Berliner und Wiener Küche

Textdaten
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Autor: Paul von Schönthan
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Titel: Berliner und Wiener Küche
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 662–663
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Berliner und Wiener Küche.

Von Paul von Schönthan.

Ich weiß, es ist ein prosaisches Thema, das ich da im Begriff stehe zu berühren, aber gerade die Leserinnen, die „edlen Frauen“, denen am meisten daran gelegen ist, „daß Alles wohl sich zieme, was geschieht“, werden mir den Fehltritt, „vom Essen“ zu sprechen, vergeben; ach, die poetischste der Frauen hat Stunden gehabt, oder sie warten ihrer, wo die prosaische Küchenfrage an sie herantritt, und es ist eine erdrückende Last, die auf den Schultern des zarten Geschlechtes ruht.

Besonders die norddeutschen Hausfrauen leiden bitter unter dieser Bürde, es lastet wie ein Alp auf ihnen, dieses „was soll morgen gekocht werden?“ und ich kenne eine liebenswürdige reizende junge Hausfrau, auf welche die gewöhnlich beim Familiensouper erstattete Meldung: „Der Schlächter ist da“ (um die Bestellung für den nächsten Tag entgegenzunehmen) fast jedesmal eine verwirrende und niederschlagende Wirkung ausübt.

Die Berliner Küche, die fast durchweg den durch Naturanlagen nicht eben ausgezeichneten, vielfältig in Anspruch genommenen weiblichen Dienstboten überlassen ist, kennzeichnet sich durch eine Einfachheit, welche mich, als ich vor einer Reihe von Jahren Berlin zum ersten Mal betrat, erschreckte und erschütterte; jeder Oesterreicher hat ja ein unendlich feines Empfinden dafür. Ich war niedergeschlagen, vernichtet von dem Eindrucke, angenehme und wirklich charmante Menschen, die so gebildet und geistreich sprachen, bei einem dem süddeutschen Geschmack [663] widerstrebenden, spartanisch einfachen Mahl zu finden, welches augenscheinlich ohne jegliche Aufmerksamkeit eingenommen wurde. Schaudernd fühlte ich die Ueberzeugung sich in mir befestigen, daß Kochen und Essen hier vornehmlich als Bedürfniß aufgefaßt werden. Mit Bitterkeit erfüllte mich die Dürftigkeit der Restaurationsspeisenkarte, von stiller Wuth verzehrt schob ich die grünlichen, sich zerbröckelnden Kartoffeln, die jedes Fleisch oder Fischgericht herkömmlicher Weise begleiten, bei Seite, und alle Geister des Spottes erwachten in meinem Innern, als ich zum ersten Mal ein „Wiener Schnitzel“ vor mir stehen sah, dessen feuchte Oberfläche von einer sich in den Schwanz beißenden halben Sardelle gekrönt war, und dann erst die ganz überflüssige düstere Sauce!

O diese Sauce! Wer hat die Stirn, sie mit ehrlicher Ueberzeugung vertheidigen zu wollen? Ist es erhört, daß man jeden Braten ungeachtet seiner zoologischen Herkunft mit derselben charakterlosen, nichtssagenden Tunke übergießt? Ja der Schleier dieses offenen Küchengeheimnisses falle ganz und gar; vernehmt es, ihr Musen der hehren Kochkunst: diese Sauce wird von den Restaurants fertig bezogen aus dem Kaufmannsladen, von demselben dunklen Ehrenmann, der noch mehr derartige Präparate auf Lager hält: Suppenextrakte, Konserven, die nur aufgebrüht oder erwärmt zu werden brauchen; er verkauft uns einen fertigen Hasenbraten in der Blechdose und den Pudding in einem Pappschächtelchen. Man kann das ganze Diner in die Tasche stecken: die Suppe in die Westentasche, den Braten in die äußere Rocktasche, den Pudding in die innere. Die Anweisung zur Fertigstellung dieses Festgerichts ist auf die Verpackung gedruckt, sie umfaßt kaum zwei Zeilen, jedes Kind kann den Pudding bereiten. Eine Küche ist dazu kaum erforderlich, er kann im Eisenbahnkoupé, während des Marsches, überall hergestellt werden.

Der Berliner betrachtet seinen Sonntagspudding selbst mit leisem Spott. „Wonnekleister“ nennt er das aus feinem Stärkemehl bestehende, schreckensbleiche, rindenlose Gebilde, das vergeblich einen Halt sucht und in beständiger zitternder Bewegung verharrt. Wo verwöhnte Gaumen zu Hause sind, übergießt man ihn zuletzt mit einer versüßten Anilinlösung; um dem Auge Ruhepunkte zu bieten, hat man auch schon den Versuch gemacht, den Abhang dieses Zitterhügels mit einigen abgehäuteten Mandeln und ebenso viel Korinthen zu verzieren. Aber das ist eitel Zierrath – der Kern ist verderblich!

Welch überwältigendes Maß von Kunsttüchtigkeit setzt dagegen die Sonntagsmehlspeise des Wieners: sein Auflauf, seine Krapferln oder was es sonst ist, voraus; von dem kalten Berliner Sonntagspudding bis zu dieser festtägigen Leistung der Wiener Köchin ist ein Schritt, der gar nicht auszumessen ist. Das Reich der Wiener Köchin – die übrigens gewöhnlich aus Böhmen stammt – ist ein Laboratorium und auch wieder ein Atelier. Die Recepte der Alchemisten sind nicht verwickelter, verlangen nicht mehr Sorgfalt als die Vorschriften zur Bereitung eines „Tag- und Nachtpuddings“, eines „Schmankerlkochs“, eines „abgetriebenen Gugelhupfs“. Das ist ein ewiges Abzählen, Messen und Abwiegen aus Papiersäcken, großen und kleinen Düten, ein Mahlen und Stoßen, Rösten und Rühren, Durchsieben und Quirlen, und ein Sorgen und Zweifeln ohne Ende, ob der Auflauf zuletzt jene Höhe erreichen wird, welche eine sichtbare Garantie für seine innere Vollkommenheit bildet, ob er sich schlank und frei aus der Form lösen wird, denn gerade hier legen die boshaften Dämonen der trefflichsten Köchin noch die gefährlichsten Fallstricke.

Man schlage in einem österreichischen Kochbuch das Kapitel der Mehlspeisen auf, es umfaßt viele Bogen, denn die Entstehung ganzer Gattungen: der Aufläufe, der verschiedenen Nudeln, Nockerl, Koche, Krapfen, Knödel, Strudel, Wandel, Schmarn etc. wird hier mit liebevoller Genauigkeit beschrieben. Die meisten dieser Anweisungen erfordern ein Studium, z. B. jene für „Salzburger Nockerln mit Skarnitzen“, für „Gegossene Krautdalkerln“, für „Gebackene Hufeisen“ und „Schinkenfleckerln in Butterteig“ – das wird alles vorher in Milch gekocht, geröstet, geschält, geschnitten, ehe es überhaupt zur Verwendung kommt; da wird ein Teig mit kochender Milch – die vorher eine halbe Stunde „gesprudelt“ wurde – angemacht, dann wird Schnee geschlagen, Zucker gestoßen, Formen werden bestrichen und ausgelegt, und der Backofen wird von oben und unten geheizt, denn fast jedes Recept schließt mit den Worten … „und lasse es schön goldgelb backen.“ Der Kochherd einer österreichischen Küche ist in Folge dieser komplicirten Verrichtungen mit Hafen und Töpfen bedeckt; hier werden Semmelbrösel geröstet, daneben wird Butter gebräunt, Füllungen werden vorbereitet, selbst die Petersilie, welche die stolz emporragenden Köpfe der Backhühner krönt, wird zuvor noch in heißer Butter gebacken.

Die Wiener Hausfrau steht in Person in der Küche, ja es giebt Momente, wo selbst die übrigen Familienangehörigen (von der Tochter, wenn eine vorhanden ist, gilt das vor Allem) mit in Aktion treten müssen. Ich erinnere mich wohl noch jener schönen Jugendtage, da ich vom Lateinischen Vokabelbuch zum – Mandelstoßen abkommandirt wurde, die Pflichten des Schülers wurden ohne Frage denen des Hauses untergeordnet, es galt als etwas Selbstverständliches. Giebt es ein schöneres Bild, als eine kinderreiche Familie, wenn ein Strudelteig „ausgezogen“ wird, wenn selbst die Kleinen verständnißvoll Hand anlegen und mit den in Mehl getauchten Pfötchen am Rand des Teiglappens so lange hin- und herzupfen, bis die zarte Masse sich über den ganzen Tisch ausgedehnt hat? Wie oft wurden ich oder meine Brüder in der Küche angestellt, einmal um die den mannigfachen Aufgaben nicht mehr gewachsene Köchin bei irgend einer mechanischen Verrichtung, beim Schneeschlagen oder Rühren abzulösen, denn gerührt wird immerzu, stundenlang, je länger je besser; ein anderes Mal, um aufzupassen, bis sich an irgend einem in der Entstehung begriffenen Gericht diese oder jene wichtige Erscheinung zeigte. Da kam es vor, daß ich Posten stand bei einem Teig, der im Begriffe war zu „gehen“, das heißt sich durch den Einfluß der Hefe zu heben, während mein Bruder Aepfel schälen oder Semmeln zerreiben mußte, denn die Wiener Köchin würde die Zumuthung, mit fertig gekauften „Semmelbröseln“ oder gar mit Paniermehl zu arbeiten, als eine schimpfliche betrachten.

Dieser Ernst, mit welchem das Kochen betrieben wird, findet in der hohen Genußfreudigkeit des Oesterreichers ein Gegengewicht. Mehr als irgendwo betrachtet man in Wien den guten Zustand der Küche als Gewähr für das Glück einer Ehe, und die zahlreichen Stifte und Abteien, die im ganzen Lande anzutreffen sind, bilden jährlich viele tausend angehende Hausfrauen zu Köchinnen höheren Stils aus. Der Oesterreicher besitzt unendlich viel Sinn für die gastronomischen Freuden, ohne ein Feinschmecker zu sein, denn er verlangt nicht nach erlesenen Genüssen, die dagegen in Berlin ziemlich leicht zu beschaffen sind.

Charakteristisch an der Wiener Küche ist – und das unterscheidet sie zunächst von der Berliner – das hohe Maß der Arbeit, welches sie erfordert; durch eine höchst komplicirte Behandlung entstehen Gerichte, deren Zusammensetzung und Urgestalt kaum mehr zu erkennen ist, in einem „Kalbfleisch-Hachée mit verlornen Eiern“ steckt eine achtunggebietende Summe von Arbeit, und eine gelungene „farcirte lämmerne Brust“ ist eine That!

Ich habe oft beobachtet, wie ein nicht ganz gelungener Braten, eine nicht vollkommene Mehlspeise die Sonntagsstimmung einer ganzen Familie verdüstern konnte, die Köchin aber schwimmt dann stets in Thränen, und es giebt Hausvorstände, welche einen „speckigen“ Strudel als Ausgangspunkt zu großen Familiendramen benutzen. Ich selbst habe einmal eine solche Scene erlebt: Ich war vor Jahren häufig der Gast eines wohlsituirten Wiener Bürgers von der guten alten Art. Eines Sonntags hatte es Vormittags einen fatalen Auftritt gegeben. Die Tochter des Hauses hatte sich geweigert, in eine von ihrem Vater längst vorbereitete Verbindung zu willigen. Es herrschte eine sehr gedrückte Stimmung bei Tisch, nur selten fiel ein Wort, ganz schweigsam aber verhielt sich der am ärgsten verstimmte Herr vom Hause. Eine gebratene Gans wurde aufgetragen, der Chef der Familie erhob sich mit einer dem Augenblicke angemessenen Feierlichkeit, als handle es sich um einen rituellen Akt. Bedächtig versenkte er die große Gabel und die blanke Tranchirklinge in den Leib der Gans, aber da quoll auch schon die röthliche Brühe heraus, die Gans war nicht gar. Der alte Wiener legte Gabel und Messer auf die Schüssel, ballte die Serviette zusammen und grollte dumpf vor sich hin: „Heut’ kommt aber auch Alles zusammen!“

Der Oesterreicher, vor Allem das Kind der „Phäakenstadt“, hat ein kulinarisches Vaterland, der Wiener wurzelt mit seinem Küchengeschmack tief in dem üppigen Heimathsboden, eine Versetzung in fremde und gar in dürftigere Erde vertragen nur robuste Naturen; sensiblere werden an der Sehnsucht nach den gewohnten „gut’n Essen“ zu Grunde gehen. Was bietet ein Leben ohne „g’röste Nierndln“, ohne „Erdäpfelschmarn mit Paradeissauce“! – Den Wiener überfällt in der Fremde ein unstillbares Heimweh nach der gewohnten Küche, ein Gefühl, das nicht so poetisch, aber mindestens ebenso gewichtig begründet ist, wie die Sehnsucht der Kinder der Berge nach dem Kuhreigen. Die schroffen Unterschiede der Küche sind es auch, die den Wiener zum großen Theil vom Reisen abhalten, man wird kaum einen Oesterreicher in der Fremde treffen, der nicht „über’s Essen“ klagt; „’s Essen“, es ist das Alpha und Omega der Leiden des aus seiner genußfreudigen Heimath verpflanzten Wieners. Der Norddeutsche, der auf das Leben in Restaurants angewiesen ist, rühmt das „schöne Bier“, weiter geht seine Kritik nicht, man wird niemals hören, daß der Oesterreicher sich durch diese Rücksicht für ein Restaurant bestimmen läßt, für ihn ist die Qualität des „Essens“ allein maßgebend.

Welche rührende Anhänglichkeit beweist der Wiener seiner „Küche“ im Auslande! Es gab in Berlin vor einiger Zeit ein Wiener Restaurant, in welchem streng nach Wiener Art gekocht wurde; die Berliner hatten für das sehr umfangreiche Menu oft nicht mehr als ein überlegenes Lächeln, dann bestellten sie eine „Harzerkäsestulle“, aber man mußte die Wiener hier ihr stilles Glück, ihre heimathliche Kost genießen sehen! Was an Künstlern, Sängern, Musikern, Schriftstellern aus Oesterreich nach Berlin kam, pilgerte Mittags und Abends nach dem „Wiener Restaurant“: der nordische Götterstaat und die Wagner’schen Nibelungenhelden von Wotan-Scaria an bis zum kleinen Mime-Lieban, sie alle stiegen hier zur gemeinen Menschlichkeit herab, zu Paprikaschnitzel und Pilsener Bier.

Der Inhaber jenes Restaurants ist nach Paris ausgewandert, um dort den Altar der Wiener Küche aufzurichten und das Evangelium des „Schönbrunner Reis“ und der „Oedenburger Nudel“ an der Seine zu verkünden. Unter den in Berlin lebenden Oesterreichern herrschte Niedergeschlagenheit und Verwirrung, diese Insel der Seligen war von dem Meer der Großstadt verschlungen worden, das letzte Band, welches sie in der Fremde mit der Heimath verknüpfte, war zerrissen.

Ich komme zum Schluß, und da stehe ich vor der Aufgabe, diese mitunter vielleicht etwas zu leidenschaftliche Besprechung mit einem Resümé zu beendigen und die Vorzüge und Nachtheile dieser grundverschiedenen Küchen gegenüber zu stellen. Ich gestehe, daß ich nicht unbefangen genug bin, diesen Vergleich zu Ende zu führen, ich gebe aber gern zu, daß die Ernährung durch die Wiener Küche mit ihrem Ueberfluß an Mehlspeisen und relativem Mangel an gebratenem Fleisch in hygienischer Beziehung anfechtbar ist, daß das Opfer der Frauen, die einen großen Theil ihrer Zeit den Küchengeschäften widmen, eine übertriebene Hingebung in sich schließt und daß dadurch nothwendiger Weise Manches versäumt wird, was im Grunde denn doch wichtiger ist, als die Tischfreuden.

Daß Derjenige, der die wenigsten Bedürfnisse hat, der Freieste und daher der Glücklichste ist, das zeigt sich bei den an norddeutsche Küche Gewöhnten. Man kann es immer wieder auf Reisen beobachten, wo der Norddeutsche seine Ansprüche immer erfüllt, sehr häufig aber übertroffen sehen wird, während die anderen Nationen – und in kulinarischer Beziehung repräsentiren auch die Oesterreicher einen ganz fremden Stamm – Entbehrungen ertragen müssen.