht etwa abgegrenzte Gebietstheile, sondern jede besteht aus einer gewissen Anzahl von Geschlechtern, die im ganzen Lande zerstreut sind und sich zur Vornahme der ihnen zustehenden Wahlen besonders versammeln. Ferner sind die vollziehenden und richterlichen Functionen denselben Behörden übertragen, und es giebt kein von der Regierungsgewalt unabhängiges Gericht, also keines, das einem Privaten gegen den Staat Recht geben könnte und würde. Endlich ist trotz der Demokratie die gesammte Verwaltung und Rechtspflege geheim und selbst ihre Resultate werden weder durch den Druck veröffentlicht, wie in allen anderen Cantonen, noch sonst bekannt gemacht.

Doch horch, – es schmettert Blechmusik, und – bum – bum – fällt die große Trommel dazwischen. Alles läuft zusammen, Alles rennt den festlichen Klängen entgegen. Vom Schulhause aus, das am Landsgemeindeplatz liegt, und vor welchem Recruten in Uniform mit aufgepflanztem Bajonnet Wache halten, bewegt sich die Festmusik, alle Mitglieder in schwarzer Kleidung und Hut. Es ist dies eine Neuerung in Innerroden. Bis vor wenigen Jahren war es ein Trupp Trommler und Pfeifer, die mit einem eigenthümlichen, alten, dudelnden Marsche die Beamten des Landes zur Landsgemeinde abholten, jetzt ist die modernere türkische Musik an ihre Stelle getreten, die jedoch in noch weiter vorgeschrittenen Orten bereits überall der reinen Blechmusik gewichen ist.

„Und feierlich nach alter Sitte, mit langsam abgemessnem Schritte“ ziehen die Festmusiker nach dem Rathhause, das beinahe am anderen Ende des Fleckens liegt. Nur kurzes Warten im summenden Menschenschwarme, und sie kehren zurück, hinter ihnen in schwarzen Mänteln, wie man sie manchen Orts bei Leichenbegängnissen trägt, schreiten die Beamten: der „regierende Landammann“, Herr Rechsteiner, einem alten Militär nicht unähnlich, ein freundliches und doch kräftiges röthliches Gesicht mit kurzem Schnurrbart und hoher Stirn; der Landschreiber, Herr Sonderegger, ein intelligent aussehender blasser junger Mann, trotz seiner Jugend der Führer der Revisionslustigen und Verfasser einer gut geschriebenen Broschüre dieser Tendenz; der Landweibel im schwarz und weißen Landesmantel, wie ihn früher die Diener der Gesandten sämmtlicher Cantone an der selig verstorbenen Tagsatzung trugen und damit in der Bundesstadt ein seltsames Farbenspiel darboten; hinter ihnen die Hauptleute und Rathsherren.

Landammann, Schreiber und Weibel nehmen ihren Platz auf der Bühne, hinter den Schwertern der Gewalt. Der Landschreiber legt feierlich das Landesgesetzbuch, in schwarzes Leder eingebunden und mit Silber beschlagen, vor sich nieder auf die Brüstung, und es entsteht lautlose Stille unter der auf dem großen Platze sich verbreitenden Menge der Landleute, die nach dem Beispiel des Landammanns nun alle die Häupter entblößen. Nur die die Versammlung umschwärmenden Frauen und Kinder sind keineswegs ruhig. Zwei Bundesräthe (Mitglieder der obersten schweizerischen Vollziehungsbehörde in Bern), Näff und Schenk, und Regierungsrath Saxer aus dem Nachbarcanton Sanct Gallen befinden sich bescheiden unter der zuhorchenden Menge.

Still, jetzt beginnt die Eröffnungsrede des Landammanns, wegen seines nicht sehr starken Organs und der unruhigen Umgebung schwer zu verstehen. Und das war schade; denn sie wäre würdig, weit hin in die Lande gehört zu werden. Statt, wie gewöhnlich, sich, in Ermangelung wichtiger Geschäfte, in der ausländischen Politik umzusehen, hielt der erste Beamte des Ländchens mit edlem, männlichem Freimuthe dem Volke, das heute über seine Stellung zu verfügen hatte, einen Spiegel vor von dem, was es bisher gewesen und was es werden sollte. Es war bisher seines starren Festhaltens an althergebrachten Formen wegen sprüchwörtlich geworden und man war rings umher geneigt, ihm jede Befähigung zum Fortschritte abzusprechen. Dieser „Verleumdung“ trat der Landammann entgegen und äußerte die frohe Hoffnung, Innerroden werde dieselbe Lügen strafen. Er zeigte klar, daß die Bestrebungen, eine Verbesserung der Zustände herbeizuführen, nur das Wohl des Volkes und Landes bezwecken, daß sie keineswegs, wie Manche fürchteten, die Regierungsgewalt befestigen oder stärken, sondern vielmehr die Rechte des Volkes vermehren und sichern werden. Bisher gab das Ländchen für Armenunterstützungen (diejenigen der einzelnen Roden nicht einmal gerechnet) etwas mehr aus, als für Straßen, Erziehung, Polizei und andere gemeinnützige Unternehmungen zusammen. Solche Zustände müssen sich gründlich ändern, wenn Appenzell-Innerroden nicht mehr als das Eldorado des Müßiggangs und des geistigen Stillstandes bezeichnet werden soll.

Auf diese in gutem Deutsch gesprochene treffliche Eröffnungsrede folgten nun die jährlichen Erneuerungswahlen sämmtlicher Beamten. Zuerst kam der „regierende Landammann“ (dem in den „reinen Demokratien“ immer ein „stillstehender Landammann“ als Stellvertreter zur Seite steht) an die Reihe. Die Abstimmung geht nach altväterischer Weise so vor sich, daß jeder berechtigte Theilnehmer an der Versammlung zur lauten Nennung eines Namensvorschlags befugt ist, wovon indessen stets sehr mäßiger Gebrauch gemacht wird. Diese Namensvorschläge werden vom Vorstände der Versammlung notirt und der Reihe nach mit dazwischen eintretenden Pausen vorgelesen. Wer für einen Vorschlag stimmt, hebt bei Nennung desselben die rechte Hand in die Höhe, nicht selten, bei erregter Stimmung, mit dem markdurchdringenden Rufe „uuf“ (auf)! Diejenigen, welche nach dem Urtheile des Vorstandes und seiner Assistenten (der neben ihm stehenden Beamten) die wenigsten Stimmen auf sich vereinigen, fallen aus der Wahl und es wird zwischen den Übrigbleibenden auf’s Neue abgestimmt, bis es sich nur noch um zwei Namen handelt, und wer von diesen die meisten Hände aus sich vereinigt, wird als gewählt bezeichnet. In Innerroden wird dieser Wahlact noch schleppender als anderswo, einerseits durch die Vorschrift der Verfassung, daß in der Regel nur ein Vorschlag ausfallen darf; andrerseits durch die bei jedem Wahlgange übliche lange Anrede: „Hochgeachteter Herr Landammann, hochgeachtete Herren, getreue, liebe Landleute und stimmberechtigte niedergelassene Schweizerbürger,“ ein Zopf, welchen die angestrebte Reform abschneiden dürfte. Da nun als regierender Landammann der bisherige, Herr Rechsteiner, auch wieder vorgeschlagen wurde, so trat er von der Bühne herab, ließ sich den schwarzen Amtsmantel abnehmen, stand als einfacher Bürger da, und der Landschreiber leitete die Abstimmung. Rauschendes Mehr bestätigte aber den bisherigen Landesvorstand; man zog ihm den [396] Mantel wieder an, und er bestieg die Bühne von Neuem. Als nun die Reihe an den Landschreiber kam, wiederholte sich der nämliche Vorgang. Der Landschreiber und der Landweibel sind die einzigen wirklich, das heißt, so besoldeten Beamten des Ländchens, daß sie von ihrem Amte leben können; diese beiden Stellen allein sind nicht bloße Ehren-, sondern auch Brodämter. Es war daher früher üblich, daß bei Erledigung derselben durch Tod, Resignation oder dergleichen die Bewerber auf die Bühne traten und das Volk um ihre Ernennung bitten durften. Dabei fielen denn oft recht klägliche und entwürdigende Scenen vor.

Der Verfasser dieser Zeilen sah selbst vor mehreren Jahren einen solchen Candidaten, dem nach Uebung zu diesem Zwecke der schwarzweiße Weibelmantel umgehängt worden, auf der Bühne auf die Kniee fallen und das Volk um Gnade für seine armen „ungezogenen“ (statt „unerzogenen“) Kinder bitten. Man erzählt übrigens auch Witze, die bei solchen Gelegenheiten vorkamen. Jemand soll einem Weibelcandidaten zugerufen haben, er sei zu klein und schmächtig, um einen Dieb abzufassen. Dieser aber, nicht verlegen, entgegnete mit echt appenzellischer Schlagfertigkeit: „Es ged (es giebt) nüd luter dera großa wie Du bist.“ Alle naturwüchsigen Innerroder dutzen sich nämlich und erlauben sich dies, jedoch immer seltener, bisweilen auch gegen Fremde. Ob solche Scenen sich wieder ereignen könnten, wissen wir natürlich nicht. An der heutigen Landsgemeinde kamen die beiden Stellen nicht in Frage und ihre beiden Inhaber wurden wieder gewählt, wofür sie mit ruhigen, würdigen Worten, ohne alle Kriecherei, dankten.

Gerade das Gegentheil von Bewerbung findet bisweilen bei den unbesoldeten Aemtern statt. Jeder Landmann ist nämlich verpflichtet, ihm von der Landesgemeinde übertragene Aemter anzunehmen. Es giebt kein Mittel, ihnen zu entgehen, als die Auswanderung. So hatte gerade heute ein solcher seine Demission mit der Bemerkung anzeigen lassen, er habe, um eine Wiederwahl zu verhindern, sein Haus verkauft und das Land verlassen, und so mußte er ersetzt werden. Es dauerte lange, bis die für ein so kleines Gebiet sehr große Anzahl von elf Regierungsgliedern gewählt war, die alle ihre charakteristischen Titel führen. Es sind: die beiden Landammänner, der Landesstatthalter, der Landseckelmeister (Finanzminister), der Landeshauptmann (Kriegsminister), der Landesbauherr (Director der Bauten), der Landesfähnrich, der Armenleutenseckelmeister, der Armenleutenpfleger, der Landeszeugherr und der – Reichsvogt! Sonderbar, aber wahr: in Appenzell-Innerroden besteht das heilige römische Reich deutscher Nation dem Namen nach immer noch. Der Reichsvogt führt die Aussicht bei – Hinrichtungen, welche bekanntlich im ehemaligen Reiche nicht ohne kaiserliche Autorität vollzogen werden durften. Es kommen solche übrigens selten mehr vor.

Endlich war die Wahlfolter beendigt und das Hauptgeschäft des Tages, die Revision, kam an die Tagesordnung. Der Landammann eröffnete über dieselbe die Discussion. Bange Erwartung lag über der Versammlung und den Zuhörern. Der Himmel hatte sich verdüstert, durch die dunkeln Heere seiner Wolken den letzten Sonnenstrahl verdrängt und einzelne Regentropfen begannen zu fallen. Aber die Mannen der Berge ließen sich hierdurch nicht irren und harrten mit entblößten Häuptern auf dem Platze aus.

Nur ein Mann übernahm die undankbare Aufgabe, gegen den Fortschritt zu sprechen; es war der College des Vorstandes der Versammlung, der „stillstehende Landammann“, Herr Broger. Aber auch er wagte es nicht, die Nothwendigkeit einer Reform zu leugnen; er wollte blos Verschiebung. Seine Gründe widerlegte bündig der Rathsherr Julius Dörig (dieser Familie gehören sämmtliche Berg-Gastwirthe des Appenzellerlandes und die besten Fremdenführer an), und den Ausschlag gab eine kräftige Philippika des Landammanns Rechsteiner gegen den Schlendrian. Mit Jubel flogen sämmtliche Hände für Vornahme einer Revision in die Höhe, keine einzige dagegen, und Bravos erschallten aus dem Munde der zuhörenden Nichtappenzeller. Und nun folgte noch die langwierige Wahl einer Revisions-Commission von sieben Mitgliedern; sie fiel außer dem genannten Broger auf lauter Reformfreunde. Dieser Zahl fügte dann noch jede Rode, deren Mitglieder sich nach der Landsgemeinde noch besonders versammelten, zwei weitere Mitglieder bei, so daß Innerroden einen Verfassungsrath von vierundzwanzig Mitgliedern besitzt. Die Landsgemeinde aber schloß nach alter Uebung mit dem feierlichen Eide, den sämmtliche Landleute, die Hände gen Himmel erhoben, mit lauter Stimme nachsprachen und in welchem sie gelobten, dem Lande und seinen Gesetzen treu zu sein. Es sind dies Momente, in denen ein unwillkürlicher Schauer das Herz des Vaterlandsfreundes hebt.

Hoffen wir nun, es werde mit dem Werke der Reform erfreulicher gehen, als im Jahre 1853. Damals wurde ebenfalls die Revision beschlossen, der fertige Entwurf aber im nächsten Jahre von der Landsgemeinde verworfen. Wird die Arbeit des Verfassungsrathes eine rationelle, volkstümliche, Freiheit und Fortschritt begünstigende und stimmt ihr die nächste Landsgemeinde bei, dann werden die beiden letzten Aprilsonntage von 1868 und 1869 in der Geschichte der Schweiz als Ehrentage von Appenzell-Innerroden glänzen.

Otto Henne-Am Rhyn.



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Nr. 3. Die Bittgänge im bairischen Hochlande.

Der katholische Cultus, wenn man ihn von der menschlichen Seite betrachtet, hat ein sehr großes Verdienst. Dies liegt darin, daß er zu einer Zeit der Barbarei mit wahrem Genie die Bedürfnisse des Gemüths erkannt und auf ihnen die Entwickelung seiner gottesdienstlichen Formen begründet hat. Darauf, auf ihrem Sinn, beruht die Macht der Form, ob wir derselben im Tempel oder auf freiem Feld begegnen. Wirkt im ersteren die Macht auf uns ein, welche die Geschichte aus jedes Menschenherz ihm unbewußt ausübt, so auf letzterem die Macht der Natur, die jener andern völlig ebenbürtig ist. Das haben die geistlichen Führer des Volkes wohl begriffen, und die Einrichtung der sogenannten Bittgänge, der Processionen, ist aus diesem Grundgedanken erwachsen. Unwillkürlich öffnet sich das Herz, wenn Berg und Thal vor unserem Blick sich öffnen, unwillkürlich wachen Hoffnung und Glaube in unserm Herzen auf, wenn so die Wunder der Natur vor unseren Augen liegen. Die Psychologie der Religionen ist ihre Stärke, und darum finden wir auch diese Bittgänge nirgends so sehr verbreitet wie gerade in schönen Gegenden und in der schönsten Jahreszeit.

Einen weiteren Antheil daran hat ein anderer Zug, der nun einmal aus der Menschennatur nicht herauszubringen ist.

Wir sind geborene „Malcontents“ und haben die fixe Idee, daß draußen Alles besser zu erhalten ist, als daheim – auch der Segen, auch die Gnade. In den höchsten Schichten und in den niedersten begegnen wir diesem Hang; er schuf die Sehnsucht der Kaiserin Eugenie nach Rom, er beseelt die kleine Landgemeinde, die aus ihrem Bauerndörflein fort und zur Kirche des nächsten Bauerndörfleins hinzieht.

Am weitesten verbreitet und gewöhnlich auch die erste von allen Processionen des Jahres ist jene am Frohnleichnamstag, der im Gebirge ausschließlich als Antlaß bezeichnet wird. Wenn auch schon Pfingsten vorüberging, ist’s doch noch Frühling in den Bergen. Zwischen hohen, schwankenden Halmen wandert der bunte Zug hindurch; wie die rothen Wimpel der Fähnlein wehen, wie das goldene Kreuz im Sonnenlichte glitzert! Und dazwischen der Kindergesang und die feinen Glöcklein, die den Baldachin begleiten, wo die blauen Weihrauchwölkchen gen Himmel fliegen.

Drüben vom spitzen Kirchthurm schallt das Läuten herüber, so klar, so melodisch, jeder Ton ein Friedensgedanke.

Und über dem Allen glänzt die Morgensonne, glänzt dies Himmelsblau, das so siegreich in unsere Seele dringt. Da sinkt das Mütterlein in’s Knie, das auf dem Wege wartet, und segnet das Leben, ihr müdes Leben. Ja, eine solche Stunde ist allmächtig; da muß man an die Zukunft glauben und von allen Worten, die den Frühling preisen, ist keines tiefer gedacht, als das Wort Frühlingsglaube.

Auch ich stand am Wege, an einer alten Linde, wo das Sonnenlicht mit den Blättern spielte. Ein Lebensdrang lag in den Zweigen und in der Erde, es war, als tönte durch alle Lüfte das selige Lied:

„Nun muß sich Alles, Alles wenden!“

Hinter dem Himmel, wo das Sanctissimum getragen wird, schreiten die Würdenträger des Dorfes. Kein Hofmarschall mit goldenen Tressen, kein Ceremonienmeister ordnet ihre Reihe, denn manchmal treffen Alpha und Omega derselben in Einer Person zusammen. Auch die landesüblichen Heiligen und die Standbilder der Ortskirche begleiten den Zug, vor Allem das Marienbild, das von Mädchen getragen wird, ganz so wie es unser wackerer Künstler gezeichnet hat. Doppelt so schön, wie sonst, glänzt heute das silberne Geschnür am Mieder und die goldene Schnur am spitzen Hut – aber schöner als Alles wär’ wohl der Jungfernkranz! An vier Stellen des Weges sind Altäre aufgerichtet für die Evangelien, einer steht auch am Feldkreuz, wo die dichten Buchenzweige den Waldesrand bekränzen. Dort wird der Segen gegeben mit der leuchtenden Monstranz; die Gebirgsschützen aber mit blankem Stutzen und grünem Federhut bilden die Ehrenwache und von den Bergeswänden hallt das Echo der Freudenschüsse hinein in’s Alleluja.

Wenn die Frohnleichnamszeit vorüber ist, beginnen die sogenannten Kreuzgänge zu allen möglichen Zwecken. In Tirol werden sie insbesondere zu Ehren des heiligen Isidor und der heiligen Nothburga gehalten, welche die Schutzpatrone der Dienstboten sind; bei uns in Baiern sind die Ernteprocessionen geläufig, um den Schutz der Früchte gegen Hagelschlag zu erflehen. Darauf halten die Bauern auch heutzutage noch immer viel und die Hauptfrage wenn ein neuer Pfarrer kommt, ist, ob er auch „wettergerecht“ sei. Das heißt etwa so viel: ob er ein drohendes Gewitter von der Gemeinde wegbeten und der Nachbargemeinde auf den Hals laden kann. Auch das „Schaueramt“ (ein Hochamt zur Abwendung des Hagelschauers) wird in den meisten Gemeinden alljährlich gehalten. Die geistlichen Herren hüten selber diesen Rest ihrer Prophetenwürde sehr eifersüchtig, und man hat es einem alten Heißsporn nicht wenig verübelt, als er einst in der Gemeindeversammlung mit der Faust auf den Tisch schlug und ausrief: „Mein Herrgott, für dös Fach ist der Hagelverein.“

Ganz besonders verbreitet in den Bergen ist auch der Mariencultus; sechszig Procent aller Mädchen heißen Midei (Maria), wenn sie schon in der Regel nichts, als den Namen (und hie und da das Kind) mit der Jungfrau gemein haben. Der Maria sind auch die meisten wunderthätigen Stätten geweiht, und unter diese zählt in erster Reihe Birkenstein. Weit und breit bekannt ist die kleine Capelle am Fuße des Wendelstein, und man könnte einen ganzen Menschen zusammensetzen aus all’ den Gliedmaßen, die dort in Wachs gegossen aufbewahrt werden zum Andenken an wunderbare Errettungen. Decken und Wände sind mit Votivtafeln tapezirt, welche in geheimnißvoller Bilderschrift und in verwegenen Hieroglyphen „viel wundersame Mähr“ berichten. Man kommt in wahren Schrecken, wenn man da erst sieht, was einem Alles passiren kann! Damit dies nicht geschehe, gehen alljährlich zahlreiche Bittgänge aus den Gemeinden des Osterlandes zwischen Isar und Inn nach Birkenstein, und wenn der geneigte Leser etwas auf dem Herzen hat, dann braucht er sich nur anzuschließen. Er braucht nicht zu befürchten, daß allzuviel gebetet wird, denn der bunte Tumult eines solchen Kreuzgangs stellt kein Bild der Andacht dar. Der Weg über die Berge ist viel zu weit und mühsam, und eine gewisse Feierlichkeit hält der Mensch nicht lange aus.

Wann es dämmert, zwischen zwei und drei Uhr Morgens, dann versammeln sich die frommen Pilgrime in der Mitte des Dorfes. Das alte Mütterlein trippelt herbei mit dem Rosenkranz zwischen den dürren Fingern, die schmucken Mädchen drehen und wenden sich, um zu sehen, ob sie (Gott) wohlgefällig seien. Wie ein Wespenschwarm schwirren die Buben, welche überall sind, wo „etwas los“ ist, durch die versammelte Menge. Der echte Bauer hat seinen rothen Regenschirm unterm Arm, so oft er auf die Reise geht, und wenn’s auch nicht regnet, so sieht man wenigstens, daß er einen hat. Das Regendach gehört nun einmal zur vollständigen Ausstaffirung und wird mit seinem deutschen Namen Parapluie oder Parasol genannt. Auch der griechisch-germanische Bastard „Paradachl“ hat im oberbaierischen Dialekte das Bürgerrecht. Wer den Bittgang ganz besonders feierlich nimmt, der erscheint im Mantel, denn dieser ist das wahre Festtagskleid der Männer. Daß es Juli ist, thut nichts zur Sache, in der Physik des Bauern heißt es: was gegen die Kälte gut ist, ist auch gut wider die Hitze.

Endlich kommt der Herr Beneficiat im Chorrock, das Brevier in den Händen. Mit dem ganzen Gewicht seiner Erscheinung (einhundertundsiebenzig Pfund) tritt er unter die Menge und ordnet seine frommen Schäflein. Auch die Knaben, die ihm ministriren, machen sich wichtig, denn sie hüten gewöhnlich die Ziegen und heute sind sie Adjutanten des Himmels! Fahnen und Bilder bleiben bei diesem Gang zu Hause, nur ein schlichtes Kreuz wird vorangetragen; ein Vorbeter ist ernannt und beginnt die Litanei zu Ehren der allerseligsten Jungfrau. Im Anfang ist wohl noch innere Sammlung da, und wer dem Zuge begegnet, der bleibt mit entblößtem Haupte stehen. An jedem Hause drängen sich die kleinen goldköpfigen Kinder im Hemdlein an’s Fenster, und die Mutter zeigt ihnen mit der Hand hinauf zum „Himmelvater“. Das sind Augenblicke der Weihe, aber es sind nur Augenblicke. – Wie der Zug bergan von der Straße abgeht, lockert sich die Disciplin; das Beten wird nun programmmäßig eingestellt und beginnt erst, wo die Häuser wieder beginnen. Unwillkürlich erinnert

[477]

Erntebittgang.
Nach der Natur aufgenommen von Ph. Sporrer.

[478] dies an die Truppenmärsche, auf denen auch die Musik nur spielt, wenn sie durch Dörfer zieht.

Je höher der Zug auf den waldigen Bergrücken emporsteigt, die von drei Seiten das Leizachthal abschließen, desto mehr steigt jetzt die allgemeine Heiterkeit.

Die Buben machen athletische Uebungen und fangen an, sich durchzuprügeln, denn das ist von Alters her die Form, in welcher Buben ihrer Begeisterung Luft machen. Burschen und Mädchen, welche anfangs so prüde thaten, werden galant, weil die Hindernisse des Weges sie herausfordern. Mancher Seufzer quillt aus der Brust der alten Mantelträger, auf deren Glatze der neckische Sonnenstrahl herumgaukelt.

Wenn der Zug über den „Kühzagelberg“ thalabwärts geht, dann bietet sich auf halber Höhe ein reizender Ruhepunkt. Dort öffnet sich unvermerkt der Wald, und durch’s schimmernde Buchengehäng schauen Wendelstein und Breitenstein herüber. An ihrem Fuße aber leuchtet ein weißes Thürmlein, das gehört der kleinen Marienkirche, dem gebenedeiten Ziel unseres Weges.

Hier dacht’ ich oft, wenn ich als Knabe den Zug begleitete, an die Pilger vor Jerusalem, von denen der Lehrer in den Geschichtsstunden erzählt hatte, wie sie auf’s gelobte Land hinunterschauten. Ich sah es nicht im Eifer der Begeisterung, daß die unsrigen Nagelschuhe statt der Sandalen trugen und Haselstöcke statt der Ritterschwerter; ich glaubte nicht, daß die Kuppel des heiligen Grabes schöner glänzen könne, als das stille Kirchlein am Birkenstein.

Was doch die Phantasie nicht thut, wenn sie einen besessen hat! „Paris en Amérique“ – Jerusalem in Birkenstein!

An dem Sträßchen, das in’s Fischbachauer Thal führt, steht eine einsame Wirthschaft, „zum Neuhaus“ geheißen. Dort führte lange Zeit der „Bocksteffel“ das Regiment, der seinen Namen von dem Thiere trug, welches er so gern mit dem Wildpret verwechselte, wenn seine Gäste solches bestellten.

Dort hielten die Kreuzfahrer zum ersten Male Einkehr.

Wie die Heuschrecken über Aegypten, fielen sie über die Küche her; umsonst waren Schürhaken und Feuerzange, mit welchen die resolute Köchin das Hausrecht vertheidigte; Jeder nahm, was er erwischen konnte.

Auch des „Springquells flüssige Säule“ stieg aus den braunen Fässern auf, und da war bald die Mühe vergessen, die man erlebt hatte und noch erleben sollte. Der gewichtige Beneficiat ging mit gutem Beispiel voran und bewährte eine unermeßliche Langmuth, ehe er die erfrischten Himmelsbürger zum Weitermarsche in die Höhe trieb.

Nun mußte wieder gebetet werden, und auf dem kleinen Sträßchen, das sich von Neuhaus nach Birkenstein schlängelt, schlängelten sich die frommen Wünsche der Wallfahrer empor. Ob es wirklich lauter fromme waren? Nach der Ankunft, die noch zeitig genug statt hat, wird das Amt in der kleinen Kirche gehalten, und diesem folgt, was man in höheren Sphären ein „Festdiner“ zu nennen pflegt.

Es fehlt zwar Manches an der vollen Feinheit des Begriffs, zum Beispiel Messer und Gabeln, Tische und Bänke, Toaste auf die deutsche Einheit und Aehnliches. Aber die Hauptsache ist doch da und das ist – die Begeisterung. Wer sie bezweifeln wollte, der müßte sie auf dem Heimweg gewahren, welcher von Sachverständigen als die Krone des Tages bezeichnet wird.

Die volkswirthschaftliche Agitation, welche gegen die vielen Feiertage eifert, richtet sich auch gegen diese Buß- und Kreuzgänge, und zwar mit vollem Rechte. Ein eigentliches Interesse daran hat ja nur der Klerus.

Es ist zwar die gemeine Meinung, daß unser Volk mit diesem unbedingt sympathisire; allein gerade für das bairische Gebirg läßt sich dies keineswegs so allgemein behaupten. Den Schild der Pietät, hinter dem sich so viel Wust und Wüstlinge verbargen, haben die letzten Decennien zertrümmert. Der scharfe Luftzug der Kritik, der durch unsere Zeit geht, ist auch in die Thäler gedrungen, von denen wir sprechen, und hat den Leuten Muth zum „Schimpfen“ eingeblasen. Eine angeborene Dialektik kommt zur Gelegenheit hinzu und richtet sich in erster Reihe gegen den Klerus. Der Pfarrer ist nicht mehr exlex, wie er war, seine Predigt wird nicht mehr nacherzählt, sondern kritisirt und ist vor dem Volkswitz keineswegs sicher.

Mit dem Respect vor den Personen ist selbst der Respect vor der Sache ein wenig geschwunden, und auch der Boden der Berge spürt, wenn freilich in kleinerem Maße, die Procente der Frivolität, welche im Boden der Städte wuchert. Die junge Generation ist besonders gelehrig für solche Traditionen, die reiferen Männer aber merken, daß hinter der religiösen Stellung der Priester die politische allzu dreist sich breit macht. Unbedingten fanatischen Respect vor der körperlichen Erscheinung des Klerikers haben fast nur noch die alten Weiber. Da kann es wohl passiren, daß der begeisterte Regenschirm einer solchen bäuerlichen Matrone mit dem interconfessionellen Cylinder des harmlosen Fremdlings zusammentrifft, der am Wege steht und meint, man schaue einen Bittgang etwa gerade so an wie ein Regiment Soldaten.

Carl Stieler.