Bericht über die Gedenkfeier des 75-jährigen Bestehens des Allgemeinen Protestantischen Pfarrwaisenhauses zu Windsbach

Textdaten
Autor: Hermann von Bezzel
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Titel: Bericht über die Gedenkfeier des 75-jährigen Bestehens des Allgemeinen Protestantischen Pfarrwaisenhauses zu Windsbach
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Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: ca. 1913
Verlag: ohne Verlag
Drucker: J. M. Belzner
Erscheinungsort: Ansbach
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Quelle: Commons
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Bericht
über die
Gedenkfeier des 75-jährigen Bestehens
des
Allgemeinen protestantischen
Pfarrwaisenhauses zu Windsbach
am 12. Juli 1912.




Mit der Festpredigt S. Exzellenz des Herrn Oberkonsistorialpräsidenten
D. Dr. von Bezzel.






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Druck von J. M. Belzner in Ansbach.

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Vorbemerkung.

 Was von dem Recht und der Pflicht, sowie von der rechten Weise Gedenktage zu feiern zu sagen ist, hat in Festpredigt und Reden seinen Ausdruck gefunden. Ebenso ist dort ausgeführt worden, warum sonderlich das Pfarrwaisenhaus an einer schlichten Feier nicht vorüber gehen wollte.

 Wunsch und Erwartung der Festgäste veranlassen uns diesen Festbericht herauszugeben. Er will nicht alle einzelnen Reden vollständig bringen, sondern nur einen knappen Umriß der Festfeier geben. Dafür soll er die von uns dankbar empfangene beste Festgabe, die Predigt Sr. Exzellenz des hochwürdigsten Herrn Oberkonsistorialpräsidenten D. Dr. von Bezzel enthalten. Wir hoffen damit nicht nur den Teilnehmern am Feste die wertvollste Erinnerung, sondern zugleich allen evangelischen Erziehern und Schülern eine willkommene Gabe darbieten zu können.

 Etwaiger Mehrertrag über die Druckkosten wird zu Schuldentilgung des Waisenhaus-Neubaues verwendet.


|  Die Wahl des Jubiläumstages hat uns manche Qual gemacht. Die Schlußprüfung für die 6. Klasse beengte uns, das Fest an den Anfang des neuen Schuljahres zu legen erschien nicht ratsam, den Schulschluß ganz abzuwarten und über den Sonntag bis in die folgende Woche die Zöglinge zurückzuhalten empfahl sich wieder nicht. So wählten wir den Tag vor Schulschluß, beraubten uns allerdings der Möglichkeit ehemalige Lehrer und Schüler aus dem Philologenstande unter uns zu sehen. Das tat uns umsomehr leid, als gerade von ihnen manches Zuschreiben an uns kam, das von alter Liebe und Anhänglichkeit und dem aufrichtigen Bedauern zeugte dem Feste nicht anwohnen zu können.

 Am Abend des 11. Juli trafen sich die angekommenen Festgäste mit den hiesigen Freunden der Anstalt im Fischer’schen Saale. Das ungezwungene Zusammensein wurde durch die Vorträge klassischer Musik durch das Waisenhausorchester unter Leitung des Herrn Kantors Roscher verschönt. Der Vorstand des Direktoriums begrüßte kurz. Die poetische Gabe des Abends, die Herr Pfarrer und Distriktssschulinspektor Blank von Hagenbüchach darreichte, möchten wir diesen Blättern einverleiben:

 Zum Jubelfest, was soll die Muse bringen?
Was hat sie Besseres als ein festlich’ Lied?
Was könnte sie auch Bess’res tun als singen,
Wo Freudenjubel stimmt Herz und Gemüt?
So greife, meine Muse, in die Saiten,
Wie Glockenton erschalle heut’ ihr Klang;
Mit einem Jubellied und Festgesang
Sollst Du den Festtag heute ein uns läuten!

 Das erste, was dein Spiel uns lasse hören,
Es sei ein Psalm, ein Lied im höhern Chor,
Ein Dankeslied, das über alle Sphären,
Sich machtvoll schwinge zu dem Herrn empor,
Zum Herrn, dem frommen Hüter Israels, der Waisen
Und aller Vater, die sich ihm vertrau’n,
Getrost auf seine Hilfe bau’n –
Den Vater aller Güte sollst du preisen!

 Zum andern segne heute der Gerechten
Gedächtnis, das allzeit im Segen steht,

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 Gedenke eines Großen von den Knechten
Des Herren, dessen Name nicht verweht –
Ja, Vater Brandt, solang von Windsbachs Hügel
Dein Waisenhaus ins Tal herniedergrüßt,
Sei Dir im Geist die treue Hand geküßt,
Des Glaube gab der Liebe Adlerflügel.

 Zum dritten stimme neu der Harfe Saiten,
O Muse, all den Treuen gilt das Lied,
Die hier in guten und in bösen Zeiten
Geglaubt, geliebt, gedient ohn’ Unterschied,
Die uns gezeigt der Weisheit Sonnenbahnen –
Und unsern Vordern und den Spätern dann,
Auch was ein Meister immer kann,
Sein Meister ließ es ihn den Jünger ahnen.

 Zum vierten weih’ den Freunden ein Gedenken,
Den Kameraden aus vergang’ner Zeit!
O süßes Glück, das Jugend sich darf schenken:
Die Jugendfreundschaft, die nichts je entzweit!
Ob auch des Lebens wechselndes Gestalten
So manchen gleichgeträumten Traum zerweht,
Ob’s später auch weit auseinander geht:
Die „Windsbacher,“ sie bleiben sich die alten.

 Zum fünften seh’ ich dich, o Städtlein, ragen,
Des Tales Kleinod auf smaragd’nem Grund,
Auch dir soll meine Muse Grüße sagen
Und deiner Bürgerschaft zu guter Stund’.
Heil dir! Ein günstig, ein denkwürdig Walten
Hat zweimal dir beschert – wie wunderbar! –
Dein Waisenhaus, nunmehr für immerdar –
Nun ihm die Treue fürder auch gehalten!

 Von Lieb und Treu das hohe Lied der Lieder,
O Muse, sing’s zuletzt uns allen noch,
Daß es von Herz zu Herzen halle wieder
Und nie verhalle in Aeonen doch!
Wir alle bringen dir zum Jubelfeste,
O Jugendheimat aus vergang’ner Zeit,
Den immergrünen Kranz der Dankbarkeit
Als uns’rer Festesgaben allerbeste!





|  Der Haupttag wurde frühmorgens durch Choralmusik vom Stadtturm eingeleitet. Gäste kamen von allen Seiten, den Hauptzuzug brachte die Bahn vormittags 9 Uhr. Es war uns besondere Freude, daß auch hohe und höchste kirchliche und staatliche Behörden dem Waisenhaus wieder ihr Wohlwollen durch ihre Festteilnahme bewiesen. Herr Oberkonsistorialpräsident Exzellenz D. Dr. von Bezzel war von Triesdorf her im Wagen gekommen. Die Stadt hatte sich ins Festgewand geworfen. Neben dem reichen grünen Schmuck begrüßte farbige Fahnenzier am sonnigen Morgen die ankommenden Gäste.

 Um 9 Uhr bewegte sich der Festzug unter Geläute aller Glocken und Posaunenmusik vom Waisenhaus zur Kirche. Den Waisenhauszöglingen folgten die Vertreter hoher und höchster Behörden, die städtischen und kirchlichen Korporationen und Kollegien, die Geistlichkeit des Kapitels Windsbach, das Direktorium und die übrigen Festgäste. Der hochwürdigste Herr Präsident des K. Oberkonsistoriums, der an diesem Tage zugleich Festprediger war, wurde von den beiden Ortsgeistlichen im Ornat geleitet. In dem geschmückten Gotteshause erwartete eine zahlreiche Festgemeinde den Zug. Der Gottesdienst, bei dem S. Exzellenz auch als Liturg am Altar waltete, bewegte sich in der Form eines feierlichen Hauptgottesdienstes. Eingangslied: Nr. 442. Altarlektion: Joh. 8, 28–36. Hauptlied: Nr. 332, 1–4; zum Schlusse V. 8.

 Eingelegter Gesang der Zöglinge: Lied Nr. 7, V. 1, 5 und 12.

 Predigt und Kanzelgebet lassen wir folgen.

Mein Jesus rufet mich und heißt mich mit Ihm ziehen,
In Arbeit und Geduld mich mit Ihm zu bemühen.
Ach ja, ich gehe mit, mein Heiland, geh’ voran,
Damit in Deiner Kraft ich freudig folgen kann! Amen.

 
 
 
 
 

Joh. 17, 17:
Heilige sie in Deiner Wahrheit; Dein Wort ist die Wahrheit.
 In dem Herrn Christo Geliebte! Jubiläen feiern wird immer schwerer, je häufiger es geschieht. Entweder betont und belobt man die Gegenwart auf Kosten der Vergangenheit, als ob sie nicht Kind und Erbe der aus früheren Tagen überkommenen und übernommenen Gaben, Kräfte und Errungenschaften wäre, oder man blickt mit sehnsüchtigem Verlangen in die Vergangenheit zurück, in der alles so groß und reich und licht war, als ob sie Gottes Treue erschöpft und der heilige Geist die Kraft zum Fortschreiten verloren hätte. Man weiß nur von kümmerlichen Tagen des Jetzt zu sprechen und macht den zum Lügner, der alle Tage bei uns sein und erhellen will. Die Kirche Christi will und kann nicht Jubelfeste in froher Augenblicksbegeisterung noch in trüben| Erinnerungen voll Undank begehen, sie feiert nicht Jubiläen und Erinnerungen, sondern sie lebt in und von Tatsachen, die sich ihr täglich verneuen und bezeugen. Ihr sind die Feiern Marksteine der Gnade und Aufrufe zur Selbstbesinnung. Tue Rechnung von deinem Haushalt! Die Anstalt, die vor 75 Jahren ins Leben gerufen ward, ruht auf einem Orte, den man vor Alters Gethsemane geheißen hat, und der heutige Tag, an dem sie in den fränkischen Landen die Schiedung läuten, heißt uns an den denken, der im Garten der Leiden von Seiner heißen, mühereichen Arbeit Seinem himmlischen Vater Rechenschaft getan hat. „Ich habe Dich verklärt auf Erden und vollendet das Werk, das Du Mir gegeben hast, daß ich es tun sollte.“ – Jesu nach wollen wir heute Rede stehen, weil Verantwortung gefordert wird, und über das Geheimnis der Erziehung uns aussprechen: I. über ihren alten Grund, II. über die bewährten Mittel, III. über selige Ziele.

Heilige uns, Herr, in Deiner Wahrheit; Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

 I. Vor Seinem Heimgang offenbart Jesus, der heilige Erzieher, den Grund Seiner Weisheit und Arbeitsweise. Er redet nicht von Anschauungen über das Wort des Vaters, die er mit andern teilt und neben anderen hätte; solche Anschauungen wären wertvoll, aber weder einzigartig noch verpflichtend. Sondern Er spricht von Seinen wandellosen Erlebnissen und untrüglichen Erfahrungen, und was Er so spricht, ist Seiner Gemeinde Offenbarung, Darlegung ewiger Geheimnisse in ihrer ganzen Fülle, die sonst ihr verborgen oder nur stückweise bekannt wären. „Dein Wort ist die Wahrheit,“ sagt der Sohn Gottes, der im Worte lebt, aus dem Worte sich nährt, selbst mit dem Worte eins ist. Nicht so meint er es, daß das Wort Wahrheitsmomente enthalte, die in langsamem Zusammenschlusse mit anderweitigem Wahrheitsbesitze allmählich zur Wahrheit sich ausbilden und erheben. Auch weiß Er nicht von Wahrheitsmomenten, die in das Irren, Streben und Suchen der Menschenseele eingestiftet wären um nach schweren, Jahrtausende hindurch währenden Gährungsprozessen zur Wahrheit sich auszugestalten. Mit majestätischer Gewißheit und schlichter Treue verkündet Er: „Dein Wort ist die Wahrheit,“ beschließt all’ ihre Fülle, erschöpft ihr ganzes Wesen, also daß an ihm alles gemessen werden will und geschätzt werden muß, was sich Wahrheit nennt. Das höchsttönende Wort kann von ihr verworfen und das unscheinbarste an ihr bewährt werden. Wohl den Menschen, die das für ihre Stärke halten, daß sie nicht im Suchen nach einem zu findenden, sondern im Besitze einer anzubetenden und zu erlebenden Wahrheit sind, die nicht aus Wörtern besteht, sondern auf dem Worte ruht!

 Dieses Wort Seines Vaters war dem Herrn Grund zur Tätigkeit. Wenn Er von sich ausgegangen wäre um die Welt zu erlösen, so hätte er die| Zahl großer Unternehmer, kühner Eroberer, glücklicher Entdecker vermehrt, vielleicht würde Er einen Namen erhalten haben, wie ihn die Großen auf Erden kennen. Aber der Schmuck und die Weihe Seines Lebens in Gehorsam und dessen Erfolg in Gottes Wohlgefallen wäre Ihm ferne. „Auf Dein Wort,“ hat Jesus gesprochen, als Sein Vater Ihn hingehen und Sich der verlornen Sünder annehmen hieß: Ja, Vater, ja, von Herzensgrund! Dem väterlichen Worte in allem gehorsam, seinen Weisungen getreu, seinem Ernste willig zugetan, hat Er auch Seinen Schutz erfahren und mit dem „es steht geschrieben“ den Feind, Zweifel, Angst und Sorge, Weltliebe und Weltlust besiegt und bestanden.

 Wenn unsere Väter aus Lust an Neuem, aus Verlangen sich einen Namen zu machen das Werk gewagt hätten, so wäre es vielleicht mächtiger und prächtiger geworden, hätte mehr Menschen angezogen und größeren Beifall genossen, aber der Segen des Gehorsams, diese edelste Zier für ein Christenwerk, bliebe der Sache versagt. Im Gehorsam, den der Augenblick fordert und die Zeit prüft und bewährt, hat der selige Dekan Brandt das Werk begonnen, da ihn die Not der Kirche jammerte und das Leid der Waisen sein Herz traf. Vieles mahnte ab, manche widerrieten. Aber des Herrn Befehls gewiß geworden, der nicht in leichtem Anfang und leichtem Fortgang, sondern in schweren enttäuschungsreichen Mühen sich bezeugt, hat er getan, was er nicht lassen durfte. Erziehungsanstalten gründen ist ein leichtes Ding dem, der nicht die Verantwortung des Jetzt und des Einst überschlägt; aber wer beides ermißt, unternimmt solch weitschichtiges Werk nicht, er werde denn gefordert und bestimmt. So soll es bleiben. Das Recht zur Fortsetzung eines Werkes bis in sein erstes Jahrhundert liegt nicht in der Menge der Jahre noch in deren Erfolg, sondern einzig in dem wahrhaftigen Wort des Herrn, dessen Verheißungen der Treue, dessen heiliger Ernst der Lauheit gilt. So lange Er hier sich hören läßt, will Windsbach gehorchen: „Auf Dein Wort.“

 Was dem Heiland Grund zur Tätigkeit war, blieb ihm Grund für diese. Auf den Fels des Vaterworts hat er Seine Gemeinde mühsam, klein anfangend, sorgsam arbeitend gegründet, nicht auf den Flugsand eigenen Bedünkens und menschlicher Meinung, die heute gilt und morgen verworfen ist. Es war der bewährte Eckstein, auf dem die Augen des heiligen Geistes ruhen, in den Er Stein um Stein, lebendige Persönlichkeiten, persönliches Leben einfügte. Und bis zum heutigen Tage baut Er Sein Werk, so lockend und gleißend andere Bauart sich empfiehlt, auf das unveraltete Gotteswort. Wir preisen in dieser Stunde die Treue der Väter, die nicht auf Grundsätze reicher Erfahrungen und geschichtlicher Begründung noch auf unveräußerliche Lebensrechte das Werk aufführten, sondern auf das feste, klare, starke Gotteswort, dem das Bekenntnis| der Kirche sinngemäßen Ausdruck verleihen will, bauten. Firmamentum ecclesiae – fundamentum operis. Es war eine unruhvoll suchende Zeit gewesen: um so größer ist die Schlichtheit zu schätzen, mit der sie auf ewigen Grund bauten. Wir preisen den Gott unserer Väter, der durch so viele Jahrzehnte bei manchem Wandel der Dinge die neun Inspektoren – am Sterbebette des ersten (2. März 1903) bin ich gestanden – in aller Verschiedenheit von Geist und Gaben, von Geschick und Methode auf dem ewigen Grund hat eins sein lassen. Da ward nicht gerüttelt noch gemeistert, sondern das Bewährte blieb das zu Bewahrende und wurde zum Bewahrenden. Wie viele Erziehungstheorien haben sich in dem langen Zeitraum abgelöst, wie viele Meister sind von hinnen gezogen! Die Kirche hat gelernt, wo sie konnte, und entlehnt, was sie durfte; aber entgegen den tastenden, schürfenden Versuchen um einen neuen Grund hat sie dieses Werk nur fester auf den alten Fels gestellt, der so viel tragen und bergen und retten kann. Meinungen gehen auf und nieder, aber die Wahrheit bleibt. Mögen die kommenden Jahre das Haus auf dem alten Grunde finden, daß nicht weite Pforten der Weltanschauung und breite Pfade der selbständigen Entwicklung die alte gesegnete Enge verdrängen. Es ist nicht nötig, daß man geistreich erzieht, aber sehr nötig, daß man treu ist. –

 II. Aus seinem Leben und seiner Lebensarbeit bezeichnet Jesus drei Erziehungsmittel, die nie versagen: Das persönliche Vorbild und Beispiel, die Fürbitte und die Arbeit. Nur durch diese Größen heiligt Gott in der Wahrheit. Vor unser Auge tritt der große Hirte Jesus Christus, der Anfänger und Erzieher unseres Glaubenslebens: Ich heilige mich selbst für sie. Seine Enge in Leben und Leiden, die Schranken und Nöte, die Er sich gezogen und aufgegeben sah, daß Er keine Herberge hatte und einsam und gering die Straße zog, bis Er, zu heiligen das Volk durch Sein eignes Blut, draußen vor dem Tore litt, hat Er auf sich genommen, nicht nur um uns frei zu machen, sondern um tief in die Erde die Spuren Seines Lebens uns zur Nachfolge und in unserm Herzen Sein Vorbild uns zur Betrachtung zu hinterlassen. Er hat nie eine Aufgabe gestellt, die er nicht selbst zuvor gelöst, und nie eine Arbeit zugemutet, die Er nicht vorher getan hätte. Als Vorbild der Strenge gegen sich, als Urbild der entsagenden und doch freudig getrosten Treue steht Er da, und alle Seine Knechte haben ihre Größe in der Bescheidung, im Leiden und Verzicht gesucht, der nicht anspruchsvoll geübt, sondern fragelos geliebt wird.

 Konzentrierung ist ein Schlagwort unserer Tage. Wer erziehen will, muß alles auf das Eine richten, wie er sich den Zöglingen als Nachfolger des Meisters erweise ihnen zum Gewinn. Nicht viel Worte, sondern das kraftvolle Ja der Zusage und das markige Nein des Verbots; nicht viele Gebote, sondern| das Wenige klar und rein; bedürfnislos, arbeitsam, als der gegen sich am strengsten ist, fleißig und treu im Kleinsten, ohne Lässigkeit und Laune, Stimmungen abhold und gegen Verstimmungen gewappnet: so soll der Erzieher in der Furcht seines Gottes ihm selbst ein Gesetz sein und anderen mit ein ungeschriebenes, aber deutliches. Unsere Erzieher haben nicht so viel erreicht durch das, was sie gaben, sondern weil sie sich selbst gaben. Man hat in diesen Tagen viel von einem großen Erzieher geredet, der sich doch nicht zu zähmen und zu ziehen wußte, sodaß Leben und Lehre zerrann. Heiligender Einfluß geht nur von Persönlichkeiten aus, die sich heiligen, für ihre Sünde Seine Vergebung, für ihre Sorgen Seinen Trost suchen. In Gottes Hand allein geraten solche Pädagogen, an denen Er es Windsbach nicht mangeln lassen wolle.

 Jesus, sich heiligend für die Seinen, betet. Da ist kein Ort im heiligen Lande gewesen, an dem Er nicht Gebet, Fürbitte und Tränen geopfert hätte um aus Menschen Jünger, aus diesen Apostel zu werben. Die Kraft Seines Lebens war das Gebet. Wie ihm alle, dein und mein Name, aufs Herz geschrieben waren – da Du sprachst: Es ist vollbracht! hast Du auch an mich gedacht – so sollen dem Erzieher seine Zöglinge einzeln und sonderlich zu Herzen gehen. Schlaflose Stunden nennt der Hebräerbrief das erste Vorrecht des Seelsorgers. Wehe dem Manne, dem nicht eine Kindesseele, das Leben eines Jünglings schwere nächtige Stunden bereitet, den nicht in die Ruhe des Abends das Bild eines gefährdeten Schülers verfolgt. In Jesu Fürbitte geborgen, befiehlt der Hirte einer Herde, so oft er ihrer gedenkt, sie der allertreusten Pflege dessen, der sich nicht umsonst den guten Hirten nennt. Unsere Zöglinge müssen von dem geheimen Einfluß spüren, den die Fürbitte vermittelt und erweckt. Sie müssen inne werden, daß hinter und über ihnen sich betende Hände aufheben sonder Zorn und Zweifel. In das Gebet flüchten wir mit unsern Versäumnissen, Fehlgriffen und Irrungen, da hinein legen wir unsere Sorgen und Ängste. Die Gebete der Liebe decken die Menge der Erziehungssünden und bauen Mauern um die Bildungsstätte.

 In Arbeit bis in den Tod hat Jesus den Seinen nahe gestanden und so sie in der Wahrheit gefestigt. Er hat, solange seine Tage währten, gewirkt, und der Prophet weiß nichts Größeres von Ihm zu rühmen, als daß Seine Seele gearbeitet hat. Das kleinste Anliegen der Seinen trug Er, das größte kannte und teilte Er. Müde bis in den Tod hat er die Mühseligen zu Sich gerufen und unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen will Er der Beladenen sich erbarmen. Es sollen Seine Jünger wissen, daß ihr Herr und Meister nicht gekommen sei, daß Er Ihm dienen lasse, sondern daß Er diene. „Du hast Mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden“ ist Sein ernstes Geständnis.| Erzieher im Dienst und Geist Jesu Christi arbeiten treu, gründlich und stetig, verlangen keine Ruhe, genießen aber der innerlichen Stille, die der Gehorsam gewährt. Sie heiligen die Einbildungskraft und das Gefühl ihrer Zöglinge, daß es rein, lauter und echt sei. Es bleibt ihrem sorglichen Blick nicht verborgen, wenn Heimlichkeiten unheimliches Wesen erwecken. Sie gehen nach und machen das Geständnis leicht und nehmen willig die Last vom Herzen und aufs eigene. Sie geben und versagen, verwehren und vergönnen, nicht nach dem Ruhme der Beliebtheit geizend sondern nach dem der Treue verlangend. Sie arbeiten an und mit den Ihren, daß die Rede klar und wahr, nichts Gemachtes, Anempfundenes, Unkindliches und Unjugendliches Gott beleidige. Zehntausend Worte mit Zungen gelten ihnen nichts, wenn nur fünf Worte aus eigenem Sinn den Herrn preisen. Daß in keuschestem Innenleben alles vor Gott bestehe, weder überreife Andacht noch unreifer Zweifel das Gemüt belaste, ist ihnen ein Anliegen. Und sie arbeiten auf ein ganzes, abgeschlossenes Tun hin, nicht auf Großes, sondern auf Ganzes, Ehrliches und Echtes. Windsbach hat den Ruhm treuer Arbeit durch all die Jahre besessen: es ist viel Kerniges, Klares, Feuerbeständiges zu Tage gefördert worden. Gott stärke die Erziehung mit den alten Mitteln des Vorbilds, der Fürbitte und der Arbeit zu

 III. seligen Zielen. „In der Wahrheit geheiligt.“ Nicht daß Erdengrößen mit leuchtendem Namen, Berühmtheiten mit schallenden Titeln, mächtige Sieger und gewaltige Eroberer aus Seinen Jüngern werden mögen, erbittet der Herr, und nicht auf ein sinnenfälliges und darum vergängliches und trügliches Ziel richtet Er Seine Erziehung, sondern auf das Größte, daß die Erwählten auch Auserwählte, die Jünger selig würden, vollkommene Männer nach dem Maße Seines Alters, was sie sein sollen, zu sein willig, bereit und geschickt. In eine unfrohe, unfrische Welt senkt Er Seine Jüngerschaft als brennendes, schmerzendes Salz ein, damit sie ihrer Wunden inne werde und nach dem barmherzig heilenden und helfenden Öle verlange. Wo Jünger Jesu hinkommen, da soll das Fade und Leere gewürzt, das zu Zersetzung neigende Leben gereinigt werden. Sie bringen Frieden mit dem Ernst des Streites, scheinbar den Tod mit dem Dienst der Wahrheit, aber in Wirklichkeit in der echten Volks- und Vaterlandsliebe das Leben.

 In eine irrende, an Abgründen taumelnde Zeit, auf deren Ende die Adler des Gerichts frohlockend warten, weil sie müde, enttäuscht, übersättigt das Leben haßt und den Tod fürchtet, treten die Fischer und Schiffer vom See Genezareth herein als Lichter der Welt, von Seinem wunderbaren Lichte, zu dem Er sie aus der Obrigkeit der Finsternis errettet und versetzt hat, fröhlich zeugend, nicht sauer sehend noch erbarmungslos unterzugehen bereit; sondern| gastlich ladend, freundlich labend: Er ist das Licht der Welt.

 Aneinander geschart, durch Zeiten und Fernen nicht getrennt, bauten Jesu Bekenner die Stadt auf dem Berge, weithin leuchtend in schwüler banger Nacht, Bergung und Bleibstätte für alle Landfremden und Heimatfernen, Friedensorte allen, die dem Frieden nachjagen. Aber auch allen Feinden und Lästerern ein Beweis, daß Christentum Tat, Kraft, Wille und Wesen ist.

 Zu Persönlichkeiten erziehen in einer an ihnen so armen Zeit, die alles nivelliert und abglättet und ausgleicht, ist ein schweres, aber ein seliges Ziel. Nur Persönlichkeiten erben das ihnen bereitete Reich, das eben Zusammenschluß aller Erlösten ist. Möge das Pfarrwaisenhaus Windsbach, das nicht zunächst die Not der Verlassenen noch die Not der Kirche, sondern der Dank einer in Christo gefestigten Persönlichkeit ins Leben hat treten heißen, viele junge Christen für das Erdenleben und die Ewigkeitsarbeit erziehen! Nicht auf Maß und Menge der Kenntnisse, auch nicht auf Gewandtheit und äußere Übung geht das Absehen christlicher Erziehung, sondern auf die Heranbildung von Gotteskindern, von christlichen Männern, die sich des alten Grundes im Evangelium Christi nicht schämen, nachdem und weil dieser sich nicht geweigert hat ihr Lebensfundament zu werden.

 In dieser Feierstunde sehen aus der lichten hehren Zeugenwolke viele treue Bekenner, selige Überwinder, treue Zeugen hernieder. Vor fünfundsiebenzig Jahren hat Löhe die Weihepredigt gehalten, Dekan Brandt die Weihe vorgenommen, vor fünfundzwanzig Jahren hat der treue Gehilfe und Sohn des einen, der dankbare Verehrer des andern, Adolf von Stählin, das fünfzigjährige Jubelfest mit seiner Predigt gesegnet. Zu den Vätern gesellen sich viele Seines Volkes, deren Leben hier eine ewige Richtung erhalten hat, deren Wesen hier mit dem Gepräge der Ewigkeit bedacht ward. Es ist das herrlichste Ruhmeszeichen für ein Erziehungswerk, wenn die Seinen in der Wahrheit wandeln, leben, wachsen und vollenden.

 Der Nachfolger Löhes und Stählins, der in ihre reichgesegnete, hochbedeutsame Arbeit hat treten dürfen, ist heute mit der Festpredigt betraut worden, seinen Vorgängern nur in dem Einen zu gleichen fähig, aber auch von Herzen willig, die alte Wahrheit mit getrostem Mute zu bezeugen. In Gemeinschaft des Bekenntnisses, das er durchleben möchte, wie die Väter es jetzt in seiner ganzen Größe erschauten, wünscht er: Wachse auch aus schweren Tagen, du Kirche des Evangeliums, in allen deinen Werken, und Gott gönne dir Persönlichkeiten, denen die Wahrheit Leben, Freiheit und Ehre ist.

 Euch, liebe Zöglinge, gelte das letzte Wort! Wollt ihr den alten Grund, die bewährten Mittel zu seligem Ziele gelten und brauchen lassen oder euch| gegen diese evangelische Erziehung innerlich verschließen, verlangend ihr zu entrinnen, nur froh ihr bald zu entronnen zu sein? Wollt ihr eurer Erziehungsanstalt, die Gott innerlich und äußerlich aus Not und Leid gerettet hat, bald untreu werden, nie Treue erzeigen oder wollt ihr dem Tun Gottes an euch das Herz geben?

 Evangelische Erziehung zwingt nicht, schmeichelt und kost nicht, sie bittet und mahnt: Seid gesinnet wie Jesus Christus auch war, klar, ganz und echt. Vor dreiundzwanzig Jahren bin ich an dem Sterbebett eines seltenen Zöglings gestanden, dessen ganzes, freilich so kurzes Leben Liebe war und Liebe erfuhr. „Siehe, wie hat Er ihn so lieb gehabt!“ Auf diesem Grund hatte ihn sein Heiland erzogen, erworben und gewonnen. Bleibt in dieser Liebe!

 Treuer Gott, segne das Werk der lehrenden und leitenden Hände, beschirme Stadt und Gemeinde Windsbach und sein Pfarrwaisenhaus, behüte und erhalte sie bei Deiner Furcht und heilige sie in Deiner Wahrheit und Deine Wahrheit an ihnen. Amen.




Gebet.

 Allmächtiger, ewiger Gott, wir danken Dir für alle Treue, mit der Du vor fünfundsiebenzig Jahren hohen Mut und Willen erweckt, Tun und Absicht gesegnet und des gelobenden Glaubens Deines Knechtes Dich angenommen hast. Du hast mit dem Ja Deines Segens Werk und Wille gekrönt, das Senfkorn zum Baum, den Baum zum Schutz und Schatten für viele wachsen lassen, Du hast durch das Nein in Versagung und Zucht Deine Liebe nicht verleugnet. Wir danken Dir für die guten Gaben Dir diensamer und wohlgefälliger Erzieher, denen Dein Name Licht und Freude, Schutz und Schirm war, für alle Vertiefung und Bewährung ihrer Pflicht.

 Wie Du aber Sünde und Missetat vergeben hast, so wollest Du ferner über dem Werke und den Häusern Deiner Knechte, denen es dienen will, wachen, die Knaben und Jünglinge bei Dir erhalten, äußere und innere Wohlfahrt verleihen, Wort und Wandel der Erziehenden, Wille und Leben der Zöglinge heiligen, Deiner Kirche Bestes im guten Bekenntnis schaffen und erhalten und einst uns alle zum ewigen Freudentage des lobsingenden Dankes versammeln, alles um Jesu Christi, Deines lieben Sohnes willen. Amen.




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Denkmal des Stifters Dekan Brandt vor dem Portal.


 Als man vom Gottesdienste am Pfarrwaisenhause wieder angekommen war, wurden die Festteilnehmer zu einem Gedächtnisakt gerufen, der am Portal des neuen Waisenhauses vor dem dort aufgestellten Brandtdenkmale stattfand. Der Inspektor des Hauses, Herr Pfarrer Riedelbauch, legte einen von einem früheren Zögling, Herrn Kunstgärtner Bencker in Uffenheim, gestifteten Kranz nieder. Er hob hervor, daß die würdigste Ehrung des Anstaltsstifters| in dem Gelöbnis bestehe, daß der Geist des Stifters auch forthin im Hause walten solle. Herr Bürgermeister Jungmaier schmückte gleichfalls namens der Stadtgemeinde das Denkmal mit einem Kranze.

 Nun ging es in den Festsaal, der wie das Äußere des Hauses nach den Angaben seines Erbauers, des Herrn Architekten Ruck von Nürnberg, mit Blattpflanzen und Girlanden einfach und doch vornehm geziert worden war. Dekan Hermann dankte dem hochwürdigsten Herrn Prediger für den Dienst, den er der Festgemeinde und Anstalt getan, und begrüßte die anwesenden Vertreter der Behörden, des Progymnasiums, der Stadt sowie die übrigen Gäste, besonders die Eltern der Zöglinge und die früheren Lehrer und Schüler der Anstalt. Was er weiter ausführen wollte, mußte um der nötigen Verkürzung des Festaktes willen in knappster Form dargeboten werden. Da ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Anstalt gegeben werden sollte, die unsern Gönnern und Mitarbeitern nicht ganz ohne Interesse sein mag, wird auf Wunsch beigesetzt, was etwa ausgeführt werden wollte.


Bet- und Festsaal des Waisenhauses.
|  „Wir haben uns lange besonnen, ob wir das 75-jährige Bestehen unseres Pfarrwaisenhauses in einer öffentlichen Feier begehen sollten. Es sprach manches dagegen: Gründe allgemeiner Art wie die Jubiläumssucht unserer Tage, und Gründe besonderer Art, darunter solche, die sich der Öffentlichkeit entziehen, und andere, die Ihnen allen selbst bekannt sind, so der Umstand, daß wir erst am 16. November 1909 die Einweihung unseres neuen Hauses feierten und daß wir nun kaum 3 Jahre in diesem neuen Hause wohnen und wirken.

 Aber 75 zurückgelegte Jahre fordern doch wieder, daß man einen Markstein am Wege aufrichte. Und es war uns doch Freude, daß manche Stimme von draußen sich erhob, die sagte: Wir wollen euch an diesem Tage nicht allein lassen, wir wollen mit euch an ihm uns freuen! Auch um unserer Knaben und Schüler willen durften wir nicht ganz auf eine festliche Ausgestaltung des Tages verzichten. Er soll haften in ihrem Gedächtnis und ihnen eine Erinnerung fürs Leben bleiben.

 75 Jahre Geschichte! – Der Rückblick löst mancherlei Gefühle und Gedanken aus. Wie der Strom dahinrauscht, eilen die Geschicke eines Hauses dahin, gehen dahin, die in einem Hause gewohnt, gewirket, gewaltet, an einem Hause gebaut haben. Wir haben des edeln, glaubensmutigen Stifters an seinem Denkmale gedacht. An sein Gedächtnis knüpft sich das eines Bachmann, Müller, lauter Namen, die in unserer Landeskirche mit Ehren genannt wurden, eines D. Schlier, dessen gestiftetes Bild seit einigen Tagen unsere Aula ziert, eines Elsperger, dem wir auf dem Ansbacher Friedhof am 2. März dieses Jahres unsern Dank ins Grab nachriefen.

 Neben den Vorständen der Anstalt, denen Gott das reiche Maß von Fürsorge, Arbeit, Mühe vergelte, das sie auf das Haus der Pfarrwaisen und Pfarrerssöhne gewendet haben, sehe ich die Reihe von Hausvorständen, Hausvätern, Inspektoren, die am unmittelbarsten und in erster Linie des Hauses Last getragen haben. Ihre Namen sollen uns unvergessen bleiben: Ulmer, Hensolt, Lohmann, Lehner, Stock, Dietzel, Haffner, der am längsten unter allen seitherigen Leitern mit seiner Gattin dem Waisenhaus seine Dienste und seine Liebe widmete, Koller, z. Z. die Riedelbauch’schen Hauseltern, die in der harten Zeit der letzten Heimsuchung unter den schwierigsten äußeren Verhältnissen dem Hause vorstanden. Eine große Zahl von Hilfskräften, Lehrern, Erziehern, Präfekten zieht an unserem Auge vorüber, die mit beim Werke waren. Und wer möchte erst alle die Namen derer nennen, die gesegnet oder weniger gesegnet auszogen aus diesem Hause, in dem sie Schutz und Schirm, Erziehung und Unterricht, ja auch wohl Brot und Kleid empfangen haben? Auch in dem Verwaltungskörper des Direktoriums, wie viel Wechsel und Veränderung!| Außer unseren langjährigen Mitgliedern Haußleiter und Sabel ist es heute ein neues Geschlecht, das zur Leitung berufen ist, das wacht über dem alten Hause und in ihm aus- und eingeht.

 Im alten Hause? Darf ich’s sagen? Auch die steinernen Häuser haben ihre Geschichte und 3/4 Jahrhunderte gehen nicht spurlos an ihnen vorüber. Als der ursprüngliche Waisenhausneubau, dessen Grund am 25. August 1836 gelegt wurde, am 20. September 1837 eingeweiht wurde, war’s ein Fest für die ganze weitere Umgebung. Tausende kamen zusammen; neben dem hiesigen Bürgermilitär trat ein Rother Gesangverein auf und sang im Hause den ersten mehrstimmigen Choral. Noch zeigt uns ein Stich in einem Aufruf des Jahres 1840 das Bild des ersten Baues, dessen Herstellungskosten 12000 fl. betrugen – ein einfaches Haus, der erste und einzige Stock von dem bekannten Türmchen gekrönt! Mit Stolz wurde von dem an der denkwürdigen „Gethsemane-Stätte“ errichteten Bau berichtet, daß von jedem der 74 Fenster eine andere schöne Aussicht sich darbiete. Lange genügte das Heim, das zuerst 7 Zöglinge (3 Waisen und 4 Pfarrerssöhne) beherbergte, dann aber bis zu 92 Pfleglingen (im Jahre 1842) Wohnung bot. Der neueren Zeit konnten seine Maße nicht mehr entsprechen. Das Jahr 1875 brachte den zweiten Stock, 1885 wurden zwei Flügel angebaut. Fast jedes der folgenden Jahre brachte kleine bauliche Veränderungen, an Haupt- und Nebengebäuden, und doch konnte mit alledem modernen Anforderungen an Luft, Licht, Hygiene um so weniger Genüge geleistet werden, als Lehr- und Erziehungsanstalt in den Mauern des Hauses sich behelfen mußten.

 Die Brand- und Schreckensnacht am 19. November 1908 zerstörte, was in Jahrzehnten geworden, gewachsen war. Sie brachte Sorgen, Fragen, Aufgaben die Menge. Unter Notdächern weilten wir teilweise in den Brandruinen, während die Stadt den Zöglingen gastliche Herberge bot. Zuletzt erstand der Neubau, dessen Grundstein am Johannistage 1909 gelegt wurde, wieder auf altem, vielumstrittenem Boden. Und nicht nur das: die Mauern, die uns hier umgeben, sind zum Teil Umfassungsmauern des alten Baues. Das Alte wurde nicht abgetragen, aber zum Alten fügte sich das Neue.

 So ging es mit dem Äußeren des Hauses. Seine innere Geschichte weiß von Ähnlichem zu sagen, von Veränderung, Umgestaltung, Ausbau, von Wandlungen und Verschiebungen. Erziehungs- und Lehranstalt wollte anfangs das Pfarrwaisenhaus sein. Erst wurde an die vorgesehene Verbindung mit der kaum lebensfähigen hiesigen Lateinschule nicht herangetreten. Nach freiem Übereinkommen gab und nahm man später die Schüler herüber und hinüber, nachdem es sich als praktisch erwiesen hatte, daß hüben und drüben nur einzelne Klassen geführt würden. Die Rektoren der lateinischen Schule aber wurden| als Freunde und Mitarbeiter der Anstaltserzieher auch in der Anstaltsverwaltung und Leitung maßgebende Organe, bis das Jahr 1855 eine klare Regelung des Verhältnisses zwischen Anstalts-Schulen und „der aus zwei Klassen bestehenden königlichen Subrektoratsschule“ brachte. Auch hier ist es Pflicht der Dankbarkeit, Namen festzuhalten, die für Schule und Anstalt, wie für die Pfarrgemeinde unvergessen bleiben sollen: Die Namen der 2. Pfarrer und Subrektoren: Harleß, Engelhardt, Seßner, Lohmann, Seyler und Hornung, von denen der letztgenannte mit der Anstaltsgeschichte der letzten 40 Jahre so eng verbunden ist. Infolge der neuen Schulordnung von 1874 trat eine neue Einrichtung der Schulklassen ein, so daß außer der besonderen Elementarschule 5 Lateinklassen vorhanden waren. 1881 wurde eine Assistentenstelle vom Kreise errichtet und dotiert, für die das Waisenhaus die freie Station stellte. Das Jahr 1898 brachte die Ausgestaltung zum sechsklassigen Progymnasium, die Verlegung zweier Schulklassen in ein besonderes Progymnasialgebäude; nach dem Brande erfolgte die Erbauung eines größeren Schulgebäudes durch die Stadt, sodaß nun räumlich Schule und Internat völlig getrennt sind. Die seit 1898 bestehende rechtliche Scheidung von Schule und Internat schließt eine tatsächliche Verbindung nicht aus. Das Waisenhaus hat 1/5 der Kosten für die Personalexigenz der Schule zu leisten, stellt neben 2 Ordinariaten Fachlehrer; der Rektor der Schule ist Mitglied des Direktoriums. Evangelische Gymnasiallehrer sind von Staatswegen der Anstalt garantiert.
Neues Progymnasium Windsbach.


|  Es wird nicht unbescheiden sein oder als Selbstüberhebung gedeutet werden, wenn wir meinen, daß der Schwerpunkt der Erziehungsarbeit auch heute noch in dem Hause liege, das den Waisen sowie den anderen Zöglingen das Elternhaus ersetzen soll.

 Die Ordnung und Verfassung dieses Hauses erforderte gleichfalls dringlich eine Neuregelung. Der Grundlage der ersten vorläufigen Statuten von 1836 waren 1849 revidierte Satzungen gefolgt. Die Statutenrevision von 1855 traf Bestimmungen, die bis in dieses Jahr herein Kraft besaßen, in vielen Punkten aber durch die neuen Verhältnisse überholt und veraltet geworden waren. Vor kurzem ist eine neue Satzung mit Hausordnung und Dienstanweisung genehmigt worden. Sie gibt dem Inspektor innerhalb seines Wirkungs- und Berufskreises eine selbständigere Stellung, schafft der Landesgeistlichkeit ein Organ, durch das sie ihre Wünsche und Anschauungen der Anstaltsverwaltung übermitteln kann, und will auch solchen Pfarrwaisen, die nicht zum Studium sich eignen, die Fürsorge und Wohltat des Waisenhauses zuwenden.

 Wir haben – soweit das durch Satzungen möglich ist – dem Hause seinen alten guten Grund zu bewahren gesucht. Wir wollen eine kirchliche Anstalt sein und bleiben, wenn man auch vielerseits in allem „Kirchlichen“ z. Zt. etwas gering zu achtendes sieht. Wir wollen erziehen in evangelischem, christlichem Geist. Es ist kein Wort zu verlieren, wie das gemeint ist. Verständnislosigkeit oder übler Wille mag das als den Weg zur Frömmelei und Kopfhängerei bezeichnen; wer aus der Nähe die Sache betrachtet und der Wahrheit die Ehre gibt, kann aus dem frischen, fröhlichen Leben unserer Zöglinge anderes ersehen. Daß es ein Übermaß religiöser Übungen und kirchlicher Gewöhnung so wenig tut, wie im Religionsunterricht ein Übermaß des Stoffes, das wissen wir. Aber daß Gewöhnung, Ordnung, Sitte, Regel in der Erziehung, auch in der religiösen Erziehung ein berechtigter und wertvoller Faktor sind, vertreten wir. Am ausführlichsten ist wohl das Erziehungsprogramm unserer Anstalt bei dem ersten Jahresfest 1838 von dem ersten Inspektor Ulmer entwickelt worden. Es ist merkwürdig: die pädagogischen Zeitfragen, die er behandelt, sind die Grundfragen der Erziehung von heute. Die Beantwortung, die er gab, klingt zusammen mit dem, was aus der Tiefe des ewigen Gotteswortes uns heute als Grund und Ziel evangelischer Erziehung aufgezeigt worden ist. So haben wir auch über des neuen Hauses Pforte das Wort geschrieben, das Brandt vom alten sprach: „Jesus Christus soll in ihm das A und O sein.“ Je enger wir im Glauben mit ihm verbunden sind, desto mehr schweigt alles Rühmen und alles Pochen auf Erziehungskünste. Wir gedenken an diesem Orte, der seit 1400 Gethsemane heißt, daran, daß es Gethsemane-Stunden gekostet hat,| alles Unzulängliche, Fehlsame, Unvollkommene, das in der Geschichte unseres Hauses hinter uns liegt, zu decken, aber wir treten auch ins neue Vierteljahrhundert mit der Gewißheit, daß der Herr, der durch Gethsemane-Stunden zu seiner Herrlichkeit gelangte, sich bekennt zu allem Werk, das in seinem Namen geschieht.

 Das Pfarrwaisenhaus hat auch seine eigene Predigtsammlung und Predigtgeschichte: außer der letzten Festpredigt bei der Hauseinweihung, in der Herr Stadtpfarrer Fronmüller auf die Festeshöhe führte, die vier Predigten am Anfang der Vierteljahrhunderte seiner Geschichte! Es war der Ton der Freude, der aus Löhes Weihepredigt über Ps. 118, 84 klang: „Dies ist der Tag, den der Herr macht, lasset uns freuen und fröhlich darinnen sein.“ Dekan Müller rief beim Jubiläum des Jahres 1862 zum Danke auf: „Bis hieher hat der Herr geholfen.“ 1. Sam. 7, 12. Der sel. Oberkonsistorialpräsident D. A. von Stählin gab bei der Jubelfeier im Jahre 1887 dem Vertrauen Ausdruck auf die Zusage des Herrn: „Ich will euch nicht Waisen lassen.“ Ev. Joh. 14, 18.

 Heute ist uns aus hohem Mund ein Gebetswort als Losung gegeben worden, das der Mund unseres allerhöchsten Herrn gesprochen hat: „Heilige sie in Deiner Wahrheit, Dein Wort ist die Wahrheit.“ Joh. 17, 17. Wir freuen uns heute des Großen, das Gott 75 Jahre an unserem armen Hause getan hat, und aus brünstigem Herzen quillt unser demütiger Dank. Aber wir sehen auch hinaus auf das Kommende mit neuem Ernst, mit dem kindlichen Vertrauen auf seine Hilfe, mit dem Gebet: „Sei Du mit uns, wie Du gewesen bist mit unseren Vätern!“ –

 Nach der Begrüßung und Rede des Vorsitzenden des Direktoriums, Dekan Hermann, hatte S. Exzellenz Herr Oberkonsistoralpräsident die Güte, der Anstalt Dank und Wunsch der hohen und höchsten Kirchenbehörden auszusprechen, hiebei der Jugend, des Direktoriums, seines Vorstandes, des Inspektors freundlich gedenkend. Der Wunsch des hohen Redners faßte sich in die Worte: „Wie in Windsbach viel für Diener, Wächter und Hirten gebetet wird, so geschehe es weiterhin! In unverantwortlicher Stellung die Fehlsamkeit der Verantwortlichen geißeln und aus der Ferne die Schwächen der Oberen tadeln ist leicht; aber lieblich ist es für sie zu bitten, daß Gott in ihrer Schwachheit seine Kraft vollende. Nicht Theologen wünschen wir von Windsbach zu erhalten, so not die Kirche sie hat, sondern Konfessoren und Beter, Männer und Zeugen.“

 In seiner Erwiderung fand der Vorstand erwünschte Gelegenheit, öffentlich der hohen Kirchenleitung, die auch noch durch Herrn Konsistorialrat Hofstätter von Ansbach vertreten war, herzlichen Dank zu sagen für alles Wohlwollen und alle Förderung, die das Waisenhaus besonders in den letzten schweren Jahren durch die hohen Kirchenstellen erfahren durfte, und der Gewißheit Ausdruck| zu geben, daß die Worte des Wunsches, die S. Exzellenz ausgesprochen hatte, unvergeßlich bleiben und ihre Erfüllung finden würden. Nunmehr sprachen der Anstalt ihre Glückwünsche aus namens der hohen K. Kreisregierung Herr Regierungsrat Klee von Ansbach, für die Missions- und Diakonissenanstalt Neuendettelsau die Herren Kirchenrat Deinzer und Rektor Eichhorn, für die Stadt Herr Bürgermeister und Landtagsabgeordneter Jungmaier, für das Progymnasium Herr Rektor Steinbauer, der den beiden Anstalten einmütiges, friedliches und gedeihliches Wirken wünschte und das Pfarrwaisenhaus mit einer Festwidmung „Aufsatzstoffe für Mittelschulen“ überraschte, zu deren Druck die Stadt die Mittel als Festgabe dargeboten hatte.

 In den Dankesworten, in denen der Vorstand des Direktoriums den Rednern erwiderte, konnte er von vielem Guten reden, das die Anstalt besonders in der Not nach dem Brande von der Landeskirche, ihrer Geistlichkeit, der K. Regierung, dem Kreise, den benachbarten Dettelsauer Anstalten, der Gemeinde, von einzelnen Gönnern empfangen hat. Besonders erwähnt wurde das freundliche persönliche Interesse und Wohlwollen, das S. Exzellenz, Herr Regierungspräsident von Blaul, wie der als Vertreter anwesende Herr Referent der K. Kreisregierung dem Pfarrwaisenhause geschenkt haben, ferner die wertvolle Beratung, Förderung und Fürsorge, die der im Urlaub befindliche Referent des K. Konsistoriums Ansbach, Herr Konsistorialrat Gebhard, in aufopferndster Weise dem Pfarrwaisenhause zuteil werden ließ, und die nimmer müde Tätigkeit des Herrn Bürgermeisters der Stadt für das Wohl der der Stadt erhalten gebliebenen Anstalt. –

 In einigen mehrstimmigen Chören kamen auch die Zöglinge unter ihrem Musiklehrer Präfekt Hagendorn zu Worte. Sie sangen den Choral: „Nun lob mein Seel den Herren.“ Mit Vers 1, 2, 5, 6 des Liedes 21 klang der Festakt aus.

 Um 1/22 Uhr fand sodann gemeinsames Mittagessen im Fischer’schen Saale statt. Von den zahlreichen Tischreden erwähnen wir die freundlichen, warmen Worte, mit denen Herr Konsistorialrat Hofstätter der Anstalt und ihrer Leitung gedachte. Herr Dekan Winter-Thurnau sprach den Hauseltern den Dank der Zöglings-Eltern aus. Herr Kirchenrat Hensolt-Seibelsdorf erinnerte an vergangene Zeiten des Pfarrwaisenhauses, Herr Professor Reuter von Ansbach gab Mitteilungen eines im Gründungsjahre eingetretenen, noch lebenden ehemaligen Zöglings, des Herrn Kirchenrats H. Mayer in Neustadt a. H., bekannt, die er in einem der Anstalt gewidmeten Buche aufgezeichnet hatte. Das Buch soll ein „Goldenes Buch“ der Anstalt werden und Aufzeichnungen, geschichtliche Notizen u. s. w. über das Haus sammeln und aufnehmen. Der verlesenen Telegramme mit Grüßen und Wünschen war eine große Zahl, sie kamen teilweise aus weiter Ferne, aus Paris, England, der Schweiz. –

|  Der Nachmittagszug führte viele Festgäste wieder weg aus dem alten Städtchen. Den Zöglingen aber wurde von der Stadt noch die Freude bereitet, daß sie im muntern Zug unter Vorantritt der Stadtkapelle zum Kronerskeller marschieren durften um bei Musik und Spielen fröhlich zu sein. Mit den noch anwesenden Gästen freuten sich zahlreiche Windsbacher Familien an dem fröhlichen Treiben der Jugend. Herr Pfarrer und Distriktsschulinspektor Blank gab Ernstes und Heiteres aus dem Schul- und Anstaltsleben in gebundener Form.

 Auch das Schlußfest des Progymnasiums sah am folgenden Tage noch eine Anzahl der auswärtigen Gäste.

 Eine reiche Zahl treu gemeinter Wünsche ist der Jubilarin in den festlichen Tagen zugekommen. Möge Gott Gnade geben, daß sie in guten und schweren Tagen des Anstaltslebens Erfüllung finden! Der Liebe und dem Vertrauen seiner Freunde dankt das Pfarrwaisenhaus nächst Gottes gütiger Führung seinen Bestand. Möge diese Liebe ihm auch erhalten bleiben und mögen auch diese Blätter der Festeserinnerung seinen Freunden ein Gruß sein, der um weitere Treue und um Vertrauen bittet und wirbt!




 Wie der Eingang zum Fest und Festbericht ein poetischer war, so folge ein warm empfundener dichterischer Nachtrag zum Schlusse:

An Herrn Dekan Carl Heinrich Brandt
zum
75-jährigen Stiftungstag des Pfarrwaisenhauses in Windsbach, 12. Juli 1912.
Von einem der ersten Zöglinge desselben.




Sei Du gegrüßt, Du edles mildes Haupt,
Mit Silberlocken ehrenvoll umlaubt!
Dein Antlitz ganz des Herzens wahres Bild,
Von Güte, Liebe, Glaube so erfüllt,
Als wolltest Du noch heute freundlich sagen,
Was Du vollbracht in frühen Lebenstagen:
     „Den Pfarrerswaisen galt mein Sinnen, Streben!
     Was sie verloren, wollt’ ich ihnen geben:
     Des Vaters Stütze und der Mutter Herz,
     Den Himmel öffnen nach des Grabes Schmerz!
     Daß mir dies Werk mit Gottes Hilf’ gelang,
     War Herzensfreude mir mein Leben lang!“

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Auch ich klagt einst mit meinem Bruder trübe,
Daß früh verloren wir der Eltern Liebe,
Verloren, ach, die traulich lieben Räume,
Wo wir verlebt der Jugend frohe Träume,
Verloren früh die Auen, Fluren, Wiesen,
Wo wir so viele Blumen sahen sprießen,
Wo leider auch manch Leid in schweren Stunden
Im jungen Herzen wir zuletzt empfunden,
Als nach des Vaters Tod Pfarrhauses Pforten
Frühzeitig bitter uns verschlossen worden! (1837 im August)
„Wohin? Wohin?“ war da die bange Frage,
Die dumpf hineinklang in der Kindheit Tage.
Und frohe Antwort da Gottlob! erklang,
Die ich vergesse nicht mein Leben lang.
Am Rezatfluß ward da gebaut ein Haus,
Von dem ein Rettungsruf uns klang heraus.
     „Kommt her zu mir, ihr beiden Mayerlein,
     Ihr sollt von nun an meine Kinder sein!
     Für euch ist auch hier Schutz und Hilf’ bereit,
     Daß ihr von Not und Sorge seid befreit!
     Mein Herz gehöret euch, mein Mund und Gut,
     Daß unter meinem Dach ihr sicher ruht!“
Und was der edle Retter da verhieß,
Klang uns in Herz und Ohr so tröstlich süß,
Daß es für uns wie Gottes Stimme war,
Die uns von Not befreite und Gefahr!
Das neue Haus und Heim am Rezatstrand,
Ward Arche uns und neues Heimatland.
Und viele segensreiche Tag’ und Zeiten
Sah’n, treu behütet, wir vorübergleiten.
Von guten Hirten wurden wir gehegt
Und unsers Lebensganges Grund gelegt;
Zumal der Grund, auf dem wir ohne Grauen
Auch später konnten richtig weiter bauen.
Wie hast Du, güt’ger Vater, oft gelegt
Die Hand auf’s Haupt uns, sprechend frohbewegt:
     „Bist Du, mein Sohn, gern in dem Hause hier?
     Und fehlet nichts, wie einst zu Hause, Dir?
     O sei nur fromm, gehorsam, fleißig gern,
     Das freuet mich, noch mehr Gott, deinen Herrn!
     Gib deine Hand mir drauf, mein lieber Sohn!“

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Das tat ich freudig auch und sprang davon.
Wenn sein Geburtstag kam zur Winterzeit –
Es war meist kalt und hatte schon geschneit –
Da sangen wir ihm stets zur Morgenruh
Mit hellen Stimmen unsern Glückwunsch zu.
     „O Vater, güt’ger Vater, Lob und Dank
     Bringt Dir von Herzen unser Kindersang!
     Der Vater in dem Himmel sende Dir
     Und Deinem Hause Segen für und für,
     Vergeltend, was wir Kinder nicht vermögen!
     Er kröne Dich mit seinem reichsten Segen!“
Und unser Sang – er blieb nicht unerhört.
Es ward ihm noch des Guten viel bescheert,
Bis zu ihm auch der Friedensengel kam,
Die Seele aus der Leibeshülle nahm!
Längst ist er fort und schläft in Grabes Nacht,
Wo über ihm hält Gottes Engel Wacht.
Doch was im Glauben er hat treu gesät,
Das bleibt und wächst und nimmermehr vergeht.
Und seine Seele, los vom Erdenkleid,
Schwang sich empor zu Himmelsseligkeit!
Doch unser schönster bester Dank wird sein,
Wenn wir uns auch der Liebe Werken weih’n!
Mit Recht von Stein ein Denkmal stehe hier
Zu seines Namens, seines Lebens Zier.
Es ruf’ uns zu: „Hier lebt’ ein Gottesknecht
In Glaube und in Liebe schlicht und recht!“ Psalm 25, 24.
Und ich nach fünfundsiebzigjähr’ger Frist
Ruf’ dankbar nochmals: „Vater, sei gegrüßt,
     Gegrüßt mit meines Herzens bestem Ton,
     Als Deiner Güte, ach, nur schwachem Lohn!
     Gegrüßt seist Du, bis einst in Himmelshöh’
     Ich Dich mit Vielen freudig wiederseh’!


Georg Wilh. Heinrich Mayer, Pfarrer a. D. u. Kirchenrat
geb. 4. Mai 1828, Anfang September 1837 
ins Pfarrwaisenhaus eingetreten, und bis 
August 1842 darin geblieben. 


Bad Dürkheim, Pfalz, 7. August 1912.