« Kapitel B 18 Beschreibung des Oberamts Nürtingen Kapitel B 20 »
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19. Neckar-Thailfingen,

evangelisches Pfarrdorf mit Marktgerechtigkeit, Gemeinde III. Cl. mit 1180 Einwohnern, darunter 5 katholische Filialisten von Unter-Boihingen, 16/8 Stunden westsüdwestlich von Nürtingen, am Neckar und an der Staatsstraße von Stuttgart nach Urach und Reutlingen, sowie an der Straße von Nürtingen nach Tübingen, Sitz eines Amtsnotars, eines Postamts und eines Distriktarztes, auch Stationsort des k. Landjäger-Corps (Forstamts Tübingen).

Als Neckarthalort hat Neckar-Thailfingen mit seiner ziemlich ausgedehnten Markung den beiden vorgehenden Gemeinden, namentlich Neckarhausen, in der Hauptsache analoge Verhältnisse. Der Fluß, dessen Gefälle unterhalb des Orts gering ist, schadet häufig durch Überschwemmungen, hat häufige Kiesriffe abgesetzt und Altlachen gebildet, so daß seine Regulirung schon sehr große Kosten verursacht hat und von Zeit zu Zeit immer wieder verursacht. Auch die Authmuth, der Grenzbach entlang der Markung von Raidwangen, und der Höllbach werden bisweilen den nahen Wiesen verderblich. Das Thal hat vielen Kiesgrund, auch fruchtbaren Sandboden, während an den Hängen ein schwerer fetter Lehmboden vorherrscht, fruchtbar besonders an Dinkel, dessen Gehalt den hiesigen Fruchtbau unter die bessern des Oberamts stellt. Hanf wird viel gebaut, auch in neuerer Zeit mehr Flachs als früher, Ackerpreise 40, 240–600 fl. Wiesenfutter wird viel und gut, doch seit der gesteigerten Rindviehhaltung wenig mehr zur Ausfuhr erzeugt. Preise 120–200-500 fl. Der Weinbau ist untergeordnet, wichtiger die Obstbaumzucht und in zunehmender Ausdehnung.[1] – Die Pferdehaltung ist die stärkste im Oberamt und hauptsächlich durch den lebhaften Straßenverkehr veranlaßt; die Nachzucht aber hat abgenommen. Die Rindviehzucht ist in blühendem Zustand und wird fortwährend durch gute Farrenhaltung (neuerlich weniger durch gut gewählten Zukauf) verbessert. Mehrere Bürger beschäftigen sich noch immer namhaft mit Schafhaltung; auch die Schweinemast und Geflügelzucht verdienen genannt zu werden. Die Fischerei, Eigenthum einzelner Bürger, ist auch hier nicht mehr so ergiebig als früher, doch liefern die Altwasser bisweilen schöne Aale und Hechte.

Der Gesundheitszustand der Einwohner war früher häufig durch den Einfluß der Altwasser gefährdet, indem kalte Fieber | hier einheimisch waren; durch allmählige Austrocknung oder Ableitung eines Theils der stagnirenden Gewässer hat sich das Übel zwar vermindert, doch noch nicht ganz gehoben. Hinsichtlich der intellektuellen Ausbildung sollen die hiesigen Leute auf einer höhern Stufe stehen als mehrere der Nachbarorte. Die ökonomischen Verhältnisse, über deren Zerrüttung vor etwa zwanzig Jahren noch sehr geklagt wurde, haben sich unläugbar verbessert, und können, so wie die Mittel des Auskommens, vergleichungsweise befriedigend genannt werden. Außer Feldbau und Viehzucht müssen unter den Erwerbszweigen auch die mancherlei Gelegenheiten zum Verdienst gezählt werden, welche die Landstraßen und die starke Durchfuhr darbieten, als Vorspann, Straßenarbeiten etc., und Wasserbauten. An Handwerksbetrieb fehlt es nicht, wiewohl in dieser Hinsicht noch mehr Thätigkeit zu wünschen wäre. Das Bäcker- und Wirthschafts-Gewerbe (7 Schildwirthe) ist das stärkste; auch findet sich eine Bierbrauerei, eine kürzlich neu erbaute Getreidemühle, eine Färberei und eine Seifensiederei. Der Ort hat ein Gemeindeback- und Wasch-Haus, eine Apotheke und drei gemischte Waarenhandlungen; auch wird lebhafter Handel mit Bau- und Schnitt-Holz getrieben. Die Kram- und Vieh-Märkte, welche alljährlich zweimal, im Juli und November, abgehalten werden, sind, besonders letztere, sehr besucht und lebhaft; auch wird viel Hanf, Flachs, Abwerg und Tuch zu Markt gebracht. Seit zwei Jahren besteht versuchsweise eine Gemeindebleiche, bei welcher zwei Bleichknechte zur Aufsicht angestellt sind, und welche im Ort selbst wie in der Nachbarschaft Anklang findet.
Außer einem schönen Laubwald von etwa 260 Morgen hat die Gemeinde einen nicht unergiebigen Besitz an den Weidenpflanzungen des Neckarbaus, und bezieht aus der verpachteten guten Schafweide jährlich 1000 fl. Auch hat sie den Pfarrwidumhof erworben und trägt den Berghof, einen ehemaligen Kloster Hirschau’schen Pfleghof, zu Lehen, woraus sie an das Kameralamt die Gült liefert, welche sie von den einzelnen Bürgern, unter welche die Güter vertheilt sind, einzieht. Die Grundabgaben, welche an den Staat (Universität Tübingen), an die Hospitalpflegen Eßlingen, Kirchheim und Nürtingen, sowie an die örtliche Stiftungspflege zu entrichten sind, sind bedeutend. Von dem großen Zehnten gehören dem Staat (Universität) 11/24 und dem Hospital Kirchheim 13/24. Der kleine Zehnte gehört der Pfarrei, welcher in Gemeinschaft mit der Commune als Inhaberin des Widumshofs der Heuzehnte zukommt.[2] Letztere bezieht auch den Strohertrag nebst 5 Scheffel | Dinkel und 5 Scheffel Haber von dem Kirchheimer Zehntantheil gegen Einführung des letzteren. Der Weinzehnte gehörte der Universität.
Neckar-Thailfingen (in der Volksaussprache Dolfingen, was auf das ursprüngliche Dagolfingen deutet) ist ein ansehnliches Dorf, am linken Neckarufer hin lang gestreckt, ohne eigentliche Seitengassen. Die Pfarrkirche (zum h. Martin) gehört zu den beachtenswürdigern älteren Bauwerken Württembergs; sie ist im edlen Styl der byzantinischen Bauart wahrscheinlich zu Anfang des 12ten Jahrhunderts erbaut. Der Chor ist außen rechtwinklich abgeschlossen und hat ein hohes und schlankes Rundbogenfenster; innen ist die Chornische halbrund. Das Langhaus ist dreischiffig; das Mittelschiff hat, wie die beiden Seitenschiffe, eine flache Bretterdecke. Das offenbar spätere südliche Seitenschiff hat Spitzbogen-, das nördliche kleine runde Fenster, beide aber gegen Morgen halbrunde Altarnischen, gleich dem Chor. Die Säulen haben Würfelcapitäle. Das Innere ist durch Emporen sehr verbaut. Gegen Süden steht in der Mitte der Abseite eine zierliche gothische Vorhalle. Das Ganze ist mit gelbem Sandstein mehr nur überkleidet, als aus solchem wirklich aufgeführt, und zeigt besonders am Chor mehrere sehr bedenkliche Risse. Der Thurm an der Abendseite, der ein schönes, harmonisches Geläute trägt, ist jünger als die Kirche, ebenfalls eine sehr reinliche Arbeit aus gelben Sandsteinquadern, aber gegen Südwest merklich gesenkt. Die weiten Schallfenster haben sehr zierliche gothische Füllungen von ähnlicher Zeichnung, wie am kleinen Stiftsthurm in Stuttgart. Über dem Eingang liest man die Jahrszahl 1501 (nicht 1401). Das Eigenthumsrecht an die Kirche und somit die Baulast gehört ohne Zweifel dem Ortsheiligen. Das Kirchenpatronat steht der Universität Tübingen zu, ein Recht, das unter der vorigen Regierung eine Zeitlang suspendirt war und erst 1819 wieder zurückgegeben wurde. Vor der Reformation bestanden eine Frühmeßpfründe, eine Marie-Magdalenen- und eine Caplanei zu U. L. Frau. Erstere hatte Württemberg, die zweite das Fischer’sche Geschlecht und letztere das Capitel Urach zu verleihen. Diese sämmtlichen Pfründen wurden 1536 für die Universität eingezogen (Hofmann Darstellung des ökonom. Zust. der Tüb. Hochsch. S. 15). In alten Zeiten scheint die hiesige Parochie über mehrere benachbarte Orte, namentlich Schlaitdorf, ausgedehnt gewesen zu seyn, jetzt ist noch Altdorf hieher eingepfarrt. Der oberhalb der Kirche gelegene Begräbnißplatz ist 1844 erweitert und in eine neue und gefällige Anlage umgeschaffen worden. Das Pfarrhaus in hoher Lage, mit schöner Aussicht, 1770 neu erbaut, war Eigenthum der | Universität, ist aber an die Staatsfinanzverwaltung übergegangen. Das Schulhaus wurde 1829 auf Gemeindekosten erweitert; es unterrichten ein Lehrer und ein Lehrgehülfe. Ferner bestehen eine Industrieschule mit zwei Lehrerinnen, eine Kleinkinderbewahranstalt und zwei Privatanstalten, in welchen Unterricht in den Elementen, Realien und Sprachen ertheilt wird. Öffentliche Gebäude sind noch: das Rathhaus mit einem kleinen Thürmchen, das Armenhaus, 1 Backhaus, 2 Waschhäuser, 1 Ökonomiegebäude etc. Das Stationsgefängniß ist 1821 auf Staatskosten eingerichtet worden. Zu den vorzüglichern Privathäusern gehören die Post mit Gasthof am obern Ende des Orts, und die Apotheke. Eine irdene Teuchelleitung versieht den Ort hinreichend mit gutem Quellwasser. Bisher führte am untern Ende des Orts eine hölzerne, der Gemeinde gehörige Brücke über den Neckar. Nunmehr aber hat die Gemeinde die Bau- und Unterhaltungs-Last gegen Verzicht auf das Brückengeld im Capitalbetrag von 10.000 fl. und gegen ein in zehnjährigen unverzinslichen Zielern zu bezahlendes Capital von 17.316 fl. abgelöst. Dagegen ist eine neue, auf Staatskosten erbaute, ganz steinerne Brücke, etwas oberhalb der alten, im Sommer 1844 begonnen und 1847 vollendet worden, welche eine Zierde des ganzen Neckarthals ist. Der Kostenüberschlag beträgt 132.000 fl.

Ein Hügel über dem südwestlichen Ende des Orts, über welchen die Straße nach Tübingen führt, trägt den Namen des Burgstalls. Es ist dieß einer der Standpunkte, an welchen die Umgebung Neckar-Thailfingens reich ist, von wo sich das Gesammtbild der Gegend ebenso anmuthig als großartig darstellt. Von der Burg ist längst keine Spur mehr vorhanden. Ums Jahr 1427 muß sie noch gestanden haben, s. hienach. Ihre Stelle ist jetzt bewaldet. – Spuren alter Wohnstätten finden sich hie und da auf der Höhe zwischen Neckar-Thailfingen und Aich, daher die Volkssage will, daß der Ort ursprünglich dort gestanden habe. Von dem Heerweg oder der Hochstraße, welche die diesseitige Markung gegen Grötzingen abgrenzt, s. oben bei Grötzingen und Neckarhausen.

Ums J. 1090, als Tageluingen, kommt der Ort vor aus der Veranlassung, daß die Grafen Liutolt und sein Bruder Cuno von Achalm an Kloster Hirschau einen Antheil an der Kirche und ansehnliche Güter, dergleichen bis in seine spätesten Zeiten dieses Klosters allhier besaß, vergabten (Ortlieb bei Hess 170, Cod. Hirs. 94). An die Universität Tübingen kam die Kirche mit andern Gütern des Stifts Sindelfingen, welchem letztern sein Propst Heinrich Degen († 1457) solche erworben hatte (Sattler Topogr. | 328. Cleß. C. 297). An Württemberg kam der Ort mit Nürtingen.

Auf der Ecke zwischen dem Authmuth- und Neckar-Thal erhob sich einst die Burg Liebenau. Auch diese ist längst verschwunden; aber ihre Stelle ist schon aus der Ferne kenntlich an einem Schopf jungen üppigen Eichengehölzes, von welchem sie überwachsen ist. Wall und Graben sind deutlich zu erkennen; vor etwa 50 Jahren sollen noch Kelleröffnungen sichtbar gewesen seyn. Von der Burg herab rinnt ein nie versiegender Brunnen vortrefflichen Wassers. Liebenau war das Stammhaus eines eigenen Geschlechts, das seinen Namen davon trug, und wovon einige Glieder ihre Denksteine in der Ortskirche haben (s. hienach). Milites de Liebenowe sind im J. 1270, Febr. 2., Zeugen in einer Urk. Heinrichs von Neuffen, Conradus de Liebenowe nobilis erscheint in einer Archivalurk. von 1294, Mai 14.; Benz von Liebenau kommt 1331, Febr. 25., als Zeuge vor. Im J. 1349 war die Burg bereits an die spätische Familie übergegangen gewesen; damals verkauften Utz und Heinz Spät ihre Burg Liebenau mit Zugehör an Benz von Aldingen und 1368 Berthold von Aldingen dieselbe an Hans und Fritz Schanbach für 800 Pfd., Hans von Schanbach aber 1392 an Kl. Denkendorf die „Liebenauer Güter und Gefälle, d. i. Tagwerk, Wiesen, Landgarbe, Zinsen, Gülten und andere Gefälle“ (Schmidlin Beitr. 2, 36. 70).

Ob der Name Lichtenau, welchen in den Lagerbüchern ein Distrikt gleich am Ort, rechts von dem Fahrweg nach Grötzingen führt, ebenfalls einer Burg oder einem abgegangenen Ort angehörte, haben wir nicht zu ermitteln vermocht.

Über das Kirchengeschichtliche s. auch Grötzingen. Herr Ludwig von Bernhausen wird 1319 Kirchherr von Taluingen genannt; 1385 heißt es, in den Kirchensatz von Thailfingen gehören Thailfingen, Grötzingen, Schlaitdorf und Altdorf; er war damals schon im Besitz der Kayb. Berthold Kayb und Else von Dürrmenz, seine Hausfrau, übergeben 1428 denselben dem Stifte Sindelfingen; sofort gestattet auch der Abt von Reichenau, daß Berthold den von Reichenau zu Lehen getragenen Zehnten dem Stifte übergebe, doch daß dieses dafür jährlich 1 Pfd. Pfeffer entrichte. In dem Dorfe selbst waren, nach einem Bericht von 1535, in ältern Zeiten viele Edelleute gesessen; ein Burgstall fand sich aber nicht mehr. Conrad von Winberch, ein Freier, tritt 1301 sein Recht an die Bissinger Hube an Adelheid, Wittwe Bertholds von Schloßberg, ab. Berthold Kayb, Edelknecht zu Neckar-Thailfingen gesessen, kommt 1427 vor. Das Kloster Hirschau hatte hier eine eigene Pflege oder Verwaltung, auch noch nach der Reformation. | Namentlich besaß es die oben erwähnten beiden Berghöfe, „ob dem Dorf gelegen,“ 140 J. Äcker und Wiesen und 25 Mrg. Wald umfassend, welche es 1515 der Gemeinde gegen jährliche Gülten daraus abtrat. Dieselbe kaufte auch 1521 vom Kloster den 60 Mrg. großen Wald Rysch um 200 Pfd. Hell. (s. auch Groß-Bettlingen). – Ums Jahr 1456 hat das Dorf durch Feuer sehr gelitten. Im 30jährigen Krieg (im Oktober 1634) brannte es fast ganz ab; die Einwohner zerstreuten sich, und erst 1645 wurde wieder ein eigener Pfarrer bestellt. 1609 herrschte die Pest. – Von Liebenau sagt der Bericht von 1535: es seyen nur noch Gemäuer und Graben sichtbar. Conrad von Liebenau, Agnes von Neuhausen, seine Hausfrau, und ihre Kinder Bernhard und Elisabeth liegen in Thailfingen begraben. Agnes von Liebenau verkauft 1344 mit Zustimmung ihres Sohnes Berthold drei Leibeigene von dem Neuenhaus an die Frauencaplanei zu Aich um 5 Pfd. Heller. Das Kloster Denkendorf erhielt 1392 nicht bloß die Liebenauer Güter (wie Schmidlin sagt), sondern auch laut der Originalurk. „die Vestin Libenawe“ mit aller Zugehör an Leuten, Gütern, Vogtei etc. von Hans von Schanbach, und zwar der Gutthaten wegen, die es diesem erwiesen hatte.

Fußnoten:

  1. Im J. 1847 wurden nach öffentlichen Blättern 50–60.000 Simri Kernobst und 12.000 Simri Zwetschgen zum Verkauf gewonnen.
  2. Das Einkommen der Pfarrei ist seit 1. Jul. 1846 verwandelt.
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