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Der Brand der Neustettiner Synagoge vor den Schwurgerichten zu Köslin und Konitz

Im Herbst 1878 wurde bekanntlich, angeblich aus Anlaß der Attentate von Hödel und Nobiling, die sozialdemokratische Partei unter ein Ausnahmegesetz gestellt. Das am 21. Oktober 1878 vom Reichstage beschlossene „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ hatte gewissermaßen eine politische Kirchhofsruhe zur Folge. Über Berlin-Potsdam und zweimeiligen Umkreis wurde sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes der „Kleine Belagerungszustand“ verhängt. Auf Grund dieses Gesetzes wurden sogleich 45 bekannte Sozialdemokraten ausgewiesen. Es herrschte geradezu ein panischer Schrecken, denn die Polizei konnte jeden Menschen ohne Angabe von Gründen ausweisen. Selbstverständlich wagte es in Groß-Berlin und Potsdam niemand mehr, sich als Sozialdemokrat oder auch nur als Demokrat zu bezeichnen, die sofortige Ausweisung wäre ihm sicher gewesen. Der Ausgewiesene erhielt zumeist den Befehl, innerhalb drei Tagen, bisweilen auch innerhalb drei Stunden, das Gebiet des „Kleinen Belagerungszustandes“ zu verlassen. Wer diesem polizeilichen Befehl nicht nachkam, wurde verhaftet, wegen Bannbruchs mit Gefängnis bestraft und nach der Strafverbüßung mittels polizeilicher Eskorte aus dem Gebiete des „Kleinen Belagerungszustandes“ entfernt. Ob die Ausgewiesenen das erforderliche Reisegeld besaßen, ob Frau und Kinder durch die gewaltsame Entfernung des Gatten und Vaters dem Elend und dem Hunger preisgegeben waren, war kein Hinderungsgrund, dem Ausweisungsbefehl den nötigen Nachdruck zu verleihen. Wenn ein Ausgewiesener in heller Verzweiflung die polizeiliche Ausweisungsstelle fragte, weshalb er ausgewiesen werde, da er sich doch seit Inkrafttreten des Sozialistengesetzes jeder agitatorischen Tätigkeit enthalten habe, da wurde ihm geantwortet: „Die Polizei ist gesetzlich nicht verpflichtet, den Ausweisungsbefehl zu begründen; nehmen Sie an, der Polizei gefällt Ihre Nase nicht.“ Ein Rechtsmittel gegen die polizeiliche Ausweisung gab es nicht. Selbst am Weihnachtsheiligabend mußten brave, fleißige Arbeiter Frau und Kinder in Hunger und Elend zurücklassen, den Wanderstab ergreifen und das Weichbild Berlins verlassen. Den Lebensunterhalt mußten sich diese wegen ihrer politischen Gesinnung Ausgestoßenen

durch Betteln

verschaffen. Die hinterbliebenen Frauen und Kinder mußten naturgemäß auch betteln gehen, wenn sie nicht verhungern wollten. Jeder, der diese armen Leute unterstützte, geriet in Gefahr, ebenfalls ausgewiesen wiesen zu werden. Der damalige Besitzer der großen Spindlerschen Färberei, William Spindler, ein mehrfacher Millionär, war nicht Sozialdemokrat, aber bürgerlicher Demokrat und ein glühender Verehrer Johann Jacobys. Es war bekannt, daß William Spindler, den leider schon sehr lange der kühle Rasen deckt, ein Philanthrop im vollsten Sinne des Wortes war. Es war William Spindler geradezu Herzensbedürfnis, Tränen zu trocknen, Not und Elend zu lindern. Es war daher selbstverständlich, daß die Hinterbliebenen der Ausgewiesenen in großen Scharen den Wohltätigkeitssinn Spindlers in Anspruch nahmen. Meines Wissens nach ist William Spindler, dieser selten edelmütige Mensch, als

einer der größten Wohltäter der Menschheit

zu bezeichnen.

Diese vielen Unterstützungen der Hinterbliebenen Ausgewiesener kamen naturgemäß sehr bald zur Kenntnis der Polizei, zumal das Spitzeltum in üppigster Blüte stand. Nach damaliger Ansicht der Polizei hatte William Spindler die polizeilichen Maßnahmen zur Unterdrückung der Sozialdemokratie durch seine Unterstützung zu lähmen versucht, er war daher nach polizeilicher Anschauung für die Ausweisung reif. Allein Spindler war Besitzer eines ausgedehnten Fabriketablissements. Er beschäftigte mehrere tausend Arbeiter. Einen solchen Mann auszuweisen, erschien der Polizei als Risiko. Wenn durch die Ausweisung Spindlers mehrere tausend Arbeiter brotlos würden? Es herrschte ohnedies große Arbeitslosigkeit in Berlin und es war Winter. Da bat eines Tages der Vorstand des betreffenden Polizeireviers Herrn Spindler, ihm eine Unterredung zu gewähren. Bereitwilligst empfing William Spindler den Polizeileutnant mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit. Herr Spindler, so etwa äußerte der Polizeioffizier, es wird Ihre Ausweisung in Erwägung gezogen. Ich habe deshalb den Auftrag erhalten, Sie zu fragen, ob, wenn das geschähe, Ihr Etablissement fortbestehen würde. William Spindler antwortete: Ihre Mitteilung kommt mir nicht überraschend. Angesichts der Praktiken der Berliner Polizei habe ich sie längst erwartet. Ich werde, sobald ich den Ausweisungsbefehl erhalten habe, mich vielleicht am Gardasee oder am Golf von Neapel niederlassen und selbstverständlich, da ich fern von Berlin weilen muß, mein Etablissement sofort auflösen. Zu meinem großen Bedauern würden dadurch einige tausend Arbeiter brotlos werden. Die Verantwortung hat aber alsdann die Berliner Polizei und nicht ich.

Sie würden also bestimmt Ihre Etablissements schließen und Ihre Arbeiter entlassen, wenn Sie den Ausweisungsbefehl erhielten, fragte der Polizeileutnant. Mein fester, schon lange gefaßter Entschluß, erwiderte William Spindler. Der Polizeioffizier empfahl sich und – die Ausweisung Spindlers unterblieb. Einige Monate vor Erlaß des Sozialistengesetzes hatte Hofprediger Stöcker zwecks Bekämpfung der Sozialdemokratie die christlichsoziale Partei begründet. Nachdem die Sozialdemokratie von der öffentlichen Bildfläche verschwunden war, wurde es in den christlich-sozialen Versammlungen langweilig. Es ging doch nicht an, fortdauernd eine Partei zu bekämpfen, die in der Öffentlichkeit nicht mehr existierte. Auch in höheren Kreisen schien man die politische Kirchhofsruhe unangenehm zu empfinden. Es mußte ein anderes Angriffsobjekt gefunden werden. Und dies fand sich sehr bald.

Im September 1879 berief Stöcker nach dem Saale „Zum Deutschen Kaiser“ eine öffentliche Versammlung mit der Tagesordnung

die Judenfrage.

Und siehe da, während die Versammlungen der christlich-sozialen Partei lange Zeit eine gähnende Leere aufwiesen, war der große, im Norden Berlins, Elsässer Straße belegene Saal schon eine volle Stunde vor Beginn der Versammlung überfüllt, so daß die Polizei sich genötigt sah, den Saal abzusperren. Auf der Straße standen viele Tausende, die vergeblich Einlaß begehrten. Eine starke Polizeimacht zu Fuß und zu Pferde hatte alle Mühe, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Unglücksfälle zu verhüten. Alle ferneren Versammlungen, sammlungen, in denen die Judenfrage auf der Tagesordnung stand, hatten sich desselben zahlreichen Zulaufs zu erfreuen. Von dieser Zeit ab begann der Antisemitismus Orgien zu feiern, denn die Stöckersche Agitation wurde sehr bald von einer Anzahl Gymnasiallehrer und katilinarischen Existenzen aller Art weit überboten. Es wurde eine

Judenhetze

entfacht, die an die Zeiten des finsteren Mittelalters erinnerte. Diese Hetze verpflanzte sich sehr bald in das Reich und ergriff auch das Ausland. Das alte Märchen, daß die Juden alljährlich um die Osterzeit ein Christenkind schlachten, weil sie Christenblut zu den Mazzes nötig haben, wurde, wieder aufgetischt. In Rußland, Österreich und Rumänien fanden blutige Judenverfolgungen statt. In Frankreich begann die Dreyfushetze: In Südungarn waren eine Anzahl Juden angeklagt, die vierzehnjährige Dienstmagd Esther Solimosi zu rituellen Zwecken in der Tisza-Eszlarer Synagoge geschlachtet zu haben. In einer Reihe pommerscher Städte fanden arge Ausschreitungen gegen Juden statt. Zur Ehre der Arbeiter sei es gesagt, diese hatten den reaktionären Schwindel durchschaut und gingen den Antisemiten nicht ins Garn. Die Bewegung mußte daher schließlich scheitern, da sie im Volke keinen Boden fand. Der beste Boden für den Antisemitismus waren die Gegenden, in denen die Großindustrie wenig entwickelt und das Kleinbürgertum noch in der Mehrheit war. Dies war in Pommern und ganz besonders in Neustettin der Fall. Dort erschien die „Norddeutsche Presse“, ein antisemitisches Schmutzblättchen, das in Judenhetze geradezu Unglaubliches leistete. Im Sommer 1881 kam es zu argen Judenkrawallen, wobei die Wohnungen und Läden der Juden arg demoliert wurden. Allein, schon lange vorher war dort die Spannung aufs höchste gestiegen. In dieser Zeit, im Februar 1881, kam der ehemalige Berliner Mädchenschullehrer, später Redakteur eines in Berlin unter Ausschluß der Öffentlichkeit erschienenen antisemitischen Blättchens, genannt „Der Reichsherold“, Dr. Ernst Henrici, der noch jetzt in Leipzig lebt, nach Neustettin. Er hielt in einer Volksversammlung eine antisemitische Hetzrede, wie sie schlimmer nicht gedacht werden kann. Einige Tage darauf ging in Neustettin die Synagoge in Flammen auf. Wodurch das Feuer entstanden, ist nicht aufgeklärt worden. Allein, Zündstoff war im Städtchen zur Genüge vorhanden, der Brand der Synagoge brachte die Gemüter in Siedehitze. Die Juden gaben der Ansicht Ausdruck: Die Antisemiten haben aus Judenhaß das Gotteshaus angesteckt. Die Antisemiten behaupteten dagegen: Die Juden haben ihren Tempel in Brand gesetzt, um das Verbrechen den Christen in die Schuhe zu schieben. Die Staatsanwaltschaft leitete eine umfassende Untersuchung ein. Eines Tages wurden fünf Juden, und zwar der ehemalige Tempeldiener Lesheim nebst seinem damals vierzehnjährigen Sohn Leo, der 71jährige Rentier Heidemann und dessen Sohn und der Tempeldiener Löwenberg verhaftet. Sie wurden wohl sehr bald gegen Stellung einer Kaution aus der Haft entlassen, die Anklage gegen sie aber erhoben. Ende Oktober 1883 hatten sich Lesheim, Vater und Sohn, und Löwenberg wegen Beihilfe zur vorsätzlichen Brandstiftung, Heidemann, Vater und Sohn, weil sie von einem gemeingefährlichen Verbrechen zu einer Zeit, in welcher die Verhütung noch möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten und es unterlassen hatten, der Behörde Anzeige zu machen, vor dem Schwurgericht zu Köslin zu verantworten. Den Vorsitz des Schwurgerichtshofs führte Landgerichtsdirektor Burow. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Pinoff. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. Erich Sello (Berlin) und Justizrat Scheunemann (Neustettin). In diesem Prozeß, der in der ganzen Kulturwelt mit größter Spannung verfolgt wurde, hatte der damals 31jährige Rechtsanwalt Dr. Sello seinen Weltruf als Verteidiger begründet. Die Angeklagten bestritten mit vollster Entschiedenheit die ihnen zur Last gelegten Handlungen.

Synagogenvorsteher Löwe (Neustettin) bekundete als Zeuge:

Ich nehme an, daß das Feuer von ruchloser Hand angelegt war, denn der Tempel war nach Verlauf von kaum zwei Stunden vollständig niedergebrannt. Ich habe ein Fenster ausgehoben; es war das in derselben Weise geschehen, wie im Jahre 1863, zu welcher Zeit einmal in böswilliger Weise Thorarollen zerschnitten wurden, ohne daß es gelungen wäre, der Täter habhaft zu werden. Die Synagoge war bei der Magdeburgischen Feuerversicherungs-Gesellschaft mit etwa 20000 Mark versichert. Die Gemeinde erhielt als Versicherungssumme nur etwa 19000 M., da für die Abnutzung Abzüge gemacht wurden. Es ist richtig, daß wir vor etwa drei bis vier Jahren den Beschluß faßten, eine neue Synagoge zu bauen, da die alte sich als zu klein erwies. Es wurde auch ein Bauplatz von uns angekauft, da dieser sehr billig war; allein die Kosten für den Neubau erschienen uns doch zu hoch. Deshalb beschlossen wir: von dem Neubau Abstand und einen Ausbau der alten Synagoge vorzunehmen. Dies geschah etwa zwei Jahre vor dem Brande. Die Bänke der Synagoge wurden renoviert, neue Teppiche gelegt und die Synagoge durch bessere Einteilung der Plätze bedeutend vergrößert. Wir haben infolge dieses Ausbaues noch etwa 11-12000 Mark Schulden. Der Schaden, der infolge der Feuersbrunst der Gemeinde, aber auch vielen Gemeindemitgliedern zugefügt wurde, ist ein sehr bedeutender. Wir hatten mehrere kostbare Silbergeräte, acht sehr wertvolle Thorarollen mit schweren Silberbehängen ausgestattet. Von alledem wurde nicht das mindeste gerettet. Mir persönlich gingen, außer wertvollen Gebetmänteln, Reliquien verloren, die mir ein teures Andenken von meinen Eltern, Großeltern und Urgroßeltern waren. Ähnliche Verluste haben noch eine Reihe anderer Gemeindemitglieder zu beklagen, ohne daß auch nur der mindeste Ersatz dafür jemandem geworden ist. Der Frauenchor ist allerdings einmal, etwa zwei Jahre vor dem Brande, kurze Zeit mit Petroleum erleuchtet worden. Die Petroleumbeleuchtung ist jedoch seit dieser Zeit, da sie sich als unpraktisch erwies, nicht mehr in Anwendung gekommen.

Vors.: Es wird behauptet, daß vor dem Brande eine Anzahl Leuchter aus dem Tempel geschafft wurden?

Zeuge: Wir hatten uns zu jener Zeit einige Kronleuchter von der Bärwalder Gemeinde geliehen; die bekundete Wegschaffung kann sich nur auf diese Leuchter beziehen.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bekundete der Zeuge: Die jüdische Gemeinde zu Neustettin hatte gleich nach dem Brande eine hohe Belohnung auf Ergreifung der Täter ausgeschrieben.

Vors.: Es wurde damals von vielen Ihrer Glaubensgenossen in Neustettin die Äußerung gemacht: „das haben uns die Antisemiten getan“, wie kam das?

Zeuge: Am Sonntag vor dem Brande hielt der bekannte Dr. Henrici aus Berlin in Neustettin in einer antisemitischen Versammlung eine „Brandrede“; aus diesem Umstande gelangten wir zu der Vermutung: Einige Antisemiten haben, durch die Rede Henricis aufgehetzt, aus Haß gegen die Juden den Tempel in Brand gesteckt.

Vors.: Einen weiteren Anhalt zu dieser Vermutung hatten Sie nicht?

Zeuge: Nein. Auf Befragen des Verteidigers, R.-A. Dr. Sello, bekundete noch der Zeuge: Kurz vor dem Brande sei in der in Neustettin erscheinenden „Norddeutschen Presse“ ein Feuilleton mit der Überschrift: „Dr. Martin Luther und die Judenfrage“ erschienen. In diesem Feuilleton hieß es: „Was wollen wir Christen nur tun mit diesem verdammten Volk der Jüden? Ich will meinen treuen Rat geben: Erstens, daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich.“

Ingenieur Schreiber, der den Ausbau der abgebrannten Synagoge geleitet hatte, bekundete: Die Synagoge sei nach erfolgtem Ausbau bedeutend mehr wert gewesen, als die Versicherung betrug. Genaueres könne er hierüber nicht sagen. Das Fenster der Synagoge habe zwei Meter über der Erde gelegen, so daß ein Einsteigen in das Gotteshaus immerhin möglich gewesen sei.

Bau-Inspektor Kleefeldt: Die Dielen der abgebrannten Synagoge müssen zweifellos vollständig mit einer leicht brennbaren Flüssigkeit begossen gewesen sein, sonst wäre ein gänzliches Verbrennen des Fußbodens nicht möglich gewesen. Von der der Synagoge gegenüberliegenden Elementarschule vermochte man aus dem einen Klassenzimmer wohl sehr genau den ganzen Synagogenplatz zu übersehen. Ein Fenster des Klassenzimmers, aus welchem Schüler ihre Wahrnehmungen gemacht haben wollen, war jedenfalls durchsichtig.

Frau Jasse: Ich wohnte dicht neben der Synagoge, es fiel mir auf, daß in der Woche vor dem Brande alle Morgen die Synagoge erleuchtet war, während man in der Woche, in der die Feuersbrunst stattfand, niemals Licht in der Synagoge sah. Etwas Auffälliges in der Gegend der Synagoge habe ich am Vormittage vor dem Brande nicht wahrgenommen. Am folgenden Tage sah ich, wie der Tempeldiener Löwenberg verkohlte Gebetbuchblätter auf der Brandstätte aufsammelte; Petroleumgeruch habe ich nicht wahrgenommen. Am Vormittage vor dem Brande habe ich an der Südseite der Synagoge ein Fenster geöffnet gesehen. Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sello gab die Zeugin zu: sie habe zu einer Frau Löwenberg gesagt, daß sie kurz vor dem Brande einen Mann in der Synagoge gesehen habe. Sie habe dies aber nur gesagt, um Frau Löwenberg zu ärgern, da diese fortwährend behauptete: die Christen haben auf Befehl von Henrici die Synagoge angesteckt.

Rentier Biedenweg: Ich wohne dicht neben der abgebrannten Synagoge. Am Tage des Brandes, vormittags gegen acht Uhr sah ich an der Südseite der Synagoge ein Fenster geöffnet. Gegen zehn Uhr vormittags war es jedoch wieder geschlossen.

Vors.: Irren Sie sich auch nicht in der Zeit?

Zeuge: Nein, ich weiß es noch ganz genau.

Dieser Zeuge sowie dessen Ehefrau behaupteten aufs bestimmteste: Mehrere Wochen vor dem Brande haben sie alle Morgen die Synagoge erleuchtet und in der Synagoge Leute gesehen. Auch haben sie Gemurmel gehört, so daß sie annahmen: es sei Gottesdienst in der Synagoge. In der Woche, in welcher die Feuersbrunst stattfand, war die Synagoge nicht erleuchtet.

Synagogen-Vorsteher Löwe und Angekl. Löwenberg bezeichneten diese Wahrnehmung als Irrtum.

Rabbiner Dr. Hoffmann (Neustettin): Im Winter pflegte an Wochentagen nicht regelmäßig Frühgottesdienst zu sein. Jedenfalls ist es ein Irrtum, daß in der Woche vor dem Brande regelmäßig Frühgottesdienst gewesen sei.

Frau Kapitzke: Am Tage des Brandes, vormittags neun Uhr, habe sie ein Fenster in der Synagoge geöffnet und nicht wieder geschlossen gesehen. Durch die Fenster-Öffnung habe sie einen Mann in der Synagoge gesehen, der der Statur nach der Angekl. Lesheim sen. gewesen sein kann.

Vert. R.-A. Dr. Sello machte darauf aufmerksam, daß die Zeugin, als sie einige Tage nach dem Brande vernommen wurde, gesagt habe: Sie habe gegen neun Uhr vormittags das Fenster ausgehoben und um zehn Uhr wieder eingehängt und geschlossen gesehen. Auch habe sie damals mit ziemlicher Bestimmtheit den Angekl. Löwenberg, der viel größer und breitschulteriger als Lesheim sen. ist, als diejenige Person bezeichnet, die sie im Tempel gesehen habe.

Ein weiterer Zeuge war Lehrer Pieper: Ehe ich meine Aussage mache, muß ich bemerken, daß mir eine Drohung gemacht wurde. (Bewegung.) Der Schuhmacher Schucker sagte mir: Herr Staatsanwalt Pinoff habe zu ihm geäußert: Er werde mich und Schucker meiner Aussage wegen verfolgen, mit den Neustettinern werde er schon fertig werden, Ich fühle mich seitdem etwas beengt.

Vors.: Lassen Sie dies beiseite und machen Sie Ihre Aussage, wie Sie sie vor Ihrem Gewissen verantworten können.

Zeuge: Das werde ich tun. Ich bitte jedoch den Herrn Vorsitzenden um Schutz, denn ich bin bei dem Termine am 18. Mai von dem Herrn Justizrat Scheunemann beleidigt worden.

Vors.: Das ist ja meines Amtes, es wird keine Beleidigung vorkommen.

Zeuge: Am 18. Februar 1881 gegen elf Uhr vormittags habe ich von meinem, der Synagoge gegenüberliegenden Klassenzimmer aus dem Dache der Synagoge Rauch herauskommen sehen. Ich habe nicht geglaubt, daß das Feuer war. Gleich darauf sah ich die beiden Lesheim aus der Synagoge herauskommen. Die Lesheim gingen um die Synagoge herum; Lesheim jun. hatte einen Stuhl in der Hand, den er an ein Fenster stellte. Lesheim sen. stieg auf den Stuhl, nahm einen Fensterflügel heraus und stellte ihn an die Außenwand der Synagoge. Bald darauf waren die beiden Lesheim verschwunden. In demselben Augenblicke sah ich dicke Rauchwolken aus den Synagogenfenstern dringen. Nun sagte ich zu meinen Schülern: Es ist doch Feuer. Ich lief aus der Schule und nun kamen die beiden Lesheim bei mir vorüber. Ich fragte: Ist Feuer? Die Lesheim antworteten jedoch nicht. Sie gingen bis auf den Marktplatz und riefen alsdann Feuer. Die Kinder sagten mir: sie haben schon vor einiger Zeit den Lehrer Hübner und den alten Heidemann in den Tempel gehen sehen.

Vors.: Warum haben Sie Ihre so wichtigen Wahrnehmungen so spät gemacht; es wird Ihnen doch bekannt kannt gewesen sein, daß in Zeitungen hohe Belohnungen auf Ermittelung der Täter ausgesetzt waren?

Zeuge: Das war mir bekannt; aber es gibt Sachen, wo man der Frau folgen muß, und zu diesen gehört die vorliegende. (Heiterkeit.) Ich erzählte meine Wahrnehmungen gleich nach dem Brande in meiner Privatwohnung, in Gegenwart einer Frau Hirschberg, und zwar ganz besonders, weil ein Journalist, namens Michow, mir gegenüber äußerte: der Tempelbrand sei das Resultat der Judenhetze. Ich war auch willens, meine Wahrnehmungen dem Herrn Bürgermeister und der „Presse“ mitzuteilen und hatte sie auch bereits zu Papier gebracht. Als meine Frau dies sah, sagte sie: „Du sollst die Hand davon lassen, du hetzt dir alle Juden auf den Hals.“ Ich erwiderte: Doch, ich schicke das Schriftstück ab. Meine Frau äußerte: Wenn du das tust, so sollst du einmal sehen, dann setzt es etwas. (Große allgemeine Heiterkeit.) Der Vorsitzende ermahnte das Publikum zur Ruhe und drohte im Wiederholungsfalle, den Zuhörerraum räumen zu lassen. Zeuge (fortfahrend): Ich fügte mich also dem Willen meiner Frau und unterließ die Anzeige. Etwa ein Jahr darauf erzählte ich meine Wahrnehmungen gelegentlich dem Lehrer Hübner. Dieser stellte mich ob meines schweigenden Verhaltens zur Rede und forderte mich zur Anzeige auf. Ich äußerte nochmals, daß ich, in Rücksicht auf meine Frau, auch heute noch nicht die Anzeige machen wolle. Der Lehrer Hübner drang jedoch in mich mit dem Bemerken, daß er anderenfalls selbst diese Wahrnehmungen dem Bürgermeister mitteilen werde. Infolgedessen entschloß ich mich zur Anzeige. Auf Veranlassung des Hübner fragte ich einige Schüler, ob sie sich jenes Vorganges noch erinnern. Einige erinnerten sich der Vorgänge noch. Ich machte nun dem Herrn Bürgermeister Anzeige.

Vert. Justizrat Scheunemann: Ich bin jetzt in der Lage, die erwähnte angebliche Beleidigung, die ich dem Zeugen gegenüber gemacht haben soll, aufzuklären. Einer der Hauptzeugen, der Malerlehrling Denzin hatte bekundet, er habe von seinem Platze aus gesehen, wie am Tage des Brandes Heidemann Vater, Sohn und Enkel mehrfach aus ihrem Hause getreten und in die Synagoge gegangen seien. Es wurde deshalb der Versuch unternommen, an Ort und Stelle zu prüfen: ob es möglich sei, von dem Platze des Denzin die betreffende Wahrnehmung zu machen. Herr Bauinspektor Kleefeldt stellte fest, daß, wenn man von der ersten Bank am Fenster in einer gewissen Körperstellung sich befand, zu dem Heidemannschen Hause hinübersehen konnte. Als ich die Bemerkung machte: In dieser Stellung hat sich Denzin unmöglich befunden, antworteten mir die Kinder: Ja, so stand Denzin immer; Herr Lehrer Pieper antwortete: Wenigstens befand er sich sehr oft in dieser Stellung. Darauf versetzte setzte ich: Ein Lehrer, der so etwas duldet, verdient kassiert zu werden.

Der Zeuge bestritt die Richtigkeit dieser Behauptung.

Vert. R.-A. Dr. Sello: Ist es wahr, daß der Herr Zeuge von seiner vorgesetzten Behörde einmal einen Verweis erhalten hat, weil er beim Religionsunterricht eine beschimpfende Äußerung gegen eine alttestamentarische Persönlichkeit gebrauchte?

Zeuge (zögernd): Das kann ich nur beantworten, wenn es mir genauer gesagt wird.

Dr. Sello: Dem Herrn Zeugen muß ja doch so etwas erinnerlich sein; die beschimpfende Äußerung dokumentiert Ihre antijüdische Gesinnung.

Zeuge: Ich bin 35 Jahre im Amte und kann mich an alle Vorgänge, die während dieser Zeit passierten, nicht mehr erinnern.

Dr. Sello: Der Herr Zeuge befindet sich ja in einer peinlichen Lage; nach seiner dilatorischen Antwort erkläre ich mich zufrieden.

Malerlehrling Denzin (16 Jahre alt) bekundete, daß er vom Schulzimmer aus am fraglichen Freitagvormittag, kurz vor Ausbruch des Feuers die Heidemann, Vater Sohn und Enkel, aus ihrem Hause heraus in die Synagoge gehend gesehen habe und daß er auch die beiden Lesheim die Manipulation mit dem Stuhle habe machen sehen.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sello bekundete der Zeuge, daß er diese Wahrnehmungen stehend gemacht habe.

Vors.: War Ihnen denn gestattet zu stehen?

Zeuge: Wenn der Lehrer mich etwas fragte, mußte ich doch aufstehen; bei solchen Gelegenheiten sah ich auch oftmals zum Fenster hinaus.

Bauinspektor Kleefeldt: Von der Mittelbank, von der aus der Zeuge seine Wahrnehmungen gemacht haben will, ist es unmöglich, die Heidemannsche Haustür zu sehen.

Vom Vorsitzenden nochmals befragt, erwiderte Denzin. Er habe nur den Giebel des Heidemannschen Hauses gesehen, im übrigen bleibe er bei seiner Aussage.

Auf Antrag des Vert. R.-A. Dr. Sello stellte der Vorsitzende aus den Akten fest, daß der Zeuge bei seiner Vernehmung bekundet habe, er habe bei seiner Wahrnehmung auf der fünften Bank gesessen und habe die Heidemann, Vater, Sohn und Enkel, mehrfach aus ihrer Haustür treten sehen. Bauinspektor Kleefeldt erklärte wiederholt, von der fünften Bank jenes Schulzimmers konnte der Zeuge seine Wahrnehmungen nur, entweder auf dem Tische sitzend oder auf der Bank stehend, machen. Vom Vorsitzenden auf dieses Gutachten aufmerksam gemacht, sagte Denzin: Er wolle nicht behaupten, daß er die Heidemanns aus der Haustür habe treten sehen; in die Synagoge habe er sie aber gehen sehen; ebenso habe er die erwähnte Manipulation der Lesheim gesehen.

Auf Befragen eines Geschworenen, wieviel Liter Petroleum wohl zur Imprägnierung der Dielen erforderlich gewesen seien, bemerkte Bauinspektor Kleefeldt: Es kommt auf die Art des Begießens an; unter Umständen ist ein Ballon erforderlich gewesen, es können aber auch vier Liter genügt haben.

Arbeiter Buchholz, der längere Zeit bei den Angeklagten Heidemann in Diensten gestanden hatte, bekundete: Er habe am Tage des Brandes den Angeklagten Löwenberg gegen fünf Uhr morgens mit einer Petroleumkanne in die Synagoge gehen sehen.

Vors.: Im Monat Februar ist es doch des Morgens um fünf Uhr noch ganz finster?

Zeuge: Es lag Schnee, dieser verbreitete etwas Helle.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden sagte der Zeuge: Gegen zehn Uhr vormittags hat mich der junge Heidemann aufgefordert, mit Dung aufs Feld zu fahren. Kaum war ich auf dem Felde angelangt, da sah ich Feuer. Ich fuhr sofort zurück und da ich sah, daß es dicht neben der Heidemannschen Wohnung brennt, brachte ich Wagen und Pferde anderswo unter.

Vors.: Haben Sie Ihre Wahrnehmungen anderen Leuten mitgeteilt?

Zeuge: Jawohl. Die Schmiedegesellen Wienecke und Malcke sagten einmal zu mir:. Ich weiß gar nicht, daß du dich so lange bei den Juden aufhältst. Ich antwortete: Die ganze Tempelbrandgeschichte mit der Petroleumkanne, dem ausgebrochenen Staketenzaun usw. kommt mir sehr „unterkietig“ vor. Ich glaube, wenn das nicht wäre, hätten mich die Juden auch schon lange weggeschickt.

Vors.: Sie sind aber noch etwa 3/4 Jahre bei Heidemann gewesen?

Zeuge: Ja, ich konnte keine andere Arbeit bekommen.

Vors.: Weshalb sind Sie abgegangen?

Zeuge: Ich bekam zuwenig Lohn. Ich stehe auch mit Heidemann wegen Lohn noch in Klage.

Vors.: Sie sollen gegen Heidemann einmal eine Drohung ausgestoßen haben?

Zeuge: Ich habe bloß gesagt, wenn er mir nicht bezahlt, wird er noch etwas erleben, ich meinte damit, ich werde ihn verklagen.

Vors.: Eine bloße Klage ist doch nicht so schlimm, daß man sagen muß: „Sie werden noch etwas erleben.“ Weshalb haben Sie Ihre Wahrnehmungen bezüglich der Petroleumkanne nicht gleich bei Ihren ersten Vernehmungen gemacht?

Zeuge: Ich wurde eines Tages zu Mundts Hotel bestellt. Dort war ein mir unbekannter Herr, ich glaube, es war dieser (auf den Staatsanwalt deutend). (Heiterkeit.) Dieser fragte mich bloß nach dem Staketenzaun, legte mir einen Bogen Papier vor und da sagte ich: Das ist kein Staketenzaun. (Große Heiterkeit.) Über das Petroleum wurde ich nicht gefragt, dazu kamen wir gar nicht.

Vors.: Der Herr Staatsanwalt konnte Sie doch nach der Petroleumkanne nicht fragen, der wußte es ja nicht. Wenn Ihnen das aber so aufgefallen ist, dann hätten Sie es doch sagen müssen?

Zeuge: Ich hatte genug über den Staketenzaun zu sagen.

Auf Antrag des Justizrats Scheunemann stellte der Vorsitzende aus den Akten fest, daß der Zeuge auch bei seiner ersten gerichtlichen Vernehmung das Vorkommnis mit der Petroleumkanne nicht erwähnt habe.

Auf Vorhalten des Vorsitzenden bemerkte der Zeuge: Ich wurde zuviel anderes gefragt. Bald darauf bin ich in der „Norddeutschen Presse“ vernommen worden; dort habe ich meine Wahrnehmung bezüglich der Petroleumkanne gemacht.

Vert. R.-A. Dr. Sello: Herr Zeuge, sind Sie auf Veranlassung Ihres Prinzipals, des Herrn Oehmke, zur „Norddeutschen Presse“ gegangen?

Zeuge: Nein, ich ging aus eigenem Antriebe hin.

Vert. J.-R. Scheunemann stellte aus den Akten fest: Der Zeuge habe anfänglich gesagt, er habe am Vormittage, kurz vor dem Brande den Löwenberg mit einer blauen Mappe gesehen, während er Lesheim sen., als er am Freitag kurz vor dem Brande auf das Feld fuhr, zur Synagoge gehend, mit einer Blechkanne gesehen habe.

Der Zeuge gab das als richtig zu.

Vors.: Weshalb haben Sie das heute nicht gesagt?

Zeuge: Das ist mir noch nicht eingefallen.

J.-R. Scheunemann stellte ferner aus den Akten fest: Anfänglich habe der Zeuge bloß bekundet, daß er den Lesheim kurz vor dem Brande mit der Petroleumkanne gesehen habe. Als er vom Richter gefragt wurde, weshalb er den Löwenbergschen Fall nicht auch erwähnt, hat er bekundet: Das fiel mir nicht ein; der Richter fragte mich bloß wegen Lesheim.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Sello: Was der Zeuge dem Richter als Entschuldigung angegeben, daß er seine Wahrnehmungen bezüglich der Petroleumkannen-Angelegenheit so spät gemacht habe, antwortete der Zeuge: Ich habe nicht soviel Zeit zur Überlegung; ich muß meine Familie ernähren und habe höchstens des Nachts zur Überlegung Zeit.

Arbeiter Liebling, der in der der Synagoge gegenüberliegenden Elementarschule als Schuldiener beschäftigt war, bekundete: Es ist mir aufgefallen, daß sonst stets, beispielsweise den ganzen Monat Januar, Frühgottesdienst in der Synagoge war, während in der Woche des Brandes, mindestens fünf Tage vorher solche Gottesdienste nicht stattfanden. Ich sprach noch mit meiner Frau darüber und wunderte mich um so mehr, daß während der großen Kälte Gottesdienst stattfand, dagegen während des milden Februarwetters nicht.

Ackerbürger Mahlke: Ich fragte einmal den Buchholz: Warum bist du denn immer noch bei den Juden, du bist doch eigentlich Schmied? Darauf antwortete Buchholz: Das ist wegen des Tempels. Was Buchholz damit sagen wollte, weiß ich nicht.

Dienstmädchen Berta Hilger: Als das Feuer ausbrach, sei sie nach dem Marktplatz gelaufen, um die Spritzen zu holen. Sie sei auf dem Wege Leo Lesheim begegnet und habe ihn aufgefordert, zum Bürgermeister zu gehen. Leo Lesheim erwiderte: Wir haben die Bedienung des Tempels nicht mehr, da müssen Sie zu Löwenberg gehen. Löwenberg wohnte aber vom Tempel sehr entfernt. Die Türen des Heidemannschen Spindes waren schon sehr locker, so daß wohl Funken hineinfliegen konnten.

Leo Lesheim: Ich hatte verstanden, daß das Mädchen die Synagogenschlüssel verlangte.

Die Zeugin Hilger bekundete noch, im Widerspruch mit Buchholz, daß das Heidemannsche Haus stets des Nachts verschlossen war und daß Buchholz, außer an Tagen vor den Feiertagen, stets gegen sechs Uhr morgens zu Heidemann kam. Sie erinnere sich nicht, daß im Holzstalle jemals eine außerordentlich große Quantität Holz gelegen habe.

Restaurateur Engel (Neffe des alten Heidemann): Buchholz habe wenige Tage nach dem Brande gesagt: „Die alte Häckselmaschine kann man mit einem Hieb zerschlagen und dann bekommt man sie von der Versicherungsgesellschaft infolge des Brandes ersetzt.“

Buchholz: Dieser Mann lügt.

Vors.: Ich fordere Sie auf, Buchholz, sich solcher Ausdrücke zu enthalten.

Maurermeister Kaska: Buchholz ersuchte mich eines Tages, zu Heidemann zu gehen, diesen aufzufordern, ihm die noch schuldenden zehn Mark zu bezahlen und ihm zu sagen, er werde anderenfalls mit ihm zu Gericht gehen und dem Heidemann etwas zu schaffen machen.

Schuhmachermeister Trojann: Ich habe geholfen, das Kleiderspind aus der Heidemannschen Wohnung tragen. Solange das Spind in der Wohnung war, hat es in diesem weder gebrannt noch geraucht. Auf welche Weise das Glimmen im Spinde entstanden ist, ist mir unerklärlich. Die Türen des Spindes waren fest zu; Funken konnten also nicht hineinfliegen. Schon als wir das Spind hinuntertrugen, riefen Leute: Aus dem Spinde dringt Rauch heraus! Etwa sechs Wochen nach dem Brande habe ich in Gemeinschaft mit Wiedemann demann einen Handlungsgehilfen, namens Blau, beobachtet, wie dieser in einem Korbe eine große Anzahl silberner Leuchter trug. Auf Befragen versetzte Blau: Die haben wir geschickt erhalten. Ich sagte: Nun, jetzt habt Ihr sie doch nicht geschickt erhalten. Mir schien es, als wären die Leuchter vor dem Brande aus der Synagoge geschafft worden.

Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Kaufmann Löwe: Silberne Leuchter, oder auch nur Leuchter, die wie Silber aussahen, haben wir in unserer Synagoge niemals gehabt.

Rabbiner Dr. Hoffmann: Die Kronleuchter, die wir uns von der Bärwalder Gemeinde geliehen hatten, können mit den in Rede stehenden auch nicht identisch sein. Einmal waren dies gelb aussehende, ganz altertümliche Kronleuchter, und zweitens waren sie sechs Wochen nach dem Brande der Bärwalder Gemeinde längst zurückgegeben.

Auf Antrag des Vert. R.-A. Dr. Sello beschloß der Gerichtshof, den Handlungsgehilfen Blau in Neustettin als Zeugen zu laden.

Rentier Zirbank: Er sei einer der ersten auf der Brandstätte gewesen. Der Staketenzaun sei geschlossen gewesen. Ein Fenster habe er weder ausgehängt noch offenstehen gesehen; er habe darauf allerdings nicht geachtet. Dagegen habe er gesehen, wie Klempner Merner und Heidemann ein Fenster eingeschlagen haben.

Frau Rentier Zirbank: Sie wisse ganz genau, daß das Holz am Staketenzaun am Tage des Brandes in ziemlicher Höhe aufgestapelt stand.

Arbeiter Zibell: Buchholz habe eines Tages mit ihm über den Tempelbrand gesprochen und dabei erzählt: Lesheim sei um sechs Uhr früh mit einer Petroleumkanne in die Synagoge gegangen. An welchem Tage das gewesen sein soll, wisse er nicht.

Frau Buchholz: Ihr Mann habe ihr einige Tage vor dem Brande erzählt, daß er Holz habe wegpacken und aus dem Staketenzaun zwei Bretter herausbrechen müssen. Ferner habe ihr Mann ihr erzählt, er habe den Tempeldiener mit einer Petroleumkanne in die Synagoge gehen sehen; welchen Tempeldiener ihr Mann meinte, wisse sie nicht. Ihr Mann sei gewöhnlich gegen 6 1/2 Uhr früh zu Heidemann gegangen. Wann er am Tage des Brandes oder am Tage vorher zu Heidemann gegangen sei, wisse sie nicht mehr.

Schuhmachermeister Greiser: Frau Heidemann sagte mir auf der Brandstätte ins Gesicht: „Sehen Sie, das haben uns die Christen getan.“ Ich habe darauf nichts erwidert. Als eine andere jüdische Frau mir gegenüber dieselbe Äußerung tat, antwortete ich: Das wird mir jetzt zum zweiten Male gesagt; wenn mir das noch ein Dritter sagt, dann schlage ich ihm ein paar zwischen die Ohren. (Heiterkeit.) Es gibt keinen Christen, der so dumm wäre, den Juden einen solchen Gefallen zu tun, versetzte ich. Die Juden haben sich ihren Tempel selbst angesteckt. Es ist ja bekannt, daß die Juden einen neuen Tempel haben wollten und daß sie jetzt erst ihren alten Tempel höher versichert haben. Als ich Rauch sah, wollte ich in das Innere des Tempels dringen. Der Qualm war aber so dick, daß sich dies nicht tun ließ. Ich lief wieder hinaus und sah an der einen Seite der Synagoge ein Fenster ausgehängt, auf der anderen Seite ein Fenster, das von innen mittels Kette geschlossen werden konnte, geöffnet. Der größte Qualm war in der Nähe des Allerheiligsten. Merkwürdig war es, daß gleich, als das Feuer noch gar nicht ausgebrochen war, Lesheim (Vater und Sohn) auf dem Synagogenplatz erschienen. Es fiel mir auf, daß das Holz am Staketenzaun, das jahraus, jahrein dort aufgestapelt stand, plötzlich weggeschafft wurde.

J.-R. Scheunemann: Weshalb hat der Zeuge erst nach der fünften Vernehmung seine Wahrnehmung bezüglich des Holzes gemacht?

Zeuge: Ich habe das bei Herrn Rat Völz nicht gesagt, weil dieser mich zu sehr „angebrüllt“ und anderenteils habe ich dem Wegkarren des Holzes keine Wichtigkeit beigelegt, da diese Tatsache doch nichts mit dem Brande zu tun hat. Auch bin ich danach nicht gefragt worden.

J.-R. Scheunemann: Sie haben doch selbst Ihrer Frau noch vor dem Brande gesagt, daß Sie die Wegschaffung des Holzes merkwürdig finden?

Der Zeuge antwortete in sehr ausweichender Weise und äußerte: Er werde bloß dem Herrn Vorsitzenden antworten.

J.-R. Scheunemann: Sie sind verpflichtet, auch mir zu antworten.

Im weiteren Verlauf bemerkte der Zeuge: Er habe eines Tages mit dem alten Heidemann über den Ausbau des Tempels gesprochen und zu diesem gesagt: Nun hat der Tempel viel Geld gekostet und er ist doch nicht schön. Nun dann werden wir noch einmal bauen und wenn es noch einige tausend Taler kosten sollte, antwortete Heidemann.

Vert. R.-A. Dr. Sello: Wodurch wußten Sie, daß die Versicherungssumme des Tempels erhöht war?

Zeuge: Eines Tages ging Herr Löwe mit einem fremden Juden über den Marktplatz. Ich ging hinter den Herren und hörte, wie Herr Löwe sagte: „Jetzt sind wir gut versichert.“

Löwe: Als im Jahre 1879 der Ausbau vollendet war, haben wir die Versicherungssumme, gemäß dem höheren Werte des Tempels, erhöht.

Ingenieur Schreiber: Der Tempel war, aufgenommener Taxe gemäß, bei der Magdeburgischen Feuerversicherungs-Gesellschaft versichert.

Es war inzwischen 10 3/4 Uhr abends geworden.

Vert. R.-A. Dr. Sello: Er sei nunmehr noch kaum imstande, der Verhandlung zu folgen. Er bitte, jetzt die Verhandlung zu schließen; er wäre anderenfalls vielleicht nicht in der Lage, morgen in der Verhandlung zu erscheinen.

Vors.: Das wäre kein Hinderungsgrund, die Verhandlung auszusetzen. Eventuell würde ein Verteidiger von Amts wegen gestellt werden.

Auf Antrag des Dr. Sello wurde noch aktenmäßig festgestellt, daß der Zeuge betreffs der beiden Lesheim sehr widersprechende Aussagen gemacht habe.

Pastor Klammroth (Neustettin): Er habe sich während des Tempelbrandes in der der Synagoge gegenüberliegenden Stadtschule befunden und aus dem auf der Straße stehenden Heidemannschen Kleiderspind Rauch dringen gesehen. Als Heidemann sen. das Spind öffnete und einen Schirm herausnahm, brannte dieser sofort lichterloh.

Tischlermeister Kubelke: Die Flügeltüren des Heidemannschen Kleiderspindes waren so locker, daß Feuerfunken wohl hineingeflogen sein können. Das von Greiser ausgehängte Synagogenfenster konnte von innen nicht gekettet werden. Auf Befragen des R.-A. Dr. Sello bekundete der Zeuge des weiteren: Es habe auf ihn nicht den Eindruck gemacht, als wäre der Fußboden der Synagoge mit einer brennenden Flüssigkeit sigkeit begossen gewesen. Es kam ein dicker, schwarzer Rauch aus den Synagogenfenstern und in einem Augenblicke brannte der Tempel auf allen Seiten lichterloh. Der ganze Brand machte auf ihn den Eindruck, als wäre er durch eine Explosion entstanden.

Vert. J.-R. Scheunemann: Ist dem Herrn Zeugen über den Lebenswandel des Buchholz etwas bekannt?

Zeuge: Ich habe Buchholz oftmals betrunken gesehen. Buchholz ist früher Gefangenaufseher gewesen. Weshalb er aus dieser Stellung entlassen worden ist, weiß ich nicht. Ich habe ihn aber auch als Gefangenaufseher mehrfach betrunken gesehen.

Frau Schuhmacher Greiser: Buchholz mußte auf Befehl des Heidemann drei Wochen lang sehr hoch aufgestapeltes Holz, das viele Jahre schon dort lag, wegkarren. Ich fragte den jungen Heidemann, weshalb er das Holz wegschaffen lasse, Heidemann antwortete, damit mir nichts gestohlen werde. Ich versetzte: Herr Heidemann, da müßte ja jemand eine Leiter haben, wenn er von dem so hoch aufgestapelten Holze etwas stehlen wollte. Als das Feuer ausbrach, waren die Heidemanns sehr ruhig, sie wollten ihre Sachen nicht in Sicherheit bringen, da, so meinte Frau Heidemann, es heller Tag sei und mithin keine Gefahr zu befürchten sei. Als im Sommer 1880 ein polnischer Jude in den Tempel einsteigen wollte, habe sie, Zeugin, wahrgenommen, daß zur Synagoge noch eine Hintertür führe.

Fräulein Jasse meldete sich und äußerte in sehr aufgeregter Weise: Ich weiß sehr genau, daß Buchholz ein sehr nüchterner, ordentlicher Mensch ist. Er ist allerdings von den Juden, bei denen er in Dienst gestanden, sehr schlecht bezahlt worden. Buchholz klagte mir auch bisweilen darüber, indem er bemerkte: Die Juden haben mich so schlecht bezahlt, daß ich mich aus Ärger bisweilen betrinke. (Große Heiterkeit.)

Schuhmachermeister Sperling: Er habe in dem hinter dem Heidemannschen Grundstück belegenen Garten, aus dem man ebenfalls durch eine Hintertür in die Synagoge gelangen könne, Fußspuren im Schnee gesehen. Ob diese Spuren zur oder von der Synagoge geführt haben, wisse er nicht. Er habe nicht gesehen, daß, als das Feuer ausbrach, ein Synagogenfenster ausgehängt war.

Schuhmachermeister Stubbe: Am 18. Februar vormittags gegen elf Uhr begegnete ich dem älteren Lesheim und hörte ihn Feuer rufen. Ich fragte: Wo ist denn Feuer? Unser Tempel brennt, antwortete Lesheim. Ich eilte zum Tempel, konnte aber zunächst kein Feuer sehen. Sehr bald zeigte mir der ältere Heidemann eine Fußspur mit dem Bemerken: Sehen Sie, hier ist eine Fußspur, hier ist der Täter hineingegangen. Ich sagte sogleich zu Heidemann: Auf diese Weise kann niemand in den Tempel gekommen sein, das ist eine gemachte Spur.

Vert. R.-A. Dr. Sello stellte fest, daß der Zeuge anfänglich bekundet habe: Er habe, als er die Spur sah, zu Sperling gesagt: da haben wir’s ja, da ist der Täter herübergekommen. Heidemann sen. soll darauf bemerkt haben: Das sind keine Spuren, hier kann der Täter nicht durchgekommen sein. Sperling dagegen hat bekundet: Er habe sofort bezweifelt, daß die Fußspuren die des Täters seien?

Sperling: Möglich ist, daß ich es damals im Augenblick so gesagt habe; ich habe aber dann eine andere Auffassung gewonnen. Mir ist es vorgekommen, als sei ein Brennstoff im Tempel zusammengetragen gewesen, denn es züngelte eine kleine blaue Flamme in der Nähe des Allerheiligsten. Als ich mit dem alten Heidemann zusammen zum Bürgermeister geladen wurde, zitterte Heidemann an allen Gliedern und wurde während der Vernehmung ohnmächtig.

Auf Antrag des R.-A. Dr. Sello wurde festgestellt, daß der Zeuge bei seiner zweiten gerichtlichen Vernehmung bedeutend mehr als bei seiner ersten gewußt habe, obwohl er aufgefordert wurde, alles zu sagen, was er irgendwie wisse.

Es wurde darauf Stellmacher Schmidt, der wegen vorsätzlicher, in betrügerischer Absicht im Februar 1882 begangener Brandstiftung eine neunjährige Zuchthausstrafe verbüßte, vorgeführt. Er bekundete: Am fraglichen Freitagvormittag gegen zehn Uhr sah ich zwei Juden in aufgeregter Weise an den Synagogenfenstern stehen. Es drang Rauch aus den Fenstern. Der eine der Juden, den ich als den jüngeren Heidemann wiedererkannte, schlug mit einem Schlüssel ein Fenster ein. Ich sagte zu Heidemann: Weshalb schlagen Sie das Fenster ein, dadurch bekommt ja das Feuer Zug. Heidemann versetzte: Das geht Sie gar nichts an. Das Feuer griff infolgedessen auch mit großer Schnelligkeit um sich. Einige Monate darauf begegnete mir Heidemann auf dem Marktplatz und sagte: Sie werden wir auch noch aus dem Wege zu räumen wissen. Kurze Zeit darauf kam der Jude Manasse zu mir und sagte: „Na, Sie wissen ja auch von der Sache, aber wir werden Sie schon aus dem Wege zu schaffen wissen.“

R.-A. Dr. Sello stellte fest, daß der Zeuge von seinen früheren Aussagen heute abgewichen und daß er auch bezüglich der Zeitangabe abweichende Angaben gemacht habe.

Kreiskassenkontrolleur Dahlitz: Am fraglichen Freitagvormittag, als ich zu dem Brande eilte, begegnete ich zunächst dem älteren Lesheim in ganz verwildertem Zustande. Lesheim gestikulierte heftig mit den Händen und schrie unaufhörlich: „Es brennt, es brennt, was soll ich tun?“ Auf der Brandstätte angelangt, langt, sah ich ein Synagogenfenster ausgehängt, ein anderes geöffnet, und der ganze Brand kam mir so vor, als wäre er durch eine zusammengetragene brennbare Masse entstanden. Leo Lesheim, Aron und noch mehrere andere Juden äußerten sogleich in lauter Weise wiederholt: „Das haben uns die Christen getan, das ist das Resultat der Judenhetze.“ Meine persönliche Überzeugung ist, daß der Tempel von den Juden selbst angezündet worden ist, um den Christen die Schuld aufzuhalsen. Ich bin auch der Überzeugung, daß der Brand lange vorbereitet war und daß viele Personen dabei beteiligt gewesen sind. Das ist auch die Überzeugung der meisten Christen in Neustettin.

Vors.: Welche Anhaltspunkte haben Sie für Ihre Überzeugung?

Zeuge: Die erwähnten Äußerungen der Juden.

Rabbiner Dr. Hoffmann: Nicht bloß Juden, sondern auch ein hochgeachteter Arzt christlicher Konfession, der jetzige Kreisphysikus Dr. Vanselow in Schlawe hat sofort geäußert: „Das ist das Resultat der Judenhetze.“ Herr Dr. Vanselow ist dieser seiner Äußerung wegen von der „Norddeutschen Presse“ beleidigt worden und hat deshalb den Redakteur verklagt.

Ingenieur Schreiber: Er sei der Meinung, daß das Feuer auf natürliche Weise entstanden sei. Daß der ganze Fußboden verbrannte, erkläre sich dadurch, daß er vollständig mit Wachs gebohnert war.

Bauinspektor Kleefeldt: Mir schien es, als sei der Fußboden imprägniert gewesen; daß die Imprägnierung mit Petroleum geschehen, will ich nicht bestimmt behaupten. Auf Befragen des J.-R. Scheunemann bekundete der Sachverständige: Wachs verbreitet auch dicken Rauch, Petroleum dagegen brennt hell. Die Wachsbohnerung, die schon fast 1 1/2 Jahre alt war, konnte eine nur geringe Wirkung üben.

Klempnermeister Merner (jüdischer Konfession): Ich schlug, als ich auf der Brandstätte erschien, ein Fenster der brennenden Synagoge ein, um einige Reliquien, die mir teure Andenken meiner Eltern und Großeltern waren, zu retten. Hätte man mich am Einsteigen nicht gehindert, so wäre mir die Rettung vielleicht möglich gewesen. Ich hatte sofort die Überzeugung, daß das Feuer angelegt war, denn es brannte sofort furchtbar auf allen Seiten. Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Ich habe Frühgottesdienste, die an Wochentagen stattfanden, niemals besucht; allein sobald solche stattfanden, habe ich es gewußt, denn die Veranstaltung dieser Gottesdienste wurde allen Glaubensgenossen rechtzeitig bekannt gemacht. Ebensowenig kann einige Wochen vor dem Brande der Tempel des Morgens immer erleuchtet gewesen sein. Ich war mit dem Einkauf und Verwahrung der in der Synagoge gebrauchten Lichter betraut und kann aus dem darüber geführten Kontobuch den Beweis führen, daß zur angegebenen Zeit die Synagoge in keiner Weise erleuchtet war.

Auf Wunsch eines Geschworenen beschloß der Gerichtshof: dem Zeugen aufzugeben, das erwähnte Kontobuch zur Stelle zu schaffen.

Kaufmann Conrad (jüdischer Religion): Meiner Überzeugung nach ist das Feuer angelegt worden, und zwar schien mir der Brandherd am Allerheiligsten zu sein.

Kaufmann Fabian (jüdischer Konfession): Der die Synagoge und das Heidemannsche Haus trennende Staketenzaun war verschlossen, so daß ich durch diesen nicht durchkommen konnte.

Darauf erschien Fleischermeister Angermann als Zeuge: Ehe ich Zeugnis ablege, muß ich eine Einleitung machen. Ich habe nicht geglaubt, daß die Sache an die große Glocke kommen wird. Nun muß ich aber mein Herz erleichtern, mein Gewissen drängt mich dazu. Mit Herrn Stubbe habe ich bereits darüber gesprochen. (Sich umdrehend): Ist Herr Stubbe hier?

Vors.: Eine solche Frage dürfen Sie nicht stellen. Benehmen Sie sich überhaupt etwas anders. Sie laufen fortwährend im Saale umher, gestikulieren mit den Händen und legen eine ganz auffällige Unruhe an den Tag. Sie müssen hier an dem Tische stehenbleiben und sich ruhig verhalten, das ist Ihre erste Zeugenpflicht.

Zeuge: Ja, mein Gewissen drängt mich, weil ich so lange mit der Wahrheit zurückgehalten und vor dem Herrn Staatsanwalt und dem Herrn Amtsgerichtsrat Völz etwas verschwiegen habe.

Vors.: Beruhigen Sie sich nur und erzählen Sie.

Zeuge: Als ich zum Herrn Staatsanwalt aufs Polizeibureau in Neustettin vorgeladen wurde, habe ich im Hausflur den verstorbenen Barbier Keller getroffen. Diesem sagte ich gleich: Na, wir wollen nicht alles an die große Glocke hängen, denn es wird ja doch nichts aus der Sache. Keller stimmte mir bei; würde er aber noch leben, er würde heute gewiß ebenfalls sein Gewissen erleichtern. Also vor einiger Zeit komme ich bei Herrn Stubbe vorüber; da sagte dieser: Bester Angermann, die Anklage ist erhoben, nun ist es aber auch Ihre Christenpflicht, daß Sie alles sagen, was Sie wissen; wir dürfen den Schimpf, den man uns Christen antun will, nicht auf uns sitzen lassen. Sprechen Sie also die Wahrheit. Ich ging nach Hause. Mir wurde so schwül im Kopfe, daß ich nichts essen konnte. Ich entschloß mich deshalb zur Anzeige.

Vors.: Was zeigten Sie an?

Zeuge: Also an jenem Freitagvormittag gegen zehn Uhr ging ich zu Lesheim und wollte mit ihm abrechnen. Ich hatte 4-5 M., er 12-13 M. von mir zu bekommen. Ich traf Lesheim Vater und Sohn zu Hause. Beide waren furchtbar aufgeregt. Leo Lesheim sah zum Fenster hinaus, und als ich in die Stube trat, schlug er das Fenster mit voller Heftigkeit zu. Beide Lesheim gingen in größter Aufregung im Zimmer auf und ab, der jüngere Lesheim mochte, währenddem ich im Zimmer weilte, etwa 5-6mal, der ältere mindestens zweimal aus dem Fenster gesehen haben. Jedesmal, wenn der jüngere Lesheim zum Fenster hinausgegeben hatte, griff er seinen Vater an die Hand. Ich sagte: Herr Lesheim, ich habe keine Zeit, wir wollen abrechnen. Nachdem dies geschehen, ging ich fort. Etwa eine halbe Stunde darauf hörte ich Feuerlärm.

Vors.: Aus welchem Grunde haben Sie diese Wahrnehmungen, die Sie doch so erregt haben müssen, daß Sie sich noch heute nicht beruhigen können, nicht sofort zur Anzeige gebracht?

Zeuge: Ich glaubte nicht, daß die Sache an die große Glocke kommen würde.

Vors.: Ihr Verhalten ist aber sehr eigentümlich. Sie hätten Ihre Wahrnehmungen doch auf alle Fälle dem Sie vernehmenden Richter mitteilen müssen; dieser hat Sie doch jedenfalls aufgefordert, alles zu sagen, was Sie über die Angelegenheit wissen. Ob etwas daraus wird, hätten Sie doch dem Richter überlassen müssen?

Zeuge: Herr Vorsitzender, da war meine Frau schuld, die hat mir davon abgeraten.

Vors.: Wunderbar ist es jedenfalls, daß Sie einen Vorgang, der Sie heute noch so sehr in Aufregung versetzt, so lange und trotz zweimaliger gerichtlicher Vernehmung verschwiegen haben. Außerdem ist es auch wunderbar, daß, obwohl Lesheim so sehr aufgeregt war, er trotzdem mit Ihnen abrechnen konnte.

Zeuge: Ich sehe ja ein, daß ich Unrecht getan habe; ich glaube jedoch die Sache wieder gutzumachen, indem ich nun die Wahrheit sage.

Vors.: Hat Sie jemand bestimmt, heute eine solche Aussage zu tun, oder haben Sie sich mit jemandem darüber besprochen?

Zeuge: Ich habe mit niemandem darüber gesprochen.

Vert. R.-A. Dr. Sello: Ich mache darauf aufmerksam, daß der Herr Zeuge mit Stubbe über die Angelegenheit gesprochen hat.

Zeuge: Es ist richtig, mit Stubbe habe ich gesprochen.

Vert. J.-R. Scheunemann: Woher wußte Stubbe, daß Sie noch etwas auf dem Herzen hatten?

Zeuge: Das weiß ich nicht; möglich ist aber, daß ich irgendeinem meiner guten Freunde einmal davon erzählt habe.

Lesheim sen. bestritt die ganze Erzählung; er sei im Winter gar nicht in der Lage, ein Fenster zu öffnen.

Fleischermeister Haß: Er habe mit Heidemann in Geschäftsverbindung gestanden und sei sehr häufig bei Heidemann gewesen. Er habe eine Änderung bezüglich des am Staketenzaun aufgestapelten Holzes nicht wahrgenommen; ganz besonders habe er im Holzschuppen nicht großen Holzvorrat gesehen.

J.-R. Scheunemann: Buchholz behauptet, das in den Schuppen geschaffte und dort aufgestapelte Holz war ca. vier Meter lang und zwei Meter hoch; hätte eine solch große Quantität Holz dem Herrn Zeugen auffallen müssen?

Zeuge: Das hätte ich bestimmt wahrgenommen.

Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Er habe am Tage des Brandes gegen Morgen eine große Anzahl Felle in den erwähnten Holzschuppen geschafft.

J.-R. Scheunemann: Wohin legten Sie die Felle?

Zeuge: Unter die Krippen.

J.-R. Scheunemann: Wäre es Ihnen möglich gewesen, all die Felle unterzubringen, wenn eine solch große Quantität Holz im Schuppen aufgestellt gewesen wäre?

Zeuge: Nein, dann hätte ich die Felle keineswegs sämtlich unter den Krippen unterbringen können.

Kanzlist Jordan: Als ich zur Brandstätte kam, sagte der alte Heidemann: Man hat uns unseren Tempel angesteckt, sehen Sie, da ist der Täter eingestiegen; dabei zeigte er auf ein eingeschlagenes Fenster. Es fiel mir jedoch auf, daß die Scherben der eingestoßenen ßenen Scheibe auf dem Straßenplatz lagen. Wenn die Scheibe von der Straße aus eingestoßen wäre, hätten die Scherben nach innen fallen müssen.

Heidemann bestritt entschieden, den Zeugen am Tage des Brandes auch nur gesehen zu haben.

Schreibergehilfe Rhode: Er sei gegen elf Uhr vormittags auf den Synagogenplatz gekommen und habe heftigen Rauch aus dem Tempel dringen sehen. Er sah in den Tempel hinein und beobachtete ein solch kleines Feuer, daß seiner Meinung nach ein paar Eimer Wasser zum Löschen genügt hätten. Ein Mann sagte zu dem alten Heidemann: Holen Sie doch ein paar Eimer Wasser, Herr Heidemann, damit ist ja das Feuer noch zu löschen. Heidemann erwiderte: „Spaß, das haben Christenhände getan.“ Heidemann sen. bestritt das. Heidemann jun.: Es ist wohl nicht anzunehmen, daß jemand meinen alten, damals bereits 71jährigen Vater aufgefordert hat, ein paar Eimer Wasser zu holen.

Schreibergehilfe Schulze: Er sei mit Rhode zusammen auf den Synagogenplatz gekommen, habe das ausgehängte Fenster gesehen, das Feuer hatte jedoch schon eine ziemliche Ausdehnung gewonnen. Den alten Heidemann habe er überhaupt nicht gesehen.

Kaufmann Löwe teilte mit, daß Schuhmacher Greiser fortwährend auf dem Korridor die Zeugen zu beeinflussen suche.

Vors.: Es darf sich ohne meine Erlaubnis kein Zeuge aus dem Saale entfernen.

Frau Schmidt: Am fraglichen Freitagvormittag gegen elf Uhr sah ich die beiden Lesheim, Vater und Sohn, und noch einen dritten, mir unbekannten jüdischen Mann in verdächtiger Weise aus der Synagoge kommen. Lesheim sen. rief sofort Feuer, obwohl davon noch nichts zu sehen war. Ich ging die Friedrichstraße hinauf und sagte zu zwei mir begegnenden alten jüdischen Herren: „Der Tempel brennt.“ Die beiden Herren antworteten mit einer sehr unpassenden, hier nicht wiederzugebenden Redensart. Ich begab mich alsdann auf die Brandstätte und nahm Petroleumgeruch wahr.

Vors.: Woher kam dieser Geruch?

Zeugin: Der Rauch, der aus dem Tempel kam, roch so bitter.

Vors.: Daraus schlossen Sie, daß Petroleum im Tempel war?

Zeugin: Ja.

Vors.: Jeder Rauch hat doch aber einen bitteren Geruch?

Zeugin: Das war aber Petroleumgeruch. Meine Eltern brannten einmal ab; das Gebäude war, wie gerichtlich erwiesen wurde, mittels Petroleum angezündet worden, und der Rauch bei dieser Feuersbrunst roch genau so wie bei dem Tempelbrande.

J.-R. Scheunemann stellte aus den Akten fest, daß die Zeugin bei ihren früheren Vernehmungen bekundet, sie habe die drei Männer, die aus der Synagoge kamen, nicht gekannt. Als die beiden Lesheim ihr vorgestellt wurden, habe sie gesagt, es sei ihr nicht möglich, die beiden Lesheim wiederzuerkennen.

Zeugin: Den älteren Lesheim habe ich bestimmt wiedererkannt, Leo Lesheim habe ich nicht genau wiedererkannt, da dieser inzwischen gewachsen war.

J.-R. Scheunemann: Hat die Zeugin bei ihrer Vernehmung bei dem Herrn Amtsgerichts-Rat Völz gesagt, sie vermöge die beiden Lesheim nicht wiederzuerkennen?

Zeugin (nach längerem Zögern): Das weiß ich nicht mehr.

Maurer Bumke: Er habe auf der Brandstätte Reste von Petroleumlampen, Kronleuchtern und Gebetbüchern gefunden, die zumeist nach Petroleum rochen.

Die Frage des R.-A. Dr. Sello: Ob Zeuge von dem Petroleumgeruch dem Herrn Ingenieur Schreiber Mitteilung gemacht habe, verneinte er. Inzwischen vernahm man im Saale von der Straße aus

laute Hepp-Hepp-Rufe.

Es war 11 3/4 Uhr abends geworden. Der Zuhörerraum war brechend voll und die Atmosphäre im Saale unerträglich. Im Zeugenzimmer, aber auch im Hintergrunde des Zuhörerraumes lag eine Anzahl Zeugen in tiefem Schlummer. Die Schlafenden im Zuhörerraum verursachten durch lautes Schnarchen oftmals Störung. Man sah es den Geschworenen an, daß sie an hochgradiger Ermüdung litten.

Gärtner Wiedemann: Eines Tages sah ich, wie der Handlungsgehilfe Blau zwei Körbe voll silberner Leuchter trug. Ich sagte zu Blau: Nun ist der Tempel schon seit sechs Wochen abgebrannt, und Sie haben noch soviel silberne Leuchter.

Die haben wir geschickt bekommen, versetzte Blau.

Ein Geschworener: Der Zeuge war 26 Jahre lang im Tempel beschäftigt; waren es Leuchter, die man im Tempel zu benutzen pflegte?

Zeuge: Solche Leuchter waren es nicht.

Vors.: Wozu machten Sie also solche Redensarten?

Zeuge: Ich machte Scherz.

Handlungsgehilfe Blau: Ich kann mich absolut nicht erinnern, mit Leuchtern in irgendeiner Weise über die Straße gegangen zu sein. Draußen im Zeugenzimmer hat Wiedemann heute gesagt: Es waren Wandleuchter, dann sagte er, es waren gewöhnliche, dann Armleuchter.

Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte der Zeuge: Er könne nicht behaupten, daß die betreffenden Zeugen die Unwahrheit sagen, er könne sich jedoch absolut nicht auf deren Angaben erinnern.

Rabbiner Dr. Hoffmann bekundete wiederholt, daß die jüdische Gemeinde silberne oder auch nur silberähnliche Leuchter niemals besessen habe.

Gegen 12 1/2 Uhr nachts meldete sich ein Geschworener mit dem Bemerken, daß die Geschworenen nunmehr so ermüdet seien, daß sie nicht mehr zu folgen vermögen.

Vors.: Ich möchte gern noch alle Zeugen vernehmen; wir sind damit bald fertig.

Geschworener: Wir sind geradezu unfähig; die jungen Herren beklagen sich schon und ich bin ein alter Mann.

Der Staatsanwalt fragte die Geschworenen, ob sie nicht noch aushalten wollen.

Die Geschworenen erklärten wiederholt, daß sie nicht fähig seien, weiter zu folgen. Der Vorsitzende ließ darauf eine Pause eintreten.

Nach Wiederaufnahme der Sitzung gegen 12 3/4 Uhr nachts wurde Frau Messerschmied Riedel vernommen. Am fraglichen Freitagvormittag, kurz ehe ich den Feuerlärm hörte, begegnete ich in der Nähe des Scheunenweges dem Leo Lesheim. Er war sehr eilig und auf meine Frage: Nun, Leo, wohin läufst du denn so eilig? antwortete er nicht.

Leo Lesheim bezeichnete diese Angabe als Unwahrheit.

Frau Lesheim (Schwägerin des Angeklagten Lesheim heim sen.): Mein Schwager hat mich eines Tages arg beleidigt; deshalb sagte ich: Das schenke ich dir nicht, nun schweige ich nicht länger, ich zeige es an. Es ist eine infame Lüge, daß ich gesagt: Ich werde dich ins Zuchthaus bringen.

Gegen 1 3/4 Uhr nachts wurde endlich die Sitzung unterbrochen.

Am vierten Verhandlungstage legte, nach noch kurzer Zeugenvernehmung, der Vorsitzende den Geschworenen folgende Schuldfragen vor:

Sind die Angeklagten Heidemann, Vater und Sohn, schuldig, am 18. Februar 1881 zu Neustettin ein zu gottesdienstlichen Versammlungen bestimmtes Gebäude vorsätzlich in Brand gesetzt, eventuell: Sind die Angeklagten schuldig, dem Täter zur Begehung des in der Hauptfrage erwähnten Verbrechens durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben. Sollten diese beiden Fragen verneint werden, so habe ich bezüglich dieser Angeklagten noch folgende dritte Frage formuliert: Sind die Angeklagten schuldig, von der am 18. Februar 1881 zu Neustettin ausgeübten vorsätzlichen Brandstiftung zu einer Zeit, in welcher die Verhütung des Verbrechens möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten und haben es unterlassen, hiervon der Behörde zur rechten Zeit Anzeige zu machen?

Der Gerichtshof hat beschlossen, bezüglich der übrigen rigen Angeklagten nur die zwei ersten Fragen zu stellen.

Staatsanwalt: Ich habe gegen die Fragestellung nichts zu erinnern.

Es nahm hierauf das Wort zur Schuldfrage Staatsanwalt Pinoff: Meine Herren Geschworenen! Es ist nun meine Aufgabe, Ihnen die Ergebnisse der Beweisaufnahme vorzuführen. Der Umstand, daß die öffentliche Meinung sich der vorliegenden Angelegenheit in so außergewöhnlichem Maße bemächtigt hat, kann und darf uns nicht veranlassen, etwas anderes zu tun, als die Ergebnisse der Beweisaufnahme zu prüfen. Im Gerichtssaale hat die öffentliche Meinung keine Stätte. Der Richter hat lediglich die Sache zu prüfen. Keinerlei Störung soll uns veranlassen, von diesem unserm geraden Wege abzuweichen. Charakteristisch ist es ja, daß Juden ihr eigenes Bethaus in Brand gesteckt haben und daß gleich nach Ausbruch des Feuers auf der Brandstätte wiederholt in lauter Weise die Behauptung ausgesprochen wurde: Die christliche Bevölkerung habe den Brand verschuldet. Dieser Umstand allein hat es auch nur veranlaßt, daß die Angelegenheit eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Dies wird mich nötigen, am Schlusse meiner Ausführungen einen kurzen politischen Streifblick zu werfen. Meine Herren! Ich werde mich dabei in der knappsten Form halten. Juden und Christen sind der übereinstimmenden den Überzeugung, daß der Brand ein vorsätzlicher war. Einzig und allein Ingenieur Schreiber hält es für möglich, daß der Brand in zufälliger Weise entstanden ist. Allein Herr Ingenieur Schreiber hat wohl nicht erwogen, daß alle Umstände eine zufällige Feuersbrunst ausschließen. Eine Feuerungsanlage hat die Synagoge nicht gehabt. Die Synagoge ist geständlich mehrere Tage vor dem Brande von niemandem betreten worden. Die Synagoge war stets verschlossen; das pflegte auch bezüglich der Fenster zu geschehen, von denen aber merkwürdigerweise einige Stunden vor dem Brande eins geöffnet und eins ausgehängt war. Sämtliche Fenster waren von innen mittels kleiner Ketten verschlossen und konnten auch nur von innen geöffnet werden. Dieser letztere Umstand macht es bereits zur Gewißheit, daß die Brandstiftung von Juden, die ausschließlich Zutritt zu dem Tempel hatten, verübt worden ist.

Nun kommt hinzu, daß die meisten Angeklagten zur Zeit des Brandes von einer ganzen Reihe von Zeugen am Synagogenplatz gesehen worden sind. Von der Verteidigung könnte eingewendet werden, zugunsten der Angeklagten spricht der Umstand, daß der Brand am hellen Tage entstanden ist. Mir scheint es, daß die Feuersbrunst schon viel früher entstehen sollte. Die Wiedemannschen Eheleute haben schon des Morgens gegen neun Uhr Rauch aus der Synagoge dringen sehen. Das Feuer wollte nur nicht brennen, deshalb öffnete man das eine Fenster und hob das andere aus. Man könnte vielleicht auch die Frage aufwerfen: die Angeklagten hätten ja am folgenden Tage den Brand veranlassen können, dann hätte man, in Berücksichtigung, daß am Freitagabend die Synagoge erleuchtet wird, eher auf einen zufälligen Umstand schließen können.

Allein die Beweisaufnahme hat ergeben, daß das Verbrechen lange vorher geplant war. Es waren bereits mehrere Tage vorher alle Vorbereitungen zur Inszenierung des Brandes geschehen. Der Tempel konnte aus diesem Grunde nicht benutzt werden. Nun kam der Freitag. Am Abend hätte man Gottesdienst in der Synagoge abhalten müssen und deshalb war der Freitag der letzte Moment. Eine ganze Reihe Zeugen hat gesehen, daß Leo Lesheim einen Stuhl auf dem Kopfe trug, diesen vor ein Synagogenfenster stellte, der ältere Lesheim auf den Stuhl trat und ein Fenster heraushob. Leo Lesheim bestreitet dies und gibt an, er sei während des Brandes im Auftrage der Frau Heidemann zu Jakoby gegangen, um für den alten Heidemann Strümpfe zu kaufen. Daß Frau Heidemann nach Strümpfen schickt, während dicht neben ihrem Hause der Tempel in vollen Flammen stand, ist wohl kaum denkbar. Der Glaserlehrling Geiserberg will Leo Lesheim zu Jakoby begleitet haben. Eine Reihe von Knaben ben hat dagegen zu derselben Zeit den Leo Lesheim allein, einen Stuhl auf dem Kopfe tragend, gesehen. Eine Zeugin hat ihn in vollster Eile an ihr vorüberlaufen sehen, ohne daß er ihr auf ihre Frage: wohin so eilig? eine Antwort gab. Nun werden die Zeugen ja seitens der Verteidigung bemängelt. Es ist eine alte Geschichte, daß man Belastungszeugen bemängelt, weil sie mit allen Angaben nicht sofort hervorgetreten sind und in der Angabe der Zeit Irrtümer begehen. Es ist auch bezweifelt worden, daß die Knaben von ihren Bänken den Synagogenplatz überschauen konnten. Allein wir haben gehört, daß zu jener Zeit eine Lehrerkonferenz stattfand und die Knaben sich ungezwungen im Schulzimmer bewegen konnten. Daß Pieper so spät mit seinen Angaben hervorgetreten? Nun, er hat es mit dem größten Freimut, unter Erzählung seiner intimsten Familienverhältnisse mitgeteilt. Seine Frau hat es ihm direkt verboten. Wenn ich auch dem alten kanonischen Grundsatze: „Mulier taceat in ecclesia“ huldige, so ist doch die Erzählung Piepers, er wollte seinen häuslichen Frieden nicht stören, ein hinreichender Erklärungsgrund für sein Verhalten. Sie haben ferner gehört, in welcher Gemütsaufregung Fleischermeister Angermann die beiden Lesheim angetroffen hat. Es ist das eine sehr erklärliche psychologische Erscheinung. Es beunruhigte sie der Gedanke: wird das in Szene gesetzte Verbrechen auch gelingen? gen? Daß das Fenster nicht geöffnet werden konnte, ist hinlänglich widerlegt worden. Leider hat Angermann aus denselben Gründen wie Pieper Schweigen beobachtet. Das ist doch aber kein Grund, sein Zeugnis zu bezweifeln. Sie haben gehört, daß Angermann bekundet hat: Wenn der Barbier Keller noch lebte, dann würde er jetzt auch die Wahrheit sagen. Der eine Umstand, daß Lesheim sen. wenige Tage vor der Hauptverhandlung zu Angermann ging und diesen zu veranlassen suchte, günstig auszusagen, ist der klarste Beweis, daß Lesheim die Aussagen des Angermann fürchtete. Merkwürdig ist es, daß zu gleicher Zeit die beiden Heidemanns wiederholt in die Synagoge gehend gesehen worden sind. Ich komme nun zu dem Zeugen Buchholz. Es ist naturgemäß, daß man auch das Zeugnis dieses Mannes, seinen Lebenswandel usw. anzugreifen bestrebt ist. Sie haben jedoch gehört, daß Buchholz wohl bisweilen einen Schnaps trinkt, aber keineswegs ein größeres Quantum als andere Leute seines Standes. Daß Buchholz sowohl als auch viele andere Zeugen mit ihren Angaben zurückgehalten haben, erklärt sich aus dem Umstande, daß ihnen nicht die Angeklagten allein gegenüberstanden, die infolge der gegen sie angebrachten Bezichtigungen alles mögliche aufboten, um ihren Charakter zu bemängeln und sie, wenn möglich, öffentlich bloßzustellen, und daß diesen Zeugen eine ganze Bevölkerungsklasse, rungsklasse, die gesamte Judenschaft zu Neustettin gegenüberstand.

Es ist ferner zu erwägen, daß in solchem Falle auch Existenzrücksichten für das Verhalten der Zeugen, in vorliegendem Falle zweifellos in sehr wesentlichem Maße, in Betracht kommen. Derartige Rücksichten haben sicherlich auch den Buchholz, der bei Heidemann in Diensten gestanden, veranlaßt, so lange mit seinen Angaben zurückzuhalten. Als Buchholz diese Rücksichten nicht mehr zu beobachten brauchte, da trat er mit seinen Angaben hervor. Ein solches Verhalten verdient jedoch nicht Tadel oder gar Verachtung, sondern im Gegenteil, ein solches Verfahren verdient Lob. Der Umstand, daß Buchholz mit Heidemann in einer Zivilklage gestanden, kann ihn nicht zu einer derartigen Denunziation veranlassen. Die Bekundungen des Buchholz, welche von Beyer wesentlich unterstützt werden, in Verbindung mit allen weiteren Momenten lassen es als zweifellos erscheinen, daß die Angeklagten mit der Brandstiftung in unmittelbarer Verbindung stehen. Ich habe schon ausgeführt, daß es leider nicht gelungen ist, den eigentlichen Täter zu ermitteln, es ist jedoch meine volle Überzeugung, daß die Angeklagten gemeinschaftlich gehandelt haben. Noch ein Wort bezüglich des Beweggrundes, der die Angeklagten zur Begehung der Tat veranlaßt hat. Ich werde deshalb genötigt sein, ein kurzes Streiflicht auf die politischen Vorgänge jener Zeit zu werfen. Ich werde dies jedoch, wie versprochen, in der kürzesten Form tun. Sie werden mir nachrühmen, daß die politische Parteibewegung nur dann in den Gerichtssaal gezogen wird, wenn der dringendste Zwang dazu vorliegt. Sie alle, meine Herren, haben es erlebt, daß gerade zur Zeit des Brandes die Bevölkerung Neustettins in zwei Parteien gespalten war, die sich aufs heftigste bekämpften. Von der sogenannten antisemitischen Partei ist in öffentlichen Versammlungen und in der Presse erörtert worden, welch schädliche Wirkungen der Einfluß der Juden auf unsere öffentlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse übt. Es ist in einer in Neustettin erscheinenden Zeitung ein mittelalterliches Zitat erwähnt worden, welches als bestes Mittel, um den Einfluß der Juden zu brechen, das Niederbrennen ihrer Tempel empfiehlt. Daß sich aus diesem Anlaß der Juden eine hochgradige Erregung bemächtigte, finde ich sehr natürlich. Ich will keineswegs behaupten, daß der Brand von der gesamten Judenschaft Neustettins geplant wurde, und daß diese Angeklagten nur die vorgeschobenen Werkzeuge sind. Allein ich behaupte, die Angeklagten zählen zu jenen Heißspornen unter den Juden, die das vorliegende Verbrechen ausführten, weil ihnen als Juden die antisemitische Bewegung unangenehm war, weil sie eine Gefährdung des öffentlichen chen Friedens oder eine Beschränkung der staatsbürgerlichen Rechte der Juden als eine Folge der Bewegung fürchteten. Sie suchten deshalb nach Mitteln, um den gesetzgebenden Faktoren klarzumachen, daß die Bewegung zu offenen Gewalttätigkeiten führt, den öffentlichen Frieden gefährdet, und daß es mithin geboten sei, der Antisemitenbewegung von Gesetzes wegen Einhalt zu tun. Eine Schädigung der Gemeinde war damit, angesichts der dem Werte des Tempels entsprechenden Versicherungssumme, nicht verbunden, im Gegenteil, die Angeklagten erzielten nur noch, der Gemeinde Gelegenheit zu geben, ein größeres Bethaus, das den Anforderungen besser entsprach, zu schaffen. Ich hoffe, meine Herren Geschworenen, Sie werden die erste Schuldfrage in vollem Umfange bejahen. Jedenfalls steht fest, daß die Angeklagten schuldig sind, dem Täter bei Begehung des Verbrechens wissentlich Hilfe geleistet zu haben. Zur Bejahung dieser Frage ist nicht die Annahme erforderlich, daß der Täter außerhalb des Kreises der Angeklagten zu suchen ist. Daß die beiden Heidemann sich im Sinne der dritten Frage schuldig gemacht haben, ist zweifellos. Das öffentliche Interesse, meine Herren, erfordert es, daß ein so schweres Verbrechen, wie das vorliegende, nicht ungesühnt bleibt. Gehen Sie an die Prüfung ohne alle Voreingenommenheit, halten Sie sich streng an die vorliegenden Tatsachen. Sollten Sie dabei, was ich hoffe, zu der Überzeugung von der Schuld der Angeklagten gelangen, dann werden Sie zweifellos auch jene Entschlossenheit an den Tag legen, die stets den deutschen Mann ausgezeichnet hat.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello (Berlin): Meine Herren Geschworenen! Nicht mit Unrecht hat die gegenwärtige Angelegenheit in der weitesten Kreisen, ja, ich kann wohl sagen, in der ganzen zivilisierten Welt das größte Interesse erregt. Es ist zweifellos, daß der gegenwärtige Prozeß das Resultat jener unerfreulichen Bewegung ist, die sich in den letzten Jahren in unserem Vaterlande kundgegeben hat. Jedenfalls steht es fest, daß der gegenwärtige Prozeß sich zu jener Bewegung verhält wie das Symptom zur Krankheit. Ich will mich ebenso wie der Herr Staatsanwalt bemühen, die politische Seite der Sache in knappster Form zu behandeln, denn wir haben alle Veranlassung, den Mantel christlicher Nächstenliebe auf die in den letzten Jahren vorgekommenen Religionsausschreitungen zu decken, Ausschreitungen, die vor einigen Tagen selbst bis in diesen Gerichtssaal ertönten. Wir haben alle Veranlassung, dahin zu wirken, daß die religiöse Unduldsamkeit und Verfolgungssucht der Toleranz und Brüderlichkeit, welche die deutsche Nation stets ausgezeichnet hat, wieder weiche. Der Herr Staatsanwalt betonte den deutschen Geist – ich habe dasselbe Recht wie der Herr Staatsanwalt, auf den deutschen Geist hinzuweisen. Ich will deshalb die antisemitische Bewegung als eine gegebene Tatsache hinnehmen. Ich bin überzeugt, meine Herren Geschworenen, Sie werden mit richtigem, nüchternem Blick, wie es nur allein dem Richter ziemt, an die Prüfung der Tatsachen herantreten und sich von allen sonstigen Einflüssen fernhalten. Zunächst muß ich bemerken, daß die Verteidigung entfernt ist, der Behörde über ihr Verhalten irgendeinen Vorwurf zu machen; im Gegenteil, ich nehme keinen Anstand, das Vorgehen der Behörde als ein vollkommen korrektes zu bezeichnen. Das Verfahren lag sogar im Interesse der Angeklagten, die so lange unter dem Verdacht eines schweren Verbrechens gestanden haben. Den Angeklagten konnte es nur erwünscht sein, sich endlich verantworten zu können und ihr Schicksal in die Hände von Männern zu legen, die mitten im Leben stehen und die sich, trotz der hochgehenden Wogen der politischen Parteileidenschaften, ein vollständig gerechtes Urteil bewahrt haben. Soviel steht jedenfalls fest, haben die Angeklagten das Verbrechen begangen, dann ist es aus einem unerklärlichen Fanatismus geschehen, oder sie sind unschuldig, wovon ich aus innerstem Herzen überzeugt bin, dann sind sie das Opfer religiöser Verirrung. Der Herr Staatsanwalt tut uns Unrecht, wenn er behauptet, wir bemängeln die Glaubwürdigkeit der Zeugen. Ich bin entfernt davon; ich hätte nur gewünscht, daß der Herr Staatsanwalt nicht bloß die Aussagen der Belastungszeugen, sondern auch die der Entlastungszeugen vorführte. Allein auf Grund solcher unsicheren, sich so sehr widersprechenden Beweise werden Sie, meine Herren Geschworenen, dessen bin ich gewiß, unmöglich vollständig unbescholtene Leute eines Verbrechens für überführt erachten, das sie für immer aus der menschlichen Gesellschaft ausschließen würde. Daß die Angeklagten sich durch ihr Benehmen verdächtig gemacht haben, kann man doch wohl nicht annehmen. Daß die Angeklagten sich widersprochen und sich nicht an alle Einzelheiten, die sie am Freitag vor dem Brande getan, erinnern, ist ihnen gewiß nicht übelzunehmen. Für die Angeklagten war der Morgen vor dem Brande nicht ein besonderer Tag, bezüglich dessen sie sich genau an alle Einzelheiten erinnern sollen. Daß die Angeklagten oftmals etwas direkt bestreiten, was sie besser zugegeben hätten, erklärt sich aus ihrem geringen Bildungsgrade. Im übrigen haben wir doch derartige Wahrnehmungen auch an einer Anzahl Zeugen gleichen Bildungsgrades gemacht. Ich habe schon gesagt, ich will, mit Ausnahme des Zeugen Angermann, den Zeugen nichts vorwerfen; allein eins steht fest: die meisten Belastungszeugen haben sich in ganz unerklärlicher Weise furchtsam benommen. men. Ein Teil der Zeugen fürchtet die Frau, ein Teil den Staatsanwalt und eine dritte Gruppe das „Brüllen“ des vernehmenden Richters. Hier legten dieselben Zeugen eine solche Furchtsamkeit nicht an den Tag. Daß die Zeugen Existenzrücksichten hatten, ist wohl nicht anzunehmen. Wäre das der Fall, dann würden doch diese Rücksichten heute ebenfalls noch maßgebend sein. Zu erwägen ist, daß nun fast drei Jahre seit jenem verhängnisvollen Tempelbrande verflossen sind. Man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß jener Tempelbrand seit dieser Zeit bis auf den heutigen Tag das fast ausschließliche Tagesgespräch in Neustettin gebildet hat. Erwägt man noch die hochgradige Erregung jener Bevölkerung, dann kann es kaum wundernehmen, daß durch Hin- und Hergespräche Verdachtsmomente zusammengetragen wurden, die schließlich in so lawinenartiger Weise angewachsen sind. Man macht es den Angeklagten zum Vorwurf, daß auf der Brandstätte die von mir beklagte Äußerung getan wurde: „Die Christen haben uns den Tempel angesteckt.“ Eine Anzahl Frauen soll diese Äußerung getan haben. Ja, was schwatzen Frauen nicht alles. Und weshalb macht man es den Antisemiten nicht zum Vorwurf, daß von diesen mehrfach die Äußerung getan worden ist: „Die Juden haben sich den Tempel selbst angezündet.“ Meiner Meinung nach liegt auch nicht der Schatten eines Beweises für die Schuld der Angeklagten vor. Es wird behauptet, daß die Angeklagten gemeinschaftlich das Verbrechen begangen haben. Es ist doch aber zu erwägen, daß niemand wählerischer in seiner Bundesgenossenschaft ist als Verbrecher. Feststeht, daß die beiden Heidemann, die zu den besseren Gesellschaftsklassen zählen, mit den übrigen Angeklagten nicht verkehrt haben. Zwischen dem jetzigen Tempeldiener Löwenberg und dem früheren Tempeldiener Lesheim bestand eine offene Feindschaft. Daß solch verschiedene Leute sich zu einem derartigen Verbrechen verbünden werden, ist doch wohl nicht anzunehmen. Der Herr Staatsanwalt nennt die Angeklagten Heißsporne. Ich habe mir nach den Shakespeareschen Schilderungen Heißsporne etwas anders vorgestellt. Zum mindesten haben doch die Angeklagten Heidemann nicht den Eindruck fanatisierter Menschen gemacht, Der Herr Staatsanwalt hält den alten Herrn Heidemann für schuldig, weil er sich gefaßt und ruhig verhalten, den Lesheim dagegen, weil er sehr aufgeregt war. Ich liebe es nicht, Zeugen anzugreifen, die sich nicht verteidigen können. Allein erwähnen muß ich die Tatsache, daß man alles mögliche tut, um die Verdachtsmomente lawinenartig anzuhäufen und daß viele Zeugen bemüht gewesen sind, den Staatsanwalt zu überstaatsanwalten. Ich erinnere, daß, als Herr Löwe mit einem Fremden über den Marktplatz ging, er von hier vernommenen Zeugen verfolgt wurde, welche hörten, daß Herr Löwe über eine Versicherungserhöhung sprach. Andere machten die Anzeige, daß die Heidemann ihr Feuerversicherungs-Schild in Milch getaucht haben, eine Tatsache, die mit der vorliegenden Brandstiftung absolut nichts zu tun hat. Andere sahen wieder einen jungen Mann jüdischer Konfession mit silbernen Leuchtern über die Straße gehen, und obwohl sie wußten, daß solche Leuchter im Tempel nicht zur Verwendung zu kommen pflegten, so galt ihnen das als Belastungsmoment. Das am meisten Charakteristische für die Zustände in Neustettin ist die Bekundung des Zeugen Dahlitz. Sie werden mir beistimmen, wenn ich den Zeugen Dahlitz als einen sehr ruhigen, überlegten Mann bezeichne. Dieser Zeuge bekundete aber wörtlich: Er habe den Lesheim in aufgeregtem Zustande gesehen, und sofort sei er der Überzeugung gewesen, daß er den Täter vor sich habe und daß der Brand von den Juden in Szene gesetzt sei, um das Verbrechen den Christen in die Schuhe zu schieben. Und als der Zeuge gefragt wurde, worauf er seine Vermutung begründe, antwortete er: Lediglich deshalb, weil eine Anzahl Juden die Äußerung getan habe: „Die Christen haben uns den Tempel angesteckt.“ Man prüft nicht mehr die Tat, denn man hat ja den Täter! Ich will mich nun mit den einzelnen Angeklagten beschäftigen. Ich frage zunächst, ist es möglich, daß, wenn Buchholz ein Mitwisser des Verbrechens ist, er von den bemittelten Heidemanns wegen einer Differenz von 60 M. entlassen werden wird? Die Heidemanns besaßen die Schlüssel zur Synagoge; sie konnten sie zu jeder Tages- und Nachtzeit betreten. War es nötig, daß die Heidemanns sich erst einen halsbrecherischen Weg von Buchholz haben bahnen lassen müssen? Und wenn das Herausbrechen zweier Bretter aus dem Staketenzaun irgendwie zur leichteren Betretung notwendig gewesen wäre, dann ist doch nicht anzunehmen, daß man einen Christen mit einer Arbeit beauftragen wird, die Heidemann jun. sehr gut selbst ausführen konnte. Welchen Zweck das Imbrandsetzen des Heidemannschen Spindes gehabt habe, vermag ich absolut nicht einzusehen. Zur Abbrennung des Tempels bedurfte es nicht des Feuers im Kleiderspind, das sich in der Heidemannschen Wohnung befand. Und nun zum Knaben Denzin. Ich habe eine andere Auffassung von dem Knaben Denzin wie der Herr Staatsanwalt. Ich meine, der Knabe Denzin hat noch ein jugendliches elastisches Gedächtnis und er hat den Vorzug, daß er vereidigt worden ist, während alle anderen Knaben ihres jugendlichen Alters wegen unvereidigt blieben. Als der Gesetzgeber unmündige Kinder vom Eide ausschloß, hatte er zweierlei Gründe. Einmal weil er annahm, daß das jugendliche Gemüt fremden Einflüssen leicht zugänglich sei, und zweitens, weil die Phantasie des Kindes oftmals eine zu große ist. Der Knabe Denzin will nun Wahrnehmungen gemacht haben, die geradezu unerklärlich sind. Mindestens sechsmal sollen die Heidemann, Vater, Sohn und Enkel, aus ihrem Hause herausgekommen und in die Synagoge hineingegangen sein. Ich habe schon erwähnt, daß ein solch fortwährendes Laufen die Heidemanns nicht nötig hatten, sie hätten zu anderer, zur Ausübung eines Verbrechens günstigerer Zeit in die Synagoge gehen können. Außerdem bleibt doch zu erwägen, daß zur selben Zeit die Familie Heidemann gerade an jenem Tage am Bette eines todkranken Kindes stand, das am folgenden Tage in einer fremden Wohnung starb. Anfänglich behauptete der Knabe Denzin, er habe seine Wahrnehmungen von der Schulbank aus gemacht. Als ihm vorgehalten wurde, daß es unmöglich sei, von der betreffenden Bank aus sitzend derartige Wahrnehmungen zu machen, erwiderte er: Ich bin, sobald mich der Lehrer etwas fragte, stets aufgestanden. Als artiger Schüler hat er doch die Pflicht, nicht das Gesicht nach dem Fenster, sondern nach dem Lehrer zuzukehren. Als er hörte, die richterliche Lokalbesichtigung habe ergeben, daß von der Bank, auf der er gesessen haben will, die bekundeten Wahrnehmungen nicht gemacht werden konnten, da bemerkte er: „Ich weiß nicht mehr, auf welcher Bank ich gesessen habe.“ Ich glaube, damit fällt das ganze Zeugnis des Denzin in sich zusammen. Daß der alte Heidemann im Schlafrock gewesen ist und die Hände in seiner Tasche gehabt hat, kann doch wohl auch nicht für seine Schuld sprechen. Und nun zum Petroleum. Ein großes Feuer muß mittels Petroleum angesteckt sein, und wo das Petroleum fehlt, da stellt ein Buchholz zu rechter Zeit sich ein. Buchholz weiß anfänglich von Petroleum gar nichts. Es werden in Zeitungen hohe Belohnungen auf Ermittelung des Täters ausgeboten, die Belohnung wird in der Stadt ausgeklingelt. Buchholz findet es jedoch nicht für erforderlich, seine so sehr wichtigen Wahrnehmungen dem Richter mitzuteilen. Endlich nach langer, langer Zeit kommt er mit der Anzeige, er habe am Vormittage des Brandes, als er aufs Feld fuhr, den Lesheim sen. mit einer Petroleumkanne in die Synagoge gehen sehen. Dem Löwenberg sei er zu gleicher Zeit mit einer blauen Mappe begegnet. Als Zeugen hierüber beruft er sich auf seinen Freund Beyer. Letzterer erklärt: Den Lesheim habe ich mit Petroleum nicht gesehen, dagegen aber den Löwenberg. Nun tritt Buchholz mit der Behauptung auf: Ja, ich habe am Morgen des Brandes, gegen fünf Uhr, auch den Löwenberg mit einer Petroleumkanne gehen sehen. Beyer sagte jedoch: Nicht am Morgen des 18., sondern am Morgen des 17. Februar gegen fünf Uhr sah ich den Löwenberg mit einer Petroleumkanne die Nysedorbrücke entlang gehen. Nun behauptet Buchholz: Ich habe den Löwenberg auch am 17. des Morgens mit einer Petroleumkanne gesehen. Beyer behauptete jedoch: Am Morgen des 17. ist er mit Buchholz gar nicht zusammengetroffen. Ich kann nicht umhin, diese Bekundungen des Buchholz als den Gipfelpunkt aller märchenhaften Einbildung zu bezeichnen. Beyer will den Löwenberg zwischen vier und fünf Uhr morgens gesehen haben, zu einer Zeit, in welcher im Monat Februar das Wiedererkennen sehr unsicher ist. Ich bin der Meinung, Beyer und Buchholz werden den Löwenberg, der ja als Schuldiener mit Petroleumkannen hantiert hat, zu irgendeiner anderen Zeit in der bezeichneten Weise gesehen haben. Ihre mythenreiche Phantasie veranlaßte sie schließlich, diese Begegnung des Löwenberg mit dem Brande in Verbindung zu bringen. Ich gehe nun zu Lesheim über. Es wäre geradezu unerklärlich, daß die Lesheim an der belebtesten Seite der Synagoge am hellen Tage das Fenster ausgehängt haben sollen. Ich will nicht sagen, daß die Zeugen sämtlich in dieser Beziehung die Unwahrheit bekundet haben. Ich glaube vielmehr, Lesheim hat, als er das Feuer bemerkte, in der Tat ein Fenster ausgehängt. Er hat damit nichts Schlimmeres getan, als geständlich der Tischlermeister Kubelke, ein Mann christlicher Konfession, getan hat. Daß er nicht gleich Feuer gerufen und gezögert hat, die Spritzen zu holen, ist doch um so mehr erklärlich, als mehrere Leute bekundeten, das Feuer sei anfänglich mit mehreren Eimern Wasser zu löschen gewesen. Der Herr Staatsanwalt nimmt selbst an, daß die jüdische Gemeinde in Neustettin keine Schuld an dem Brande habe. Nun soll aber auch als Belastungsmoment gelten, daß in den Wochen vor dem Brande die Synagoge des Morgens stets erleuchtet war, während sie in der Woche des Brandes unerleuchtet blieb. Ein solches Verfahren konnte doch bloß ausgeführt werden unter Mitwissenschaft aller Gemeindemitglieder. Hätten aber andererseits nicht gerade die Frühgottesdienste die beste Gelegenheit zur Vorbereitung des Brandes gegeben? Aber auch auf der Brandstätte aufgesammelte Gebetbuchreste sollen den Beweis liefern, daß das Feuer vorsätzlich mittels Petroleum angezündet worden ist. Wären die Gebetbücher wirklich mit Petroleum getränkt gewesen, dann wäre von ihnen auch nicht ein Atom übriggeblieben. Ist es nicht möglich, wie der Sachverständige, Herr Ingenieur Schreiber im übrigen ebenfalls bekundet hat, daß durch Unvorsichtigkeit ein brennendes Streichholz auf den mit Wachs gebohnerten Fußboden geworfen wurde, daß dies langsam glimmte und schließlich seine verheerende Wirkung übte? Die Beweisaufnahme hat kein Moment ergeben, das die Schuld der Angeklagten dargetan hätte; sie hat aber ebensowenig irgend etwas zutage gefördert, was zu der Annahme berechtigt, daß der Täter irgendwo anders zu suchen sei. Ich stelle deshalb aus voller Überzeugung den Antrag, die Angeklagten freizusprechen, und ich freue, mich feststellen zu können, daß der Täter auch auf keiner anderen Seite zu suchen ist. Unser Vaterland ist glücklicherweise vor dem Schimpf bewahrt geblieben, daß eine beklagenswerte Religions-Ausschreitung einzelner Bevölkerungklassen ein solch schweres Verbrechen gezeitigt hat. Ich schließe deshalb in der festen Überzeugung, Ihr Wahrspruch kann nur lauten: Die Angeklagten sind unschuldig.

Verteidiger Justiz-Rat Scheunemann (Neustettin): Ich kann mich im allgemeinen meinem Herr Mitverteidiger anschließen. Als ein Hauptbelastungsmoment führt die Staatsanwaltschaft die am Tage des Brandes seitens der Juden ausgesprochenen Behauptungen an: „Die Christen haben den Tempel in Brand gesteckt.“ Wenn man die damalige Antisemitenhetze in Erwägung zieht, wenn man berücksichtigt, daß kurz vor dem Brande Dr. Henrici aus Berlin eine gegen die Juden aufhetzende Rede in Neustettin hielt, wenn man vollends die Hetzereien der „Norddeutschen Presse“ in Betracht zieht, dann wird man jene Behauptung der Juden sehr erklärlich finden. Es wird Ihnen ferner bekannt sein, meine Herren, daß diese antisemitische Hetze schließlich zu einem offenen Krawall in Neustettin stettin geführt hat. Welche Stimmung in der Bevölkerung Neustettins noch heute vorhanden ist, beweist doch der Umstand, daß Buchholz sich von seinem Prinzipal, dem Eisengießereibesitzer Ehmke in Neustettin, mittels Telegramms ein Leumundszeugnis ausstellen ließ. Es ist nicht gering anzuschlagen, daß die „Norddeutsche Presse“ fünf Tage vor Ausbruch des Brandes ein mittelalterliches Zitat brachte, das ungefähr dahin lautete: „Brennt die Tempel der Juden nieder, macht sie der Erde gleich.“ Ging doch die „Norddeutsche Presse“ soweit, nicht bloß die Juden anzugreifen, sondern auch diejenigen zu beschimpfen, die nicht in den Ton der Antisemiten einstimmten. In jene Zeit fiel auch das Verlangen jenes Blattes, in Neustettin einen christlichen Anwalt anzustellen, obwohl man wußte, daß schon seit Jahren

Vors. (den Redner unterbrechend): Ich muß dem Herrn Verteidiger bemerken, daß die „Norddeutsche Presse“ nicht Gegenstand der Verhandlung gewesen ist.

Verteidiger: Es ist ein Zitat aus der „Norddeutschen Presse“ hier verlesen worden.

Vors.: Es ist allerdings bei der Vernehmung des Zeugen Löwe ein Zitat aus der „Norddeutschen Presse“ verlesen worden; ich wußte im Augenblick nicht, welche Tragweite dies hat. Ich kann jedoch dem Herrn Verteidiger ein weiteres Eingehen auf die „Norddeutsche Presse“ nicht gestatten.

Vert.: Nun, meine Herren, ich muß bekennen, ich habe mich gewundert, daß die Anklage auf Grund eines solchen Materials erhoben worden ist. Erklärlich erscheint mir dies nur, weil die Staatsanwaltschaft es für nötig gehalten hat, die leidige Angelegenheit endlich einmal zur Erledigung zu bringen. Es kann ja den Angeklagten auch nur erwünscht sein, ihr Schicksal in Ihre Hände, meine Herren, zu legen, die Sie, des bin ich gewiß, die Angelegenheit mit nüchternem und unparteiischem Blicke prüfen werden. Es ist doch wohl nicht anzunehmen, daß, während die Heidemanns am Krankenbette eines todkranken Kindes standen, der alte Heidemann mit seinem Sohne und zwei Enkeln in das, was den Juden am heiligsten ist, in den Tempel geht, um diesen in der Nähe des Allerheiligsten in Brand zu stecken. Hatte nicht Heidemann zu befürchten, daß sein Besitztum selbst ein Raub der Flammen werden könnte? Daß Heidemann ein Interesse für die Abbrennung seines Besitztums hatte, ist nicht erwiesen worden. Zum mindesten hätten doch die Heidemanns Veranstaltungen treffen müssen, um ihr Besitztum in Sicherheit zu bringen. Die Behauptungen des Zeugen Buchholz sind von dem Fleischermeister Haß vollständig widerlegt worden. Bezüglich der Bekundungen des Buchholz betreffs der Petroleumkannen-Angelegenheit hat mein Herr Mitverteidiger bereits erschöpfende Ausführungen gemacht. Bezüglich der beiden Lesheim ist der Alibibeweis vollständig als gelungen zu erachten. Drei klassische Zeugen haben übereinstimmend bekundet: Leo Lesheim sei zur Zeit, als er in Gemeinschaft seines Vaters die vielfach erwähnte Manipulation mit einem Stuhle am Synagogenfenster gemacht haben soll, bei ihnen gewesen, um Krankenkassenbeiträge einzuziehen. Gegen diese Zeugen könnte bloß sprechen, daß sie jüdischer Religion sind. Das gesamte Auftreten des Zeugen Angermann wird Sie von seiner Unglaubwürdigkeit vollständig überzeugt haben. Ich habe wohl kaum nötig, diesen Zeugen noch des näheren zu charakterisieren. 2 1/2 Jahre lang hielt der Zeuge, obwohl zweimal gerichtlich vernommen, mit seinen Angaben zurück und bekundete, an Lesheim nichts Auffälliges bemerkt zu haben. Jetzt tritt er nun mit ganz anderen Wahrnehmungen hervor, die ihn so aufgeregt haben, daß er sich heute vor Erregung noch nicht fassen kann. Ich muß gestehen, ich habe schon häufig in Kriminalsachen verteidigt, ein Verhalten, wie das der Angeklagten ist mir jedoch bei Verbrechern noch niemals vorgekommen. Wer die Vernehmung der Angeklagten mit angehört hat, der mußte zu der Annahme gelangen: Die Angeklagten sind nicht eines so schweren Verbrechens angeklagt, sondern stehen als klassische Zeugen vor Gericht. Der Verteidiger diger ging noch des näheren auf die Einzelheiten der Beweisaufnahme ein und schloß: Meine Herren Geschworenen! Ich lege das Schicksal der Angeklagten, gleich meinem Herrn Mitverteidiger, vertrauensvoll in Ihre Hände. Sie werden auf Grund des vorliegenden Beweismaterials, des bin ich gewiß, bisher unbestrafte Leute nicht eines solchen Verbrechens für schuldig erachten.

Staatsanwalt Pinoff: Ich muß es zurückweisen, daß die Staatsanwaltschaft lediglich deshalb die Anklage erhoben hat, um die Angelegenheit zur Erledigung zu bringen. Wenn von dieser Stelle aus eine Anklage erhoben und aufrechterhalten wird, dann geschieht es, weil die Staatsanwaltschaft von der Schuld der Angeklagten überzeugt ist. Die Art, wie die Verteidigung die Zeugen angegriffen hat, ist für mich ein neuer Beweis, daß die Zeugen zu entschuldigen sind, wenn sie mit ihren Angaben gezögert haben. Der Staatsanwalt ging alsdann nochmals auf die einzelnen Zeugenaussagen ein. Die Verteidigung habe eine Anzahl Momente angeführt, die er (Staatsanwalt) unterlassen habe und die für die Beurteilung der vorliegenden Frage recht unerheblich seien. Er ersuche nochmals die Herren Geschworenen, die Ruchlosigkeit des vorliegenden Verbrechens nicht ungesühnt zu lassen. Der Schuldbeweis sei hinlänglich erbracht, und er sei überzeugt, die Geschworenen werden zu einem Schuldig dig gelangen.

Nach einer kurzen Erwiderung des Justizrats Scheunemann nahm noch einmal das Wort Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello: Ich will ebenso kurz sein, als ich vorhin lang sein mußte. Daß dem Herrn Staatsanwalt bisher Bedenken aufgestiegen sind, ebenso wie wir im Laufe der Verhandlung bisweilen Bedenken gehabt haben, ist wohl zweifellos. Ich habe noch niemals für die Freisprechung eines Angeklagten plädiert, wenn ich nicht von seiner Unschuld überzeugt war. Ich habe dasselbe Recht wie der Herr Staatsanwalt, meine Überzeugung auszusprechen, ob ich die Angeklagten für schuldig oder unschuldig halte. Die Nebenmomente, von denen der Herr Staatsanwalt sprach, füllten einen sehr großen Teil unserer Verhandlungen aus, und es wurde ihnen, ganz besonders dem ominösen Brande in dem Heidemannschen Kleiderspinde, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gerichtssaales eine sehr große Bedeutung beigelegt. Den Beweis hierfür haben die vielen eingelaufenen Telegramme geliefert. Es ist auch weniger Aufgabe der Verteidigung, auf die Ausführungen des Staatsanwalts einzugehen, sie hat es vielmehr hauptsächlich mit dem vorhandenen Beweismaterial zu tun. Das Recht, die Aussagen der Zeugen anzugreifen, ihr Zeugnis erschüttern zu suchen, ist das heiligste Recht der Verteidigung, das ich mir niemals auch nur im mindesten verkümmern lassen werde. Der Verteidiger ging noch des näheren auf die Einzelheiten der Anklage ein und schloß: Ich richte nochmals das dringende Ersuchen an Sie, meine Herren Geschworenen, sprechen Sie die Angeklagten frei, denn es liegt nicht der mindeste Beweis einer Schuld vor. Würden Sie zu einem entgegengesetzten Wahrspruch gelangen, den ich jedoch für unmöglich halte, dann dürfte dies zur Herbeiführung des konfessionellen Friedens wenig beitragen. Es dürfte alsdann nicht ausbleiben, daß die Juden sagen werden, das haben uns die bösen Antisemiten getan.

Die Angeklagten versicherten sämtlich ihre Unschuld.

Der Vorsitzende erteilte hierauf die Rechtsbelehrung, worauf die Geschworenen in Beratung traten. Nach einstündiger Beratung verkündete der Obmann, Regierungsrat Delsa (Köslin) folgenden Wahrspruch: Die Angeklagten sind von der vorsätzlichen Brandstiftung sämtlich freizusprechen, dagegen sind bezüglich der Heidemann die Fragen ad 3: Von einem Verbrechen zu einer Zeit, in welcher die Verhütung noch möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten und es unterlassen zu haben, der Behörde rechtzeitig Anzeige zu machen, die Frage ad 2: Sind die Angeklagten schuldig, dem Täter zur Begehung des Verbrechens durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben, bezüglich der beiden Lesheim bejaht worden. Bezüglich des Leo Lesheim ist es verneint worden, daß dieser die erforderliche Einsicht besessen hat. Bezüglich des Löwenberg sind alle Schuldfragen verneint worden.

Der Staatsanwalt beantragte gegen die Heidemann, Vater und Sohn, je ein Jahr Gefängnis, gegen Lesheim sen. fünf Jahre Zuchthaus, gegen Leo Lesheim Überweisung an eine Besserungsanstalt und gegen Löwenberg Freisprechung. Die Verteidiger verzichteten auf jede weitere Äußerung.

Darauf zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück.

Die Angeklagten, sowie deren anwesende Frauen und Kinder brachen in lautes Weinen und Wehklagen aus. Die Angeklagten versicherten wiederholt ihre volle Unschuld.

Es herrschte in dem überfüllten Saale eine furchtbare Aufregung. Nach ziemlich langer Beratung erkannte der Gerichtshof gegen Heidemann sen. auf drei Monate Gefängnis, gegen Heidemann jun. auf sechs Monate Gefängnis, gegen Lesheim sen. auf vier Jahre Zuchthaus und vier Jahre Ehrverlust, gegen Lesheim jun. auf Überweisung an eine Besserungsanstalt und gegen Löwenberg auf Freisprechung. Bei Abmessung der Strafe – so äußerte der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Buhrow – ist als erschwerendes Moment die Absicht in Betracht gezogen worden, die Schuld des Verbrechens den Christen in die Schuhe zu schieben. Ein anderes Motiv hat die Untersuchung nicht ergeben. Den Angeklagten sind die Kosten des Verfahrens zur Last zu legen. Ferner hat der Gerichtshof beschlossen, den Angeklagten Lesheim sen. sofort in Haft zu nehmen.

Gegen dies Urteil legte R.-A. Dr. Sello Revision ein.

Die Sache gelangte am 4. Januar 1884 vor dem zweiten Strafsenat des Reichsgerichts zur Verhandlung. Den Vorsitz führte Reichsgerichts-Senatspräsident Drenkmann. Die Reichsanwaltschaft vertrat Reichsanwalt Dr. v. Wolff. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. Sello (Berlin) und Justizrat Dr. Lüntzel (Leipzig). Nachdem R.-A. Dr. Sello eine Anzahl in der Kösliner Schwurgerichtsverhandlung vorgekommener Rechtsverletzungen begründet hatte, die die Aufhebung des Urteils nötig machten, schloß der Verteidiger:

Ich will zum Schluß mir nur noch erlauben, mit ganz kurzen Worten einige Verhältnisse zu berühren, die mit mir wohl jeder Vaterlandsfreund aufs tiefste beklagen wird. Es wird auch dem hohen Gerichtshofe nicht unbekannt sein, daß seit einigen Jahren einige Gegenden unseres Vaterlandes von einer Krankheit infiziert sind, die ich hier nicht näher bezeichnen will, von der aber ganz besonders die Provinz Pommern und hauptsächlich der Teil der Provinz heimgesucht ist, in dem die Hauptverhandlung stattgefunden hat. Der hohe Gerichtshof wird mir beistimmen, daß unter solchen Verhältnissen ein Schwurgericht und wäre es selbst aus lauter jüdischen Geschworenen gebildet, nicht imstande ist, in dem vorliegenden Falle ein objektives Urteil zu fällen. Ich würde den hohen Gerichtshof ersuchen, wenn er, woran ich nicht zweifle, meinen Prinzipalantrag akzeptiert, die Verhandlung vor das benachbarte Schwurgericht Stargard zu verweisen. Das ebenfalls benachbarte Schwurgericht zu Stolp würde, wie Tatsachen lehren, ebensowenig zur Abgabe eines unparteiischen Urteils geeignet sein, als das Schwurgericht Köslin. Ich beantrage daher ganz ergebenst: das Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweiten Entscheidung an das Schwurgericht zu Stargard zu verweisen.

Justizrat Dr. Lüntzel: Nach der ausführlichen Rede meines Herrn Kollegen kann ich mich kurz fassen. Ich bin allerdings der Meinung, daß der Zeuge Kleefeldt, der einmal in Bausachen vereidigt worden ist, von neuem einen Sachverständigeneid hätte leisten müssen. Von vollkommen durchschlagender Bedeutung erachte ich auch die sub 10 erwähnten unstatthaften Verlesungen. Eine solche Praxis würde unser gesamtes mündliches Verfahren vollständig überflüssig machen; chen; es würde alsdann nur nötig sein, die Zeugenaussagen zu verlesen, um ein Urteil zu fällen. Der hohe Gerichtshof wird mir beistimmen, daß das gerügte Verfahren eine Herabwürdigung des Prinzipes des Mündlichkeit in sich schließt. Das gerügte Verfahren ist aber um so schlimmer, wenn man die schwüle Atmosphäre, die in jener Gegend herrscht, in Betracht zieht, wenn man erwägt, daß der Chorus des Publikums auf Grund von Zeitungsberichten usw. unaufhörlich in die Verhandlung eingriff. Wenn nun diese Skripta vom Vorsitzenden in öffentlicher Sitzung mitgeteilt worden sind, dann ist es gewiß dringend geboten, das Urteil zu vernichten und die Sache von einem objektiven Schwurgerichtshofe nochmals prüfen zu lassen.

Reichsanwalt Dr. v. Wolff: Ich erachte lediglich den Punkt 7 der Revisionsschrift für ausschlaggebend. Alle übrigen in der Revisionsschrift angeführten Punkte sind zur Vernichtung des Urteils nicht geeignet. Es ist wohl statt, haft, den Inhalt von eingegangenen Schreiben mitzuteilen. Solange nicht feststeht, daß die Briefschreiber ihre mitgeteilten Wahrnehmungen beeidigt haben, können sie für die Beurteilung der Sache nicht von Einfluß sein. Bezüglich des Punktes 7 liegt allerdings eine Rechtsverletzung vor. Ich beantrage daher: die Vernichtung des Urteils und die Sache zur anderweiten Entscheidung an das Schwurgericht zu Konitz zu verweisen.

Nach längerer Beratung verkündete Senatspräsident Drenkmann: Der Senat hat beschlossen: das Urteil des Schwurgerichts zu Köslin in Sachen Heidemann und Genossen aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Entscheidung an das Königliche Landschwurgericht zu Konitz zu verweisen. Der Senat hat, mit Ausnahme des Punktes 7, alle von der Verteidigung angeführten Revisionsgründe für hinfällig erachtet. Es ist aktenmäßig nicht erwiesen, daß der von dem Zeugen Kleefeldt geleistete Sachverständigeneid ein unzulänglicher war. Eine Verlesung von Telegrammen und Briefen ist allerdings in der Hauptverhandlung nicht zulässig, dagegen ist es statthaft, von dem Inhalt solcher Schreiben Mitteilung zu machen. Lediglich das letztere ist geschehen. Dagegen steht es aktenmäßig fest, daß der Zeuge Engel über das ihm zustehende Recht, die Beeidigung seines Zeugnisses verweigern zu dürfen, nicht belehrt worden ist. Wenn auch Engel zweifellos zugunsten des Gustav Heidemann ausgesagt hat, so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß er zuungunsten der übrigen Angeklagten etwas bekundet und infolge seiner Vereidigung das Urteil der Geschworenen beeinflußt hat. Lediglich aus diesem rechtlichen Gesichtspunkte mußte, wie geschehen, erkannt werden.

Am 29. Februar 1884 gelangte die Sache vor dem Schwurgericht Konitz zur nochmaligen Verhandlung. Den Gerichtshof bildeten Landgerichtsrat Arndt (Danzig) Vorsitzender, Landrichter v. Kaltenborn und Gerichtsassessor Dr. Kayser (Beisitzende). Die Staatsanwaltschaft vertrat Erster Staatsanwalt Schlingmann; die Verteidigung führten Justizrat Makower und Rechtsanwalt Dr. Sello (Berlin), Justizrat Scheunemann (Neustettin) und Rechtsanwalt Meibauer (Konitz). Gleich nach dem Erscheinen des Gerichtshofes wurden die Angeklagten eingeführt. Der in Köslin in Haft genommene Lesheim sen. halte sich seit dieser Zeit furchtbar verändert. Der erst 40 Jahre alte Mann war fast grau geworden.

Nach Bildung der Geschworenenbank nahm der Vorsitzende mit dem Angeklagten Heidemann sen. eine sehr eingehende Vernehmung vor.

Vors.: Wie oft fanden gottesdienstliche Versammlungen in der Synagoge statt?

Angekl.: Jeden Freitagabend und Sonnabend vormittags regelmäßig; außerdem fand an Wochentagen Frühgottesdienst statt, wenn eine Beschneidung vorgenommen werden sollte oder irgendein Gemeindemitglied den Todestag seiner Eltern durch gottesdienstliche Handlungen begehen wollte.

Vors.: War in der Woche, in der der Brand stattfand, Gottesdienst im Tempel?

Angekl.: Das ist möglich, ich erinnere mich aber nicht mehr.

Vors.: Wurde bei jeder gottesdienstlichen Handlung im Tempel Licht gebrannt?

Angekl.: Nein, die Lichter wurden nur angezündet, wenn es erforderlich war.

Vors.: Wurden die Lichter angezündet, wenn an Wochentagen Frühgottesdienst stattfand?

Angekl.: Nein, das brauchte schon deshalb nicht zu geschehen, da wir Juden unser Morgengebet, ehe der Tag angebrochen, nicht verrichten dürfen.

Vors.: Es wird nun behauptet, Sie hätten einem Ihrer Bediensteten einige Tage vor dem Brande den Auftrag erteilt, das in Ihrem Hofe aufgestapelte Holz abzutragen und aus dem Zaune, der gewissermaßen eine Scheidewand zwischen Ihrem Hofe und der Synagoge bildete, zwei Latten auszubrechen, um so einen bequemeren Zugang zu der Synagoge zu haben?

Angekl.: Das bestreite ich ganz entschieden.

Vors.: Was taten Sie an dem Freitagvormittag, an dem der Brand stattfand?

Angekl.: Etwa gegen elf Uhr kam Lehrer Hübner in meine Wohnung und sagte, daß aus dem Tempel dicker Qualm dringe. Ich besaß einen Reserveschlüssel zur Synagoge; mit diesem begab ich mich eiligst in Begleitung des Hübner hinunter und schloß die Synagoge auf; ich vermochte jedoch bloß bis in die Vorhalle zu gelangen, denn der Innenraum des Tempels war mit dickem Qualm angefüllt. Ich lief mit Hübner eiligst aus der Vorhalle, lief um die Synagoge herum und sah auch sehr bald helle Flammen aus dem Inneren des Tempels herausschlagen.

Vors.: Es wird behauptet, daß Sie furchtbar gezittert haben, als Sie zum Untersuchungsrichter geladen und beschuldigt wurden, die Synagoge angezündet zu haben?

Angekl: Daß ich gezittert habe, gebe ich zu; ich leide schon seit fünfzehn Jahren an heftigem Gliederzittern.

Vors.: Die Flammen ergriffen auch Ihr Gebäude?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie ließen aus Ihrer Wohnung die Sachen hinunterräumen, und als Ihr Kleiderspind auf die Straße gesetzt war, bemerkte man, daß es in diesem ebenfalls brenne; wie erklären Sie sich das?

Angekl.: Die Spindtür war sehr locker; es ist möglich, daß Feuerfunken durch die Fugen der Spindtür geflogen sind.

Vors.: Es wird behauptet, Sie hätten auch beabsichtigt, Ihr eigenes Grundstück in Brand zu setzen?

Angekl.: Dazu fehlt mir jeder Grund; denn ich war sehr schlecht versichert.

Vors.: Es wird im weiteren behauptet, daß Sie auch die Synagoge in Brand gesetzt haben?

Angekl.: Dazu hatte ich absolut keine Veranlassung. sung. Es ist zu erwägen, daß mein niedrig versichertes Besitztum dicht neben der Synagoge belegen war, ich somit gefährdet gewesen wäre, mein Besitztum zu verlieren. Außerdem war eine achtjährige Enkelin zu jener Zeit gerade schwer krank. Da wir anläßlich des Feuers genötigt waren, das Kind aus dem Bette zu reißen und es in die Wohnung einer befreundeten Familie zu bringen, so ist das Kind auch jedenfalls infolge des Feuers am folgenden Tage gestorben.

Heidemann jun. bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Mein Vater leidet etwas an Gedächtnisschwäche; bei den Frühgottesdiensten, die an Wochentagen stattfanden, wurden stets Lichter, allerdings nur am Altar, angezündet. Im weiteren schließe ich mich im allgemeinen den Ausführungen meines Vaters an. Ich bestreite die mir zur Last gelegte Handlung. Unser Grundstück, das eigentlich jetzt ausschließlich mein Eigentum ist, ließ ich etwa fünf Jahre vor dem Brande mit 11175 Mark versichern. Etwa zwei Jahre vor dem Tempelbrande ließ ich mein Grundstück renovieren, diese Instandsetzung kostete mich etwa 10 bis 1200 Mark; ich ließ jedoch die Versicherung nicht erhöhen. Mein Mobiliar war mit 6949 Mark und meine Handelswaren (Felle), die zur Zeit des Brandes einen Wert von etwa 9000 Mark repräsentierten, waren mit 3000 Mark versichert. Von den Fellen ist nichts verbrannt, dagegen wurde mein Haus und viele Möbel arg beschädigt, und eine große Anzahl von wertvollen Möbeln kam mir abhanden. Ich erhielt 3000 Mark Entschädigung von der Feuerversicherungs-Gesellschaft, ich hatte aber trotzdem einen Schaden von 1500 Mark.

Vors.: Die jüdische Gemeinde in Neustettin soll zur Zeit sehr arm gewesen sein?

Angekl.: Das ist richtig.

Vors.: Die abgebrannte Synagoge soll ein sehr klappriges Gebäude gewesen sein?

Angekl.: Nach dem Ausbau war das Aussehen ein besseres.

Vors.: Es wird behauptet, auch nach dem Ausbau wäre das Gebäude äußerlich nicht viel besser geworden.

Angekl.: Das ist wohl wahr, allein es genügte jedenfalls den erforderlichen Zwecken.

Vors.: Sie gehörten zur Zeit des Brandes zu den Repräsentanten der Neustettiner jüdischen Gemeinde?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Die jüdische Gemeinde beabsichtigte aber doch einige Jahre vor dem Brande, einen neuen Tempel zu bauen; es ist auch zum Bau eines neuen Tempels ein Bauplatz angekauft worden?

Angekl.: Das ist richtig; die Gemeinde war aber zum Bau eines neuen Tempels außerstande, deshalb wurde der Bauplatz wieder verkauft und der Ausbau des Tempels beschlossen.

Vors.: Woher nahm die Gemeinde das Geld zu dem Ausbau?

Angekl.: Aus dem Erlös, der durch den Verkauf des Bauplatzes erzielt wurde.

Vors.: Wann sind Sie vor dem Brande das letztemal in der Synagoge gewesen?

Angekl.: Am Sonnabend vor dem Brande.

Vors.: Haben Sie vor dem Brande den Buchholz beauftragt, das auf ihrem Hofe aufgestapelte Holz abzutragen und aus dem Bretterzaune zwei Latten herauszubrechen, um sich so vom Hofe aus einen Weg zur Synagoge zu bahnen?

Angekl.: Das bestreite ich ganz entschieden.

Vors.: Es wird behauptet, Sie hätten den Tempel in Brand gesteckt?

Angekl.: Wenn jemand ein todkrankes Kind hat, dann wird er wohl nicht ein Gebäude in Brand stecken, das dicht neben seinem eigenen belegen ist.

Vors.: Erinnern Sie sich, daß, als Sie auf den Synagogenplatz kamen, Ihnen ein Mann, namens Schmidt, begegnete? Sie sollen zu dem Manne gesagt haben: „Was wollen Sie hier? Machen Sie, daß Sie fortkommen!

Angekl.: Das ist nicht wahr.

Vors.: Sie sollen ebenfalls, gleich Ihrem Vater, einen Fensterflügel ausgehängt gesehen haben?

Angekl.: Jawohl, aus diesem Umstande schloß ich die Vermutung, daß das Feuer angelegt sei.

Vors.: Hatten Sie bestimmte Verdachtsgründe gegen jemanden?

Angekl.: Nein.

Vors.: Sie sollen doch, gleich Ihrem Vater, gesagt haben: Das Feuer ist von Christen angelegt?

Angekl.: Das ist nicht wahr.

Vors.: Angeklagter Hirsch Heidemann: Sie sollen gesagt haben, das Feuer haben die Christen angelegt?

Angekl.: Wie konnte ich wohl so etwas sagen!

Der Angeklagte Lesheim sen. erzählte mit großer Weitschweifigkeit, was er am Vormittage des Brandes begonnen. Gegen elf Uhr vormittags sei sein Sohn Leo zu ihm ins Arbeitszimmer gestürzt mit dem Rufe: „Die Synagoge brennt!“ Er habe sich eiligst auf die Brandstätte begeben und dort die beiden Heidemann, den Lehrer Hübner und andere getroffen. Da bis dahin nur dicker Qualm aus der Synagoge drang, so zog er sich an einem offenstehenden Fenster in die Höhe, um zu sehen, ob es noch möglich sei, die Gesetzesrollen und einige Gebetmäntel zu retten.

Vors.: Besitzen Sie denn eine solche Gewandtheit?

Angekl.: Jawohl, ich bin Mitglied des Neustettiner Turnvereins.

Vors.: Es wird behauptet, daß Sie sich nicht in die Höhe gezogen, sondern einen Stuhl geholt, auf den Sie sich gestellt haben. Ihr Sohn Leo soll den Stuhl getragen haben?

Angekl.: Das ist nicht wahr.

Vors.: Es wird behauptet, daß Sie am Tage des Brandes mit einer Blechkanne, die zu Petroleum benutzt zu werden pflegte, in den Tempel gegangen sind?

Angekl.: Das ist nicht wahr.

Vors.: Haben Sie eine andere Kanne besessen, mit der Sie bisweilen über die Straße gegangen sind?

Angekl.: Jawohl, ich besaß eine irdene Kanne, in der ich bisweilen des Morgens Milch holte.

Vors.: Haben Sie etwa einen Doppelgänger in Neustettin?

Angekl.: Jawohl, mein Bruder in Neustettin sieht mir zum Verwechseln ähnlich.

Vors.: Besitzt die Gemeinde überhaupt Petroleumkannen?

Angekl.: Jawohl, es wurde im Winter stets Petroleum in der Religionsschule gebrannt, und auch im Tempel selbst wurde in früheren Jahren Petroleum gebrannt.

Vors.: Wo standen diese Kannen?

Angekl.: Das weiß ich nicht, seit 1880 bin ich nicht mehr Tempeldiener.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden äußerte der Angeklagte noch: Er habe, als er auf die Brandstätte stätte kam, die Umstehenden sehr bald gefragt, ob er Feuer rufen solle. Als ihm dies bejaht wurde, habe er sofort Feuer gerufen, und unter fortwährendem Rufen sei er auf den Marktplatz gelaufen, um die Spritzen zu holen. Vor der Rathaustür habe er den Stadtkämmerer getroffen und diesen von dem Feuer benachrichtigt. Auf dem Marktplatz haben ihm einige Leute zugerufen: „Was ist denn dabei, wenn der Judentempel brennt?“

Es sei unwahr, daß er zu jemandem geäußert habe: „Die Christen haben den Tempel angesteckt.“

Leo Lesheim äußerte sich in ähnlicher Weise wie sein Vater. Er habe an jenem Freitagvormittag im Auftrage seines Vaters Beiträge für den jüdischen Krankenverein einkassiert. Etwa gegen 11 1/2 Uhr vormittags habe er auf dem Marktplatze gehört, daß die Synagoge brenne. Er habe eiligst seinen Vater davon benachrichtigt und sei mit diesem sofort zur Brandstätte geeilt. Die Behauptung, daß er einen Stuhl getragen habe, bestreite er.

Ingenieur Schreiber: Als die Synagoge ausgebaut war – etwa zwei Jahre vor dem Brande – sah sie ganz gut aus; sie entsprach auch bezüglich der Sitze allen Anforderungen der Gemeinde. Die Synagoge hatte inkl. des Gestühls usw. einen Wert von 7500 Mark; die Kronleuchter usw. waren in dieser Wertsumme jedoch nicht mitgerechnet. Wie hoch der Tempel nach dem Ausbau versichert war, weiß ich nicht, ebensowenig wie hoch das Heidemannsche Grundstück versichert war. Es ist mir jedoch erinnerlich, daß die Versicherungssumme dem Werte vollständig entsprach.

Vors.: Wie erklären Sie sich die Entstehungsursache des Feuers?

Sachverst.: Ich nehme an, daß es durch Fahrlässigkeit entstanden ist.

Vors.: Woraus schließen Sie das?

Sachverst.: Es wurde ja damals mehrfach die Behauptung aufgestellt, die Christen hätten das Feuer angesteckt. Mir schien es jedoch von vornherein, daß das Feuer durch Unvorsichtigkeit entstanden ist. Ich nahm Terpentingeruch wahr und glaubte infolgedessen um so mehr an eine Fahrlässigkeit, da die Bänke in der Synagoge mit Terpentinfarbe gestrichen waren.

Vors.: Haben Sie Petroleumgeruch wahrgenommen?

Sachverst.: Nein.

Vert. R.-A. Dr. Sello: Haben Sie, als Sie die Brandstätte untersuchten, irgendeine Wahrnehmung gemacht, die auf einen künstlichen Brandherd schließen ließ?

Sachverständiger: Nein.

Dr. Sello: Haben Sie von jemandem gehört, daß es bei dem Brande nach Petroleum gerochen habe?

Sachverständiger: Nein.

Dr. Sello: Hat Ihnen einer Ihrer Arbeiter irgendeinen auf der Brandstätte vorgefundenen Gegenstand gebracht, aus dessen Befund zu schließen war, daß er mit Petroleum oder sonst einer brennbaren Flüssigkeit getränkt war?

Sachverständiger: Nein.

Kreis-Bauinspektor Kleefeldt: Er habe Petroleumgeruch nicht wahrgenommen, allein er habe die Überzeugung, daß das Feuer vorsätzlich angelegt war. Dies schließe er einmal aus dem Umstande, daß so wenig Reste von den verbrannten Sachen vorgefunden wurden, daß das Feuer mit so großer Schnelligkeit um sich griff, und das verheerende Element sich sofort über alle Teile des Tempels verbreitete. Das Feuer entstand gegen 11 1/4 Uhr, und bereits gegen 12 Uhr war das ganze Gebäude total, einschließlich der Dielen, niedergebrannt. Es ist zu erwägen, daß die Synagoge nicht unterkellert war. Feuer brennt stets nach oben, niemals aber nach unten; auch kann sich Feuer gewöhnlich nicht so ausbreiten, wie es bei jenem Brande geschehen ist. Aus allen diesen Umständen schließe er, daß der ganze Fußboden mit einer brennbaren Flüssigkeit getränkt gewesen sei.

Sachverständiger Regierungsbaurat Benoit (Köslin): Auf Grund dieses Gutachtens kann ich noch nicht sagen, daß die Brandstiftung eine vorsätzliche gewesen ist.

Ingenieur Schreiber: Ich kann dem Gutachten des Herrn Sachverständigen Kleefeldt nicht beipflichten. Einmal lag unter den Dielen eine drei Zoll dicke Holzschicht, und das andere Mal fielen die eingehauenen Wände auf den Fußboden, in welcher Folge es sehr natürlich ist, daß das Feuer den gesamten Fußboden erfaßte.

Regierungsbaurat Benoit: Diese Bekundung des Ingenieurs Schreiber macht es erklärlich, daß der gesamte Fußboden abgebrannt ist.

Die Frage des J.-R. Makower, ob Petroleum die totale Verbrennung von Holzgegenständen bedinge, beantworteten die Sachverständigen mit nein. Darauf wurde die von dem Bauinspektor Kleefeldt am 24. Februar 1881 vor dem Staatsanwalt abgegebene Aussage verlesen. Danach hat der Sachverständige damals gesagt: Der Fußboden war in der Nähe des Allerheiligsten total verbrannt, teilweise sogar das Fußbodenlager verkohlt.

Vors.: Herr Regierungsbaurat Benoit! Haben Sie nach dieser Bekundung an Ihrem Gutachten etwas zu ändern?

Sachverständiger: Nein, die vorgelesene Bekundung bestätigt ja nur mein Gutachten. Der Fußboden in der Nähe des Allerheiligsten, wo jedenfalls der Herd des Feuers war, ist vollständig verbrannt; daraus geht noch nicht hervor, daß der Fußboden mit einer brennbaren Flüssigkeit imprägniert war.

Zimmermeister Reinke (Neustettin): Die abgebrannte Synagoge in Neustettin hatte vor ihrem Ausbau höchstens einen Wert von 1000 Mark. Ich verstehe darunter allerdings nur das Gebäude, ohne das Gestühl, Gerätschaften usw.

Ingenieur Schreiber: Es kommt darauf an, nach welchen Grundsätzen man eine Taxe macht. Wenn man den Kaufwert taxiert, dann kann man zu jener Schätzung gelangen. Ich schätze den Wert jedoch, mit Rücksicht auf das zum Ausbau geeignete Gebäude, auf 3000 Mark. Es ist etwas wesentlich anderes, ob man ein Gebäude mit Rücksicht auf einen vorzunehmenden Ausbau oder nach dem einfachen Kaufwert taxiert.

Maurermeister Neubauer (Neustettin) bezeichnete ebenfalls den Wert der abgebrannten Synagoge vor geschehenem Ausbau, und zwar ausschließlich das Gebäude ohne Gestühl, Materialien usw., auf 3000 Mark.

Regierungs-Feldmesser Zwick (Neustettin): Ich war zur Zeit des Synagogenbrandes Agent der Stettiner National-Feuer-Versicherungsgesellschaft, bei der Heidemann zur Zeit versichert war. Wie hoch die Versicherungssumme sich belief, weiß ich nicht mehr. Ob die Versicherung eine angemessene war, weiß ich auch nicht, da ich von Gebäuden nicht Fachkenner bin. Allein ich habe mich überzeugt, daß die dem Heidemann gehörenden Felle viel zu niedrig versichert waren. Heidemann erhielt für Beschädigung des Gebäudes, Mobiliarversicherung usw. im ganzen 3000 Mark Entschädigung von der Gesellschaft. Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte der Zeuge: Als er das Feuer von der Nisydopbrücke sah, brannte das ganze Dach der Synagoge von allen Seiten lichterloh.

Auf Befragen des Verteidigers Rechtsanwalts Dr. Sello bekundete der Zeuge noch: Die beiden Heidemann seien ihm als sehr redliche Leute bekannt.

Tischlermeister Schuhkraft: Er habe zur Zeit die Fenster der abgebrannten Synagoge angefertigt. Ein Teil der Fenster konnte nur von innen, ein Teil aber auch, und zwar mit großer Leichtigkeit, von außen geöffnet und auch ausgehoben werden.

Glasermeister Geisenberg bestätigte diese Bekundung. Er wolle noch bemerken, daß er die vielerwähnten Kirchenleuchter von Wolf Rosenberg aus Bärwalde nach Neustettin gebracht habe. Das sei einige Wochen nach dem Brande gewesen. Rabbiner Dr. Hoffmann (Neustettin) bekundete auf Befragen: Die Thora gilt jedem Juden, auch denen, die sich von den Zeremonien losgesagt haben, als Heiligtum. Eine Beschädigung der Thora hat ihre Unbrauchbarkeit zur Folge.

Am zweiten Verhandlungstage wurde die am 24. Februar 1881 vor dem Staatsanwalt zu Neustettin abgegebene gegebene Aussage des Bauinspektors Kleefeldt verlesen. Danach hatte Kleefeldt damals bekundet: Er habe, als er am 20. Februar 1881 die Brandstätte besichtigte, fast ausschließlich Steine, einige verkohlte Balken, mehrere Reste von Petroleumlampen und eine unversehrte hölzerne Schwelle gefunden.

Maurergeselle Bumke, der mit den Aufräumungsarbeiten auf der Brandstätte beschäftigt war, bestätigte im wesentlichen die Bekundungen des Kleefeldt. Im weiteren bemerkte er: Er habe eine Anzahl Blätter, anscheinend aus Gebetbüchern stammend, vorgefunden, die sehr nach Petroleum rochen.

Vors.: Woraus schlossen Sie, daß es Petroleumgeruch war?

Zeuge.: Die Blätter waren so fettig.

Vors.: Aus diesem Umstande schlossen Sie, daß die Blätter mit Petroleum getränkt waren?

Zeuge: Nein, es roch nach Petroleum.

Vors.: Ist es möglich, daß dieser Geruch von irgendeiner anderen Fettigkeit herrührte?

Zeuge: Nein, es war Petroleumgeruch.

Vors.: Sie waren zugegen, als der Tempel brannte; roch es da auch schon nach Petroleum?

Zeuge: Ich konnte es nicht riechen, allein es wurde allgemein gesagt, es rieche nach Petroleum.

Vors.: Haben Sie sich durch diese Äußerungen irgendwie beirren lassen?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sie haben auch Schlösser gefunden?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Was taten Sie mit den Schlössern?

Zeuge: Ich ging zu Herrn Löwe und verlangte Bezahlung für die Aufräumungsarbeiten; da dieser jedoch nicht bezahlen wollte, ging ich zu Jacoby und verkaufte die Schlösser als altes Eisen.

Vors.: Waren Sie denn dazu berechtigt?

Zeuge: Ja, Herr Löwe wollte mir doch nicht bezahlen.

Maurer Klatt: Er habe sich ebenfalls an den Aufräumungsarbeiten beteiligt und dabei eine Anzahl Gebetbuchreste gefunden. Diese Blätter waren weder fettig, noch rochen sie nach Petroleum. Auch Kronleuchter habe er auf der Brandstätte gefunden. Petroleumgeruch habe er in keiner Weise wahrgenommen.

Vors.: Nun, Bumke, was sagen Sie dazu?

Bumke: Ich kann nur sagen, daß ich Petroleumgeruch wahrgenommen habe; es wurde auch allgemein davon gesprochen.

Maurer Dorow: Ich habe mich ebenfalls an den Aufräumungsarbeiten beteiligt und dabei Petroleumgeruch nicht wahrgenommen. Ich habe u.a. vier unversehrte Petroleumlampen gefunden. Im weiteren muß ich bemerken, daß ich in Köslin etwas nicht gesagt habe, weil ich nicht wußte, daß es darauf ankommt. kommt. Ich habe gesehen, daß in dem Stalle von Heidemann viel Holz gepackt war.

Vors.: Das ist ja ganz neu, wie kommen Sie jetzt darauf?

Zeuge: Ich wußte in Köslin nicht, daß es darauf ankommt.

Vors.: Wer hat Ihnen gesagt, daß es darauf ankommt?

Zeuge: Der Schuhmacher Greiser hat mich darauf aufmerksam gemacht.

Vors.: Sagte Ihnen Greiser: Das mußt du noch sagen?

Zeuge: Nein, ich habe so im allgemeinen Gespräch gehört, daß es darauf ankommt.

Vors.: Nun, wieviel Holz lag wohl im Stalle?

Zeuge: Etwa drei bis vier Klafter.

Vors.: Das muß ja schon sehr viel gewesen sein?

Zeuge: Ja, es war eine ganze Masse.

Vors.: Wann sahen Sie das Holz?

Zeuge: Am Sonnabendnachmittag nach dem Brande.

Angekl. Heidemann jun.: Der Zeuge spricht vollständig die Unwahrheit; weder vor noch nach dem Brande war Holz in meinem Stalle aufgestapelt. Am Sonnabend nach dem Brande war mein Stall noch mit Möbeln und Fellen vollgepackt. Im übrigen war der Stall verschlossen, der Zeuge konnte also die Wahrnehmung nehmung absolut nicht machen. Der Fleischergeselle Backhaus in Neustettin, der mir half, die Möbel und Felle in den Stall packen, wird meine Behauptungen bestätigen. Im übrigen kann ich mitteilen, daß Greiser dem Zeugen im Zeugenzimmer in Köslin gesagt hat, er solle bekunden, daß in dem Stall bei mir Holz aufgestapelt war.

Vors.: Wer hat das gehört?

Heidemann: Meine Frau.

Auf Antrag des Verteidigers Rechtsanwalts Dr. Sello beschloß der Gerichtshof, den Fleischergesellen Backhaus telegraphisch als Zeugen zu laden.

Maurer Wischnewski: Er habe bereits am Sonnabend nach dem Brande auf der Brandstätte aufgeräumt und dort einige Reste von Sparren, eine Kasse, in der jedoch kein Geld enthalten war, geschmolzenes Metall, Schlösser und einige Gebetbuchreste gefunden. Petroleumgeruch habe er in keiner Weise wahrgenommen.

Vors.: Bereits am Sonnabend nach dem Brande nahmen Sie Aufräumungsarbeiten vor?

Zeuge: Ja.

Vors.: Am Sonnabend war ja noch Glut, da konnten Sie doch noch nicht aufräumen?

Zeuge: Dann war es am Sonnabend darauf.

Vors.: Aber wenn Sie derartig mit einer Woche herumwerfen, wo bleibt da Ihr Eid?

Zeuge: So genau weiß ich das nicht mehr.

Vors.: Rauchte es auf der Brandstätte noch?

Zeuge: Jawohl, es rauchte noch sehr.

Vors.: Dann wollten Sie wohl auf der Brandstätte stehlen?

Der Zeuge schwieg.

Staatsanwalt: Haben Sie auch des Nachts auf der Brandstätte nachgesucht?

Zeuge: Nein, nur am Tage.

Gärtner Wiedemann: Am Sonnabend nach dem Brande ging ich auf die Brandstätte und sah eine Anzahl armer Leute, die alle möglichen Sachen von dort forttrugen. Zumeist wurde Holz, bisweilen halbe Balken fortgetragen. Als ich mich einige Tage darauf an den Aufräumungsarbeiten beteiligte, fand ich noch so große unversehrte hölzerne Schwellen, daß sie wohl geeignet gewesen wären, bei dem Wiederaufbau der Synagoge verwendet zu werden.

Vors.: Bumke, Sie sagten, das von Ihnen gefundene Holz wäre fast vollständig verkohlt gewesen.

Bumke: Jawohl.

Vors.: Nun hören Sie, daß so große unversehrte Schwellen gefunden wurden, daß sie eventuell zum Wiederaufbau der Synagoge hätten verwendet werden können.

Bumke: Solche Schwellen habe ich nicht gesehen; kleine Reste von Schwellen, die noch nicht verkohlt waren, habe ich gesehen.

Vors.: Aber Bumke! Die Schwellen, die Wiedemann gefunden haben will, waren doch nicht kleine Reste!

Bumke: Ich kann nicht anders sagen.

Im weiteren bekundete Wiedemann: Er habe Reste von Gebetmänteln, von Thorarollen, von Gebetbüchern usw. gefunden. Die Gebetbuchreste sahen teilweise fettig aus, nach Petroleum rochen sie aber nicht.

Vors.: Herr Rabbiner Dr. Hoffmann! Woraus erklären Sie das fettige Aussehen der Gebetbuchreste?

Dr. Hoffmann: Die Gebetbücher waren zum Teil schon sehr alt und hatten infolgedessen ein sehr gelbliches Aussehen. Pergament, woraus die Thorarollen, vielleicht auch einige alte Gebetbücher hergestellt waren, hat überhaupt ein fettiges Aussehen.

Vors.: Bumke! Wissen Sie, was Pergament ist?

Bumke: Nein.

Vors.: Sie hielten das Fett für Petroleum?

Bumke: Ja, mir schien es so; es kann auch eine andere Fettigkeit gewesen sein.

Wiedemann bemerkte im weiteren: Greiser, der von dem Verkauf der Schlösser Kenntnis hatte, habe dem Bumke 60 Pfennig gegeben, um die Schlösser von Jacoby zurückzuholen und den Bumke somit von einer eventuellen Anklage wegen Diebstahls zu schützen.

Maurermeister Duske (Neustettin): Die abgebrannte brannte Synagoge hatte vor dem Ausbau einen Wert von 2800 M.; nach dem Ausbau, der etwa 1200 Mark kostete, 4000 Mark; und zwar ohne die innere Einrichtung.

Bauinspektor Kleefeldt: Ich habe heute einen Kloben Holz mit Petroleum begossen; dies ist nicht vollständig verbrannt. Allein ich muß hervorheben, daß dieser Kloben aus dem Keller geholt wurde und feucht war.

Vors.: Halten Sie nach den heute geschehenen Bekundungen Ihr Gutachten aufrecht, daß das Feuer vorsätzlich mit Hilfe von Petroleum in Szene gesetzt worden ist?

Sachverständiger: Der Umstand, daß die Dielen total verkohlten und nur kleine Reste von verkohltem Holz gefunden wurden, bringt mich zu der Überzeugung, daß das Feuer vorsätzlich angelegt und die Dielen usw. mit Petroleum getränkt worden sind.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello: Der Herr Sachverständige scheint noch immer von dem Grundsatze auszugehen, daß nur wenige verkohlte Holzreste auf der Brandstätte gefunden wurden?

Vors.: Das habe ich mit anderen Worten dem Sachverständigen schon vorgehalten.

Dr. Sello: Ich wollte das bloß etwas mehr betonen.

Vors.: Die Herren Geschworenen werden mich ja bereits verstanden haben.

Kleefeldt: Ich bleibe bei meiner Behauptung, daß der Fußboden niemals in dieser Weise hätte verbrennen können, wenn er nicht mit Petroleum oder einer anderen brennbaren Flüssigkeit getränkt gewesen wäre. Das Feuer hätte sonst in der Weise, wie es geschehen, nicht zusammenkommen können.

Verteidiger Justizrat Scheunemann: Der Herr Sachverständige hat soeben bekundet, daß er heute selbst ein Petroleumexperiment gemacht, wobei er wahrgenommen hat, daß das Feuer, auf verschiedenen Seiten angezündet, nicht zusammenkommt.

Vors.: Wenn die Zweifel in dieser Beziehung noch weiter bestehen, dann werde ich das Experiment mittels eines Kloben Holz hier im Saale vornehmen lassen.

Regierungsbaurat Benoit: Ich kann dem Gutachten des Herrn Bauinspektors Kleefeldt nicht beistimmen. Wenn, wie Herr Ingenieur Schreiber bekundet, er die brennenden Wände hat einhauen lassen, die auf den Fußboden fielen, dann wäre es geradezu ein Wunder, wenn die Dielen nicht verbrannt wären. Es ist richtig, daß Feuer nicht nach unten brennt, allein die Hitze wirkt doch nach unten.

Ingenieur Schreiber: Herr Bauinspektor Kleefeldt sagte: Die Dielen hätten nicht verbrennen können, wenn sie nicht mit Petroleum getränkt gewesen wären. Nun sind aber die unter den Dielen befindlichen Fußbodenlager bodenlager ebenfalls verbrannt; letztere konnten doch nicht mit Petroleum getränkt sein!

Kleefeldt: Das Petroleum der Dielen dürfte wohl auch auf die Holzlager Wirkung geübt haben.

Fräulein Anna Friedrich: Ich besuchte früher in Neustettin die Schule. Einige Zeit nach dem Synagogenbrande sagte ich einmal zu einer meiner Mitschülerinnen, namens Rosenberg: Es ist doch sehr bedauerlich, daß so viele Silbersachen bei der Feuersbrunst verbrannt sind. Da antwortete mir die Rosenberg: Die Silbersachen sind glücklicherweise nicht mitverbrannt, sie sind bereits vor dem Brande zufällig weggeschafft worden.

Vors.: Wieso erscheinen Sie hier als Zeugin?

Zeugin: Ich erzählte diese Unterhaltung meiner in Neustettin verheirateten Schwester; diese sagte mir, ich solle davon dem Bürgermeister Anzeige machen, da es doch von Erheblichkeit sein könnte.

Rabbiner Dr. Hoffmann: Die Silbergehänge unserer Thorarollen waren sämtlich Privateigentum und wurden am Ausgange des Sabbats den Eigentümern stets zurückgegeben. In der Synagoge hatten wir bloß eine silberne Hand, die beim Thora-Vorlesen gebraucht wird, und einen silbernen Becher. Diese beiden Gegenstände sind jedenfalls mitverbrannt; denn sie wurden auf der Brandstätte nicht gefunden.

Rentier Biedenweg: Er wohnte in der Nähe der Synagoge und habe beobachtet, daß mehrere Wochen vor dem Brande an den Wochentagen des Morgens stets Gottesdienst im Tempel war; er habe das angenommen, da die Synagoge erleuchtet war. In der Woche vor dem Brande habe er jedoch solche Wahrnehmungen nicht gemacht.

Vors.: Am Montag vor dem Brande ist doch aber Gottesdienst gewesen?

Zeuge: Davon weiß ich nichts.

Der Zeuge bekundete im weiteren: Am Morgen des Brandtages, etwa gegen 81/2 Uhr, machte mich meine Frau aufmerksam, daß in der Synagoge ein Fenster geöffnet stand. Ich überzeugte mich von der Richtigkeit dieser Mitteilung. Als in der elften Stunde der Feuerlärm entstand, war das Fenster wieder geschlossen. Als das Feuer ausgebrochen war, wollte Klempner Merner mit einer Axt ein Fenster einschlagen.

Vors.: Weshalb wollte er das tun?

Zeuge: Er sagte: das Feuer muß Luft haben.

Vors.: Schlug er das Fenster wirklich ein?

Zeuge: Nein; ehe er dazu kam, sprangen die Fenster von selbst.

Staatsanwalt: Als die Fenster gesprungen waren, schlug da sofort die Flamme heraus?

Zeuge: Jawohl, zu allen Fenstern.

Verteidiger Justizrat Makower: Der Zeuge ist dreimal gerichtlich vernommen worden; er hat jedoch heute zum ersten Male bekundet, daß Merner gesagt: Das Feuer müsse Luft haben.

Zeuge: Entschuldigen Sie! ich habe das immer gesagt.

Justizrat Makower: Ich beantrage, das festzustellen; es ist ja möglich, daß diese Ihre Bekundung alle dreimal nicht aufgeschrieben worden ist.

Auf Beschluß des Gerichtshofes wurden die Protokolle verlesen, in denen die erwähnte Bekundung nicht verzeichnet war.

Frau Rentier Biedenweg bekundete, gleich ihrem Gatten, daß mehrere Wochen vor dem Brande die Synagoge des Morgens erleuchtet war, während in der Woche des Brandes eine Erleuchtung nicht gesehen wurde. Am Morgen des Brandes, gegen 81/2 Uhr, habe sie in der Synagoge ein Fenster geöffnet gesehen, gegen 10 Uhr sei es jedoch geschlossen gewesen.

Frl. Friederike Jasse: Wir wohnten dicht neben der Synagoge. Viele Wochen vor dem Brande war in der Synagoge täglich des Morgens Gottesdienst, die Woche vor dem Brande aber nicht.

Vors.: Wodurch wissen Sie das?

Zeugin: Die Juden „sabberten“ in der letzten Zeit nicht mehr. (Heiterkeit.)

Vors.: Sie meinen, in der letzten Zeit hörten Sie am Morgen kein Gemurmel, während Sie mehrere Wochen vor dem Brande stets am Morgen Gemurmel hörten?

Zeugin: Ja; ich sagte damals gleich zu meiner Mutter, sie werden sich wohl den Tempel anstecken wollen.

Vors.: Zeugin, das ist doch ein sehr kühner Spruch! Aus dem Umstande, daß keine Gottesdienste mehr des Morgens stattfanden, können Sie doch nicht behaupten: Die Juden haben ihren Tempel in Brand gesteckt?

Zeugin: Na, wer soll es denn gewesen sein? Wir Christen haben es doch nicht getan. (Bewegung.)

Vors.: Der Umstand, daß es die Christen nicht getan haben, beweist doch durchaus noch nicht, daß die Angeklagten oder überhaupt Juden es gewesen sind.

Zeugin: Zwei Jahre vorher ist schon den Juden ein Badehaus abgebrannt.

Vors.: Wer hat das angezündet?

Zeugin: Das weiß ja niemand. Ich sagte aber zu meiner Mutter schon einige Tage vor dem Brande: Die Juden haben sich ihr Badehaus angesteckt, sie werden sich jetzt wohl auch ihren Tempel anzünden wollen.

Vors.: Haben Sie Ihre Vermutungen auch noch anderen Leuten mitgeteilt?

Zeugin: Ja, ich habe es dem verstorbenen jüdischen Kantor einmal gesagt, als der Tempel niedergebrannt war.

Vors.: Soweit sind wir noch nicht; benehmen Sie sich etwas ruhiger!

Zeugin: Ja, ich bin immer etwas unruhig.

Vors.: Was haben Sie weiter für Wahrnehmungen gemacht?

Zeugin: Ich sah am Vormittage des Brandes etwa gegen zehn Uhr ein Fenster geöffnet, das immer auf und zu fiel.

Vors.: Was wissen Sie weiter von dem Feuer?

Zeugin: Ich habe nur beobachtet, daß, als der Staatsanwalt Pinoff die Brandstätte absuchen ließ, die Kronleuchter alle verschwunden waren.

Vors.: Das war nach dem Brande, soweit sind wir noch nicht. Haben Sie vor oder nach dem Brande noch weitere Wahrnehmungen gemacht?

Zeugin: Nein.

Vors.: Haben Sie nicht einmal etwas von einer Hand gesagt, die Sie aus der Synagoge haben herauslangen sehen?

Zeugin: Das weiß ich nicht mehr.

Vors.: Sie haben das doch früher aber mit voller Bestimmtheit bekundet?

Zeugin: Ja, ich habe das nur aus Ärger gesagt.

Vorsitzender: Weshalb ärgerten Sie sich?

Zeugin: Weil Frau Löwenberg zu mir sagte: Die Christen haben den Tempel angesteckt. Ich sagte sogleich: Christen tun so etwas nicht, das können bloß die Juden getan haben.

Vors.: Also die Geschichte mit der Hand haben Sie bloß aus Ärger gesagt, gesehen haben Sie eine solche Hand nicht?

Zeugin: Ja, ich habe sie doch gesehen; ich kann aber nicht sagen, ob es eine Judenhand war. (Große allgemeine Heiterkeit.)

Vors.: Einer Hand kann man es wohl nicht ansehen, ob sie einem Juden oder einem Christen gehört. Sonst haben Sie keine Wahrnehmungen gemacht?

Zeugin: Nein.

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer: Ich will nur noch bemerken, daß die Zeugin sich alle Mühe gab, Belastungszeugen zu schaffen und einmal zu einem Manne in Neustettin sagte: „Grüßen Sie mir den Herrn Landrat und sagen Sie, Senff ist auch noch ein guter Zeuge.“

Zeugin: Das ist richtig. Die Juden beschuldigten uns fortwährend, wir Christen hätten den Tempel angezündet, und da Herr Senff auch alles mit angesehen hat, so schlug ich ihn als Zeugen vor.

Frau Arbeiter Kapitzke: Mir fiel es auf, daß mehrere Wochen vor dem Brande des Morgens Gottesdienst im Tempel war, während in der Woche vor dem Brande Gottesdienst nicht mehr stattfand.

Vors.: Wodurch wissen Sie das?

Zeugin: Die Synagoge war mehrere Wochen vor dem Brande des Morgens stets erleuchtet, während sie in der Woche des Brandes nicht erleuchtet war.

Vors.: Wann haben Sie die Synagoge zum letzten Male erleuchtet gesehen?

Zeugin: Am Sonnabend.

Rabbiner Dr. Hoffmann: Das ist entschieden unwahr; am Sonnabend beginnt bei uns der Gottesdienst gewöhnlich erst um neun Uhr morgens, infolgedessen wird niemals Licht angezündet.

Zeugin: Es ist auch möglich, daß es ein anderer Tag gewesen ist.

Vors.: Was haben Sie weiter für Wahrnehmungen gemacht?

Zeugin: Ich sah am Vormittage vor dem Brande ein Synagogenfenster geöffnet und in der Synagoge einen Menschen.

Vors.: Haben Sie diesen Menschen erkannt?

Zeugin: Nachdem ich nachgedacht, ist es mir eingefallen, daß es der kleine Lesheim gewesen ist.

Vors.: Dazu bedarf es doch keines Nachdenkens, Sie müssen doch wissen, wen Sie gesehen haben. Wie kamen Sie auf den Gedanken, daß es Lesheim gewesen ist?

Zeugin: Es schien mir so; aber genau weiß ich es nicht mehr.

Vors.: War es denn ein Mann, den Sie in der Synagoge sahen?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Wie sah der Mann aus?

Zeugin: Er war klein.

Vors.: Hielten Sie den Mann für einen Juden oder einen Christen?

Zeugin: Es war ein Jude.

Vors.: Woraus schließen Sie das?

Zeugin: Er trug einen schwarzen Anzug.

Vors.: An dem schwarzen Anzuge erkennt man aber doch keinen Juden?

Zeugin: Er hatte auch schwarzes Haar.

Vors.: Halten Sie jeden Mann, der schwarzes Haar hat, für einen Juden?

Zeugin: Christen haben allerdings auch bisweilen schwarze Haare; ich sagte aber gleich: das kann nur ein Jude sein, denn so schwarz ist doch wohl kein Christ.

Vors.: Was machte der Mann in der Synagoge?

Zeugin: Er bewegte sich hin und her und ging nach dem Allerheiligsten zu.

Vors.: Sie haben schließlich mit Bestimmtheit bekundet, daß dieser Mann Lesheim gewesen ist?

Zeugin: Ich ging einmal zu Lesheim, um mir ein Stück Glanzleder zu kaufen; da sagte Lesheim zu mir: Nun, Frau Kapitzke, Sie haben gut ausgesagt, es kommt mir auch auf ein Stück Glanzleder nicht an.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello: Das ist ganz neu.

Vors.: Zeugin! Das haben Sie heute zum ersten Male gesagt; weshalb haben Sie früher diese Bekundung nicht gemacht?

Zeugin: Ich habe es mir jetzt erst bedacht.

Vors.: Bleiben Sie eine ehrliche Frau, und lassen Sie sich nicht verleiten, einen Meineid zu leisten!

Zeugin: Ich sage bloß die Wahrheit; man kann sich ja doch nicht immer gleich auf alles besinnen.

Vors.: Konnten Sie das Gesicht des Mannes sehen?

Zeugin: Von der Seite habe ich ihn gesehen.

Vors.: Bei Ihren früheren Vernehmungen haben Sie aber gesagt, Sie hätten den Mann bloß von hinten gesehen.

Zeugin: Nein, ich habe ihn von der Seite gesehen.

Der Vorsitzende ließ die betreffenden Protokolle verlesen, die die Äußerungen des Vorsitzenden bestätigten.

Vors.: Sie haben einmal den Tempeldiener Löwenberg, ein anderes Mal wieder den Lesheim als den Mann bezeichnet, der in der Synagoge gewesen sei?

Zeugin: So genau konnte ich ja das nicht sehen.

Vors.: Gerichtsdiener! Lassen Sie einmal Löwenberg eintreten! Und Sie, Angeklagter Lesheim, treten Sie aus der Anklagebank und stellen Sie sich neben Löwenberg! Nun, Zeugin, wie konnten Sie diese beiden Männer miteinander verwechseln?

Zeugin: So genau konnte ich das ja nicht sehen.

Vors.: In Neustettin wurde Ihnen Lesheim einmal vorgestellt; da haben Sie gesagt: Sie können ihn nicht wiedererkennen?

Zeugin: Das konnte ich nicht genau sagen.

Vors.: Später haben Sie aber den Lesheim mit Bestimmtheit als den Mann bezeichnet, den Sie in der Synagoge gesehen haben?

Zeugin: Ja, ich habe es mir eben so überdacht; heute weiß ich es nicht mehr genau.

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer: Ich bezweifle, ob die Zeugin überhaupt imstande ist, mit ihrem augenscheinlich schlechten Sehvermögen die bekundeten Wahrnehmungen zu machen.

Vors.: Das Sehvermögen der Zeugin scheint allerdings kein sehr gutes zu sein; die Frau blinzelt fortwährend.

Auf Antrag des Verteidigers Rechtsanwalts Dr. Sello stellte Regierungsbaumeister Benoit fest, daß die Zeugin in der bekundeten Weise unmöglich das Allerheiligste habe sehen können.

Die Zeugin bemerkte schließlich: Sie wisse nicht mehr genau, ob sie den Mann in der Nähe des Allerheiligsten gesehen habe.

Fräulein Harnisch: Am Vormittage des 18. Februar 1881, etwa gegen zehn Uhr morgens, sah ich aus einem geöffneten Fenster der Synagoge Rauch dringen. gen. Ich sagte gleich, nun haben sie doch die Synagoge angezündet.

Vors.: Wie kamen Sie auf diesen Gedanken?

Zeugin: Ich hatte schon um Weihnachten 1880 eine Ahnung, daß der Tempel abbrennen würde.

Vors.: Wie kamen Sie auf den Gedanken, daß der Tempel angezündet worden sei?

Die Zeugin schwieg.

Lehrer Schiefelbein: Es sei ihm aufgefallen, daß mehrere Juden, unter diesen Kaufmann Aaron, sagten: Die Christen haben das Feuer angezündet. Aaron fügte noch hinzu: „Es fehlt bloß noch, daß man uns Juden alle ins Feuer wirft!“

Vors.: Es war damals in Neustettin eine sehr aufgeregte Zeit?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Es wurden antisemitische Versammlungen abgehalten, in denen Dr. Henrici aus Berlin als Redner auftrat?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanwalt: Haben Sie diesen Versammlungen auch beigewohnt?

Zeuge: Einer wohnte ich bei.

Staatsanwalt: Forderte Dr. Henrici auf, gegen die Juden vorzugehen?

Zeuge: Jawohl.

Staatsanwalt: Forderte er auch auf, den jüdischen Tempel in Brand zu stecken?

Zeuge: Nein, das nicht; er sagte ganz besonders, man solle bei den Juden nicht kaufen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello: Diese Fragen des Herrn Staatsanwalts veranlassen mich, zu beantragen, aus der von mir im Kösliner Prozeß zu den Akten überreichten „Norddeutschen Presse“ das Feuilleton zu verlesen, das wenige Tage vor dem Brande erschien, und in dem allerdings zur Niederbrennung der jüdischen Bethäuser aufgefordert wurde.

Lehrer Hübner: Kurz vor elf Uhr vormittags sah ich aus meinem der Synagoge gegenüberliegenden Klassenzimmer Rauch aus den Fenstern der Synagoge dringen. Ich eilte zu den mir bekannten Heidemanns und traf beide an. Ich sagte: „Herr Heidemann, räuchern Sie?“

„Sie wissen doch, daß wir nicht räuchern!“ erwiderte der alte Heidemann.

„Dann kommen Sie schnell mit den Schlüsseln in die Synagoge! Wenn Sie in der Synagoge nicht räuchern, dann muß es brennen.“ Die beiden Heidemanns kamen sofort mit mir herunter; der alte Heidemann schloß die Synagoge auf. Wir konnten jedoch nur bis in die Vorhalle dringen, denn im Innenraum war alles voller Rauch. Wir eilten hinaus; eine Flamme konnte man jedoch noch nicht sehen. In demselben Augenblick sah ich auch den älteren, und, wenn ich nicht irre, auch den jungen Lesheim. Ich sagte zu dem älteren Lesheim: „Das Feuer ist vielleicht noch zu löschen; eilen Sie doch schnell zum Bürgermeister und holen Sie die Spritzen!“ Lesheim lief fort; nach kaum fünf Minuten war er jedoch wieder da. Ich fragte Lesheim: „Sind Sie bei dem Bürgermeister gewesen?“

„Nein!“ erwiderte er.

„Nun, zum Donnerwetter! Da schreien Sie doch Feuer, und laufen Sie zum Bürgermeister!“ versetzte ich. Lesheim fragte den alten Heidemann: „Soll ich Feuer schreien?“

„Schreien Sie schon!“ sagte der alte Heidemann. Nun erst lief Lesheim die Friedrichstraße hinauf und rief „Feuer!“

Vors.: Nun, Lesheim, wie erklären Sie das?

Lesheim: Ich kann nur wiederholen, daß ich erst infolge Benachrichtigung meines Sohnes auf die Brandstätte gegangen bin.

Leo Lesheim: Ich kann nur wiederholen, daß ich von dem Heidemannschen Dienstmädchen Hilger, der ich auf dem Markte begegnete, von dem Feuer benachrichtigt wurde.

Die beiden Heidemann behaupteten, sie haben die Hilger nicht zu Lesheim geschickt.

Im weiteren erzählte Hübner: Etwa zehn Minuten, nachdem er mit den Heidemanns auf dem Synagogenplatze war, hatten sich noch andere Leute dort versammelt, sammelt, unter diesen der Schuhmacher Geiser, der bemüht war, ein an der Außenwand stehendes ausgehängtes Fenster wieder einzuheben, damit das Feuer nicht unnötig Luft erhielt.

Kanzlist Ebel: Am 18. Februar 1881 gegen 11 1/4 Uhr vormittags hörte ich in meinem Bureau einen Feuerruf. Ich lief auf die Straße und hörte, daß die Synagoge brenne. Ich begab mich eiligst auf den Synagogenplatz und sah dicken Qualm aus der Synagoge dringen. Vor der Synagoge sah ich lediglich die beiden Heidemanns stehen; der junge Heidemann war sehr bestürzt.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello machte darauf aufmerksam, daß der Zeuge im Kösliner Prozeß bekundet hat, der junge Lesheim sei sehr bestürzt gewesen.

Zeuge: Das kann nicht sein; die beiden Lesheim habe ich gar nicht auf der Brandstätte gesehen.

Vors.: Haben Sie Hübner gesehen?

Zeuge: Nein.

Der Vorsitzende stellte aus den Akten fest, daß die Behauptungen des Dr. Sello sich bewahrheiteten.

Dienstmädchen Hilger: Ich bin seit fast sechs Jahren bei Heidemann in Stellung. Frau Heidemann sagte mir, ich solle eiligst die Spritzen holen, da der Tempel brenne. Ich lief die Friedrichstraße hinauf, um zu Lesheim zu gehen, traf jedoch den Leo Lesheim auf dem Marktplatze, und da dieser mich zu Löwenberg schickte, so lief ich zu diesem. Löwenberg war jedoch nicht zu Hause. Als ich nun wieder nach Hause kam, waren die Spritzen bereits da.

Vors.: Lesheim sen.! Wer holte denn die Spritzen?

Lesheim: Greiser kam mit den Spritzen an.

Ein Geschworener fragte die Zeugin Hilger, ob und welcher Verkehr zwischen Lesheim und Heidemann stattgefunden habe?

Zeugin: Es fand gar kein Verkehr zwischen Heidemann und Lesheim statt.

Kanzlist Jordan: Als ich Feuer rufen hörte und mich auf den Synagogenplatz begab, da sagte ich dem alten Heidemann: „Nanu, Herr Heidemann! Was ist denn das für eine Geschichte?“

„Da sehen Sie,“ sagte der alte Heidemann, „durch diesen Gang ist der Täter durchgegangen, er hat ein Fenster eingeschlagen, ist eingestiegen und hat dann den Tempel angesteckt.“ Ich ging durch den Gang durch, und nun fiel es mir auf, daß die Scherben des eingeschlagenen Fensters außen lagen. Wenn das Fenster von außen eingeschlagen worden wäre, dann hätten die Scherben doch nach innen fallen müssen.

Der Angeklagte Heidemann bestritt, eine derartige Äußerung dem Zeugen gegenüber getan zu haben; durch den erwähnten Gang könne ein erwachsener Mensch überhaupt nicht durchgehen.

Lehrer Hübner: Als Kind vermochte er durch den Gang wohl durchzugehen, ein erwachsener Mensch kann nicht durchgehen, sich aber eventuell durchzwängen. Gärtner Wiedemann bestätigte das.

Klempnermeister Merner: Als ich auf den Synagogenplatz kam, waren die Spritzen noch nicht eingetroffen. Kaufmann Lehmann rief: „Ich zahle 300 Mark demjenigen, der die Thora rettet.“ Da ich auch einen wertvollen Gebetmantel und mehrere Gebetbücher, die mir wertvolle Andenken von meinen Eltern waren, in der Synagoge hatte, so schlug ich mit einer Axt ein Fenster ein und machte den Versuch, einzusteigen; ich wurde jedoch daran gehindert. Ich bestreite, daß durch den erwähnten Durchgang ein Mensch durchgehen kann.

Glasermeister Geisenberg bestätigte das.

Lehrer Pieper: Am Tage des Brandes gegen elf Uhr vormittags sah ich aus meinem der Synagoge gegenüberliegenden Klassenzimmer aus den Dachsteinen der Synagoge Rauch dringen. Ich sah die beiden Lesheim um die Synagoge herumlaufen; es hatte den Anschein, als suchten sie etwas. Ich will es nicht ganz genau sagen, aber mir schwebt es so vor, als wäre der ältere Lesheim auf einen von dem jungen Lesheim gebrachten Stuhl gestiegen und hätte ein Fenster herausgenommen. Ich dachte mir: Na, wenn die Lesheims da sind, dann werden wohl noch mehr Juden in der Synagoge agoge sein. Ich war bestimmt der Meinung, es würde im Tempel geräuchert, und Lesheim, der, wie mir bekannt, Tempeldiener war, solle die Fenster öffnen, um frische Luft in den Tempel hineinzulassen. Inzwischen wurde der Rauch immer größer, und da auch meine Schüler mich darauf aufmerksam machten, gelangte ich doch zu der Vermutung, daß in der Synagoge Feuer sei. Ich ging deshalb auf die Straße, und als ich aus dem Schulhause trat, liefen die beiden Lesheim an mir vorüber. Auf meine Frage, ob denn Feuer in der Synagoge sei, antworteten sie nicht.

Auf die Frage des Vorsitzenden, ob es wahr sei, daß er (Zeuge) zu einem gewissen Lesser geäußert habe, „wenn die Lesheim nicht so grob zu mir gewesen wären, dann hätte ich anders ausgesagt“, erwiderte der Zeuge: „Ich habe bloß gesagt, wenn die Lesheim sich anders benommen hätten, dann wäre ich von ihrem Schuldbewußtsein weniger überzeugt gewesen.“

Vors.: Sie haben mit Ihren Bekundungen lange zurückgehalten; erst am 24. März 1882 sind Sie damit hervorgetreten!

Zeuge: Ich habe schon im Kösliner Prozesse gesagt, daß meine Frau es nicht leiden wollte, und deshalb zeigte ich es nicht an.

Vors.: Wenn man bei einem mutmaßlichen Verbrechen eine solch wichtige Wahrnehmung macht, dann fragt man doch nicht erst die Frau, ob man es zur Anzeige bringen soll!

Zeuge: Ich wollte gegen den Willen meiner Frau nicht handeln.

Vors.: Wußten Sie denn nicht, daß der Staatsanwalt öffentlich aufgefordert hatte, ihm über die Entstehungsart des Brandes Mitteilung zu machen, und daß öffentlich hohe Belohnungen für die Ermittelung der Täter ausgesetzt worden waren?

Zeuge: Ich wußte das, wollte mich aber mit meiner Frau nicht zanken. (Heiterkeit.)

Vors.: Wie kamen Sie nun doch zur Anzeige?

Zeuge: Ich erzählte es dem Hübner, und dieser konnte nicht schweigen; er erzählte es dem Restaurateur Herzberg, dieser dem Landrat, und infolgedessen bekam ich Termin.

Staatsanwalt: Sie sollen in dem Kösliner Prozeß den Vorsitzenden um Schutz vor dem Staatsanwalt gebeten haben?

Zeuge: Ich bat um Schutz gegen den Herrn Justizrat Scheunemann.

Staatsanwalt: Das ist etwas anderes.

Zeuge: Ich habe bloß gesagt, ich hätte mit meiner Anzeige zurückgehalten, da der Herr Staatsanwalt Pinoff geäußert, mit uns Neustettinern werde er schon fertig werden.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Sello: Ich kann eventuell für diese Tatsache Zeugen vorschlagen, will aber vorläufig davon abstehen. Allein über eine Tatsache möchte ich von dem Zeugen Auskunft haben, ich bitte jedoch, daß der Herr Vorsitzende die Fragestellung übernimmt. Der Zeuge soll einmal, als er Religionsunterricht erteilte, eine beleidigende Äußerung gegen eine alttestamentarische Persönlichkeit getan und deswegen von seiner vorgesetzten Behörde einen Verweis erhalten haben.

Vors.: Herr Pieper, ist das so?

Zeuge: Das kann ich nur dann sagen, wenn mir bestimmte Tatsachen angegeben werden.

Vors.: Das haben Sie schon in Köslin gesagt; Sie müssen aber auf meine Frage antworten. Haben Sie eine Äußerung gegen eine alttestamentarische Persönlichkeit getan, wodurch die Juden sich beleidigt fühlen konnten?

Zeuge: Daß ich nicht wüßte.

Vors.: Haben Sie von Ihrer vorgesetzten Behörde einmal einen Verweis erhalten?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Es muß Ihnen doch bekannt sein, ob Sie jemals wegen eines Vergehens im Amte einen Verweis erhalten haben?

Zeuge: Das kann vielleicht die Regierung oder mein Schulinspektor wissen.

Vors.: Herr Pieper, Sie sind Beamter! Sie müssen doch wissen, ob Sie von Ihrer vorgesetzten Behörde jemals einen Verweis erhalten haben!

Zeuge: Ich weiß ja nicht, welchen Verweis Sie meinen.

Vors.: Aber Herr Pieper! Haben Sie denn schon so viele Verweise erhalten, daß Sie nicht wissen, welchen ich meine?

Der Zeuge schwieg.

Vors.: Herr Pieper! Ich rate Ihnen, sagen Sie: „Ja, ich habe einen Verweis erhalten!“ Ich sehe es Ihnen an, daß Sie mit der Wahrheit zurückhalten wollen; machen Sie sich nicht unglücklich!

Der Zeuge begann an allen Gliedern zu zittern; es wurde ihm ein Stuhl gebracht, auf dem er in Ohnmacht fiel.

Der Vorsitzende befahl, den Ohnmächtigen mit Wasser zu besprengen. Als er sich erholt hatte, wurde er hinausgeführt.

Kassenkontrolleur Dahlitz: Er sei gleich nach dem Ausbruch des Feuers dem Lesheim sen. in der Friedrichstraße begegnet; dieser sei derartig aufgeregt gewesen, daß er ihn sofort für den Täter gehalten habe. Auch er habe ein Fenster der Synagoge, und zwar, wie er sich überzeugte, ein solches, das nur von innen zu öffnen und auszuhängen war, ausgehängt gesehen. Zeuge Dahlitz äußerte ferner: Ich bin Spritzenmeister in Neustettin und kann bekunden, daß die Flamme, die aus der brennenden Synagoge herauszüngelte, eine Farbe hatte, wie ich sie noch niemals bei einem Feuer gesehen habe. Die Flamme sah graublau aus. Lesheim sen. benahm sich derartig aufgeregt, daß, wenn ich Polizeidiener gewesen wäre, ich ihn sofort verhaftet hätte.

Vors.: Wie muß denn ein Mensch aussehen, damit Sie seine Verhaftung für notwendig halten?

Zeuge: Ich kann das nicht mit Worten ausdrücken, allein das Benehmen des Lesheim sen. war mir doch ganz außerordentlich verdächtig.

Vors.: Sie haben diese Ihre Vermutung auch sofort geäußert?

Zeuge: Ich war sofort der Überzeugung, daß der Brand von den Juden angelegt war.

Vors.: Woraus schlossen Sie das?

Zeuge: Weil die Juden sofort sagten: Das haben uns die Christen getan.

Vors.: Haben Sie noch andere Anhaltspunkte für Ihre Überzeugung?

Zeuge: Nein.

Auf Antrag des Verteidigers Rechtsanwalts Dr. Sello wurde nunmehr das erwähnte Feuilleton mit der Überschrift: „Dr. Martin Luther und die Judenfrage“ verlesen. Es hieß darin: „Was wollen wir Christen nun tun mit diesem verdammten Volk der Jüden? Ich will meinen treuen Rat geben: Erstlich, daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erden überhäufe und beschütte, daß kein Mensch ein Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich.“

Staatsanwalt: Eine derartige Sprache ist ja allerdings horrend, allein das hat doch keineswegs die „Norddeutsche Presse“ geschrieben, sondern es ist lediglich ein aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammendes Zitat angeführt worden. Wenn man die Zeit in Erwägung zieht, aus der diese Worte stammen, dann wird man doch nicht zu der Ansicht gelangen können, daß diese Worte irgendeinen Einfluß ausgeübt haben.

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer beantragte, Beweis darüber zu erheben, daß Pieper vor einigen Jahren auf eine seiner Schülerinnen einzuwirken suchte, damit sie aussage: Ein Kollege von ihm habe mit ihr unzüchtige Handlungen vorgenommen. Da das Mädchen dies in Abrede stellte, so suchte Frau Pieper durch Verabreichung von Zucker das Kind zur Aussage zu veranlassen.

Der Gerichtshof beschloß, den Beweis, daß Pieper auf ein Mädchen behufs Abgabe eines falschen Zeugnisses habe einwirken wollen, zu erheben.

Hebamme Kaske: Ich habe das kranke Kind bei Heidemann gepflegt. Ich befand mich kurz vor Ausbruch des Feuers in der Heidemannschen Wohnung und habe etwas Auffälliges in keiner Weise wahrgenommen. nommen. Das Kind ist am Tage nach dem Brande in meiner Wohnung gestorben.

Zimmermeister Duskee: Nachdem die Synagoge schon lange brannte, wurde das Heidemannsche Haus von der Flamme ergriffen. Meiner Meinung nach hat sich das Feuer von der Synagoge aus dem Heidemannschen Hause mitgeteilt.

Es erschien alsdann als Zeuge Schuhmachermeister Engfer (Neustettin), dessen Vereidigung auf die größten Schwierigkeiten stieß. Mindestens sechsmal mußte der Vorsitzende von neuem die Vereidigung beginnen, da der Zeuge absolut nicht den Eid nachzusprechen vermochte. Der Zeuge, dessen Aussagen ziemlich verwirrt waren, bekundete u.a.: Er habe wahrgenommen, daß, noch ehe der Tempel brannte, es im Innern des Heidemannschen Hauses „schweelte“.

Vors.: Engfer, Sie sind der erste Zeuge, der dies bekundet. Sie sind im übrigen bis jetzt als Zeuge noch nicht aufgetreten, sondern haben sich erst jetzt bei dem Kriminalkommissar Höft gemeldet; weshalb haben Sie Ihre Wahrnehmungen nicht früher angezeigt?

Zeuge: Wenn ich hier gewesen wäre, dann wäre ich auch nach Köslin gegangen.

Vors.: Sie wohnen doch in Neustettin?

Zeuge: Ja, aber vierzehn Tage nach dem Brande ging ich weg; ich wohne erst seit dem Kösliner Prozeß wieder in Neustettin.

Nach weiterem Befragen bemerkte der Zeuge, daß er Ostern 1883 nach Neustettin zurückgekommen sei. Regierungsbaurat Benoit: Daß durch die Hitze in der Synagoge im Innern eines Nebengebäudes ein Balken kohlte, ist unmöglich.

Engfer erklärte weiter, er könne sich seiner Wahrnehmungen noch ganz genau erinnern. Als er kurz nach Ausbruch des Feuers auf den Heidemannschen Boden kam, war dieser vollständig ausgeräumt. Ob die Ausräumung kurz vorher erfolgt war, wisse er nicht.

Lehrer Hübner: Er habe derartige Wahrnehmungen nicht gemacht.

Maurer Kaleske: Am Tage des Brandes gegen 11 1/2 Uhr vormittags kam ich auf die Brandstätte. Der Tempel stand bereits in hellen Flammen, aber auch der Giebel des Heidemannschen Hauses brannte. Der Feuerversicherungsagent Zwick befahl mir, auf den Heidemannschen Boden zu gehen und eine Anzahl Eimer Wasser auf das Dach zu gießen. Der alte Heidemann sagte mir jedoch: „Zum Teufel noch einmal! Was wollen Sie hier? Lassen Sie es doch brennen!“

Angeklagter Heidemann sen.: Ich kenne den Zeugen gar nicht; die von ihm bekundete Wahrnehmung habe ich jedenfalls nicht gemacht.

Im weiteren bekundete Kaleske, daß es auch im Innern des Heidemannschen Hauses brannte.

Feuerversicherungsagent Zwick: Ich habe nicht wahrgenommen, daß das Heidemannsche Haus brannte, ehe die Flammen aus der Synagoge herausschlugen. Im Innern des Heidemannschen Hauses hat es nicht gebrannt.

Mietsfrau Sonnenberg: Sie habe aus dem aus dem Heidemannschen Hause geschafften Kleiderspinde Rauch dringen sehen. Sie machte den alten Heidemann darauf aufmerksam. Als dieser die Spindtür öffnete, schlug die helle Flamme heraus.

Vors.: Wodurch mag wohl das Feuer in das Spind gekommen sein?

Zeugin: Die Spindtür war ganz dicht verschlossen, Funken konnten in das Spind absolut nicht dringen.

Angeklagter Heidemann jun. bemerkte, daß die Frau bei ihm Mehl gestohlen habe.

Die Zeugin gab dies nach längerem Zögern zu; „es geschah dies während des Feuers, wo ja jeder etwas mitnimmt.“ (Heiterkeit.)

Seminarist Lange: Ich sah aus den Türfugen des aus der Heidemannschen Wohnung geschafften Spindes Rauch dringen. Als das Spind geöffnet wurde, schlug eine helle Flamme heraus. Das Spind war von einer derartigen Beschaffenheit, daß ich der bestimmten Meinung bin, das Feuer im Spinde muß hineingelegt legt worden sein; Funken konnten nicht hineinfliegen.

Tischlermeister Kapelke: Ich kann ganz genau bekunden, daß das Heidemannsche Haus erst infolge des Tempelbrandes vom Feuer erfaßt worden ist. Ich weiß nicht, welches Spind hier gemeint wird; die Türen des von mir einmal reparierten Spindes waren so locker, daß Feuerfunken wohl hineinfliegen konnten.

Pastor Klamroth: Ich sah ebenfalls aus dem Spinde Rauch dringen; als es geöffnet wurde, schlug die helle Flamme heraus. Ritzen oder Fugen hatte das Spind nicht, so daß Funken unmöglich hineinfliegen konnten. Ich muß mein Kösliner Zeugnis noch ergänzen, da in Köslin nach meiner Entfernung mein Zeugnis verrückt worden ist, nach den Zeitungsberichten nämlich.

Vors.: Ich bitte, Herr Prediger, sagen Sie mir, was Sie zu ergänzen haben! Sprechen Sie aber nicht von Zeitungsberichten, die uns absolut nichts angehen!

Zeuge: Ich bitte, mich nicht zu unterbrechen, lassen Sie mich gefälligst ausreden! Ich habe gegen ein Zeugnis, das in Köslin nach mir abgegeben wurde, etwas zu sagen.

Vors.: Das läßt sich aber nicht tun, Herr Prediger! Sie sind doch hier nicht Ankläger, sondern lediglich Zeuge! Bis jetzt haben Sie sich aber ausschließlich in Räsonnements bewegt.

Zeuge: Ich bitte, mich aussprechen zu lassen.

Vors.: Aber Herr Prediger! Bedenken Sie doch, an welchem Orte Sie stehen? Ich hätte nicht geglaubt, daß bei Ihrer Vernehmung so etwas vorkommen werde.

Nach noch langen Auseinandersetzungen bekundete der Zeuge endlich: Tischler Kapelke sei in Köslin nach ihm vernommen worden. Dieser habe damals gesagt, das Spind sei locker gewesen und hätte zwei Flügel gehabt. Er bestreite das.

Tischler Kapelke: Das Spind, das ich meine, war locker und hatte zwei Türen.

Verteidiger Justizrat Scheunemann: Ich bitte, den Kapelke darüber zu fragen, ob es wahr ist, daß er seines in Köslin abgegebenen Zeugnisses wegen vielfach in Neustettin behelligt worden sei.

Vors.: Kapelke, ist es so?

Kapelke: Nicht bloß in Neustettin, sondern auch hier im Gerichtsgebäude bin ich von Zeugen meiner Bekundung wegen beleidigt worden.

Vors.: Wer hat Sie beleidigt?

Kapelke: Der Schmied Wienicke.

Schmied Wienicke machte den Eindruck eines betrunkenen Menschen. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er heute schon Schnaps getrunken habe, antwortete er mit etwas lallender Stimme: Einen, vielleicht auch zwei Schnäpse werde ich wohl getrunken haben, mehr glaube ich nicht. (Heiterkeit.)

Der Vorsitzende befahl dem Zeugen, im Saale auf und ab zu gehen, um zu sehen, ob er betrunken sei. Die hierauf vorgenommene Vernehmung des Wienicke veranlaßte den Staatsanwalt zu dem Antrage, den Zeugen wegen ungehörigen Betragens vor Gericht sechs Stunden in Haft zu nehmen. Der Gerichtshof lehnte den Antrag ab. Nach noch längerer Vernehmung gab Wienicke endlich zu, dem Kapelke heute früh im Gerichtsgebäude Vorwürfe gemacht zu haben.

Rektor Westphal bestätigte zunächst die Bekundung des Seminaristen Lange. „Ich muß jedoch heute meinem Zeugnis noch etwas hinzufügen, was ich bisher nicht gesagt habe, da ich es für unerheblich hielt. Herrn Amtsgerichtsrat Völz in Neustettin habe ich es schon vor Jahren gesagt; ich habe aber den Herrn Amtsgerichtsrat gebeten, es nicht zu Protokoll zu nehmen, da mir die Heidemanns als redliche Leute bekannt waren. Ich bedauere jedoch, daß ich zu solchen Schlüssen kommen muß.“

Vors.: Nun, und was für Schlüsse haben Sie?

Zeuge: Die Schlüsse des Verdachtes.

Vors.: Welche Verdachtsgründe haben Sie?

Zeuge: Die Unruhe der Heidemanns und der Umstand, daß Frau Heidemann das Dienstmädchen nach den Spritzen schickte, macht die Leute doch sehr verdächtig.

Vors.: Weitere Wahrnehmungen haben Sie behufs Unterstützung Ihrer Verdachtsgründe nicht gemacht?

Zeuge: Nein. (Heiterkeit.)

Vors.: Sie sehen, meine Herren Geschworenen, wie schwer es ist, die Zeugen darüber zu belehren, daß sie Urteile und objektive Wahrnehmungen auseinanderhalten.

Hilger, Dienstmädchen bei Heidemann: Das Spind hatte zwei Türen und war so locker, daß wohl Funken hineinfliegen konnten.

Schuhmacher Born bestätigte das. Es sei möglich, daß das Spind infolge der herabgeworfenen brennenden Kleider gebrannt habe.

Vors.: Weshalb erscheinen Sie hier als Zeuge?

Zeuge: Ich las die Berichte über den Kösliner Prozeß in den Zeitungen, und da mir etwas nicht richtig vorkam, so telegraphierte ich an das Kösliner Schwurgericht.

Vors.: Wer hat das Telegramm bezahlt?

Zeuge: Das habe ich bezahlt.

Vors.: Ist das auch wahr? Hatten Sie wirklich ein solches Interesse?

Zeuge: Ja.

Vors.: Wer hat das Telegramm verfaßt?

Zeuge: Ich.

Vors.: Das ist eine Unwahrheit, Zeuge! Ich warne Sie, hier einen Meineid zu begehen! Es ist geradezu unmöglich, daß Sie das Telegramm verfaßt haben.

Zeuge: Der Kaufmann Rosenberg in Neustettin hat es verfaßt. Vors.: Der hat auch das Telegramm bezahlt?

Zeuge (nach längerem Zögern): Jawohl.

Kaufmann Orbach bestätigte die Bekundung des Dienstmädchens Hilger.

Bürgermeister Kasch (Bärwalde, zur Zeit des Brandes Stadtsekretär in Neustettin): Einige Tage nach dem Brande überbrachte mir der Polizeidiener Conradt ein zum Teil verbranntes Gebetbuch, das er in der Wilhelmstraße in der Nähe des Brandortes gefunden hatte. Dies sollte lauf Bekundung des Polizeidieners nach Petroleum riechen; ich konnte jedoch einen solchen Geruch nicht wahrnehmen. Ich zeigte das Buch dem verstorbenen Bürgermeister Zingler, der ebenfalls keinen Petroleumgeruch wahrnehmen konnte.

Polizeidiener Conradt: Er und sein Kollege und auch Bürgermeister Kasch nahmen an dem Gebetbuche, das er direkt auf der Brandstätte gefunden, Petroleumgeruch wahr.

Vors.: Hat Herr Bürgermeister Kasch wirklich auch Petroleumgeruch wahrgenommen?

Zeuge: Genau weiß ich es nicht mehr.

Polizeidiener Kasch bestätigte zunächst die Aussage seines Kollegen. Auf Befehl des verstorbenen Bürgermeisters Zingler – so bekundete der Zeuge im weiteren – teren – habe er noch am Tage des Brandes eine Belohnung von 1000 Mark für Ermittelung des Täters mittels Ausklingelns an allen Ecken der Stadt bekanntgemacht. Diese Belohnung hatte die Neustettiner jüdische Gemeinde ausgeschrieben. Es kam ihm vor, als hätte es auch auf der Brandstätte nach Petroleum gerochen; genaues hierüber könne er jedoch nicht angeben.

Stellmacher Tietz: Er habe einige Tage nach dem Brande Reste von Gebetbüchern und Thorarollen gefunden, die stark nach Petroleum rochen. Er halte es wenigstens für sehr wahrscheinlich, daß der Geruch Petroleumgeruch war.

Schmied Neitzel: Er habe dieselben Wahrnehmungen wie der Vorzeuge gemacht.

Der Vorsitzende ließ auf ein Stück Papier Petroleum gießen und fragte die beiden letzten Zeugen, ob der Geruch, den sie wahrgenommen haben, derselbe war. Die Zeugen bemerkten: Der Geruch sei derselbe, nur nicht so stark wie der gegenwärtige gewesen.

Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte Polizeidiener Conradt: Es seien auf der Brandstätte noch ganze Fuder angebrannten Holzes, Balken usw. gefunden worden, die in der ersten Nacht nach dem Brande von den armen Leuten zumeist fortgetragen wurden.

Die Frage des Verteidigers Rechtsanwalts Meibauer, er, ob es wahr sei, daß Polizeidiener Conradt auf der Brandstätte gefundenes geschmolzenes Messing verkauft habe, beantwortete Conradt mit ja.

Arbeiter Buchholz: Er sei bei Heidemann in Dienst gewesen und von dem jungen Heidemann aufgefordert worden, das auf dem Hofe des Heidemann aufgestapelte Holz in den Schuppen zu schaffen und aus dem Zaun, der an die Hinterseite der Synagoge stieß, zwei Latten herauszubrechen. Von der Entstehungsart des Brandes wisse er nichts; nur habe er am Morgen des 17. und 18. Februar 1881 den Löwenberg mit einer Petroleumkanne gesehen. Es sei dies auf der Nysidopbrücke gewesen. Löwenberg habe den Weg nach dem Tempel zu genommen. Es sei wahr, daß er Heidemann wegen 60 Mark Lohndifferenzen verklagt habe. Er habe den Maurer Kaske der Schuldforderung wegen zu Heidemann geschickt und diesem sagen lassen, wenn er nicht bezahlen wolle, dann werde er ihm etwas zu schaffen machen, daß er daran denken solle. Am Vormittage des Brandes gegen 10 1/2 Uhr sei er, allem bisherigen Brauch zuwider, von dem jungen Heidemann aufgefordert worden, mit Dung aufs Feld zu fahren. Kaum sei er außerhalb der Stadt gewesen, da habe er den Tempel brennen sehen und sofort gedacht: Die Juden haben dich bloß aufs Feld geschickt, um den Tempel anstecken zu können. Er habe, als er aufs Feld fuhr, den älteren Lesheim mit einer Petroleumkanne leumkanne gehen sehen. Auch habe er kurz vor dem Brande auf dem Heidemannschen Wagen ein Stück Zündschnur gefunden, die er jetzt dem Polizeikommissar Höft überreicht habe.

Vors.: Mit dieser Zündschnur sind Sie erst jetzt hervorgetreten; wie kam das?

Zeuge: Ich wußte nicht, ob es wichtig sei.

Vors.: Wenn man jemand im Verdacht der Brandstiftung hat und findet auf dessen Wagen ein Stück Zündschnur, dann macht man doch davon Anzeige. Wie kommt es, daß Sie überhaupt mit diesen Ihren Angaben nach Jahr und Tag hervorgetreten sind, obwohl Sie gleich nach dem Brande mehrfach von dem Staatsanwalt und dem Amtsrichter in Neustettin vernommen worden sind?

Buchholz: Ich wurde nicht nach dem Petroleum gefragt.

Vors.: Sie sollen einmal kurz vor dem Kösliner Prozeß in einem Laden des Kaufmanns Michow in Neustettin gesagt haben: Sie wissen, wer der Täter sei; Lesheim sei unschuldig, aber die Heidemanns müßten ins Zuchthaus?

Zeuge: Das ist nicht wahr.

Vors.: Es werden aber Zeugen auftreten, die das bekunden werden. Sind Sie vielleicht, als Sie diese Äußerung taten, etwa animiert gewesen?

Zeuge: Ich weiß von gar nichts.

Vors.: Trinken Sie nicht überhaupt gern Schnaps?

Zeuge: Ich trinke wohl Schnaps, aber nicht zuviel; besoffen bin ich niemals.

Vors.: Sie sollen auch einmal zu jemandem, der Sie fragte: „Weshalb bist du denn noch immer bei dem Juden?“ gesagt haben: „Das ist wegen des Tempelbrandes?“

Buchholz: Ich meinte, das Geschäft geht schlecht, und da muß man da bleiben.

Vors.: Was hat das aber mit dem Tempelbrande zu tun?

Der Zeuge schwieg.

Vors.: Wie kam es, daß Sie doch endlich, und zwar zunächst der Redaktion der „Norddeutschen Presse“, Anzeige machten?

Zeuge: Ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht.

Vors.: Wie kamen Sie denn zur „Norddeutschen Presse“?

Zeuge: Ich hörte, daß man sich dort melden solle.

Vors.: Von wem hörten Sie das?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Warum zeigten Sie diese Ihre Wahrnehmungen nicht der Behörde an?

Zeuge: Ich glaubte, die „Norddeutsche Presse“ wäre eine Behörde.

Auf Antrag der Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello und Justizrat Scheunemann wurde aus den Akten festgestellt, daß Buchholz sich auf das Zeugnis des Beyer berufen habe, daß er den Löwenberg am Morgen des 17. und 18. Februar 1881 mit einer Petroleumkanne nach der Synagoge zu habe gehen sehen, und daß Buchholz ferner gesagt habe, er habe, als er aufs Feld fuhr, den Lesheim mit einer Petroleumkanne in die Synagoge gehen sehen, während er heute bekundet. Lesheim sei mit der Petroleumkanne von der Synagoge gekommen.

Buchholz: Ich habe immer gesagt: Lesheim ist mit der Petroleumkanne von der Synagoge gekommen.

Der Vorsitzende ließ aus den Akten feststellen, daß die Behauptungen der Verteidiger sich bewahrheiten.

Steinsetzmeister Beyer: Ich stand am Morgen des 17. Februar 1881 gegen fünf Uhr auf der Nysidopbrücke und habe den Löwenberg mit einer Petroleumkanne vorübergehen sehen. Löwenberg ging nach der Synagoge zu.

Vors.: War an diesem Morgen Buchholz dabei?

Beyer: Nein, Buchholz war am 18. Februar des Morgens dabei, als Löwenberg wieder die Nysidopbrücke entlang kam; da hatte letzterer aber keine Kanne.

Buchholz: Ich habe genau gesehen, daß Löwenberg eine Kanne hatte.

Vors.: Sie haben bei Ihrer ersten Vernehmung überhaupt von einer Petroleumkanne nichts gesagt; als Sie die Angabe bezüglich des Petroleums machten, sagten Sie auf Befragen, Buchholz habe Sie darauf aufmerksam gemacht?

Beyer: Das kann sein.

Vors.: Sie müssen mir bestimmt antworten!

Beyer: Es ist schon so lange her, ich weiß es nicht mehr.

Vors.: Sie wissen aber ganz genau, daß am Morgen des 17. Februar, als Sie den Löwenberg mit einer Petroleumkanne gesehen, Buchholz nicht dabei war, und daß am Morgen des 18. Februar Löwenberg keine Petroleumkanne hatte?

Zeuge: Jawohl.

Arbeiter Zibell: Buchholz hat mir einmal erzählt, er habe am Morgen des Brandes gegen elf Uhr den Lesheim mit einer Petroleumkanne aus der Synagoge kommen sehen, und ferner habe er gesehen, wie die beiden Heidemanns, als das Feuer noch nicht ausgebrochen war, die Fenster der Synagoge einschlugen.

Buchholz bestritt das.

Vors.: Buchholz! Sie haben sehr viel geredet; Sie sind vielfach vernommen worden und haben bei jeder Vernehmung Ihre Aussagen geändert; erinnern Sie sich, Sie werden die bekundete Äußerung wohl zu dem Zeugen getan haben?

Buchholz: Nein, das habe ich nicht gesagt.

Frau Zibell bestätigte die Bekundung ihres Gatten.

Vors.: War Buchholz, als er die Äußerung tat, betrunken?

Zeugin: Ich glaube, er hatte einen guten Schnaps getrunken. (Heiterkeit.)

Frau Winkler: Buchholz hat einmal im Laden bei Michow in Neustettin geäußert: „Ich werde einen schönen Text den Juden in die „Norddeutsche Presse“ einsetzen lassen; die Heidemanns sollen an mich denken.“

Maurermeister Kaske: Buchholz ersuchte mich einmal, zu Heidemann zu gehen und diesen aufzufordern, ihm die schuldenden 60 Mark zu geben, widrigenfalls werde er es ihm besorgen.

Auf Antrag des Rechtsanwalts Dr. Sello wurde dem Zeugen seine frühere Aussage vorgelesen. Danach hat er gesagt, er sei der Meinung gewesen, Buchholz habe bei seiner drohenden Redensart den Tempelbrand im Auge gehabt. Auf weiteres Befragen des Rechtsanwalts Dr. Sello bemerkte Kaske, die Heidemanns seien ihm als ordentliche, friedfertige und keineswegs als religiös-fanatische Leute bekannt.

Restaurateur Engel (Nette des alten und Vetter des jungen Heidemann): Einige Tage nach dem Brande äußerte Buchholz: „Der Heidemann ist doch recht dumm! Die alte Häckselmaschine kann man doch mit einem Hieb entzweischlagen, und dann erhält man sie von der Feuerversicherungsgesellschaft ersetzt. Das alte Ding ist doch nicht einmal das Verbrennen wert!“

Buchholz: Das ist eine Lüge.

Vors.: Ich bemerke Ihnen, Buchholz, daß Sie sich solcher Äußerungen zu enthalten haben.

Frau Buchholz: Kurz vor dem Brande erzählte mir mein Mann, daß er Holz aus dem Heidemannschen Hofe habe wegpacken und zwei Bretter aus dem Zaune brechen müssen. Nach dem Brande sagte mir mein Mann, er habe den Löwenberg oder den Lesheim, genau weiß ich das nicht mehr, mit einer Petroleumkanne in die Synagoge gehen sehen. Ich habe auch selbst gesehen, daß einen Tag vor dem Brande die zwei Bretter herausgebrochen waren.

Vors.: Wissen Sie, was eine Zündschnur ist?

Zeugin: Nein.

Vors.: Haben Sie diese Schnur bei Ihrem Mann einmal gesehen?

Zeugin: Ja, die zeigte mir einmal mein Mann mit dem Bemerken: „Damit werden die Juden wohl den Tempel angesteckt haben.“

Vors.: Wann zeigte Ihnen Ihr Mann die Schnur?

Zeugin: Im vergangenen Sommer.

Vors.: Buchholz, was sagen Sie dazu? Sie haben die Schnur Ihrer Frau schon im vergangenen Sommer gezeigt?

Buchholz: Das ist nicht wahr.

Vors.: Ihre Frau sagt es doch aber!

Buchholz: Die Frau irrt sich.

Vors.: Nun, Frau Buchholz, bleiben Sie dabei, daß Ihnen Ihr Mann die Schnur schon im vergangenen Sommer gezeigt hat?

Zeugin (sich umdrehend): Buchholz! Wann war es wohl, war es vielleicht erst jetzt?

Vors.: Sie sollen nicht Ihren Mann fragen, sondern sagen, was Sie selbst wissen. Bleiben Sie ja streng bei der Wahrheit, es könnte Ihnen sonst schlimm gehen, Sie könnten eventuell mit Ihrem Mann ins Zuchthaus wandern!

Zeugin: Genau weiß ich ja nicht mehr, wann es war.

Vors.: Sie haben vorhin mit Bestimmtheit gesagt, Ihr Mann hätte Ihnen im Sommer vergangenen Jahres schon die Schnur gezeigt.

Zeugin: Ich hatte das vergessen; denn mein Mann hatte die Schnur verlegt und erst nach dem Prozeß wiedergefunden.

Vors.: Zeigte Ihnen Ihr Mann die Schnur, als er sie gefunden, gleich wieder?

Zeugin: Ich glaube, vielleicht war es auch später.

Dienstmädchen Hilger bestritt mit vollster Entschiedenheit, daß sie die Schnur auf dem Heidemannschen Spinde gefunden, oder eine solche Schnur in der Heidemannschen Wohnung jemals gesehen habe.

Rentier Sirvent: Ich sah am Tage vor und noch am Vormittage kurz vor dem Brande das Holz auf dem Heidemannschen Hofe mannshoch aufgestapelt. Von aus dem Zaune gebrochenen Brettern habe ich nichts wahrgenommen.

Frau Sirvent bestätigte die Bekundung Ihres Gatten. Ich weiß mich schon um deshalb so genau auf das Vorkommnis zu erinnern, da mein damals achtjähriger Sohn während des Brandes den hohen Holzhaufen erkletterte und ich mich deswegen sehr ängstigte.

Frau Bütow schloß sich den Bekundungen der Sirventschen Eheleute an.

Vors.: Nun, Buchholz, wenn die Bekundungen der drei letzten Zeugen richtig sind, dann fallen die ihrigen in sich zusammen.

Buchholz: Ich habe die Wahrheit gesagt.

Rendant Gripp: Der Polizeidiener Conradt übergab mir einige Tage nach dem Brande ein angekohltes jüdisches Gebetbuch, das ganz fettig und klebrig war und nach Petroleum roch.

Ein Geschworener: Ich ersuche den Herrn Regierungsbaurat Benoit, zu sagen, ob ein Buch, das mit Petroleum durchtränkt ist, vollständig verbrennt.

Regierungsbaurat Benoit: Wenn ein Buch mit Petroleum durchtränkt ist, so verbrennt es vollständig.

Die Frage des Staatsanwalts, ob die mit Petroleum getränkten Bücher auch vollständig hätten verbrennen müssen, wenn sie unter dem Schutt gelegen hätten, verneinte der Sachverständige.

Handelsmann Beer: Der Steinsetzmeister Beyer sagte kurz nach dem Kösliner Prozesse: „Nun ist es raus mit dem Tempelbrande; ich habe aber gegen die Juden nichts Schlimmes gesagt.“ Da sagte Frau Beyer: „Mein Mann wußte ja von gar nichts; Buchholz hat ihn bloß zur Aussage verleitet.“ Beyer sagte zu seiner Frau: „Halts Maul!“ Die Beyerschen Eheleute zankten sich noch lange darüber, ich verließ jedoch inzwischen die Beyersche Wohnung.

Beyer: Ich habe bloß geäußert, wenn Buchholz nicht gewesen wäre, dann wäre ich nicht als Zeuge gekommen, denn ich hätte es nicht angezeigt.

Frau Buchholz: In unserer Wohnung zeigte einmal mein Mann dem Schmied Wienicke die Schnur mit den Worten: „Damit werden die Juden wohl den Tempel angesteckt haben.“ Wann das gewesen ist, weiß ich nicht. Ich bin bei Auffindung der Zündschnur nicht zugegen gewesen.

Kriminalkommissar Höft (Berlin): Im Auftrage des Ministers des Innern und mit Zustimmung des Ministers der Justiz war ich in der gegenwärtigen Prozeßangelegenheit nach Neustettin gereist, um Erhebungen anzustellen. Ich bestellte den Zeugen Buchholz zu mir in Mundts Hotel. Buchholz sagte mir, er könne nichts weiter sagen, als was er bereits gesagt habe. Am Abend wurde plötzlich die Tür in meinem Zimmer ganz ungestüm aufgerissen, und Buchholz trat in vollständig angetrunkenem Zustande herein. Er sagte: „Nun, Herr Kommissar, sehen Sie! Nun ist es doch klar, daß die Juden den Tempel angezündet haben. Nun liegen die Juden ordentlich drin, nun werden die Juden alle aufgehängt, und wir Christen, sind frei. Dies habe ich in der Heidemannschen Wohnung gefunden, und es ist klar, daß die Juden damit den Tempel angezündet haben.“ Buchholz überreichte mir ein Papier, in dem die Zündschnur eingewickelt war. Ich entfaltete das Papier, besah mir die Schnur und fragte: „Wann haben Sie die Schnur gefunden?“ Buchholz erwiderte: „Am Tage nach dem Brande fand sie die Berta Hilger in der Heidemannschen Wohnung. Im Sommer 1883 habe ich die Schnur meinem Freunde Wienicke gezeigt; wir haben ein Stück von der Zündschnur abgeschnitten, es angezündet und gefunden, daß Pulver darin sei.“ Ich versetzte: „Aber Buchholz, weshalb treten Sie denn erst jetzt mit einem solch wichtigen Belastungsmaterial vor? Weshalb haben Sie das nicht wenigstens beim Schwurgericht in Köslin vorgebracht?“ Buchholz antwortete: „In Köslin war das nicht notwendig, da wußte ich ja, daß die Juden ohnehin drin liegen.“ Ich bestellte mir an demselben Abende noch den Wienicke; dieser war aber so betrunken, daß ich nicht mit ihm verhandeln konnte. Ich ließ ihn deshalb am andern Morgen kommen; Wienicke antwortete mir jedoch, er müsse erst mit seiner Frau sprechen, ehe er etwas sage. Trotz wiederholter Vorhaltungen war er zu einer Aussage nicht zu bewegen. Ich bestellte ihn wiederum, und da sagte mir Wienicke: „Ich sage nichts; meine Frau meint, ich soll nichts sagen.“ Inzwischen hatte ich Frau Buchholz laden lassen. Diese erzählte mir auch von dem mit der Schnur in der Schmiede vorgenommenen Experiment, das – und so sagte auch Buchholz – 14 Tage nach dem Brande stattgefunden habe. Frau Buchholz bemerkte ferner, sie sei, als die Schnur in der Heidemannschen Wohnung gefunden wurde, zugegen gewesen; sie wußte aber nichts von dieser Auffindung.

Buchholz und Wienicke bestätigten, daß der erstere die Schnur 14 Tage nach dem Brande vorgezeigt habe; Experimente hätte sie jedoch nicht vorgenommen.

Der Vorsitzende verwarnte Buchholz in eindringlichster Weise; letzterer blieb jedoch bei seiner Behauptung.

Kriminalkommissar Höft: Ich habe die Vernehmung dieses Zeugen sofort verbotenus niedergeschrieben und das Protokoll zu den Akten eingereicht.

Der Vorsitzende bestätigte das.

Dienstmädchen Hilger bestritt mit voller Entschiedenheit, denheit, die vorliegende Zündschnur gefunden zu haben.

Kriminalkommissar Höft: Ich habe ein Stückchen Schnur angezündet; dies enthielt in der Tat Pulver.

Fräulein Friederike Jasse: Solange Buchholz bei Heidemanns war, war er niemals betrunken, nachher betrank er sich bisweilen, wie er sagte, aus Ärger, da die Juden ihm die 60 Mark nicht bezahlen wollten.

Dienstmädchen Hilger bestritt, daß kurz vor dem Brande Buchholz das auf dem Heidemannschen Hofe aufgestapelte Holz weggekarrt habe.

Schmied Wienicke, dessen Vernehmung wiederholt zu großer Heiterkeit Veranlassung gab, bekundete: Buchholz habe ihm von dem Wegpacken des Holzes und auch von der Pelroleumkanne erzählt; die letztere Angelegenheit habe er jedoch bereits vergessen.

Steinsetzer Janitz bekundete ebenfalls, Buchholz habe ihm von dem Wegpacken des Holzes, von der Auffrischung des Heidemannschen Feuerversicherungsschildes mittels Milch usw. erzählt. Von der Zündschnur habe er ihm keine Mitteilung gemacht Zündschnur, wie die vorliegende, werde von Steinsetzern behufs Sprengung der Steine vielfach benutzt. Buchholz habe ihm bisweilen geholfen, Steine entzweischlagen.

Arbeiter Liebling (Schwager des Buchholz): Kurz nach dem Brande kam Buchholz zu mir und stützte nachdenkend den Kopf in die Hand. Meine Frau fragte ihn, was ihm denn fehle. Buchholz erwiderte: „Mir geht es im Kopfe herum wegen des Tempelbrandes; daß ich das Holz wegpacken und zwei Bretter aus dem Zaune habe ausbrechen müssen, kommt mir nicht richtig vor. Buchholz zeigte mir auch die Bretter, die er habe losbrechen müssen.

Schuldiener Lange: Ihm habe Buchholz dieselbe Mitteilung wie dem Liebling gemacht. Es sei ihm auch, gleich seiner Frau, aufgefallen, daß in den kalten Januartagen und ebenso in der ersten Hälfte des Monats Februar täglich Frühgottesdienste im Tempel stattfanden, während in der Woche des Brandes, in der schönes Wetter war, sich kein Jude mehr im Tempel sehen ließ.

Schneidermeister Zülsdorf: Am Zaune habe er keine Bretter aufgebrochen gesehen, wohl aber habe er bemerkt, daß das Holz fast vollständig abgetragen war.

Fleischermeister Haß: Er habe am Tage des Brandes dem Heidemann Felle gebracht, die er in denselben Stall packte, in welchen Buchholz das Holz hineingebracht haben will. Er habe Holz in dem Stalle nicht wahrgenommen; er hätte eine solch große Quantität, wie sie Buchholz dorthin geschafft haben will, bemerken müssen. An dem Zaune habe er auch keinerlei Veränderung wahrgenommen.

Kaufmann Frankenstein (entfernter Verwandter des Heidemann) hatte die Wahrnehmungen bezüglich des Holzes und des Zaunes ebenfalls nicht gemacht.

Maurer Dorow: Er habe einen Tag vor dem Brande das Holz aus dem Heidemannschen Hofe abgetragen und es, etwa drei bis vier Klafter, in dem Stalle untergebracht gesehen.

Fleischergeselle Backhaus: Er habe mit Haß am Vormittage des Brandes Felle in den Heidemannschen Stall gebracht, Holz jedoch dort nicht wahrgenommen. Eine große Quantität Holz hätte er bemerken müssen.

Kaufmann Fabian: Er könne mit Bestimmtheit bekunden, daß das Holz von dem Heidemannschen Hofe nicht weggeschafft und die Bretter von dem Zaune nicht ausgebrochen waren.

Schuhmacher Greiser (Schwager des Buchholz) kam mit einem Zettel in der Hand in den Saal und will sich die Brille aufsetzen. Der Vorsitzende ließ sich den Zettel überreichen und stellte fest, daß der Zeuge sich Notizen behufs seiner Aussage gemacht habe. Greiser bekundete: Vierzehn Tage vor dem Brande habe Buchholz täglich, und zwar den ganzen Tag, das Holz von dem Heidemannschen Hofe weggekarrt und in den Stall geschafft.

Vors.: Aber Greiser! Das behauptet ja Buchholz selbst nicht; seien Sie hübsch vorsichtig und sagen Sie: Hat Buchholz wirklich 14 Tage lang den ganzen Tag über Holz gekarrt?

Zeuge: Ja.

Vors.: Buchholz wird doch noch etwas anderes gemacht haben?

Zeuge: Das ist möglich. Der Staatsanwalt und die Verteidiger ließen sich darauf den Zettel des Greiser überreichen.

Greiser: Den Zettel habe ich mir gemacht, damit, wenn ich von den Verteidigern gedrängt werde, ich weiß, wo ich wieder anfangen soll. Im weiteren bemerkte der Zeuge auf Befragen: Mir schien es, als wäre das Holz aufgestapelt gewesen, damit man den Juden nicht in den Tempel sehen könne.

Vors.: Weshalb wurde nun nach Ihrer Meinung das Holz weggeschafft?

Zeuge: Das habe ich mir nicht klargemacht. Wenige Tage nach dem Brande sagte Buchholz zu mir: „Nun weiß ich, weshalb ich das Holz wegpacken und vom Zaune zwei Bretter ausbrechen mußte.“

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer: Hat der Zeuge dem Tischler Kapelke mit den Worten gedroht: „Na warte einmal! Mit deinem Zeugnis werden wir dich schon kriegen?“

Greiser: Ich habe bloß gesagt: Wenn du Zeugnis ablegst, dann mußt du auch genau wissen, in welchem Spind es gebrannt hat.“

Auf weiteres Betragen des Vorsitzenden bekundete der Zeuge: Buchholz trinke wohl gern einen Schnaps, betrunken habe er ihn aber niemals gesehen. Er (Zeuge) wohnte bei Heidemann, sei mit 2100 Mark versichert gewesen und habe für entstandenen Brandschaden 450 Mark erhalten. Daß er seinen Brandschaden zu hoch angegeben, bestreite er.

Tischlermeister Kapelke bestätigte, daß ihm in der vom Rechtsanwalt Meibauer angegebenen Weise von Greiser gedroht worden sei.

Dienstmädchen Retzmer (16 Jahre alt): Ich sah, daß am Vormittage, als die Synagoge schon brannte, aus dem Zaun zwei Bretter ausgebrochen waren und Heidemann jun. über den Zaun stieg, um nach der Synagoge zu gehen. Zu dieser Zeit waren noch nicht viele Leute auf der Brandstätte.

Vors.: Du erscheinst heute zum ersten Male als Zeugin; wer hat dich als Zeugin vorgeschlagen?

Zeugin: Der Herr Landrat.

Vors.: Hast du deine Wahrnehmungen dem Herrn Landrat mitgeteilt.

Zeugin: Ich erzählte es Bekannten, und diese berichteten es wieder dem Herrn Landrat. Die Zeugin wollte im weiteren beobachtet haben, daß wenige Tage vor dem Brande der Zaun heil war.

Vors.: Du warst damals 13 Jahre alt; es ist doch höchst wunderbar, daß du dir damals gemerkt hast, der Zaun sei vor dem Brande ganz heil gewesen. Aus welchem Grunde bist du dem jungen Heidemann nachgegangen?

Zeugin: Ich wollte sehen, wo er hinging.

Regierungsbaurat Benoit: Ich erkläre auf Grund des amtlich aufgenommenen Situationsplanes, daß die Zeugin von der Stelle aus, auf der sie gestanden, ihre Wahrnehmungen nicht gemacht haben kann.

Die Zeugin blieb trotz eindringlichster Ermahnung des Vorsitzenden dabei, die Wahrheit gesagt zu haben.

Kaufmann Fabian: Ich bestreite entschieden die Richtigkeit der von der Zeugin bekundeten Wahrnehmungen. Ich wollte, als das Feuer ausbrach, über den Zaun steigen; es war mir aber unmöglich, da einmal der Zaun ganz war und vor ihm Holz stand.

Auf Antrag des Rechtsanwalts Dr.

Sello beschloß der Gerichtshof, den Ingenieur Schreiber behufs Klarstellung dieser Sache noch einmal vorzuladen.

Kriminalkommissar Höft überreichte einen ihm soeben übergebenen Brief, wonach ein Anonymus mitteilte, daß ein großer Herr jüdischen Aussehens fortwährend aus dem Saale in den Korridor gehe und die Zeugen zu beeinflussen suche. Die Gerichtsdiener erklärten, daß sie derartige Wahrnehmungen nicht gemacht haben.

Alsdann wurde nochmals Lehrer Pieper vernommen.

Vors. Herr Pieper! Sie sind am Sonnabend unwohl geworden; ich mußte deshalb die Vernehmung mit Ihnen abbrechen. Ich stelle also jetzt nochmals die Frage an Sie, haben Sie jemals von Ihrer Behörde einen Verweis erhalten, weil sie beim Religionsunterricht eine Beschimpfung gegen eine alttestamentarische Persönlichkeit getan haben?

Zeuge: Ich war am Sonnabend zu erschöpft, um richtig antworten zu können. Ich muß bemerken, daß ich seit 35 Jahren im Amte bin und mich nicht an alle Vorkommnisse, die mir während dieser Zeit passiert sind, erinnern kann.

Vors.: Haben Sie in Ihren Personalien einen Verweis stehen?

Zeuge: Das ist mir nicht bekannt; ich habe allerdings einmal vor vielen Jahren eine Ordnungsstrafe erhalten, der Grund dieser Strafe ist mir nicht mehr erinnerlich.

Vors.: Wird noch von irgendeiner Seite auf die Beantwortung dieser Frage Wert gelegt?

Der Staatsanwalt und die Verteidiger bemerkten, daß sie auf die Beantwortung dieser Frage kein weiteres Gewicht legen.

Vors.: Herr Pieper, Sie sollen zu dem Kürschner Lesser einmal gesagt haben: „Wenn der junge Lesheim heim bei dem Amtsgerichtsrat Völz nicht so grob zu mir gewesen wäre, dann hätte ich anders gegen ihn ausgesagt?“

Zeuge: Das bestreite ich entschieden.

Kürschner Lesser bestätigte die Frage des Vorsitzenden. Lehrer Pieper bemerkte dem Lesser, daß er wohl ein Interesse an der Sache habe.

Vors.: Ich verbitte mir derartige Redensarten; Sie haben am allerwenigsten das Recht, jemanden in dieser Weise zu beleidigen.

Töpferlehrling Ihwert (15 Jahre alt): Ich war zur Zeit des Synagogenbrandes in der zweiten Klasse der Neustettiner Stadtschule. Am Tage des Brandes von elf bis zwölf Uhr vormittags sollte Herr Pieper uns Musikunterricht geben. Kaum hatte er jedoch angefangen, die Geige zu stimmen, da sagte der Knabe Kann: „Da drüben raucht es!“ Lehrer Pieper sagte: „Die Juden werden wohl zu morgen räuchern.“ Ich stellte mich auf die Bank und sah zwei Juden aus der Synagoge kommen. Der eine hatte einen schwarzen Rock und einen schwarzen Hut, der andere war ein noch ganz junger Mann mit kurzem Jackett und einem kleinen runden Hut. Der jüngere hatte einen rotgestrichenen Stuhl in der Hand.

Vors.: Kanntest du diese Leute?

Zeuge: Nein.

Vors.: Sieh dir einmal die Leute da an! Kennst du sie?

Zeuge: Nein, aber bekannt kommen Sie mir vor, die Heidemanns kenne ich, die waren es nicht.

Pieper wollte wiederholt den Zeugen ergänzen.

Vors.: Herr Pieper, Sie haben sich vollständig ruhig zu verhalten und nur hervorzutreten, wenn Sie gerufen werden. Wenn Sie noch einmal den Versuch machen, in die Verhandlung einzugreifen, dann lasse ich Sie hinausführen. Nun Ihwert! Hat Herr Pieper mit dir über dein Zeugnis gesprochen?

Zeuge: Nein.

Vors.: Hat sonst jemand versucht, auf dein Zeugnis Einfluß auszuüben?

Zeuge: Nein.

Vors.: Höre einmal! Du bist noch so jung, du willst doch einmal ein ehrlicher Mensch werden?

Zeuge: Ja.

Vors.: Das kannst du aber nicht werden, wenn du hier ein falsches Zeugnis ablegst. Es ist doch sehr eigentümlich, daß du nach vollen drei Jahren so genau weißt, auf welcher Bank du an jenem Tage gesessen, wie der Stuhl ausgesehen hat usw. Kannst du dich nicht irren? Ist das Ganze nicht etwa ein Märchen, das du glaubst, weil du es von anderen Leuten gehört hast?

Zeuge: Ich weiß mich genau zu erinnern.

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer: Weshalb hast du deinem Vater von deiner Wahrnehmung keine Mitteilung gemacht?

Der Zeuge schwieg.

Vors.: Warum hast du das alles erst nach länger als einem Jahr erzählt?

Zeuge: Ich wurde nicht danach gefragt.

Vors.: Von wem wurdest du zuerst gefragt?

Zeuge: Herr Lehrer Pieper fragte in der Schule, wer von dem Brande des Judentempels etwas wisse, und da meldete ich mich.

Auf Antrag des Justizrats Scheunemann wurde Fleischermeister Haß vernommen, welcher bekundete: Der Hotelier Mundt in Neustettin habe zur Zeit gesagt, Ihwert habe überhaupt gar nichts gesehen.

Auf Antrag der Verleidiger wurde aus den Akten festgestellt, daß der Zeuge sich bei seinen Vernehmungen vielfach widersprochen habe.

Malerlehrling Denzin (16 Jahre alt): Ich war ebenfalls Schüler bei Pieper und sah am Vormittage des Brandes die Heidemanns, Vater und Sohn, mit noch einem kleinen Knaben etwa sechsmal in die Synagoge gehen und wieder herauskommen.

Vors.: Wer war der Knabe?

Zeuge: Den kannte ich nicht.

Vors.: Hast du wirklich gesehen, daß die Leute sechsmal in die Synagoge aus und ein gingen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Rauchte es damals schon?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Also am hellen Tage, sind diese Leute wirklich mehrere Male in die Synagoge aus und ein gegangen, während aus dem Tempel bereits Rauch drang?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Aber Denzin, ich rate dir, sage die Wahrheit! Bedenke doch, die Leute sind hier wegen Brandstiftung angeklagt! Es ist kaum denkbar, daß die Leute in solchem Falle am hellen Tage sechsmal und sogar mit einem kleinen Knaben in die bereits rauchende Synagoge gehen! Hat Herr Pieper nicht etwa gesagt: „Liebe Kinder! Ihr wißt doch noch, daß die Juden es so gemacht haben!“ und du bildest dir bloß ein, daß du deine Wahrnehmungen gemacht hast?

Zeuge: Nein, ich habe alles genau gesehen.

Vors.: Hast du bloß die Heidemanns gesehen?

Zeuge: Ja.

Vors.: Hast du nicht auch die Lesheims gesehen?

Zeuge: Ja, diese sah ich später.

Vors.: Wann war das?

Zeuge: Bald darauf.

Vors.: Was taten die Lesheims?

Zeuge: Der alte Lesheim stieg auf den Stuhl und hob ein Fenster aus; er reichte es dem jungen Lesheim, der es auf die Erde stellte.

Vors.: Konnte Lesheim das Fenster erreichen?

Zeuge: Ich glaube, er stieg auf einen Stuhl.

Vors.: Du sagst: „ich glaube“; weißt du das nicht genau?

Zeuge: Nein, ich glaube das.

Vors.: Woher kamen die Lesheims?

Zeuge: Das weiß ich nicht.

Vors.: Du hast das früher ganz genau gewußt.

Der Vorsitzende verlas die erste gerichtliche Aussage des Zeugen, danach hat dieser damals gesagt: „Die Lesheims sind von der Friedrichstraße heruntergekommen.“

Verteidiger Justizrat Makower: Der Zeuge sah den alten Heidemann, den jungen Heidemann und den jüngsten Heidemann sechsmal in die Synagoge aus und ein gehen. Nun hatte Heidemann jun. drei Kinder. Das älteste lag schwer krank danieder und ist am Tage des Brandes gestorben; das zweite, ein Knabe von sieben Jahren, war an dem Vormittage des Brandes zwischen zehn und elf Uhr in der Schule des Lehrers Lewin; der jüngste Sohn war zwei Jahre alt.

Vors.: Nun, Denzin, wie ist das? Wie alt war wohl der Knabe?

Zeuge: Ich weiß es nicht mehr genau, sieben Jahre wird er wohl gewesen sein.

Vors.: Ich bemerke allerdings, daß der Zeuge gesagt, er wisse nicht, wer der Knabe gewesen ist.

Der Vorsitzende stellte aus den Akten fest, daß der Zeuge die verschiedensten Aussagen gemacht, namentlich, daß er zunächst gesagt hat, der Lehrer Niemeyer habe gerade Unterricht erteilt, während er jetzt, nachdem Ihwert ihm entgegentritt, sagt, Lehrer Pieper habe gerade Unterricht erteilt.

Vors.: Als die Heidemanns zwischen zehn und elf Uhr vormittags sechsmal in die Synagoge gingen, da drang aus der Synagoge schon Rauch heraus?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Woher kam der Rauch?

Zeuge: Aus der Synagogentüre.

Vors.: Hast du davon dem Lehrer etwas gesagt?

Zeuge: Nein.

Vors.: Weshalb tatest du das nicht?

Zeuge: Wir durften in der Schule nur sprechen, wenn wir gefragt wurden.

Vors.: Denzin! Ich ermahne dich, die Wahrheit zu sagen, du hast geschworen! Wenn du heute sagen würdest, ich kann das nicht mehr wissen, so würde jeder Erwachsene sagen: Das ist auch nicht zu verlangen. Aber du bleibst dabei, daß das, was du gesagt hast, richtig ist.

Zeuge (nach längerem Zögern): Jawohl.

Verteidiger Justizrat Scheunemann: Ist es wahr, Denzin, daß du hier in einem Laden in Konitz vor wenigen Tagen gesagt hast, indem du eine Schnapsflasche in die Höhe hieltest: „Mit diesem Zeichen werden den wir siegen, die Juden müssen unterliegen!“ (Heiterkeit.)

Vors.: Ist das wahr, Denzin?

Denzin: Nein, das ist nicht wahr.

Justizrat Scheunemann beantragte, den Handlungsgehilfen und den Handlungslehrling des Kaufmanns H. Berent hierselbst zu laden, welche diese Tatsache bekunden werden.

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer: Ich habe auch noch einen Antrag zu stellen. Dem Schlächtermeister Hoffmann von hier ist in diesen Tagen von einem aus Neustettin geladenen Knaben eine Wurst gestohlen worden. Herr Hoffmann will den Zeugen wiedererkennen; es ist das zur Beurteilung der Wahrhaftigkeit der Knaben von Belang.

Der Gerichtshof beschloß, den gestellten Anträgen stattzugeben.

Am sechsten Verhandlungstage nahm sogleich nach Eröffnung der Sitzung das Wort Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello: Ich erlaube mir folgende Mitteilung zu machen; Der Steinsetzmeister Beyer hat gestern Herrn Justizrat Scheunemann in dessen Hotel aufgesucht und ihm gesagt, sein Gewissen dränge ihn zu folgendem Geständnis: Der Maurer Bumke habe ihm einmal erzählt, daß Buchholz einem Arbeiter Dobberstein zehn Taler geboten, wenn dieser die Synagoge anstecke. (Große allgemeine Bewegung.) Ich beantrage, zunächst den Steinsetzmeister Beyer über diese Tatsache zu vernehmen.

Der Gerichtshof entsprach dem Antrage des Verteidigers und ließ den Steinsetzmeister Beyer eintreten.

Vors.: Haben Sie immer die Wahrheit gesagt?

Zeuge: Ja.

Vors.: Sie haben sich allerdings im Widerspruch mit mehreren anderen Zeugen befunden. Ist es wahr, daß Buchholz mit der Brandstiftung in Verbindung steht?

Zeuge: Ich weiß bloß, daß Bumke mir erzählt hat, Buchholz habe dem Dobberstein zehn Taler geboten, wenn dieser den Tempel anstecken wolle.

Vors.: Wann hat dies Ihnen Bumke erzählt?

Zeuge: Nach dem Kösliner Prozeß.

Vors.: Weshalb haben Sie das nicht schon früher gesagt? Ich habe Sie doch aufgefordert, alles zu sagen, was Sie über die Brandstiftung wissen?

Der Zeuge schwieg.

Vors.: Ist Ihre Erzählung auch wahr?

Der Zeuge: Ja.

Vors.: Sind Sie etwa hier in Konitz von irgend jemandem beeinflußt worden?

Zeuge: Nein.

Staatsanwalt: Hat Ihnen auch Bumke gesagt, daß Dobberstein die Synagoge angesteckt hat?

Zeuge: Das hat er nicht gesagt.

Vors.: Gerichtsdiener! Lassen Sie einmal Buchholz eintreten!

Buchholz, wissen Sie, wer den Tempel angesteckt haben kann?

Zeuge: Nein.

Vors.: Kennen Sie einen Arbeiter Dobberstein?

Der Zeuge schwieg.

Vors.: Kennen Sie Dobberstein?

Zeuge (nach längerem Zögern): Ja.

Vors.: Weshalb zögern Sie so sehr? Sie kennen ihn ja doch jedenfalls schon seit lange?

Zeuge: Es gibt mehrere Dobbersteins.

Vors.: Auch mehrere Arbeitsleute, die Dobberstein heißen?

Zeuge: Ja.

Vors.: Sie sollen einem Arbeiter Dobberstein zehn Taler geboten haben, wenn er die Synagoge anstecken wolle?

Zeuge: Das ist nicht wahr.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello erklärte, daß er keinen Antrag stellen wolle.

Staatsanwalt: Ich werde den Bumke sofort telegraphisch laden.

Schneidergeselle Bensemer: Ich war zur Zeit des Brandes 15 Jahre alt und damals Maurerlehrling. Ich fühlte mich veranlaßt, Hilfe zu leisten und lief mit einer Axt durch den Heidemannschen Hausflur. Infolge ge Schwenkens der Axt fiel die Tür eines im Hausflur stehenden Kleiderspindes ein. Ich bemerkte, daß es in diesem Kleiderspinde brannte.

Der Vorsitzende und die Verteidiger bedeuteten dem Zeugen, daß das von ihm beschriebene Axtschwenken wohl schwerlich die bekundete Wirkung auf das Spind gehabt haben könne. Der Zeuge blieb bei seiner Bekundung.

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer: Ich beantrage, den Postsekretär Schmoll in Neustettin zu laden, der bekunden wird, daß Buchholz einmal in einem Schnapsladen trunken gemacht und alsdann belehrt wurde, was und wie er vor Gericht bekunden soll. Herr Postsekretär Schmoll werde auch die Leute nennen, die dies getan haben. Ferner beantrage ich, die Frau Mehlhändler Unger in Neustettin zu laden. Diese wurde kurz vor Beginn dieser Verhandlung veranlaßt, sich als Zeugin zu melden, um die unwahre Tatsache zu bekunden, daß Frau Lesheim, als sie gehört, ihr Mann sei in Köslin verurteilt worden, ausgerufen habe: „Nun werde ich die anderen Schuldigen namhaft machen!“ Es wurde der Unger gesagt, und zwar geschah diese Beeinflussung vielfach: sie solle im Interesse des Christentums, das die Juden beschimpfen wollen, das bekunden.

Der Staatsanwalt hielt den letzten Antrag für unerheblich.

Vert. Justizrat Makower: Der Königlichen Staatsanwaltschaft stehen allerdings andere Mittel zu Gebote als der Verteidigung. Der Staatsanwalt hat eventuell auch die Polizei zur Verfügung; er ist deshalb eher in der Lage, das Thema probandum anzugeben als wir. Hätten wir dieselben Mittel, dann wären wir in der Lage, genauer anzugeben, was die Zeugin hier bekunden soll.

Der Gerichtshof beschloß, dem ersten Antrage zu entsprechen, den zweiten Antrag jedoch abzulehnen.

Kaufmann Wilhelm Schulz: Ich habe gehört, daß bei Ausbruch des Feuers Kaufmann Lehmann 1000 Mark demjenigen geboten hat, der die Thorarollen rette. Ferner habe ich noch zu bekunden, daß ich bemerkte, wie am Brandlage etwa gegen 10 1/2 Uhr vormittags in der Lesheimschen Wohnung zweimal ein Fenster geöffnet wurde, jemand einen Augenblick hinaussah und alsdann das Fenster gleich wieder zuschlug.

Vors.: Legten Sie dieser Tatsache eine Bedeutung bei?

Zeuge: Anfänglich nicht; allein ich las die seitens des Fleischermeisters Angermann im Kösliner Prozeß gemachten Bekundungen, und infolgedessen hielt ich mich zur Anzeige verpflichtet.

Maurer Buhse: Am Vormittage des Brandes sah ich die Herren Löwe, Lehmann und Freundlich auf dem Scheunenberge etwa zwei Stunden auf und ab gehen und unaufhörlich auf die Synagoge hinsehen.

Staatsanwalt: Wann war das?

Zeuge: Zwischen zehn und zwölf Uhr etwa.

Vors.: Das kann ja aber kaum sein?

Zeuge: Dann war es bis elf Uhr.

Schuhmachermeister Haack: Ich sah ebenfalls am Brandtage, kurz vor Ausbruch des Feuers, die Juden Löwe und Lehmann, die nach der Synagoge sahen.

Vors.: Wodurch wissen Sie so genau, daß die Männer gerade auf die Synagoge sahen? Der Scheunenberg liegt doch etwa 1200 Schritte von der Synagoge entfernt!

Zeuge: Genau kann ich es nicht sagen, wohin die Juden gesehen haben, es waren auch noch mehr Juden dabei.

Auf Befragen des Justizrats Makower bemerkte Haack: Er habe die Juden Löwe und Lehmann zusammen gehen sehen, außerdem noch mehrere Juden.

Buhse: Ich habe nur die drei Juden Lehmann, Löwe und Freundlich gesehen, andere nicht.

Justizrat Makower: Zwei Stunden lang haben Sie diese drei Männer beobachtet und weiter keine Leute gesehen?

Zeuge: Nein.

Justizrat Makower: Dann mögen die Zeugen Ihre Widersprüche untereinander aufklären.

Frau Nachtwächter Schulz: Kurz vor Ausbruch des Brandes sah ich die verstorbene Frau Tempeldiener Löwenberg und den Kürschner Goldstandt ganz bestürzt auf dem Scheunenberg stehen. Andere Leute, ganz besonders die Juden Löwe und Lehmann, habe ich nicht gesehen.

Frau Schurig: Lesheim sen. tat einmal seiner jetzt im Irrenhause befindlichen Schwägerin gegenüber eine sehr unpassende Redensart. Die Schwägerin sagte infolgedessen: „Nun schweige ich nicht länger, ich bringe dich ins Zuchthaus“

Handelsmann Hain: Er habe eine ähnliche Redensart gehört, genaues könne er aber nicht bekunden.

Frau Grafunder, Schuhmacher Brodde und Klempner Laser bestätigten die Bekundungen des Schurig. Laser bemerkte noch: Er sei ganz bestürzt gewesen, als Frau Lesheim, die Schwägerin des Angeklagten Lesheim sen., in der Kösliner Verhandlung in Abrede stellte, eine solche Äußerung getan zu haben.

Vors.: Sind Sie denn so sehr empfindlich?

Zeuge: So etwas kann einen doch ärgern.

Vors.: Womit brachten Sie diese Redensart in Verbindung?

Zeuge: Mit dem Tempelbrande.

Vors.: Wie kamen Sie darauf?

Zeuge: Lesheim war doch der erste beim Tempelbrande.

Die Verlesung der früheren gerichtlichen Aussagen der Frau Lesheim ergab, daß sie ihrem Schwager wohl einmal gedroht habe, ihn wegen arger Beschimpfung anzuzeigen, von Zuchthaus habe sie jedoch nicht gesprochen; sie wisse auch nicht, daß ihr Schwager jemals etwas Böses begangen habe.

Kaufmann Theodor Schulz: Kurz vor elf Uhr sah ich die beiden Lesheim von der Friedrichstraße her auf den Markt kommen und Feuer rufen.

Vors.: Wissen Sie ganz genau, daß es noch nicht elf Uhr war?

Ganz bestimmt; mein Laden liegt gegenüber der Stadtuhr. Es ist allerdings auch möglich, daß die Stadtuhr gerade gestanden hat.

Verteidiger Justizrat Makower: Es ist hier in öffentlicher Sitzung den Herren Geschworenen je ein Exemplar des „Deutschen Tageblattes“ und der „Neuen deutschen Volkszeitung“ aus Berlin übersandt worden, in denen die Verhandlung bezüglich der Angeklagten in ungünstigem Lichte dargestellt wird. Alle Schlagworte in diesen Artikeln sind rot unterstrichen.

Vors.: Es genügt, das hier zu konstatieren; ich bin überzeugt, daß die Herren Geschworenen sich durch Zeitungsschreibereien in keiner Weise beeinflussen lassen werden.

Dienstmädchen Ratzmer: Gegen elf Uhr vormittags, tags, als es schon sehr rauchte, sah ich den älteren Lesheim mit einer Petroleumkanne aus der Synagoge kommen, die Friedrichstraße hinauflaufen und „Feuer“ schreien. Zur selben Zeit bemerkte ich auch den Löwenberg in der Nähe der Synagoge.

Witwe Kayser: Ich wunderte mich, daß mehrere Wochen vor dem Brande die Juden alle Morgen in den Tempel gingen, in der Woche des Brandes jedoch nicht mehr. Außerdem sah ich einige Tage vor dem Brande eine Anzahl Juden vor der Synagoge stehen und nach allen Seiten hinzeigen. Ferner bemerkte ich am Tage des Brandes zwischen fünf und sechs Uhr morgens den Lesheim in den Tempel hineingehen und bald darauf zwei Juden aus dem Heidemannschen Hause zurückkommen.

Vors.: Weshalb haben Sie sich aber nicht früher gemeldet?

Zeugin Ich fürchtete mich vor den Juden.

Vors.: Wie viele Juden gibt es in Neustettin, so daß Sie Ursache hätten, sich zu fürchten?

Die Zeugin schwieg.

Vors.: Wann zeigten Sie Ihre Wahrnehmungen an?

Zeugin: Ich erzählte es einer Bekennten, und diese erzählte es dem Klempner Laser. Laser sagte zu mir, er müsse das anzeigen, und da wurde ich von dem Herrn Landrat von Bonin vernommen.

Vors.: Wann wurden Sie vernommen?

Zeugin: Am 18. Februar 1884.

Vors.: Haben Sie den Lesheim genau erkannt?

Zeugin: Ich kann mich nicht irren, ich kenne den Lesheim zu genau.

Justizrat Makower: Sagten Sie selbst dem Herrn Landrat, daß Sie sich vor den Juden gefürchtet haben?

Zeugin: Ja.

Justizrat Makower: Jetzt fürchten Sie sich aber nicht mehr?

Zeugin: Ja, die Juden sind ja zu schlimm, die schimpfen ja so!

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer: Die Zeugin soll zu einer Frau Michaelis geäußert haben, als sie von der Verurteilung des Kösliner Schwurgerichts gehört: „Der Lesheim tut mir sehr leid; der ist bestimmt unschuldig“?

Zeugin: Das ist nicht wahr.

Staatsanwalt: Sind Sie hier von jemandem beschimpft worden?

Zeugin: Es ist mir gesagt worden, daß Frau. Michaelis meiner Aussage wegen sehr böse auf mich sei. Und hier in Konitz hat der jüdische Fleischer Davidsohn gesagt, als wir christlichen Zeugen vom Gericht kamen: „Da kommen die Kühe!“

Frau Rechlin: Am Mittwoch vor dem Brande habe ich des Morgens gegen drei Uhr Licht in der Synagoge gesehen. Am Donnerstagabend vor dem Brande sah ich den Lesheim sen. aus der Synagoge mit einem Sacke kommen. Auf meine Frage, was er darin trage, antwortete er: „Das sind Leuchter, die ich zum Klempner Merner bringe.“

Merner: Löwenberg ist nach dem Brande wohl einmal mit Leuchtern bei mir gewesen, Lesheim jedoch niemals.

Auf die Frage des R.-A. Meibauer, weshalb die Zeugin erst jetzt mit ihren Wahrnehmungen hervortrete, antwortete sie: Sie sei vor einigen Tagen nach Neustettin als Zeugin gekommen; als da über den Tempelbrand gesprochen wurde, habe sie ebenfalls ihre Wahrnehmungen erzählt, worauf eine Anzahl Leute gemeint hätten: „Sie müssen auch Zeugin sein; wir werden es dem Landrat anzeigen.“

Vors.: Weshalb haben Sie Ihre Wahrnehmungen aber nicht früher angezeigt?

Zeugin: Ich habe es ja dem verstorbenen Herrn Bürgermeister Zingler angezeigt, der hat es aber unterschlagen.

Frau Schilke: Am Morgen des Brandtages zwischen acht und neun Uhr sah ich den älteren Lesheim mit einer Petroleumkanne aus der Synagoge kommen.

Buchbinder Vanselow: Ich sah den älteren Lesheim in der Woche des Brandes, wohl an drei Tagen hintereinander mit einer Petroleumkanne kommen. Täuschen kann ich mich nicht, da ich den Lesheim zu genau kenne.

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer: Weshalb haben Sie Ihre Wahrnehmungen erst jetzt angezeigt?

Zeuge: Ich hielt es nicht für wichtig.

Frau Heidemann (Gattin des Angeklagten Heidemann jun.): Sie erinnere sich wohl, während der Feuersbrunst jemanden nach Strümpfen geschickt zu haben, wer dieser Bote gewesen sei, wisse sie aber nicht.

Verteidiger R.-A. Dr. Sello teilte mit: Es gehe ihm die Mitteilung zu, daß Lehrer Hübner und Kaufmann Bessert dem Beyer über die von ihm getanen Enthüllungen Vorstellung gemacht haben. Da Beyer erklärt, er habe noch weitere Enthüllungen zu machen, so beantrage er, Beyer observieren zu lassen.

Der Gerichtshof entsprach diesem Antrage.

Kriminalkommissar Höft: Buchholz teilte mir mit, er stehe deshalb augenblicklich von seiner Forderung gegen Heidemann, die sich auf 60 Mark belaufe, ab, bis die Verhandlung in Konitz beendet sein werde, damit er nicht als befangen gelte.

Buchholz bestätigte das.

Kriminalkommissar Höft bekundete im weiteren: Ein Polizeidiener in Neustettin machte mir die Mitteilung, daß der Wagenschmierer Gärtner etwas Wichtiges zu sagen habe. Ich bestellte letzteren; dieser teilte mir mit: 14 Tage nach dem Kösliner Prozeß, und zwar am 2. November 1883, sei er als Wagenschmierer und Hilfsweichensteller in der vierten Wagenklasse von Neustettin nach Köslin gefahren. Auf dem Kietz, einer Station hinter Neustettin, seien Frau Lesheim und Frau Heidemann eingestiegen. Die erstere habe ihm gesagt: „Ich fahre jetzt nach Köslin, um meinen unglücklichen Mann zu befreien, ich werde dem Staatsanwalt sagen, daß mein Mann durch Geldgeschenke zur Brandstiftung verleitet worden ist.“ Gärtner bemerkte mir im weiteren auf mein Befragen: Er könne sich nicht irren, denn diese Frauen seien ihm genau bekannt. Ich bestellte nun die Frauen auch zu mir und konfrontierte sie mit Gärtner. Gärtner entsprach meiner Aufforderung, seine Bekundung den Frauen ins Gesicht zu sagen. Als die Frauen ihm jedoch erwiderten, daß er lüge, und ich ihn eindringlichst verwarnte, begann er an allen Gliedern zu zittern und sagte, er irre sich. Ich stellte nun fest, daß auf dem Kietz Billette vierter Klasse nur bis Samenthin oder Gramenz verkauft werden, und daß in diesen Orten an betreffendem Tage solche Billette überhaupt nicht verkauft wurden.

Auf weiteres Befragen bekundete der Kommissar: Er habe absolut nichts ermitteln können, was die Angeklagten irgendwie belasten könnte. Den wirklichen Täter habe er allerdings auch nicht zu ermitteln vermocht. Er habe sich überzeugt, daß die Thorarollen sämtlich verbrannt und die jetzigen Thorarollen teils neu angeschafft, teils von anderen jüdischen Gemeinden nach dem Brande geschenkt worden seien.

Frau Munk und Kaufmann Reppen bekundeten übereinstimmend, daß etwa zehn bis fünfzehn Minuten vor Ausbruch des Feuers Leo Lesheim bei ihnen gewesen, um für den jüdischen Krankenverein Beiträge einzuziehen. Die wegen Krankheit kommissarisch vernommene Frau Wolfram hatte dasselbe bekundet

Angeklagter Lesheim sen.: Er sei bis zum 22. November 1880 Tempeldiener gewesen, und als solcher habe er das Petroleum für die der Nysidopbrücke gegenüberliegende Religionsschule zu besorgen gehabt. Er sei infolgedessen oftmals genötigt gewesen, mit Petroleumkannen über die Straße zu gehen.

Buchbinder Vanselow: Ich kann mich ganz genau erinnern, Lesheim in der Woche des Brandes mit einer Petroleumkanne gesehen zu haben.

Vors.: Können Sie sich nicht irren? Angesichts des Umstandes, daß Sie mit Ihren Wahrnehmungen erst nach drei Jahren hervorgetreten sind, ist es doch immerhin möglich, daß Sie die Zeit verwechseln?

Zeuge: Nein, das ist unmöglich. Ich kann auch noch mitteilen, daß während des Brandes eine Anzahl Juden, die an dem Fenster meiner Wohnung vorüberkamen, sehr vergnügte Gesichter machten.

Vors.: Das ist doch wohl mehr Phantasie?

Zeuge: Ich erinnere mich dessen ganz genau.

Rabbiner Dr. Hoffmann und Vorsteher Löwe bestätigten die Bemerkungen des Lesheim. Auf weiteres Befragen äußerte Rabbiner Dr. Hoffmann: Gegen die Behauptung des Zeugen Vanselow, daß er u.a. auch ihn während des Brandes mit vergnügtem Gesicht gesehen, könne er nichts sagen; das sei eine subjektive Auffassung, gegen die man nichts einwenden könne. Er sei in größter Bestürzung auf die Brandstätte geeilt; da er aber dort viele Leute mit schadenfrohen Gesichtern gesehen, die ihn anläßlich des die Gemeinde betroffenen Unglücks noch verhöhnten, so sei er sehr bald wieder nach Hause gegangen.

Verteidiger Rechtsanwalt Meibauer: Vanselow hat bekundet, er habe den Lesheim mit einer Petroleumkanne stets unter einem Haufen Schulkinder gesehen; ist dem Lehrer Hübner vielleicht einmal von einem seiner Schüler davon Mitteilung gemacht worden?

Hübner: Nein.

Maurer Kaleske: Er habe am Donnerstagabend vor dem Brande den Löwenberg in die Synagoge gehen sehen und kurze Zeit darauf den Löwenberg in der Friedrichstraße getroffen. Löwenberg habe etwas in einer roten Decke gehüllt getragen und sei damit zu dem Juden Leibholz gegangen.

Löwenberg bezeichnete das als unwahr.

Es wurde alsdann nochmals Steinsetzer Beyer aufgerufen gerufen und ihm vom Vorsitzenden in eindringlichster Weise Vorhaltung gemacht, weshalb er nicht früher mit seiner Bekundung hervorgetreten ist.

Beyer: Mein Gewissen drängte mich.

Vors.: Hat Ihnen jemand etwa gesagt: „Sagen Sie das aus, es wird Ihr Schaden nicht sein?“

Zeuge: Nein.

Maurer Bumke: Kurz nach dem Kösliner Prozeß arbeitete ich mit dem Arbeitsmann Dobberstein zusammen. Da erzählte mir letzterer: „Buchholz hat zu mir einmal gesagt: „Wenn du den Judentempel anstecken willst, so kannst du zehn Taler verdienen und soviel Schnaps erhalten, wie du willst.“

Vors.: Weshalb haben Sie das nicht früher gesagt?

Zeuge: Ich wußte nicht, daß es darauf ankommt.

Arbeiter Dobberstein: Buchholz sagte mir einmal vor dem Brande, der Zeit kann ich mich nicht mehr genau erinnern: „Ich kann dir einen guten Verdienst verschaffen. Wenn du den Judentempel anstecken willst, so erhältst du zehn Taler.“ Ich sagte zu Buchholz: „Ich lasse mich auf solche Sachen nicht ein.“

Vors.: Ist das auch wahr?

Dobberstein: Ich werde meine Seele nicht verschwören.

Vors.: Weshalb haben Sie sich nicht früher gemeldet?

Zeuge: Ich habe ja damit gar nicht zurückgehalten, ich habe es dem Bumke und auch anderen erzählt.

Vors.: War Buchholz damals betrunken?

Dobberstein: Nein, keineswegs.

Vors.: Buchholz, kennen Sie diesen Mann?

Buchholz: Ja, das ist Dobberstein.

Vors.: Seit wann kennen Sie ihn?

Buchholz: Erst seit zwei Jahren.

Vors.: Wenn nun aber Leute hier auftreten und sagen, Sie seien mit dem Mann schon vor dem Brande bekannt gewesen.

Buchholz: Möglich ist das auch.

Vors.: Sie sollen nun zu Dobberstein vor dem Brande einmal gesagt haben, wenn er den Tempel anstecke, dann könne er zehn Taler verdienen?

Buchholz: Das ist nicht wahr.

Dobberstein: Das ist aber doch wahr, Buchholz!

Buchholz: Wo soll ich dir das gesagt haben?

Dobberstein: In der Destillation von Freundlich.

Buchholz: Das bestreite ich ganz entschieden.

Vors.: Einer von beiden ist nun meineidig!

Dobberstein: Ich kann mich bekreuzen, und wenn ich auch nicht gleich Buchholz Ehrenzeichen habe, so steht der liebe Gott auf meiner Seite. (Bewegung.)

Buchholz: Das ist alles nicht wahr.

Postsekretär Schmoll: Buchholz wurde kurz vor diesem Prozeß trunken gemacht und ihm gesagt: „Du weißt doch, was du in Konitz auszusagen hast?“

Handlungsgehilfe Wilhelm Gaschkowski: Ein Knabe aus Neustettin, der hier als Zeuge geladen ist, holte am vergangenen Freitag bei uns (Hermann Berent hier) Schnaps. Wir sprachen über den Synagogenprozeß, und da sagte der Knabe, indem er die Schnapsflasche emporhob: „Das ist das Zeichen, mit dem wir die Schlacht gewinnen.“ Ich glaube, daß er so gesagt hat; genau kann ich es nicht mehr angeben.

Vors.: Sehen Sie sich einmal die Knaben an! Welcher war es?

Ihwert: Ich war es. (Heiterkeit.)

Vors.: Nun sieh einmal an, Junge! Warum hast du das nicht gleich gesagt? Du hast doch die ganze Verhandlung mit angehört! Also, was hast du gesagt?

Ihwert: Ich wurde am Freitag nach Schnaps geschickt, und da wollten mich die Leute aushorchen. Ich sagte: „Ich lasse mich nicht aushorchen!“ hielt die Schnapsflasche in die Höhe und fügte noch hinzu: „Die Preußen geben keine Schlacht auf; mit diesem Zeichen werden wir siegen.“ (Heiterkeit.)

Vors.: Und unter dem Zeichen verstandst du die Schnapsflasche?

Ihwert (lächelnd): Ja.

Vors.: Du bist ja ein toller Kerl! (Heiterkeit.) Bedenke doch, es handelt sich hier um Ermittelung der Wahrheit und nicht um einen Kampf, in dem sich zwei Parteien gegenüberstehen!

Ihwert: Das meine ich ja auch nicht.

Vors.: Es ist doch aber vom Synagogenbrandprozeß die Rede gewesen.

Ihwert: Ja.

Handlungslehrling Alois Kuschnewier bestätigte die Bekundung des Gaschkowski.

Der Vors. fragte alsdann die als Zeugen vernommenen Knaben, welchen Fensterflügel der ältere Mann ausgehoben habe. Hierbei traten die größten Widersprüche zutage. Der Vorsitzende stellte fest, daß die Knaben bei den verschiedenen gerichtlichen Vernehmungen die widersprechendsten Angaben gemacht haben.

Schulknabe Liebling (14 1/2 Jahre alt) bekundete dasselbe wie der Vorzeuge, verwickelte sich jedoch bei der Frage, welches Fenster die Lesheim ausgehoben haben, in Widersprüche.

Im weiteren erzählte Liebling: Er habe, als das Feuer ausgebrochen war, den Leo Lesheim mit dem Stuhle auf dem Kopfe gehen sehen. Leo Lesheim habe nicht recht gewußt, wohin er gehen solle.

Vors.: Das ist doch aber sehr eigentümlich, du hast dem Leo Lesheim sogar angesehen, daß er nicht wußte, wohin er gehen sollte?

Zeuge: Ja.

Vors.: Das beobachtetest du, während der Tempel in hellen Flammen stand?

Zeuge: Ja.

Vors.: Da hast du solche genaue Wahrnehmungen gemacht und weißt dich heute noch ganz bestimmt daran zu erinnern?

Zeuge: Ja.

Maurergeselle Markardt: Ich hatte früher in der Synagoge die Bedienung zu machen; es gab im Tempel keinen Stuhl, nur einen Schemel ohne Lehne.

Vors.: Ist jemand einmal bei Ihnen gewesen, der auf Ihr Zeugnis einwirken wollte?

Zeuge: Ja, Jassens Fritze ist bei mir gewesen..

Friederike Jasse: Ich bin bei dem Markardt gewesen. Der Polizeidiener Knaak fragte mich: ob im Tempel ein Stuhl gewesen ist. Ich sagte, ich wüßte es nicht, könne mich aber erkundigen; deshalb ging ich zu Markardt.

Hütejunge Kunte (17 Jahre alt): Ich sah am Tage des Brandes von der Schule aus zwischen acht und neun Uhr morgens den älteren Lesheim aus der Synagoge herauskommen. Lesheim sah sich noch einmal um; bald darauf drang Rauch aus der Synagoge.

Vors.: Weshalb erscheinst du heute erst als Zeuge?

Zeuge: Als die Zeugen von Köslin zurückkamen und ich die Berichte in den Zeitungen las, da sagte ich zu meinem Dienstherrn, ich wüßte auch etwas von dem Brande. Mein Dienstherr zeigte es dem Landrat v. Bonin an.

Glaserlehrling Geisenberg: Er sei zu der Zeit, als die Knaben den Leo Lesheim mit einem Stuhle auf dem Kopfe auf der Nysidopbrücke gesehen haben wollen, mit Leo Lesheim zu Jacoby gegangen, um für den alten Heidemann Strümpfe zu holen.

Sie seien nicht über die Nysidopbrücke, sondern längs des Flusses über die Bergstraße gegangen. Einen Stuhl habe Leo Lesheim nicht getragen.

Frau Riedel: Ich kann genau bekunden, daß ich kurz vor dem Ausbruch des Feuers dem Leo Lesheim am Lohmühlengraben begegnet bin. Er lief eiligst an mir vorüber und sah ganz verstört aus. Ich rief: „Leo! wohin! wohin!“ Leo antwortete mir aber nicht, sondern lief eiligst weiter. Er war allein und trug nichts bei sich. Etwa zehn Minuten nachher wurde „Feuer“ gerufen.

Leo Lesheim bestritt, an jenem Tage den Lohmühlengraben passiert zu haben.

Dienstmädchen Hilger: Sie habe gleich nach Ausbruch des Feuers den Leo Lesheim auf dem Markte gesprochen und nichts Auffälliges an ihm wahrgenommen.

Uhrmacherlehrling Hugo Perl (17 Jahre alt): Ich war zur Zeit des Brandes Schüler bei Herrn Pieper. Gegen zehn Uhr vormittags sah ich aus der Synagoge mehrere Juden herauskommen. Rauch habe ich nicht gesehen. Ich kannte die Männer nicht, ich glaube jedoch, doch, ein Kürschner Lesser oder Lesheim ist dabei gewesen.

Vors.: Wodurch wissen Sie so genau, daß diese Ihre Wahrnehmung am Vormittage des Brandes gewesen ist?

Zeuge: Ich war zwei Tage vorher krank.

Vors.: Trugen die Juden etwas bei sich?

Zeuge: Sie trugen schwarze Bücher unter dem Arme.

Dienstmädchen Ratzmer: Sie habe ihre Wahrnehmungen gemacht, als sie vor dem Heidemannschen Hause gestanden sei.

Vors.: Aber gestern sagtest du doch mit vollster Bestimmtheit, daß du vor dem Jasseschen Hause gestanden bist?

Zeugin: Nein, ich stand vor dem Heidemannschen Hause.

Vors.: Aber wie kommst du dazu, heute deine Aussage zu ändern?

Die Zeugin schwieg.

Ingenieur Schreiber: Auch von dieser Stelle, auf der die Zeugin gestanden haben will, kann sie ihre Wahrnehmungen kaum gemacht haben.

Vors.: Es ist mir soeben von dem Vorstande der Kreissynagogengemeinde zu Gumbinnen ein jüdisches Gebetbuch zugegangen mit dem Bemerken, daß, wie das Buch bezeugt, die alten Gebetbücher durch das Betropfen von Wachslichtern ein fettiges Aussehen erhalten. Der Vorsitzende ließ das Gebetbuch auf der Geschworenenbank kursieren.

Es wurde Lehrer Pieper aufgerufen.

Verteidiger Justizrat Makower: Hat der Zeuge die Denunziation gegen den Lehrer Gaffke in Neustettin verfaßt, in welcher Folge Gaffke wegen Vornahme unzüchtiger Handlungen angeklagt, vom Schwurgericht aber freigesprochen wurde? Die Denunziation ist unterschrieben: „Mehrere Bürger“. Ferner: Ist es richtig, daß die von Pieper als Zeugen vorgeschlagenen Schulkinder vor Gericht das Gegenteil von den Behauptungen des Pieper bekundeten?

Vors.: Nun, Herr Pieper, haben Sie die erwähnte Denunziation verfaßt?

Pieper: In Köslin konnte ich die Antwort hierauf verweigern.

Vors.: Was in Köslin geschehen ist, geht uns nichts an; ich frage Sie: Sind Sie der Verfasser der Denunziation?

Pieper: Wenn ich die Frage beantworten muß?

Vors.: Ein Zeuge hat das Recht, die Beantwortung zu verweigern, wenn er dadurch eine strafrechtliche Verfolgung gegen sich selbst oder einen seiner Angehörigen zu befürchten hat. Wenn also dieser Fall bei Ihnen zutrifft, dann haben Sie das Recht, die Antwort zu verweigern.

Pieper: Dann verweigere ich die Antwort.

Vors.: Und was antworten Sie auf die zweite, vom Herrn Verteidiger gestellte Frage?

Pieper: Auf diese angebliche Tatsache kann ich mich nicht mehr besinnen.

Schlossenmeister Schmiedicke: Rentier Lindenberg hat in meiner Werkstätte einmal furchtbar auf die Kaufleute Löwe, Rosenberg und Lesser geschimpft und diese u.a. „Tempelanzünder“ genannt.

Lindenberg bestritt das.

Kaufmann Bessert: Er habe sehr viele Feuersbrünste gesehen, niemals aber eine solch dunkle Flamme, wie bei dem in Rede stehenden Brande beobachtet. Bisweilen kamen sogenannte Stichflammen zum Vorschein.

Vors.: Daß die Flamme dunkel war, ist wohl kein Wunder. Es lagen Matten, Teppiche usw. in der Synagoge.

Zeuge: Matten brennen aber hell.

Vors.: Das stimmt nicht ganz, das ist aber Ihre Meinung?

Zeuge: Jawohl. Im weiteren bemerkte der Zeuge auf Befragen: Eine Anzahl Juden in Neustettin rief sofort: „Die Christen haben uns den Tempel angesteckt!“ Ein Jude sagte mir sogar ins Gesicht: „Sie sind der Brandstifter!“ Greiser brachte mir kurz nach dem Brande ein Gebetbuch, das ungeheuer nach Petroleum troleum roch. Der Geruch war so stark, daß meine Finger noch lange nachher nach Petroleum rochen. Außerdem habe ich einmal kurz vor dem Brande ein Gespräch von mehreren Juden mit angehört, wobei diese äußerten: „Unser Tempel ist doch trotz des Anbaues viel zu klein; wir haben nur zu einem Neubau kein Geld!“ Wer die betreffenden Juden waren, weiß ich nicht mehr.

Frau Alwine Schmidt: Ich ging am Tage des Brandes die Friedrichstraße hinunter und sah, daß der Tempel brannte. Ich begegnete zwei jüdisch aussehenden Herren. Als ich diesen sagte: „Der Tempel brennt!“ antworteten sie mir mit unpassenden Redensarten. Auf der Brandstätte angelangt, sah ich, daß drei jüdische Männer in sehr aufgeregtem Zustande über den Zaun des Heidemannschen Hofes stiegen. Der eine dieser Männer ist bestimmt der ältere Leisheim gewesen. Zu dieser Zeit waren mehrere Leute auf der Brandstätte. Der Qualm roch sehr stark nach Petroleum.

Der Vorsitzende stellte aus den Akten fest, daß die Zeugin sehr wesentlich von ihren früheren Aussagen abgewichen sei.

Die Zeugin bemerkte, sie sei krank gewesen und leide infolgedessen etwas an Gedächtnisschwäche.

Auf die Frage des Verteidigers Rechtsanwalts Dr. Sello bekundete die Zeugin des weiteren: Sie glaube deshalb, das Feuer sei mittels Petroleum angelegt worden, weil, als einmal das Grundstück ihrer Eltern abbrannte, der Qualm des Brandes, der damals, wie gerichtlich erwiesen, mittels Petroleum in Szene gesetzt worden war, genau so wie das Feuer beim Tempelbrande roch. Bei jenem Brande habe sogar das Wasser im Brunnenkessel derartig nach Petroleum gerochen, daß es absolut nicht zu gebrauchen war.

Vors. Das Petroleum aus dem Gebäude kann sich doch nicht dem Brunnen mitteilen!

Zeugin: Ja, das ist doch wahr. (Heiterkeit.)

Lehrer Hübner: Ich habe den Lesheim nicht über den Zaun steigen sehen; andere Leute sind allerdings, nachdem das Feuer ausgebrochen war, über den Zaun gestiegen.

Hausbesitzer Erbguth: Ich sprach einmal mit dem Kantor Lewin über den Synagogenbrand. Lewin sagte zu mir: „Lesheim tut mir leid, Löwe hat an allem schuld.“ Ich äußerte, ich glaube bestimmt, Lesheim habe es nicht aus eigenem Antriebe getan; wenn Lesheim klug wäre, dann würde er sagen, wer ihn dazu verleitet hat. Lewin sagte: „Ja, ja, der Löwe, der Löwe!“ Ähnliche Äußerungen soll Lewin auch kurz vor dem Brande zu dem Schuhmachermeister Stubbe getan und dabei bemerkt haben: „Da wird nichts herauskommen, denn die Juden lügen so furchtbar und gestehen nicht, selbst wenn sie schon den Strick um den Hals haben.“

Vors.: Herr Stubbe! Das hat Lewin wirklich gesagt?

Stubbe: Das behaupte ich mit vollster Entschiedenheit.

Vors.: Fiel es Ihnen nicht auf, daß ein Jude eine solche Redensart machte?

Stubbe: Nein.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello: Warum teilten Sie Ihre heutigen Bekundungen nicht in der Kösliner Schwurgerichtsverhandlung mit?

Zeuge: Da wurde ich nicht danach gefragt.

Kantor Lewin bestritt entschieden, die bekundeten Äußerungen getan zu haben. Es sei möglich, daß er gesagt: „Löwe ist an allem schuld“, damit habe er aber etwas ganz anderes im Auge gehabt. Er sei mit Löwe verfeindet, da dieser ihn gewissermaßen aus seiner Stellung gedrängt habe.

Gefreiter Tietz: Wenige Tage nach dem Brande sah ich, daß der Tempeldiener Löwenberg eine Anzahl Kronleuchter trug.

Tempeldiener Löwenberg: Er gebe zu, solche Kronleuchter einmal über die Straße getragen zu haben, das müsse aber etwa vierzehn Tage nach dem Brande gewesen sein. Diese Kronleuchter habe sich die Gemeinde von der zu Bärwalde geliehen gehabt.

Rabbiner Dr. Hoffmann bestätigte das. Er wisse nicht genau, wann die Kronleuchter aus Bärwalde gekommen seien; jedenfalls seien sie einige Tage nach dem Brande noch nicht in Neustettin gewesen. Die Leuchter seien gleich nach ihrer Ankunft auf Befehl des Staatsanwalts Pinoff mit Beschlag belegt, nach etwa acht Tagen jedoch wieder freigegeben worden.

Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Neustettin, Kaufmann Wolff Löwe: Schon 1876 machte sich das Bedürfnis nach einer größeren Synagoge geltend. Wir kauften deshalb einen Bauplatz für 5250 Mark, überzeugten uns jedoch sehr bald, daß uns zu einem Neubau die Mittel fehlten. Wir verkauften deshalb den Bauplatz wieder und ließen die Synagoge ausbauen. Sie wurde erweitert, die Bänke renoviert, neue Teppiche gelegt, die Sitze derartig vermehrt, daß nicht bloß alle Gemeindemitglieder hinlänglich Platz hatten, sondern auch noch eine Anzahl Reservesitze vorhanden waren. Die Synagoge hatte nach dem Ausbau, ohne die innere Einrichtung, einen Wert von etwa 6000 Mark. Der Ausbau hat nur etwa 4500 bis 4800 Mark gekostet. Da wir auch alle Privat-Thorarollen, Kronleuchter usw. versichern wollten, so ließen wir die Synagoge, einschließlich allem Inventar, mit 12000 Mark versichern. Bei der Regulierung des Schadens erhielten wir allerdings nur 9000 Mark. Jedes einzelne Mitglied der Gemeinde hat infolge des Brandes Schaden erlitten. Mir sind verschiedene Sachen, chen, u.a. ein wertvolles Gebetbuch, verbrannt, das noch ein Andenken von meinen Urgroßeltern war. Der mir persönlich erwachsene Schaden belief sich, einschließlich der von mir gekauften Sitze, auf etwa 600 Mark. Ich erhielt von dem Brande gegen 11 1/4 Uhr vormittags Kenntnis. Anfänglich glaubte ich die Nachricht nicht, da damals in Neustettin ähnliche Dinge häufig kolportiert wurden. Das Gebäude brannte in zwei Stunden nieder. Daß das Feuer mittels Petroleum angesteckt war, glaube ich nicht, denn es roch nicht danach. Dagegen war ich anfänglich davon überzeugt, daß das Feuer von ruchloser Hand angelegt worden, weil bereits im Jahre 1863 uns eine Anzahl Thorarollen von ruchloser Hand zerschnitten wurden. Der oder die Täter sind damals mittels Fenstereinschlagens in die Synagoge eingedrungen. Die Gemeinde hat durch den Brand bedeutenden Schaden gehabt; denn wir sind genötigt gewesen, einen Neubau auszuführen, der 50000 Mark gekostet hat.

Vors.: Die Gemeinde in Neustettin ist aber doch arm?

Zeuge: Arm ist sie gerade nicht, sie ist aber auch nicht reich.

Vors.: Wie trieben Sie die 50000 Mark auf?

Zeuge: 9000 Mark erhielten wir Versicherungsgelder, 30000 Mark nahmen wir leihweise auf, und etwa 7 bis 8000 Mark erhielten wir von Glaubensgenossen geschenkt.

Vors.: Sind Silbersachen auch mitverbrannt?

Zeuge: Die Silberbehänge der Thorarollen wurden den Privatbesitzern jedesmal am Ausgange des Sabbats zurückgegeben. Im weiteren bekundete der Zeuge: Daß mehrere Wochen vor dem Brande regelmäßig Frühgottesdienste in der Synagoge stattfanden, ist unwahr. Wenn Zeugen derartige Bekundungen machen, so beruht das auf Einbildung. Wir ersuchten noch am Tage des Brandes den verstorbenen Bürgermeister Zingler, eine Belohnung von 1000 Mark für Ermittelung der Brandstifter an allen Straßenecken auszubieten. Auch baten wir gleich nach dem Brande den Polizeipräsidenten von Berlin, Geheimen Regierungsrat v. Madai, einen Kriminalkommissar behufs Ermittelung des oder der Täter nach Neustettin zu schicken. Dieses unser Gesuch wurde jedoch „aus dienstlichen Gründen“ abgelehnt. Einige Zeit vor dem Brande hatten wir einmal Petroleumbeleuchtung im Tempel; diese erwies sich jedoch als vollständig unpraktisch, weshalb wir sie wieder abschafften.

Klempnermeister Merner bestätigte die letzte Bekundung des Vorzeugen. Das von mir geführte, beim Kösliner Prozeß zu den Akten überreichte Kontobuch, woraus hervorgeht, daß wir einige Wochen vor dem Brande nicht mehr Lichter verbrannten, als dies verhältnismäßig in der Woche des Brandes geschah, ist richtig.

Frau Schuhmachermeister Greiser (Schwester des Buchholz): Wir wohnten bei Heidemanns und lebten durchaus friedlich miteinander. Kurz vor dem Brande mußte Buchholz das auf dem Hofe aufgestapelte Holz wegkarren. Ich sagte zu dem jungen Heidemann: „Weshalb lassen Sie denn das Holz wegpacken?“

„Es könnte gestohlen werden,“ erwiderte Heidemann.

„Aber Herr Heidemann, von diesem hohen Holzstoß kann doch niemand etwas stehlen!“ erwiderte ich. Mir fiel das Wegkarren des Holzes um so mehr auf, da es in gleicher Höhe wohl schon seit sieben Jahren dort gestanden hatte.

Es wurde hierauf Stellmacher Schmidt, der wegen vorsätzlicher Inbrandsetzung seiner eigenen Besitzung neun Jahre Zuchthaus verbüßte, vorgeführt.

Vors.: Sind Sie mit den Angeklagten verwandt oder verschwägert?

Zeuge: Ich bin Christ.

Vors.: Deshalb wäre eine Verschwägerung doch aber möglich.

Zeuge: Bei mir nicht.

Zur Sache bekundete der Zeuge auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin am Brandtage zwischen zehn und elf Uhr vormittags auf den Synagogenplatz gekommen. Dort habe ich vor der Synagoge mehrere Juden stehen sehen; der eine war der junge Heidemann. Es drang Rauch aus der Synagoge, und es roch furchtbar nach Petroleum. Ich wollte in den Tempel hineinsehen und schwang mich auf die Fensterbrüstung; da zog mich der junge Heidemann zurück mit den Worten: „Lassen Sie es doch brennen!“ Der Jude schlug alsdann in der Nähe des Allerheiligsten ein Fenster ein, in welcher Folge das Feuer erst recht Luft bekam. Ich wollte mich anfänglich nicht als Zeuge melden, da ich die vielen Laufereien fürchtete. Der damalige Stadtsekretär von Neustettin, Herr Kasch, sagte jedoch zu mir: Wenn Sie ein deutscher Patriot sein wollen, dann müssen Sie alles sagen, was Sie wissen; denn die Juden bezichtigen die Christen der Brandstiftung. Einige Zeit darauf, nachdem ich mit dem jüngeren Heidemann Termin gehabt hatte, traf mich Heidemann in Neustettin auf dem Wochenmarkte. Da sagte Heidemann zu mir: „Sie werden wir auch noch aus dem Wege räumen.“ Einige Zeit darauf kam der Jude Manasse zu mir nach Küdde und sagte: „Sie hätten besser getan, wenn Sie sich nicht als Zeuge gemeldet hätten; das wird Ihnen noch übel bekommen!“ Dieser Jude trat in dem gegen mich verhandelten Brandstiftungsprozesse als Hauptzeuge auf.

Der Vorsitzende richtete alsdann an Schuhmachermeister Greiser die Frage, aus welchem Grunde Heidemann das Holz habe wegkarren lassen.

Zeuge: Die Erklärung überlasse ich Ihnen. (Heiterkeit.)

Vors.: Sind Sie nicht so naseweis, Greiser, wenn ich eine Frage an Sie stelle, dann habe ich einen Grund dazu.

Greiser: Ich kann doch nicht wissen, weshalb Heidemann das Holz hat wegpacken lassen, ich habe ja nicht gesehen, daß er die Synagoge angesteckt hat (Heiterkeit.)

Vors.: Weshalb haben Sie Ihre Wahrnehmungen bezüglich des Holzes so spät angezeigt?

Zeuge: Einmal dachte ich nicht gleich, daß das mit der Brandstiftung in Verbindung steht und andererseits bin ich von dem Amtsrichter Völz in Neustettin zu sehr „angebrüllt“ worden.

Vors.: Sie konnten von Ihrer Wohnung aus in die Synagoge sehen?

Zeuge: Jawohl.

Vors.: Taten Sie das häufig?

Zeuge: Nein, ich sah nur selten hinein; ich glaubte, man störe dadurch die Juden.

Vors.: Sie haben früher gesagt, Heidemann habe das Holz so hoch aufstapeln lassen, damit niemand in die Synagoge hineinsehen könnte?

Greiser: Ja.

Vors.: Und wenn Heidemann das Holz wegschaffen ließ, da konnte man ja erst recht in die Synagoge hineinsehen. einsehen. Ihre Schlußfolgerungen treffen also nicht ganz zu?

Greiser schwieg.

Schmied Rhode: Ich kam gegen elf Uhr vormittags mit meinem Freunde Schulz auf die Brandstätte; das Feuer war noch sehr unbedeutend. Es brannte am Allerheiligsten eine Flamme etwa zwei Fuß hoch.

Vors.: Bei Ihren früheren Vernehmungen sagten Sie, die Flamme sei mannshoch gewesen?

Zeuge: Ich weiß das nicht mehr so genau.

Auf weiteres Befragen äußerte der Zeuge: Es sagte jemand zu dem alten Heidemann: „Holen Sie doch ein paar Eimer Wasser, damit ist ja das Feuer zu löschen!“ Heidemann antwortete: „Spaß, das haben Christenhände getan.“

Vors.: Nun, Heidemann, wie ist das?

Heidemann: Ich habe niemals eine derartige Äußerung getan.

Vors.: Sie haben früher gesagt, es sei eigentlich wunderbar, wie man Ihnen als so altem Manne zumuten konnte, ein paar Eimer Wasser zu holen?

Angekl.: Das meine ich auch.

Vors.: Rhode! wie ist das?

Rhode: Ich habe meine Aussage beschworen und bleibe dabei; ich weiß genau, was ein Eid zu bedeuten hat.

Schlächtermeister Angermann wurde infolge seines unruhigen und vorlauten Auftretens wiederholt vom Vorsitzenden zurechtgewiesen. Der Zeuge erzählte mit fieberhafter Unruhe und in einer Weise, daß ihm der Vorsitzende mehrfach mit Verhaftung drohte. Ich bin am Vormittage des Brandes bei Lesheim gewesen und habe beide (Vater und Sohn) ungemein aufgeregt gesehen. Die von diesen miteinander gewechselten Blicke werde ich niemals vergessen. Lesheim sen. lief unaufhörlich mit fieberhafter Unruhe in der Stube auf und ab, Leo Lesheim sah ebenfalls ganz verstört aus; er öffnete sechsmal hintereinander das Fenster und sah hinaus, schlug es dann wieder zu und warf seinem Vater einen lächelnden Blick zu.

Vors.: Was schlossen Sie aus dieser Aufregung?

Zeuge: Anfänglich wußte ich nichts, später aber, als ich hörte, Lesheim stehe im Verdacht der Brandstiftung, da erinnerte ich mich des Vorganges.

Vors.: Sie sind mit Ihren Wahrnehmungen sehr spät hervorgetreten?

Zeuge: Ja, ich bin Geschäftsmann und stand mit den Juden immer gut. Meine Frau sagte auch, ich solle aus der Sache nichts machen.

Vors.: Sie haben anfänglich vor dem Untersuchungsrichter gesagt, Lesheim sei sehr ruhig gewesen?

Zeuge: Ja, da trat ich eben mit der Wahrheit noch nicht hervor. Barbier Keller wußte es auch, er sagte mir aber einmal: „Du, wir sind beide Geschäftsleute, wir wollen nichts daraus machen.“ Aber später sagte mir Stubbe: „Du bist doch verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Du bist ein Christ, jeder Christ hat eine Religion, und du weißt doch, welchen Schimpf uns die Juden antun wollen.“ Von diesem Augenblick an hatte ich keine Ruhe mehr.

Lesheim sen.: Es ist richtig, daß Angermann am Vormittage kurz vor dem Brande bei mir gewesen ist, alles übrige bestreite ich.

Leo Lesheim: Ich bin zur Zeit, als Angermann bei uns war, gar nicht zu Hause gewesen.

Vors.: Nun, Angermann, bleiben Sie bei Ihrer Aussage?

Angermann: Ich bleibe fest wie Eisen. (Heiterkeit.)

Vors.: Angermann, benehmen Sie sich hier anständig!

Auf Antrag des Rechtsanwalts Meibauer wurde die Aussage des inzwischen verstorbenen Barbiers Keller verlesen. Danach hatte dieser gesagt, er sei zwischen zehn und elf Uhr bei Lesheim gewesen, habe den alten Lesheim angetroffen und Auffälliges an ihm nicht wahrgenommen.

Frau Goldstandt: Am Tage vor dem Kösliner Prozesse sagte Angermann zu mir: „Ich muß nach Koslin fahren, obwohl ich nicht das mindeste weiß.“ Als die Aussage Angermanns in Neustettin durch die Zeitungen gen bekannt wurde, sagte Frau Angermann zu mir, die Angermanns sind alle ein bißchen verrückt.

Vors.: Nun, Angermann, was sagen Sie dazu?

Angermann: Ich werde doch der Frau nicht sagen, was ich weiß.

Vors.: Sie sollen mir auf meine Frage antworten?

Angermann: Es ist ja möglich, aber ich werde Frau Goldstandt verklagen, wie kann die so meine Frau beleidigen! (Heiterkeit.)

Vors.: Die Zeugin hat doch aber Ihre Frau in keiner Weise beleidigt.

Kaufmann Gustav Orbach: Angermann hat mir selbst einmal erzählt, er habe an Lesheim Auffälliges nicht wahrgenommen. Der verstorbene Barbier Keller sagte einmal zu mir: „Ich begreife gar nicht, daß man den Lesheim der Brandstiftung bezichtigen will; ich bin am Vormittage des Brandes zwischen zehn und elf Uhr bei ihm gewesen und habe absolut nichts Auffälliges wahrgenommen.

Am siebenten Verhandlungstage erklärte der Vorsitzende die Beweisaufnahme für geschlossen und verlas die Schuldfragen. Diese lauteten: Sind die Angeklagten schuldig, im Februar 1881 zu Neustettin ein zu gottesdienstlichen Versammlungen bestimmtes Gebäude vorsätzlich in Brand gesetzt zu haben. Im Falle der Verneinung dieser Frage: Sind die Angeklagten schuldig, dem Täter zur Begehung des in der Hauptfrage erwähnten Verbrechens durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe geleistet zu haben? Bezüglich der beiden Heidemann wurde für den Fall der Verneinung der beiden ersten Fragen noch folgende dritte Frage gestellt: Sind die Angeklagten schuldig, von der am 18. Februar 1881 zu Neustettin ausgeübten vorsätzlichen Brandstiftung zu einer Zeit, in welcher die Verhütung des Verbrechens noch möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten und es unterlassen zu haben, hiervon der Behörde zur rechten Zeit Anzeige zu machen?

Es nahm darauf das Wort zur Schuldfrage Staatsanwalt Schlingmann: Meine Herren Geschworenen! Die gegenwärtige Verhandlung hat bereits das Schwurgericht zu Köslin und auch das Reichsgericht zu Leipzig beschäftigt. Ich sage das nicht, meine Herren, um Sie auf diese Verhandlungen hinzuweisen. Ich bin überzeugt, Sie werden Ihr Urteil ausschließlich, wie es Ihre Pflicht ist, auf Grund der hier im Saale geschehenen Beweisaufnahme fällen. Es ist nicht zu leugnen, daß in Neustettin zur Zeit des Brandes eine sogenannte antisemitische Bewegung stattfand. Es ist ja hier auch ein Artikel aus der in Neustettin erscheinenden „Norddeutschen Presse“ verlesen worden, in welchem allerdings eine Sprache geführt wird, die mich selbst geradezu in Staunen setzte. Allein als wir uns den Artikel etwas näher betrachteten, da sahen wir, daß er einmal am 22 November 1530 erschienen ist, und daß er lediglich ein Zitat aus Dr. Martin Luther war. Ich habe nicht nötig, Dr. Martin Luther zu verteidigen. Der Inhalt des Artikels zeugt lediglich von der Kraftprobe des Mittelalters, die damals gang und gäbe war. Ich glaube also nicht, daß dieser Artikel irgendwelche Wirkung geübt hat. Die Neustettiner Synagoge war bekanntlich ein altes Gebäude, das allerdings zwei Jahre vor dem Brande ausgebaut war, das alsdann einen Wert von etwa 6000 Mark hatte, trotzdem aber ein altes Gebäude blieb. Als nun am 18. Februar 1881 dies Gebäude ein Raub der Flammen wurde, da war eine ganze Reihe von Leuten sofort der Überzeugung, daß das Feuer von ruchloser Hand angelegt war. Eine ganze Anzahl von Leuten jüdischer Religion hat sofort die Behauptung ausgesprochen: „Das haben uns die Christen getan; das ist das Werk der Antisemitenhetze.“ Ich kann mich dem Gutachten des Bauinspektors Kleefeldt nicht ganz anschließen, denn die schnelle Verbreitung des Feuers ist auch dadurch zu erklären, daß es in der Synagoge durch das viele trockene Holz sehr große Nahrung fand. Allein andererseits vermag ich mich auch nicht dem Gutachten des Regierungsbaurats Benoit anzuschließen. Herr Baurat Benoit sagte, wenn Petroleum mitgewirkt hätte, dann wäre eine Explosion erfolgt, so daß sofort nach Ausbruch des Feuers die Wände eingestürzt gestürzt wären. Allein, dies könnte man doch nur dann annehmen, wenn man wüßte, welch große Quantität Petroleum verwendet worden ist. Eine Reihe durchaus glaubwürdiger Zeugen hat bekundet, sie hätten teils auf der Brandstätte, teils an gefundenen Gebetbuchresten Petroleumgeruch wahrgenommen. Nun ist Petroleumgeruch bekanntlich ein solch eigentümlicher, daß ein Irrtum wohl kaum möglich ist. Daß die Synagoge vorsätzlich in Brand gesetzt worden ist, ist für mich zweifellos. Von selbst entsteht kein Feuer, am allerwenigsten in einem Gebäude, in dem keine Feuerungsanlage war, und was noch ganz besonders zu beachten ist – in das mehrere Tage vorher kein Mensch hineingekommen sein soll. Die Zeugen haben übereinstimmend bekundet, daß seit dem letzten Montag vor dem Brande niemand mehr die Synagoge betreten hatte. Daß das Feuer aber nur von einer Person angelegt worden sein kann, die in den Innenraum der Synagoge Zutritt hatte, ist wohl zweifellos. Nun hat der Lehrer Pieper äußerst wichtige Wahrnehmungen gemacht. Die Verteidigung wird ja das Zeugnis des Pieper sehr anzugreifen suchen. Es wird behauptet, Pieper habe von seiner vorgesetzten Behörde einen Verweis erhalten, weil er beim Religionsunterricht gegen eine alttestamentarische Persönlichkeit eine beleidigende Äußerung getan hat. Allein dieser Umstand dürfte doch nicht geeignet sein, die Glaubwürdigkeit würdigkeit des Pieper in Frage zu stellen. Es kommt hinzu, daß die Bekundungen des Pieper von einer ganzen Reihe von Zeugen, besonders von vielen seiner ehemaligen Schüler unterstützt werden. Daß ein Fensterflügel in der bekundeten Weise in der Tat ausgehoben war, haben noch mehrere andere Zeugen gesagt, ja, es wurde sogar bekundet, daß das Fenster nur von innen zu öffnen war. Im weiteren ist die Aussage des Lehrers Hübner in Betracht zu ziehen, der, als er zu Heidemann ging, das Fenster noch nicht ausgehängt sah, und daß Lesheim sen. sich bei Ausbruch des Feuers höchst auffällig benommen hat. Er wurde von Hübner zum Bürgermeister geschickt; er lief fort, kam aber nach fünf Minuten wieder zurück, ohne bei dem Bürgermeister gewesen zu sein. Als nun Hühner ihm sagte: „Aber, zum Donnerwetter! Laufen Sie doch zum Bürgermeister und schreien Sie Feuer!“ da fragte Lesheim den alten Heidemann: „Soll ich schreien?“ Erst als dieser sagte: „Schreien Sie schon!“ begann Lesheim Feuer zu rufen. Es ist endlich der Zeugen zu erwähnen, die den Lesheim am Morgen des Brandes, der Buchbinder Vanselow sogar mehrere Tage in der Woche des Brandes mit einer Petroleumkanne in die Synagoge haben gehen sehen. Eine Zeugin hat Lesheim am Vorabende des Brandes mit voller Bestimmtheit mit einem Sack auf dem Rücken aus der Synagoge kommen sehen. Die Zeugin hat mit Lesheim heim gesprochen, und auf ihre Frage, was er im Sacke habe, antwortete er, es seien Leuchter, die er zum Klempner trage; die Zeugin berührte den Sack und fand die Angabe des Lesheim bestätigt. Gegen die Bekundung des Fleischermeisters Angermann dürfte sich auch wohl nichts einwenden lassen. Daß dieser zu einer Frau gesagt: „Ich bin zum Kösliner Schwurgericht als Zeuge geladen, weiß aber gar nicht, was ich bekunden soll,“ dürfte sehr wenig ins Gewicht fallen. Daß beide Lesheims sich sehr auffällig benommen haben, ist von einer Reihe anderer Zeugen bestätigt worden. Nicht minder auffällig haben sich aber auch die beiden Heidemanns benommen. Ich erinnere Sie bloß an die Bekundungen, daß der alte Heidemann gesagt hat: „Sehen Sie! Dort ist das Feuer hineingeworfen worden, dort ist der Täter übergestiegen!“ obwohl die Unmöglichkeit dieses Unternehmens jedem klar in die Augen sprang. Ich erinnere Sie auch daran, daß der alte Heidemann zum Löschen sich nicht herbeilassen wollte, sondern auf die bezügliche Aufforderung einfach antwortete: „Spaß, das haben uns Christenhände getan!“ Am auffälligsten ist aber der Brand im Heidemannschen Spinde. Daß das Feuer in das verschlossene Spind vorsätzlich hineingelegt war, haben wir aus den Bekundungen einer ganzen Reihe von klassischen Zeugen vernommen. Das Motiv zu einer Tat ist mit Sicherheit stets sehr schwer festzustellen. Der Beweggrund zu einem Verbrechen beruht stets auf einem inneren seelischen Vorgange, in den schwer einzudringen ist. Allein das Motiv zur Tat ist mir vollständig klar. Ich will nicht behaupten, daß die Feuersbrunst deshalb in Szene gesetzt worden ist, um die verhältnismäßig etwas hohe Versicherungssumme zu erhalten und damit ein schöneres, größeres und stattliches Bethaus aufzubauen. Nein, ich suche den Grund auf einer ganz anderen Seite. Wir haben gehört, daß zu jener Zeit die antisemitische Bewegung hohe Wellen schlug. Am Sonntag vor dem Brande ist Dr. Henrici aus Berlin in Neustettin gewesen und hat dort eine Rede gegen die Juden gehalten. Ich behaupte, die Angeklagten sagten sich, wenn man der Gesetzgebung den Beweis liefern könnte, daß infolge der Antisemitenbewegung ein solch großes Verbrechen passiert ist, so würde diese der Bewegung wohl einen Damm entgegensetzen. Für diese meine Behauptung spricht auch der Umstand, daß, wie mehrere Zeugen bekundeten, tatsächlich eine Anzahl Gegenstände vor dem Brande aus der Synagoge weggeschafft worden sind Es kommt ferner hinzu, daß mehrere Zeugen einige Vorstandsmitglieder der jüdischen Gemeinde, welche unaufhörlich auf die Synagoge hinsahen, zwei Stunden lang auf dem Scheunenberge stehen gesehen haben, sowie die Bekundung des Buchholz, der allerdings ein sehr unsicherer cherer Zeuge ist. Ich gebe zu, die einzelnen Tatsachen sind keine direkten Beweise; allein das Gesamtbild, das sich eine volle Woche lang vor Ihnen entrollt hat, muß Sie von der Schuld der Angeklagten überzeugen. Ein ausgehobenes Fenster, eine Petroleumkanne, aufgeregtes Wesen usw. sind an sich nicht besonders gravierende Umstände; allein der Umstand, daß diese Tatsachen zusammenfallen, bringt die Überzeugung von der Schuld der Angeklagten. Daß Leo Lesheim seinem Vater Hilfe geleistet, ist zweifellos. Ebenso dürfte zu bejahen sein, daß Leo Lesheim die zur Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen hat. Ich beantrage daher gegen alle Angeklagten das Schuldig wegen vorsätzlicher Brandstiftung. Sollten Sie nicht zu dieser Schlußfolgerung kommen, dann ist es doch jedenfalls zweifellos, daß die Angeklagten dem Täter bei Begehung der Tat Hilfe geleistet haben.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Sello (Berlin): Meine Herren Geschworenen! Ich warne Sie, dem Rate des Ersten Herrn Staatsanwalts Folge zu leisten: nicht die einzelnen Tatsachen zu prüfen, sondern das Gesamtbild auf sich wirken zu lassen. Es wäre das ein Weg, der zweifellos Ihr Urteil trüben würde. Das Unglück bei der ganzen Geschichte ist, daß die ganze Anklage zur Parteisache geworden ist. Wenn Ihrer Beurteilung lediglich die Frage unterbreitet wäre: Ist das jüdische Bethaus in Neustettin von den Angeklagten ten in Brand gesteckt worden, dann würden Sie zweifellos entscheiden: „Nein, die Angeklagten sind unschuldig.“ Allein, das Schlimme ist, daß die politische Parteibewegung sich der Sache bemächtigt hat, deren Anklänge gestern sogar bis in diesen Gerichtssaal drangen. Der Herr Staatsanwalt hält den Lesheim zunächst für schuldig, da ihn Frau Kapitzke in der Synagoge gesehen haben will. Sie wissen, meine Herren, wie unsicher die Zeugin gewesen ist und in welche Widersprüche sie sich verwickelt hat. Die Zeugin hat schließlich zugeben müssen, sie könne durchaus nicht sagen, wer die Person gewesen, die sie in der Synagoge gesehen hat. Ja, der Herr Staatsanwalt selbst richtete an die Zeugin die Frage, ob der Gegenstand, den sie gesehen, in der Tat ein Mensch gewesen ist. Die Zeugin wußte mit Sicherheit eine Antwort nicht zu geben. Ähnlich unsicher waren aber auch die Zeugen, die der Herr Staatsanwalt zur Unterstützung der Aussagen der Kapitzke anführte. Das Schlimme bei der ganzen Sache war ferner, daß alle Welt von vornherein annahm, der Brand ist ein vorsätzlicher gewesen und das Feuer ist mittels Petroleum in Szene gesetzt worden. Nun haben wir aber von dem Regierungsbaurat Benoit gehört, daß Petroleum nicht verwendet sein kann. Der Herr Staatsanwalt meinte, nur dann hätte eine Explosion stattfinden können, wenn die Quantität des Petroleums eine sehr große gewesen wäre; dazu fehlt es aber an jedem Anhalt. Die von dem Herrn Staatsanwalt vorgeführten Belastungszeugen, die selbst die inneren Teile der Gebetbücher mit Petroleum getränkt fanden, widerlegen den Herrn Staatsanwalt. Wenn diese Bekundungen der Zeugen richtig sind, dann muß die Quantität des Petroleums eine sehr beträchtliche gewesen sein. Sobald wir das Petroleum ausscheiden, ist die Sachlage sofort eine andere. Ich will nicht die Behauptung aufstellen, daß das Feuer vom Montag bis zum Freitag geschweelt habe; allein ich behaupte, daß Löwenberg in der Zwischenzeit im Tempel gewesen ist. Ich würde es wirklich für sehr sonderbar finden, wenn der Tempeldiener während dieser Zeit nicht einmal die Synagoge betreten hätte. Löwenberg bestreitet dies allerdings. Nun, meine Herren, Sie haben ja den Löwenberg gesehen; es wird Sie nicht wundern, daß ein geistig so beschränkter Mensch solche geringfügigen Nebensachen, aus Furcht, verdächtigt zu werden, in Abrede stellt. Die Vorstandsmitglieder oder der Rabbiner brauchen von diesem Betreten doch nicht etwa Kenntnis zu haben. Ich stimme dem Herrn Staatsanwalt bei, wenn er sagt, es sei für die Entwicklung unserer Kulturgeschichte ein sehr trauriges Zeichen, daß in einem Teile unseres Vaterlandes sich eine konfessionelle Spannung entwickelt hat. Ich sage ausdrücklich „konfessionelle Spannung“; denn mit der Religion hat diese Bewegung, die tief zu beklagen ist, absolut nichts zu tun. Sie haben ja gehört, daß wenige Tage vor dem Brande Dr. Henrici aus Berlin in Neustettin in einer Volksversammlung einen Vortrag gehalten hat. Es ist nicht gelungen, den Inhalt dieses Vortrages festzustellen; allein das dürfte wohl anzunehmen sein: zum Frieden mit unseren israelitischen Mitbürgern hat Dr. Henrici nicht aufgefordert. In welcher Weise in Neustettin die antisemitische Agitation betrieben worden ist, hat uns ferner der zur Verlesung gelangte Artikel der in Neustettin erscheinenden „Norddeutschen Presse“ bewiesen. Der Herr Staatsanwalt sagte, dieser Artikel, der ein mittelalterliches Zitat von Luther sei, könne unmöglich auf die Leser des Blattes einen Einfluß ausgeübt haben. Ich meine, gerade da der Redakteur der „Norddeutschen Presse“ sich bei dem Zitat auf die Autorität Dr. Martin Luthers berief, hat der Artikel erst recht eine Erregung hervorgerufen. Ist es angesichts dieser Zustände zu verwundern, wenn eine Anzahl Juden zu der Vermutung kamen und es auch sofort offen aussprachen, daß ihnen das die Christen getan haben? Ich stehe nicht an, dieses Benehmen der Juden in herbster Weise zu tadeln; aber entschuldbar ist ihr Verhalten auf alle Fälle. Diese Beschuldigung rief auf der Gegenseite naturgemäß eine große Erbitterung hervor; es wurde den Juden sofort erwidert, daß sie selbst ihren Tempel angesteckt haben. Die Beschuldigung geht herüber und hinüber. Hier Jude, da Christ. Und nun werden Verdachtsmomente zusammengetragen, die den Juden das Verbrechen beweisen sollen. Alles erscheint auffällig und verdächtig. Der Kassenkontrolleur Dahlitz, ein sonst sehr ruhiger Mann, ist sofort, als er den Lesheim sieht, der Überzeugung, daß dieser der Täter ist, da er – sehr aufgeregt war. Ich glaube, wäre Lesheim ruhig gewesen, Dahlitz hätte sich ebenfalls zu einer sofortigen Verhaftung des Lesheim veranlaßt sehen können, denn wie darf jemand bei einer großen Feuersbrunst ruhig bleiben! Nun könnte man fragen: Haben denn die Zeugen sämtlich gelogen, die den Lesheim mit einer Petroleumkanne gehen, das Fenster ausgehängt gesehen haben? Die Zeit, zu der die Handlungen angeblich geschehen sind, ist keineswegs festgestellt. Daß Lesheim mit Petroleumkannen über die Straße gegangen, daß ein Fenster ausgehoben war, und daß Lesheim sich an diesem in die Höhe gezogen, um in den Tempel hineinzusehen, hat er zugegeben. Wenn man erwägt, daß seit dem Brande drei volle Jahre vergangen sind, daß angesichts der Erregung in Neustettin die Phantasie ungeheuer mitspielte, dann wird man wohl annehmen müssen, daß die Wahrnehmungen bezüglich der Handlungen der beiden Lesheim teils auf Einbildung beruhten, teils zu anderer Zeit, wie bekundet, gemacht wurden. Jeder rechtschaffene fene Mann, der über eine Tatsache vor Gericht gefragt wird, die vor drei Jahren passiert ist, wird erklären, daß er sich der Vorgänge nicht mehr ganz genau erinnere und aus dem Grunde annehme, seine erste Aussage sei wahr, weil er damals die Sache besser im Gedächtnis hatte. So handelt nach meiner Erfahrung jeder rechtschaffene Mann, es sei denn, er wäre ein Neustettiner Zeuge. In welcher Weise man bemüht gewesen ist, Verdachtsmomente gegen die Juden zusammenzutragen, haben wir von dem Kriminalkommissar Höft gehört, dem Buchholz eine Zündschnur überbrachte mit dem Bemerken, daß damit die Juden den Tempel angesteckt hätten, und daß sie nun alle gehängt werden müßten. Selbstverständlich braucht man zur Erklärung dieses großen Verbrechens ein Motiv. Die Erlangung der angeblich hohen Versicherungssumme genügt nicht; deshalb wird noch ein anderes Motiv gefunden. Die Anklagebehörde behauptet, die Brandstiftung sei geschehen, um der Gesetzgebung den Beweis zu liefern, zu welchem Verbrechen die antisemitische Bewegung führe, und um zu veranlassen, daß Repressivmaßregeln gegen die Bewegung ergriffen werden. Meine Herren Geschworenen! Ich kann mir nicht denken, daß die Angeklagten den Eindruck von Menschen machen, die zu einer fanatischen Handlung fähig wären, welche an die finstersten Zeiten des Mittelalters erinnert. Ist es aber auch andererseits seits denkbar, eine Religionsgemeinde werde eine solch verruchte Tat begehen, daß sie ihr Heiligtum schändet lediglich aus Haß gegen die Christen?! Einen solchen Eindruck haben die hier vernommenen Zeugen jüdischer Konfession doch sämtlich nicht auf Sie gemacht! Sie sind gewiß weit entfernt davon, zu glauben, daß eine christliche Gemeinde aus ähnlichem Anlaß ein solches Verbrechen begehen könnte. Sie haben zu alledem von dem Herrn Kriminalkommissar Höft gehört, daß die Thorarollen in der Tat mitverbrannt sind. Rabbiner Dr. Hoffmann, der doch gewiß einen glaubwürdigen Eindruck macht, hat beteuert, er habe, als er den Verlust der Thorarollen vernommen, Tränen vergossen. Die Heidemanns sollen aber auch an der Brandstiftung beteiligt sein, denn der Knabe Denzin will sie mehrfach in die Synagoge gehen gesehen haben. Daß sie, und zwar in Begleitung des Lehrers Hübner, in der Tat in die Synagoge gegangen sind, geben sie selbst zu. Aus welchem Grunde sie nun wiederholt in die Synagoge gegangen sein sollen, ist absolut unerfindlich. Ich habe wohl nicht nötig, noch einmal auf die Widersprüche hinzuweisen, die bei der Vernehmung des Denzin zutage getreten sind. Ich bitte Sie bloß, die Tatsache in Betracht zu ziehen, daß Heidemann am Tage des Brandes ein todkrankes Kind hatte, das einen Tag nach dem Brande, jedenfalls infolge der ihm aus Anlaß des Feuers widerfahrenen nen unsorgsamen Behandlung, gestorben ist. Ein weiteres Belastungsmoment ist das brennende Spind. Ich würde befürchten müssen, Ihre Zeit unnötig in Anspruch zu nehmen, wenn ich mich hierbei des längeren aufhielte. Daß das Innere des in der Heidemannschen Wohnung gestandenen Spindes, in dem eine Reisedecke und ein Regenschirm, beides schwer brennbare Gegenstände, enthalten waren, nicht als Herd des Feuers dienen sollte, um die Synagoge in Asche zu legen, dürfte wohl jedem vernünftigen Menschen klar sein. Man macht den Heidemanns noch den Vorwurf, daß sie nicht genau angeben können, was sie am Vormittage des Brandes getan haben.

Ich finde das sehr erklärlich; es erfreut sich eben nicht jeder Mensch eines solchen Gedächtnisses wie die Schüler des Herrn Pieper. Der Herr Staatsanwalt hat die Zeugen Buchholz und Greiser einfach über Bord geworfen. Ich behaupte, mit dem Zeugnis des Buchholz fällt auch die Anklage. Auf das Zeugnis dieses Menschen hin ist die Anklage erhoben worden. Buchholz behauptete, Löwenberg und Lesheim mit Petroleumkannen in die Synagoge gehen gesehen zu haben; Buchholz wollte die Bretter aus dem Heidemannschen Zaun ausgebrochen und das Holz weggekarrt haben. In Köslin war er noch der Hauptbelastungszeuge. Ich freue mich, daß es endlich gelungen ist, festzustellen, daß die Schuld der Brandstiftung, wenn eine solche in der Tat vorsätzlich begangen worden ist, auf einer anderen Seite als der der Angeklagten zu suchen ist. Ich will schließen mit dem vom Herrn Staatsanwalt ebenfalls getanen Ausspruche: Ich bin überzeugt, meine Herren Geschworenen, Sie werden nur das Beweismaterial prüfen, das hier im Saale Ihnen vorgeführt worden ist; denn in Köslin lagen die Verhältnisse wesentlich anders. In Köslin war Dobberstein noch nicht mit seinem Zeugnis und Buchholz noch nicht mit seiner Zündschnur hervorgetreten; der Knabe Ihwert hatte noch nicht gerufen: „Mit diesem Zeichen werden wir siegen, die Preußen geben die Schlacht nicht auf!“ Ich bin nicht einen Augenblick im Zweifel, daß Sie gleich uns der Überzeugung sind: die Angeklagten sind unschuldig.

Verteidiger Justizrat Makower (Berlin): Meine Herren Geschworenen! Ich will nicht anklagen, sondern verteidigen. Nach den erschöpfenden Ausführungen meines Kollegen Sello ist eine weitere Verteidigung kaum noch nötig; allein da ich dem Herrn Kollegen Sello auf dessen Ansuchen versprochen habe, ihn in der Verteidigung zu unterstützen, will ich mein Wort auch einlösen und noch einiges zur Ergänzung bemerken. Meine Herren Geschworenen! Wenn sonst irgendwie ein Verbrechen geschieht, dann werden seitens der Polizei, Staatsanwaltschaft usw. die nötigen Erhebungen angestellt, und auf Grund dieser wird die Anklage erhoben. Anders ist es jedoch in dem gegenwärtigen Falle gewesen. Hier haben sich außer den Behörden des Staates noch andere Anklagebehörden konstituiert, von denen die eine sogar den Versuch gemacht hat, die Königliche Staatsanwaltschaft zu verdrängen. Von der einen Seite werden Zeugen vorgeladen, vernommen, die Zeugenaussagen protokolliert und die Protokolle dem Gericht ohne Namensunterschrift eingereicht; auf der anderen Seite ist man bemüht, das Belastungsmaterial nach Kräften zusammenzutragen. Wer da weiß, wie sehr es bei ungebildeten Menschen gerade auf die erste Vernehmung ankommt, der wird ein solches Verfahren für äußerst bedenklich finden. Gott wolle uns davor bewahren, daß solche Zustände bei uns ferner Platz greifen. Sehr bedenklich ist es, daß es solchen Privatanklagebehörden nicht darauf ankommt, die Wahrheit zu ermitteln, sondern lediglich die Gegenpartei zu belasten. Daß drei Viertel aller hier vernommenen Zeugen unter solchem Eindrucke standen, werden Sie gesehen haben. Daß angesichts dieser Tatsachen die Verdachtsmomente gegen die Angeklagten sich lawinenartig angehäuft haben, ist nicht zu verwundern. Ich finde es sehr natürlich, daß unter den erwähnten Umständen sich der Verdacht der Täterschaft zunächst auf Löwenberg lenkte. Die Heidemanns wohnen neben der Synagoge, sie haben somit die beste Gelegenheit zum Tempelanzünden. zünden. Lesheim ist der frühere Tempeldiener. Daß auch Leo Lesheim mit auf die Anklagebank gekommen ist, ist wohl bloß geschehen, um eine Gleichstellung zu bewirken. Man hielt es für besser, auch hier gleich den Sohn mit unter Anklage zu stellen. Heidemann soll sich verdächtig gemacht haben, weil es in seinem Kleiderspind, das auf die Brandstätte geschafft wurde, gebrannt hat. Das genügt noch nicht; es findet sich noch ein weiterer Zeuge, der auch ein im Hausflur stehendes Spind, das infolge seines Schwenkens mit einer Axt eingeschlagen worden, im Innern brennen gesehen hat. Auf die Frage, was in dem Spinde gewesen, antwortete er flottweg, eine Reisedecke und ein Schirm. Der Zeuge hat augenscheinlich von dem Spinde gehört, das die anderen Zeugen meinten. Es genügt auch nicht, daß die Synagoge allein brennt, im Heidemannschen Hause muß es ebenfalls gebrannt haben. Es hat das allerdings niemand gesehen, allein wozu wäre Engfer da? Dieser hat im Widerspruch mit allen anderen Zeugen sogar im Innern des Heidemannschen Hauses Feuer gesehen. Ich glaube, man geht nicht fehl, wenn man diese ganze Geschichte als einen Nachtspuk bezeichnet. Damit ist man aber noch nicht fertig. Man beschuldigt die ganze jüdische Gemeinde in Neustettin der Brandstiftung. Wie denkt man sich wohl ein solches Verfahren? Glaubt man, daß die ganze Gemeinde den Beschluß faßt, den Tempel pel in Brand zu stecken, oder beschließen das die Kirchenältesten allein? Für die letztere Annahme findet sich auch ein Zeuge in der Person des Maurers Buhse. Dieser will aus seiner Tenne – wahrscheinlich war es ein Glashaus – gesehen haben, wie die Repräsentanten der Gemeinde auf dem Scheunenberge zwei Stunden lang auf und ab gingen, um abzuwarten, bis das Feuer ausbrechen werde. Eine andere Zeugin war zur selben Zeit auf dem Scheunenberge, hat aber die drei Repräsentanten nicht gesehen.

Der Verteidiger schloß mit der Versicherung, nach seiner innersten Überzeugung seien die Angeklagten sämtlich unschuldig.

Nachdem noch die Verteidiger Justizrat Scheunemann (Neustettin) und Rechtsanwalt Meibauer (Konitz) für die Freisprechung aller Angeklagten plädiert hatten, fand eine Replik und Duplik zwischen Staatsanwalt und Verteidigern statt. Der Vorsitzende erteilte die nötige Rechtsbelehrung, worauf die Geschworenen nach sehr kurzer Beratung alle Schuldfragen bezüglich sämtlicher Angeklagten verneinten. Der Gerichtshof erkannte hierauf auf Freisprechung aller Angeklagten, legte die Kosten des Verfahrens der Staatskasse auf und beschloß, den Angeklagten Lesheim sen. sofort aus der Haft zu entlassen.

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Massenmörder Hugo Schenk und Genossen vor einem Wiener Ausnahmegerichtshof

Die Zeiten der Räuberromantik sind längst vorüber. Die modernen Verkehrsverhältnisse machen die Bildung von Räuberbanden, die in einer einsam belegenen versteckten Burg oder im Waldesdickicht ihr Lager aufgeschlagen und von dort aus Raubzüge unternommen haben, unmöglich. Trotzdem sind die Verbrecher vom Schlage der Räuberhauptleute der vergangenen Jahrhunderte wie Cartouche und Schinderhannes keineswegs ausgestorben. Die Räuber der Neuzeit sind nur raffinierter und grausamer als ihre Vorgänger. Die Greueltaten des Verbrecherpaares Erbe-Buntrock, das im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts in den Wäldern von Neuhaldensleben und Eschede zwei junge Mädchen abschlachtete und beraubte (siehe Band 1), und die Greueltaten des in jüngster Zeit verhafteten Massenmörders Sternickel sind nur ein kleiner Beweis von der ungeheuren Raffiniertheit und Grausamkeit, mit der die Verbrecher der Jetztzeit zu Werke gehen. Die bestorganisierte Polizei ist auch nicht annähernd imstande, das Publikum vor den Verbrechern aller Art, die im Lärm der Weltstädte ihre Opfer suchen, zu schützen. Trotz aller Warnungen der Presse ist das große Publikum in einer Weise vertrauensselig, daß die Gerichtsberichterstatter oftmals nicht wissen, ob die Frechheit der Gauner oder die Dummheit der Begaunerten größer ist. Noch immer blüht in Berlin und anderen Großstädten das Gewerbe der Bauernfänger. In Berlin haben sich die Bauernfänger in der Hauptsache die Bahnhöfe, die abseits vom weltstädtischen Verkehr liegen, wie den Schlesischen, den Stettiner und den Lehrter Bahnhof als Operationsfeld erkoren. Vor einiger Zeit kam ein junger Schlossergeselle aus Westfalen auf dem Lehrter Bahnhof in Berlin an. Er war im Begriff, nach Danzig zu fahren, da er dort „auf Verschreibung“ Arbeit erhalten hatte. Er fuhr mit seinen Habseligkeiten nach dem Schlesischen Bahnhof und wartete dort im Wartesaal vierter Klasse auf den nächsten, nach Danzig fahrenden Personenzug.

Plötzlich wurde der junge Schlosser von einem fremden Mann auf die Schulter geklopft. Wo fährst du hin, Landsmann, fragte der Fremde. Ich will mit dem nächsten Zuge nach Danzig fahren, da ich dort „auf Verschreibung“ Arbeit bekommen habe. Was bist du, forschte der Fremde weiter. Ich bin Schlosser, versetzte recht treuherzig der biedere Weltfale. Das trifft sich ja großartig, sagte der fremde Mann. Ich bin nämlich Monteur und muß nach Langfuhr fahren, um dort in der Wohnung des Kronprinzen die elektrische Leitung zu reparieren. Ich wollte eigentlich erst heute abend fahren. Da ich aber gern in Gesellschaft reise, so werde ich auch mit dem nächsten Zuge fahren. Ich werde mir sofort meinen Koffer holen. Komm mit in meine Wohnung, du kannst mir den Koffer tragen helfen und dir bei dieser Gelegenheit noch das Dienstmannsgeld verdienen. Ich wohne ganz in der Nähe. Der vertrauensvolle Provinziale folgte sofort der Aufforderung. Nachdem er mit dem fremden Mann etwa fünf Minuten gegangen war, nahm letzterer sein Portemonnaie aus der Tasche und ließ einige Hundertmarkscheine, die wahrscheinlich Blüten waren, sehen. Kannst du mir einen Hundertmarkschein wechseln, fragte der Fremde. Ich habe 82 Mark bei meiner Wirtin zu zahlen und die wird jedenfalls nicht wechseln können. Ich bedaure, meine ganze Barschaft beträgt 85 M., erwiderte der Schlosser. Da pump mir einmal 82 Mark, ich werde am Billettschalter wechseln und dir alsdann das Geld sofort wiedergeben. Der Schlosser händigte dem Fremden arglos 82 Mark ein. Nun warte einige Minuten, ich hole mir nur schnell meinen Koffer, versetzte der angebliche Monteur. In demselben Augenblick war er in einem Hause der Andreasstraße verschwunden. Der Schlosser wartete volle zwei Stunden, der neue Freund ließ sich aber nicht mehr sehen. Schließlich trat der Schlosser an einen Schutzmann heran und erzählte diesem das Vorkommnis. Der Schutzmann stellte sofort fest, daß das Haus, in das sich der angebliche Monteur begeben, noch einen Ausgang nach einer anderen Straße hatte. Der arme Schlosser war um eine Erfahrung reicher und um 82 Mark ärmer. Er besaß nur noch drei Mark, die selbstverständlich nicht reichten, um nach Danzig zu fahren. Wenige Tage darauf ging der junge Schlosser tiefbetrübt durch die Breslauer Straße. Da begegnete er plötzlich dem angeblichen Monteur. Dieser wollte sich wahrscheinlich nach dem Schlesischen Bahnhof begeben, um sich ein neues Opfer zu suchen. Der Schlosser wandte sich an einen Schutzmann, der den frechen Gauner verhaftete. Letzterer war ein der Polizei längst bekannter, mehrfach mit Gefängnis und Zuchthaus bestrafter, gemeingefährlicher Bauernfänger. Der junge Schlosser war nur eins von vielen Opfern, die er in jüngster Zeit in ähnlicher Weise gerupft hatte. Der Gauner war nicht Monteur, sondern Pferdehändler. Er hatte die Frechheit, als er sich Ende Juli 1912 vor der zehnten Ferienstrafkammer des Landgerichts Berlin I wegen einer ganzen Reihe solcher Gaunereien zu verantworten hatte, zu behaupten: Die Zeugen müssen sich in seiner Person irren, denn er sei, als die Gaunereien passierten, in Gnesen auf dem Pferdemarkt gewesen. Einen Beweis konnte der Mann aber nicht führen. Außerdem erkannten ihn fünfzehn Leute, die er in ganz ähnlicher Weise wie den Schlosser gerupft hatte, mit vollster Bestimmtheit wieder. Er wurde zu mehrjährigem Zuchthaus, Ehrverlust und Polizeiaufsicht verurteilt.

Es wäre ein großer Irrtum, wenn man annehmen wollte, daß dieser Fall vereinzelt dasteht. Nur allzuhäufig haben sich die Strafgerichte mit derartigen Gaunern zu beschäftigen. Es sind auch keineswegs bloß die Provinzialen, die ähnlichen Verbrechern ins Garn gehen. Anfang Oktober 1912 erschien auf der Anklagebank der siebenten Strafkammer des Landgerichts Berlin I ein etwa 30jähriger Mann, der eine Anzahl junger Berliner in geradezu unglaublicher Weise begaunert hatte. Der Mann näherte sich am hellen Tage auf offener Straße jungen Handlungsgehilfen, Handwerkern und Schülern höherer Klassen im Alter von 17 bis 21 Jahren. Diesen stellte er sich als Tierbändiger im Zirkus Hagenbeck mit der Erzählung vor: Er sei soeben im Begriff, auf dem Güterbahnhof des Lehrter Bahnhofs eine große Karawane wilder Tiere abzuholen. Es fehlen ihm aber noch 20 bis 50 Mark, die ihm die jungen Leute gütigst leihen mögen, da er nicht gern den weiten Weg nach dem Zirkus zurückfahren möchte. Die jungen Leute, sämtlich Söhne nicht unvermögender Eltern, fühlten sich ungemein geschmeichelt, daß ein Tierbändiger aus dem Zirkus Hagenbeck sie seiner Freundschaft würdigte. Sie erklärten sich sämtlich nicht nur sofort bereit, das gewünschte Darlehn zu geben, sie luden den Mann zumeist meist noch zu einem Diner ein, zumal ihnen der Tierbändiger sogleich ein Passepartout, gültig für zwei Logenplätze im Zirkus Hagenbeck, ausschrieb. Als der Mann eines Tages einem 17jährigen Goldschmiedelehrling auf der Straße begegnete, sagte er zu diesem: Junger Mann, Sie haben ein Paar wunderschöne Galoschen an Ihren Füßen. Können Sie mir diese nicht für den heutigen Abend leihen. Ich bin Tierbändiger im Zirkus Hagenbeck und muß heute abend einen großen Löwen reiten. Da würden mir Ihre Galoschen einen guten Dienst tun. Der junge Mann fühlte sich ungemein geschmeichelt über die ihm und seinen Galoschen erwiesene Ehre. Er folgte dem Mann hocherfreut in ein Restaurant, in dem der Tierbändiger ihm ein Passepartoutbillett für den Zirkus ausschrieb. Der junge Mann übergab dem Tierbändiger nicht bloß seine Galoschen, sondern bezahlte auch die nicht unbeträchtliche Zeche für den Tierbändiger.

Ein junger Handlungsgehilfe unternahm mit dem Tierbändiger einen Nachtbummel. Als sie das in der Friedrich- und Kronenstraßen-Ecke gelegene Kronen-Café betreten wollten, sagte der „Tierbändiger“: In dies Café kann ich nicht gehen, es sei denn, daß Sie mir Ihre Uhr und Kette leihen. Ich habe Uhr und Kette, als ich heute abend zu den Löwen ging, einem Zirkusdiener zum Aufheben gegeben und vergessen, sie zurück zu verlangen. Ohne Uhr und Kette kann ich aber unmöglich in das Café gehen, da in diesem Herr Hagenbeck verkehrt. Der junge Mann hatte keinerlei Bedenken, dem Hagenbeckschen Tierbändiger seine goldene Uhr und schwere goldene Kette, im Werte von 250 Mark, zu leihen. Am folgenden Abend nach Schluß der Zirkusvorstellung sollte er Uhr und Kette bestimmt wieder bekommen. All den jungen Leuten wurde jedoch an der Billettkasse bedeutet, daß die Passepartoutbillette gefälscht seien und daß der geschilderte Tierbändiger im Zirkus Hagenbeck nicht existiere. Einige Zeit darauf gelang es, den frechen Gauner Unter den Linden zu verhaften. Es war ein bereits mehrfach wegen ähnlicher Gaunerstückchen bestrafter Hausdiener, ein geborener Holländer. Als die gerupften jungen Leute als Zeugen ihre erlebten Abenteuer den Richtern erzählten, fing der Angeklagte plötzlich ganz laut an zu lachen. Weshalb lachen Sie in dieser unmanierlichen Weise, fragte der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Splettstoesser. Ich muß über die furchtbare Dummheit der jungen Leute lachen, die sich derartig von mir beschwindeln ließen, versetzte der Angeklagte höhnisch. Der Gerichtshof verurteilte den Mann zu mehrjährigem Zuchthaus.

Daß aber auch in anderen Weltstädten kein Mangel an gemeingefährlichen Verbrechern ist, haben die vielen Strafprozesse bewiesen, die nicht nur die Bewohner des Donaureichs, sondern die ganze Kulturwelt aufs höchste erregten. Vor genau dreißig Jahren, im Frühjahr 1883 wurden mehrere, durchaus anständige Dienstmädchen von vornehmen Herrschaften Wiens der Polizei als vermißt gemeldet. Auch eine Anzahl Diener und bessere Handwerker wurden als vermißt gemeldet. In dem Koffer eines der vermißten Mädchen wurde ein Liebesbrief mit der Unterschrift

Hugo Schenk

gefunden. Es bestand schon seit langer Zeit der Verdacht, daß die vermißten Personen einem oder mehreren Raubmördern zum Opfer gefallen waren. Hugo Schenk war der Sicherheitsbehörde als gefährlicher Hochstapler und Heiratsschwindler bekannt. Er war 1849 als Sohn eines Kreisgerichtsrats in Mähren geboren. Er bezeichnete sich als Ingenieur und Chemiker. Er schrieb auch kleine Nachrichten und lyrische Gedichte für Zeitungen. Nachdem er in Olmütz das Gymnasium absolviert hatte, trat er in die dortige Artillerieschulkompagnie ein und kam 1866 zum Regiment. 1875 nahm er seinen Abschied und betrieb darauf mehrere Geschäfte. Er bezeichnete sich auch als Fabrikdirektor, Bergwerksunternehmer und frönte in hohem Grade dem Glücksspiel. Er soll zumeist mit gezeichneten Karten gespielt haben. Eines Tages wurde er von einem Offizier als Falschspieler entlarvt. Der Offizier nannte ihn Betrüger und forderte ihn zum Duell. Schenk verschwand jedoch und schrieb an den Herausforderer: „Ich hätte meinen Gegner ohne weiteres töten können. Die Sache ist mir aber zu unwichtig. Ich bin der Vollzieher höherer Missionen, mein Leben gehört einem höheren Wesen.“ Hugo Schenk war eine selten schöne, stattliche Erscheinung. Schon im Alter von 21 Jahren nannte er sich Fürst Wilopolski und trug mit Vorliebe polnische Tracht. Zu jener Zeit stellte er sich der sehr vermögenden Witwe Krcek vor mit dem Bemerken: Er sei wohl ein Fürst Wilopolski, reise aber in Österreich unter dem Namen Hugo Schenk. Gleichzeitig hielt er um die Hand der 17jährigen Tochter dieser Frau an. Er erklärte: Er wolle dem Mädchen zuliebe auf seine hohe Stellung und seine Güter in Rußland verzichten und bei der Englischen Bank in Wien eine Stellung annehmen. Um diese Stellung zu erhalten, sei er allerdings genötigt, eine hohe Kaution zu stellen. Frau Krcek gab ihm auch 500 Gulden bar und 1600 Gulden in Wertpapieren. Mit diesem Gelde reiste Schenk nach Wien und ließ lange Zeit nichts von sich hören. Die Familie Krcek wurde infolgedessen mißtrauisch. Schenk schrieb jedoch an Frau Krcek: „Ich will mir alle Mühe geben, meinem geliebten Mariechen ein sorgenloses Leben zu gründen. Mein Ehrgefühl, gute Mutter, geht mir über alle Schätze der Welt.“ Gleichzeitig schrieb er an Marie: „Ich liebe Sie mit jener Liebe, mit welcher unser unvergeßlicher Schiller es in seinem besten Stücke: „Kabale und Liebe“ zeigt. O, fachen Sie die Glut meines Herzens an, und machen Sie mein aller Hoffnung scheiterndes Herz glücklich.“ Frau Krcek traute aber diesen Liebesbeteuerungen nicht, sondern drohte Schenk mit Anzeige. Schenk schrieb ihr darauf. Ich werde Ihnen das Geld binnen vier Tagen senden, da ich ein Mädchen, dem ich meinen Lebensunterhalt zu danken haben müßte, nie heiraten würde; dazu bin ich zu stolz. Schenk fuhr hierauf nach Wiesbaden, Karlsruhe und schließlich nach Paris. Dort soll er sich in der Hauptsache durch Falschspiel ernährt haben. Aus Paris schrieb Schenk an Frau Krcek: Er werde in nächster Zeit zurückkommen und alles begleichen. In einem späteren Briefe schrieb er: „Ich werde mich erschießen. Vor meinem Tode werde ich ausrufen: Marie war eine gute Seele.“ Zu derselben Zeit knüpfte Schenk mit der Schauspielerin Anna Lammer, die er bei einer Wallfahrt nach Maria-Taferl kennengelernt hatte, ein Liebesverhältnis an. Der Vater des Mädchens machte jedoch, nachdem er in Olmütz über Schenk Erkundigungen eingezogen hatte, dem Verhältnis ein Ende. Inzwischen war Schenk nach Olmütz zurückgekehrt. Hier wurde er auf Anzeige der Frau Krcek verhaftet und vom Kreisgericht zu Olmütz wegen Betruges zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt. Nach zweijähriger Strafverbüßung wurde er begnadigt.

Im August 1879 war Schenk Direktor einer Papierfabrik. Er heiratete am 26. August 1879 und wohnte mit seiner Frau in Prag. Dort betrieb er eine Zeitlang ein Kohlengeschäft. Er hatte mit seiner Gattin, einer sehr braven Person, zwei Kinder, die jedoch beide sehr bald starben. Im Juli 1881 reiste Schenk nach Wien. Dort wurde er wegen Heiratsschwindeleien nach einiger Zeit verhaftet und zu zwei Jahren Kerker verurteilt. Frau Schenk nahm eine Stelle im Hause des Prager Hopfenhändlers Heinrich Holm an. Schenk wurde am 11. März 1883 aus dem Kerker entlassen. Obwohl ihm seine Frau die zärtlichsten Briefe schrieb und ihn bestürmte, wieder nach Prag zu kommen und ein ordentliches Leben zu beginnen, beantwortete Schenk die Briefe nicht, sondern lebte in der Hauptstadt Österreichs als Grandseigneur vom Falschspiel, Betrug und von – Massenmorden. Er erließ in Zeitungen Annoncen, in denen er angab, daß er in der Lage sei, kautionsfähigen Leuten gute Stellungen zu verschaffen. Daraufhin meldeten sich Kutscher, Diener, bessere Handwerker und Dienstmädchen. Er sagte diesen, er könne ihnen sehr einträgliche Stellungen in großen Fabriken, auf Grafen- und Fürstenschlössern verschaffen, sie sollen aber ihre Kautionen sofort mitbringen. Auf dem Wege zu den angeblichen Stellungen wurde im Walde Rast gemacht. Dort wurde den Leuten Wein oder Schnaps, der mit Betäubungsmitteln gemischt war, gereicht. Wenn die Opfer daraufhin eingeschlafen waren, wurden sie, teils mit Hilfe seines zwei Jahre jüngeren Bruders, des Bureaudieners Karl Schenk, und des Schlossers Karl Schlossarek erdrosselt und die Leichen nach geschehener Beraubung in die Donau geworfen. Den Dienstmädchen versprach er zumeist die Heirat. Da unterwegs auch gleichzeitig die Verlobung gefeiert werden sollte, so wußte er die jungen Mädchen, die sämtlich sterblich in den

„schönen Hugo Schenk“

verliebt waren, zu überreden, alle ihre Schmucksachen mitzunehmen. Wenn sich Schenk mit einem Mädchen im Walde gelagert hatte, fragte er, ob das Mädchen sich auch ihm zuliebe erschießen könnte. Die Antwort fiel stets bejahend aus. Schenk drückte alsdann dem Mädchen einen ungeladenen Revolver in die Hand. Das Mädchen setzte den Revolver an die Schläfe, das Losdrücken hatte aber keine Folgen. Nach kurzer Zeit gelang es Schenk, den Revolver unbemerkt zu laden. Wiederum forderte er das Mädchen auf, ihm zu beweisen, daß es ihm mit voller Inbrunst zugetan und auch bereit sei, für ihn zu sterben. Das Mädchen setzte von neuem den Revolver an die Schläfe, drückte ab und – war sofort tot. Alsdann wurde die Leiche beraubt und in die Donau versenkt. Zur selben Zeit lernte Schenk die 24jährige Emilie Höchsmann, ein auffallend schönes, hochanständiges Mädchen, Tochter sehr achtbarer Eltern, kennen. In diese war Schenk sterblich verliebt. Er sagte der Höchsmann, daß er eine sehr erträgliche Stellung als Ingeniuer bei der Arlbergbahn habe. Das Mädchen drang schließlich in ihn, es zu heiraten. Schenk sagte jedoch: Er könne das nicht tun, denn er sei Mitglied einer nihilistischen Gesellschaft, die in Zürich ihren Sitz habe. Er selbst sei ein russischer Fürst, namens Wilopolski. Deshalb könne er sie nicht heiraten, weil er nur unter dem Namen Schenk vor den Traualtar treten könne. Alsdann wäre aber die Ehe ungültig. Er könne außerdem schon deshalb eine eheliche Verbindung nicht eingehen, weil sein Leben gefährdet wäre. Er erzählte dem Mädchen weiter: Er habe einen alten Oheim, einen ungemein reichen Grundbesitzer in Cincinnati, der dort ausgedehnte Ländereien besitze und mindestens sieben Millionen Dollars im Vermögen habe. Auf Veranlassung Schenks schrieb das Mädchen an diesen Onkel und bat ihn, er möge fünftausend Dollars für sie bei der Bank von England deponieren. Schenk sandte diesen Brief „rekommandiert“ an „Marquis Wilopolski, Grundbesitzer in Cincinnati.“ Den Postaufgabeschein übergab Schenk der Höchsmann.

Diese war infolgedessen von der Existenz des „reichen chen Onkels in Amerika“ felsenfest überzeugt. Kurze Zeit darauf sagte Schenk, er müsse nach London reisen, um dort von der Bank von England Geld abzuholen. Emilie Höchsmann, die aus gewissen Andeutungen ersehen hatte, daß Schenk nicht das erforderliche Reisegeld besitze, gab ihm unaufgefordert 200 Gulden. Nach einigen Tagen erhielt die Höchsmann von Schenk einen Brief aus Prerau und bald darauf einen zweiten aus Mährisch-Weißkirchen. Zur selben Zeit waren zwei Wiener Dienstmädchen verschwunden. Schenk kehrte nach einigen Tagen nach Wien zurück und sagte der Höchsmann: Er habe das Geld in London nicht bekommen können, weil er sich nicht hinreichend als Fürst Wilopolski legitimieren konnte, er habe sich aber anderweitig Geld beschafft. Schenk gab der Höchsmann nicht nur die ihm geliehenen 200 Gulden zurück, sondern noch außerdem eine größere Summe Geldes. Schenk verreiste noch einige Male und kam stets nach wenigen Tagen mit Geld zurück. Als er am 5. August 1885 abends von einer Reise zurückkam, übergab er der Höchsmann ein Paket Wertpapiere, eine goldene Damenuhr, einen Brillantring, ein goldenes Kollier und die dazu gehörigen Ohrgehänge. Diese Schmucksachen hatte er am selben Tage einem von ihm ermordeten Dienstmädchen geraubt. Schenk reiste darauf, angeblich in geschäftlichen Angelegenheiten, nach Stettin. Von dort telegraphierte phierte er der Höchsmann: „Reise sofort, ich erwarte Dich in Breslau.“

Die Höchsmann fuhr nach Breslau. Dort erzählte ihr Schenk: Er werde unablässig von Nihilisten verfolgt. Er sei seines Lebens nicht sicher, weil er sich von den Nihilisten losgesagt habe. Die Nihilisten könnten den Schmuck, den die Höchsmann trage, erkennen und daraus schließen, daß sie mit ihm in Verbindung stehe. Es sei deshalb erforderlich, den Schmuck einer Umänderung zu unterziehen. Daraufhin nahm Schenk dem Mädchen den bereits angelegten Schmuck ab, nahm ihr die kleine goldene Uhr gänzlich weg und kaufte ihr eine andere für 100 Mark. Aus den Steinen des Kolliers ließ er einen Ring montieren; die anderen Schmuckgegenstände verkaufte er in Breslau.

Die Verhaftung der Mörder.

Die Wiener Polizei, die nicht mehr zweifelte, daß die vielen vermißten Personen Massenmördern zum Opfer gefallen waren, entfaltete eine geradezu fieberhafte Tätigkeit zwecks Ergreifung der Mörder. Den unablässigen Bemühungen des Polizeirats Breitenfeld und des Polizeikommissars Stuckart (Wien) gelang es, festzustellen, daß Hugo Schenk all die Massenmorde ausführt habe und daß sein Bruder Karl und der Schlosser Karl Schlossarek ihm dabei behilflich gewesen seien. In der Nacht vom 9. zum 10. Dezember ber 1883 wurde Hugo Schenk in Wien in der Stourzgasse 1 von einer Anzahl Polizisten aus dem Bett herausgeholt, gefesselt und in Sicherheitsgewahrsam abgeführt. Zwei Stunden später wurden Karl Schenk und Schlossarek verhaftet.

Am 13. März 1884 begann vor einem Ausnahmegerichtshof in dem in der Alserstraße zu Wien belegenen Schwurgerichtssaal die Hauptverhandlung gegen die drei verruchten Mordbuben. Der Andrang des Publikums nach dem Zuhörerraum war geradezu lebensgefährlich. Den zahlreichen, auch aus dem Auslande, insbesondere aus Deutschland erschienenen Zeitungsberichterstattern wurde mit der größten Zuvorkommenheit begegnet und ihnen sehr gute Plätze eingeräumt. Den Vorsitz des Ausnahmegerichtshofes führte Landesgerichtsvizepräsident Graf Lamezan. Die Staatsanwaltschaft vertrat Oberstaatsanwalt Dr. v. Pelser. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr.Swoboda (für Hugo Schenk), Rechtsanwalt Dr. Lichtenstein (für Schlossarek), Rechtsanwalt Dr. Steger (für Karl Schenk). Die Blicke des zahlreichen Publikums, insbesondere der Damen, richteten sich fast ausschließlich auf den Hauptangeklagten Hugo Schenk. Sein schönes Gesicht, seine stattliche Figur, die intelligenten Gesichtszüge, die weltmännischen Manieren, das sonore Organ und der schmachtende Aufschlag seiner schwärmerischen Augen ließen es wohl begreiflich erscheinen, daß er auf Frauenherzen einen geradezu überwätigenden Eindruck machte.

Schlossarek war ein finster dreinschauender Mann mit unangenehmen, abstoßenden Gesichtszügen. Karl Schenk war von schmächtiger Gestalt. Er hatte einen ins Rötliche schimmernden Schnurr- und Backenbart. Man sah es ihm an, daß er im höchsten Grade lungenleidend war.

Nach Verlesung der Anklageschrift begann das Verhör des Hugo Schenk.

Vors.: Ich ersehe aus ihrer ganzen Vergangenheit, daß Sie nie ein ernstliches Bestreben hatten, einen ehrlichen Erwerb zu suchen?

Angekl.: O ja, ich habe mich viel mit Fabrikswesen befaßt.

Vors.: Ihr Militärführungszeugnis weist keine kriminellen Bestrafungen auf, Sie sind aber damals schon „als zu lügenhaften Angaben und zum Schuldenmachen geneigt“ bezeichnet worden. Im Jahre 1870 sind Sie mit der Familie Krcek bekannt geworden. Der Verkehr mit der Familie hat zu Ihrer Verurteilung wegen Betrugs zu fünf Jahren schweren Kerkers geführt. Sie gaben sich als Mitglied eines Eisenbahnkomitees in Warschau aus. Sie ließen durchblicken, daß Sie der Fürst Wilopolski, wegen politischer Umtriebe aus Rußland flüchtig, seien und sich unter dem falschen Namen Hugo Schenk verbergen müssen? sen?

Angekl.: Das ist richtig.

Vors.: Sie sind auch in polnischer Nationaltracht aufgetreten?

Angekl.: Ja.

Vors.: Nach Verbüßung Ihrer Strafe in Olmütz waren Sie 22 Jahre alt. Was haben Sie alsdann gemacht?

Angekl.: Ich ging nach Passau und habe mich versuchsweise mit dem Fabriksbetriebe beschäftigt. Ich war hauptsächlich in der Papierbranche tätig.

Vors.: Sie haben sich auch später noch mit einer Persönlichkeit verlobt, wobei Sie sich Fürst Wilopolski nannten. Die betreffende Dame lebt noch?

Angekl.: Ja.

Vors.: Am 25. August 1879 haben Sie sich mit Ihrer Gattin Wanda verheiratet. Ihre Gattin war damals Erzieherin und lebt jetzt in Böhmen. Ich stelle zu Ehren dieser bedauernswerten Frau fest, daß sie sich sehr korrekt, ja mehr als korrekt benommen hat. Sie hat von dem Augenblick Ihrer zweiten Verurteilung – die erste war ihr nicht bekannt – nicht mehr mit Ihnen zusammen gelebt. Aus dieser Ehe sind zwei Kinder entsprossen, die beide im zarten Alter gestorben sind. Es zeugt für Ihre sinnliche Disposition, daß Sie neben Ihrer Frau zu gleicher Zeit ein Verhältnis mit einer Frauensperson, namens Magdalena Wimmer, mer, unterhielten. Die Wimmer wurde als ganz gewöhnliche Landdirne geschildert?

Angekl. schwieg.

Vors.: Sie haben das Verhältnis ohne Wissen Ihrer Frau fortgesetzt. Die Wimmer ist schließlich spurlos verschwunden. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Das ist nicht Gegenstand der Anklage, ich muß das aber erwähnen. Bei Ihrem zweiten Heiratsschwindel, den Sie 1881 an der Therese Berger verübten, haben Sie dieser mit einer Anzeige wegen Erpressung gedroht. Die Anklage folgert, daß, weil Sie damals verurteilt wurden, Sie beschlossen hatten, dafür zu sorgen, daß Ihnen in Zukunft so etwas nicht mehr passieren sollte. Es sollte kein Mädchen mehr in die Lage kommen, gegen Sie auszusagen. Der Angeklagte schwieg.

Vors.: Mit Schlossarek wurden Sie in der Strafhaft bekannt?

Angekl.: Nein, schon früher. Ich wurde mit Schlossarek schon in meiner ersten Wiener Untersuchungshaft bekannt.

Der Vorsitzende hielt dem Angeklagten weiter vor, daß er schon früher mit einem bereits verstorbenen Individuum, namens Franz Zacherl, einen Raubmordversuch auf einen Mann namens Skala verübt habe. Skala hatte angegeben: Er sei von Zacherl und Hugo Schenk, der ihm unter falschem Namen vorgestellt wurde, veranlaßt worden, mit beiden nach Trebitsch zu fahren. Dort angekommen, haben sie in einer einsamen Gegend Rast gemacht. Er (Skala) sei, von Ermüdung übermannt, eingeschlafen. Als er erwachte, bemerkte er, daß einer der beiden Männer mit einem Revolver hinter ihm stand. Unter allerlei Vorspiegelungen seien dem Skala 70 Gulden entlockt worden. Er (Skala) habe das Geld ohne weiteres hergegeben. Er war froh, daß er den Mordgesellen so leichten Kaufs entkommen konnte. Danach scheint es, so fuhr der Vorsitzende fort, daß Zacherl zu wenig Routine hatte. Dies Vorkommnis haben Sie dem Schlossarek erzählt?

Angekl. Hugo Schenk: Jawohl.

Vors.: Sie haben sich mit Schlossarek in der Haft verabredet, nach der Entlassung gemeinsam Raubanfälle zu begehen?

Angekl: Ja.

Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß Schlossarek nach seiner Entlassung aus der Haft einen Brief an Ihre Frau geschrieben hat, in dem er drohte, er könnte gegen Sie eine Anzeige wegen geplanter Verbrechen erstatten?

Angekl.: Das ist mir bekannt.

Vors.: Es wurde bei Ihnen ein Permanenz-Zertifikat für alle Strecken der Bahn für Staatsbahnbetrieb und zwei Anweisungen auf Freikarten mit der Unterschrift des betreffenden Beamten gefunden. Alle diese Karlen hat Ihnen Ihr Bruder Karl verschafft?

Angekl.: Jawohl, aber unausgefüllt.

Vors.: Ihr Bruder hat die Karten im Bureau entwendet. Weshalb haben Sie der Höchsmann gegenüber soviel romanhafte Angaben gemacht. Das war doch gar nicht notwendig, die Höchsmann war Ihnen doch ohnedies zugetan?

Angekl.: Ich habe es aber doch für notwendig gehalten.

Vors.: Sie haben mit der Höchsmann gerade verkehrt, während Sie die Mordtaten vollführten. Sie haben der Höchsmann einmal versprochen, in roten Handschuhen und grünen Strümpfen zu kommen. Wenn der Höchsmann etwas unglaubwürdig erschien, dann sagten Sie: die Nihilisten verfolgen mich, ich muß so handeln.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden erzählte darauf der Angeklagte: „Der Müllergehilfe Franz Podbera war im März 1883 nach Wien gekommen, um hier eine Stellung zu suchen. Er annoncierte im „Wiener Tageblatt“, daß er in einer Mehlhandlung als Verkäufer gegen Kaution eine Anstellung suche. Da Schlossarek und ich ebenfalls in Zeitungen inserierten, daß wir kautionsfähigen Personen Stellung verschaffen können, so luden wir Podbera schriftlich ein, nach einem Gasthause zu kommen. Schlossarek erzählte dem Podbera: Er sei Maschinist in einer Dampfmühle bei Sternberg in Mähren. Er wolle ihm dort eine Stellung als Geschäftsführer mit einem Monatslohn von 50 Gulden nebst freier Wohnung, Licht und Heizung verschaffen. Er müsse aber 500 Gulden Kaution stellen. Podbera fragte, ob die Kaution in einem Sparkassenbuch hinterlegt werden könne. Schlossarek erwiderte: Das wisse er nicht, da müsse er erst telegraphisch anfragen. Nachmittags kamen wir wieder mit Podbera zusammen. Schlossarek beauftragte den Müllergehilfen, die Kaution von 500 Gulden poste restante nach Sterrberg zu schicken. Wir hatten verabredet, den Müllergehilfen auf der Reise nach Sternberg in einen einsamen Wald zu locken und ihn dort zu erschießen. Alsdann wollten wir ihn ausrauben und die postlagernde Kaution in Sternberg holen. Ich gab dem Schlossarek einen geladenen Revolver und zwei Flaschen Schnaps; eine Flasche Schnaps war mit einem Betäubungsmittel versetzt. Schlossarek fuhr nun mit Podbera am Morgen des 3. April 1883 vom Wiener Nordbahnhof ab. Mich kannte Podbera nicht; ich fuhr in einem anderen Kupee. Wir fuhren bis Rohatec. Schlossarek sagte dem Podbera: Er habe mit einem Müller in Rohatec geschäftlich zu verhandeln; der Weg nach Bisenz könne zu Fuß zurückgelegt werden. Schlossarek führte den Podbera nach Kreuz- und Querzügen in den Wratzenwernwald, ich folgte in größerer Entfernung. In der Mitte des Waldes machte Schlossarek den Versuch, Podbera zu erschießen. Letzterer setzte sich aber zur Wehr. Es kam zu einem heftigen Ringen, Schlossarek mußte schließlich, im Gesicht verwundet, blutüberströmt unverrichteter Sache aus dem Walde flüchten.

Vors.: Sowohl Sie als auch Schlossarek haben behauptet: Nachdem der Mordplan derartig mißlungen war, seien Sie beide so niedergedrückt gewesen, daß Sie sich erschießen wollten. Sie haben auch behauptet, Sie hatten absichtlich einen schlechten Revolver gekauft, damit er nicht losgeht. Den Erfolg hatten Sie nur von dem Betäubungsmittel erhofft.

Angekl.: Ich habe den Revolver selbst geladen und bin alsdann einige Schritte abseits gegangen. Als ich zurückkehrte, sagte ich zu Schlossarek: Ich habe Podbera mit zwei Männern gesehen, es ist höchste Zeit, daß wir davoneilen.

Vors.: Es war auch tatsächlich die höchste Zeit, denn Podbera kam wirklich mit zwei Männern.

Wollten Sie sich nun erschießen?

Angekl.: Wenn mir nicht eine andere Idee gekommen wäre, gewiß.

Vors.: Und Schlossarek?

Angekl.: Dieser sagte, das beste ist, ich schieße mich nieder. Der Angeklagte Hugo Schenk erzählte alsdann, wie er nach stundenlangem Umherirren mit Schlossarek zur Bahn gegangen und nach Wien gefahren fahren sei. Er habe Schlossarek die Kugel aus der Wunde gezogen und ihn chirurgisch behandelt. Der Frau Schlossarek habe er verboten, einen Arzt zu holen. Er habe der Frau gesagt: er habe aus Unvorsichtigkeit Schlossarek verletzt. Wenn ein Arzt zugezogen würde, dann könnte er wegen fahrlässiger Körperverletzung bestraft werden.

Staatsanwalt: Wie wollten Sie es denn anstellen, um das Geld zu erhalten, das sich Podbera nach Sternberg hatte nachschicken lassen. Sie mußten sich doch als Podbera legitimieren?

Angekl.: Wir hatten uns vergewissert, daß Podbera einen Ausweis bei sich hatte.

Staatsanwalt: Sie sagen, Schlossarek sollte die Tat ausführen, weshalb sind Sie alsdann mitgefahren?

Angekl.: Ich wollte, nachdem Podbera betäubt war, zur Post gehen und auf Grund des Ausweises das Geld abheben.

Staatsanwalt: Sie waren sehr verwundert, als Schlossarek blutüberströmt zurückkam?

Angekl.: Jawohl, und zwar um so mehr, da Schlossarek überhaupt nicht schießen, sondern den Podbera bloß betäuben sollte.

Staatsanwalt: Das Schlossareksche Attentat war also verfrüht?

Angeklagter: Jawohl.

Es begann alsdann die Vernehmung des Angeklagten ten Schlossarek. Dieser gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Er sei seit September 1883 verheiratet und Vater eines Kindes. Er habe beim Militär 22 Disziplinarstrafen erlitten. Er sei außerdem zweimal nach seiner Entlassung vom Militär wegen Einbruchsdiebstahls bestraft. Er habe Hugo Schenk in der Transportzelle kennengelernt. Hugo Schenk sagte: er sei Ingenieur, er werde ihm auch einen Posten verschaffen. Er (Schlossarek) solle sich nur an seinen Bruder Karl wenden. Er erzählte auch den verunglückten Anfall des Zacherl.

Vors.: Hat er Ihnen gesagt, Sie sollen es besser machen wie Zacherl?

Schlossarek: Nein.

Vors.: Sie haben an Frau Schenk einen Brief geschrieben, in welchem Sie die Geschäfte mit Zacherl mitgeteilt haben, was wollten Sie damit?

Angekl.: Ich wollte halt die Anzeige machen.

Im weiteren Verlauf beklagte sich Schlossarek, daß Hugo Schenk nichts für ihn getan habe, obwohl er ihm einen Posten versprochen hatte. Eines Tages sei er auf Veranlassung des Karl Schenk nach dem Bahnhof gegangen. Er traf dort Hugo Schenk, der soeben von seiner Frau Geld bekommen hatte. Hugo Schenk habe ihm aber weder einen Posten verschafft, noch ihm Geld gegeben. Er sei zu seiner Frau nach Saaz gefahren und habe ihn ohne Geld gelassen.

Vors.: Wann hat Hugo Schenk Sie aufgefordert, sich an den Massenmorden zu beteiligen?

Angekl.: Als er aus Saaz zurückkam, da hat er Annoncen geschrieben, wonach er kautionsfähige Personen suchte. Ich habe die Annoncen in die Zeitungen gegeben. Im weiteren Verlauf erzählte Schlossarek: Ich habe Podbera in seiner Wohnung aufgesucht, jedoch nicht zu Hause getroffen; ich habe einen von Hugo Schenk geschriebenen Zettel, in dem eine Zusammenkunft angegeben wurde, zurückgelassen. Vor der Abreise nach Bisenz hat mir Hugo Schenk einen Revolver gegeben.

Vors.: Wozu gab Ihnen Schenk den Revolver?

Schlossarek: Um Podbera zu erschießen oder ihn anzuschießen. Ich sollte alsdann dem Podbera den Postschein wegnehmen, um das Geld von der Post zu holen.

Vors.: Hat Ihnen Hugo Schenk außerdem etwas mitgegeben?

Schlossarek: Jawohl, er gab mir zwei Fläschchen, das eine war mit Branntwein gefüllt, das andere mit einer gemischten Flüssigkeit, von dem Gemischten habe ich dem Podbera zu trinken gegeben, um ihn zu betäuben.

Vors.: Mit diesen Fläschchen ausgerüstet, sind Sie mit Podbera abgereist?

Schlossarek: Jawohl.

Vors.: Fuhr Hugo Schenk in demselben Kupee?

Schlossarek: Nein. Hugo Schenk fuhr im Nebenkupee. Er hatte mir genaue Informationen gegeben, wie ich mich im Kupee verhalten solle. Wir fuhren bis Rohatec. Dort stiegen wir aus, indem ich vorgab, bei einem Müller noch ein Geschäft machen zu wollen. Ich führte den Podbera endlich nach dem Wratzenwernwald. Dort sollte der Raubmord vorgenommen werden. In größerer Entfernung folgte uns Hugo Schenk. Podbera wurde aber schließlich mißtrauisch, als er Hugo Schenk sah. Mit dem vergifteten Branntwein ließ sich nichts machen. Ich wollte deshalb Podbera erschießen. Dieser ergriff aber den Revolver. Es entspann sich ein heftiger Kampf, wobei wir beide arg verwundet wurden.

Vors.: Angeklagter Karl Schenk, hat es Sie nicht mit Abscheu erfüllt, als Sie von einem so schweren Verbrechen erfuhren?

Karl Schenk: Ich erschrak wohl, ich brauchte aber von meinem Bruder Unterstützung.

Vors.: Von einem Bruder, der ein Verbrechen begangen hat, würde ich keine Unterstützung annehmen. Im übrigen haben Sie den verbrecherischen Verkehr mit Ihrem Bruder eifrig fortgesetzt. Sie haben von allem Kenntnis gehabt. Die bescheidene Rolle, welche die Anklage Ihnen zuweist, ist noch lange nicht erschöpfend für all das, was Sie in Wirklichkeit getan haben.

Karl Schenk gab darauf auf Befragen des Vorsitzenden an: Er habe 1877 geheiratet und habe sich bereits damals in mißlichen Verhältnissen befunden. Als er bei der Westbahn angestellt war, habe er ein Monatsgehalt von 25 Gulden und 125 Gulden Quartiergeld bezogen.

Es begann darauf die

Zeugenvernehmung.

Frau Mikola, bei der Podbera im März 1884 gewohnt hatte, erkannte mit vollster Bestimmtheit Schlossarek wieder, der Podbera in seiner Wohnung, Simondenkgasse, aufgesucht hatte.

Darauf wurde unter allgemeiner Spannung Müllergeselle Podbera als Zeuge in den Saal gerufen. Er erzählte, in welcher Weise er die Bekanntschaft des Schlossarek gemacht, und welche Versprechungen ihm gegeben worden seien und schilderte alsdann seine Reise mit Schlossarek nach Bisenz. „Ehe wir in den Wald gingen,“ so erzählte der Zeuge in böhmischem Dialekt, „gingen wir in ein Gasthaus. Also er wollt mir Schnaps geben und Luxusbäckerei.“

Vors.: Sie meinen wohl Kuchen?

Zeuge: O nein, Luxusbäckerei, meine Herrschaften, der war sehr fein, der Luxusbäckerei. Schnaps trink ich nicht. Das war Schlossarek nicht recht. Will er mir Luxusbäckerei geben, sag’ ich, dank'. Ich war sehr mißtrauisch, weil er hat selber nicht gessen. Scheint gut gewesen zu sein mit Mohn, war sehr fein.

Vors.: Mit dem Schnaps scheint er wohl gewußt zu haben, wie er dran ist, aber bei der Bäckerei scheint er sich nicht ausgekannt zu haben. Er hat aber nicht gewußt, welches der vergiftete Schnaps ist.

Podbera erzählte alsdann weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Schlossarek hat so lange in mich gedrungen, bis ich endlich von dem roten Schnaps ein paar Tropfen trank. Ich sah, daß er selber Schnaps ausgeschüttet hatte. Die Flasche war drei Viertel, sehr bald aber nur ein Viertel voll. Als wir in den Wald kamen, fühlte ich plötzlich etwas Kühles auf dem Nacken. Ich griff nach hinten und hatte einen Revolver in der Hand. Es entstand ein Ringen. Ich schoß Schlossarek in den Bauch. Obwohl Schlossarek schwer verwundet war, entwand er mir den Revolver und schoß mich in den Bauch, in die Schulter und in die Brust. Wenn ich nur einen Stock gehabt hätte, dann würde ich Schlossarek sofort totgeschlagen haben.

Hugo Schenk behauptete, an der versuchten Ermordung des Podbera in keiner Weise beteiligt gewesen zu sein.

Staatsanwalt: Allzuweit waren Sie von dem Schauplatz des Verbrechens nicht entfernt.

Es begann darauf das Verhör bezüglich des Attentats tats an Bauer im Walde von Weidlingen.

Auf Befragen des Vorsitzenden gab Hugo Schenk an: Wir haben gewartet, bis Schlossarek gesund war. Wir veröffentlichten eine Annonce, auf die sich Bauer meldete.

Vors.: Da haben Sie wieder zwei Flaschen vergifteten Branntwein angewendet?

Hugo Schenk: Es war nur eine Flasche. Schlossarek wollte für den Fall des Mißlingens auch eine Waffe mitnehmen.

Vors.: Was für eine Waffe?

Hugo Schenk: Blausäure, damit er sich im Falle des Mißlingens vergiften konnte.

Vors.: Von wem ist der Gedanke zu diesem Verbrechen ausgegangen?

Hugo Schenk: Es war zwischen uns beiden gemeinschaftlich verabredet, es war gewissermaßen eine Fortsetzung.

Vors.: Bei dem Untersuchungsrichter haben Sie gesagt: Schlossarek habe Sie zu diesem Raube gedrängt; Sie hätten ihm, weil das Attentat auf Podbera mißlungen war, ein neues Verbrechen völlig versprechen müssen?

Hugo Schenk: Das ist richtig.

Der Angeklagte erzählte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden: Auf eine Annonce meldete sich Kutscher Franz Bauer. Da er angab, kautionsfähig zu sein, so versprach ihm Schlossarek eine Geschäftsgängerstelle bei einem Wäschegeschäft in Wien, dessen Inhaber eine Villa in Weidlingen besitze, zu verschaffen. Ich sollte dem Bauer als Dienstgeber in Weidlingen vorgestellt werden. Schlossarek veranlaßte den Bauer, die Kaution sogleich mitzunehmen, damit das Dienstverhältnis sofort abgeschlossen werden konnte. Ich gab Schlossarek zwei Flaschen Schnaps mit, eine war mit Chloralhydrat gemischt. Außerdem gab ich dem Schlossarek ein; Fläschchen mit Blausäure mit. Im Weidlingauer Walde angelangt, gab Schlossarek dem Bauer vom Chloralhydral zu trinken. Als sehr bald darauf die Betäubung eintrat, trat ich hinzu. Darauf beraubten wir den Mann seiner Barschaft. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Schlossarek behauptet, daß Sie von den 110 Gulden, die Sie dem Bauer geraubt, Ihrem Bruder Karl 30 Gulden geschenkt haben?

Angekl.: Das ist entschieden nicht richtig.

Schlossarek äußerte sich auf Befragen des Vorsitzenden: Im Weidlingauer Walde habe ich dem Bauer von dem Schnaps zu trinken gegeben. Bald darauf kam Hugo Schenk. Ich stellte ihn dem Bauer vor mit den Worten: „Das ist der Herr.“ Nachdem Hugo Schenk mehrere Minuten mit Bauer, der schon ein bißchen betäubt war, gesprochen hatte, entfernte er sich auf etwa 30 Schritt. Dann brach Bauer bewußtlos zusammen. Ich habe schnell nach seiner Tasche gegriffen, habe ihm die Brieftasche herausgezogen und das Geld genommen.

Vors.: Wo war während dieser Zeit Hugo Schenk?

Schlossarek: Er war etwa 30 Schritt von mir entfernt. Ich gab ihm die 110 Gulden. Schenk äußerte ärgerlich: Bei einer solch geringen Summe kommt man nicht einmal auf die Spesen. (Große Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Schlossarek bemerkte im weiteren auf Befragen: In der geraubten Brieftasche des Bauer haben sich im ganzen 120 Gulden befunden. Zehn Gulden habe er an sich genommen und die übrigen 110 Gulden Hugo Schenk gegeben.

Nach längerem Zögern gab Karl Schenk zu, daß er von dem Überfall auf Bauer unterrichtet gewesen und nach dem Attentat auf Bauer bemüht gewesen sei, Schlossarek den Nachforschungen der Polizei zu entziehen.

Hierauf wurde Aufseher Franz Bauer als Zeuge vernommen. Er bekundete: Ahnungslos folgte ich dem Schlossarek nach Weidlingen, um meinem neuen Dienstherrn vorgestellt zu werden. Während der Eisenbahnfahrt zog Schlossarek eine Flasche heraus und gab einigen Herren zu trinken. Die Herren sagten: „Der Schnaps ist gut.“ Da hab ich halt auch getrunken, ken, und der Schnaps war wirklich gut. Als wir schließlich ausstiegen und in den Wald gingen, da begann Schlossarek plötzlich zu pfeifen. „Was pfeifen’s denn,“ frag i. Weil’s hallt, sagte er. Trinken’s den Schnaps aus, wird Ihnen gut tun. Es war dasselbe Flascherl, oder hat wenigstens so ausg’schaut. I ziag an und habe gleich g’spürt, das is nöt derselbige Schnaps! Aber es war schon zu spät.

Vors.: Wieviel haben Sie denn getrunken?

Zeuge: Ein Maul voll. Wir gehn gar nicht lang, kommt uns der Herr Hugo Schenk entgegen. Ich hab’ mich noch vielmals entschuldigt bei ihm. Er hat gesagt, er hat keine Zeit und is weitergegangen. Ich geh auch noch vier oder fünf Schritt weiter, so wird mir auf einmal schwindlig und zum Brechen. Ich bin zusammengefallen, von allem anderen weiß ich nichts. Den Verlust meiner Barschaft habe ich erst zu Hause entdeckt.

Der Zeuge bekundete im weiteren: In der Brieftasche waren 320 Gulden. 150 Gulden, die in einem anderen Fache waren, haben die Räuber nicht gefunden. Er hatte einen Verlust von 170 Gulden.

Im weiteren Verlaufe erzählte Schlossarek: Hugo Schenk habe ihm in der Strafanstalt Stein geraten, den Schubführer bei dem Transport zu betäuben.

Es folgte das Verhör

wegen Ermordung der Josefine Timal.

Im Mai 1883 machte Hugo Schenk die Bekanntschaft des Stubenmädchens Josefine Timal, die in Wien in der Fürstenstraße in Dienst stand. Hugo Schenk, in den das hübsche Mädchen sofort bis über die Ohren verliebt war, überredete das Mädchen, den Dienst zu kündigen, da er sich sofort mit ihm verloben und es nach kurzer Zeit heiraten wolle. Das Mädchen gab, trotz energischen Widerratens ihrer Herrschaft, sofort ihre Stellung auf und folgte Hugo Schenk, ihrem angeblichen Bräutigam, nach Mährisch-Weißkirchen. Vorher hatte sich Hugo Schenk überzeugt, daß das Mädchen 500 Gulden im Vermögen habe. Schenk veranlaßte das Mädchen, das Geld mitzunehmen; er sagte dem Mädchen: er müsse in Weißkirchen Gelder einkassieren. Das Sparkassenbuch der Timal in Höhe von 236 fl. 34 kr. und ihre goldene Uhr nahm Hugo Schenk schon vorher in Ausbewahrung. Schlossarek schloß sich bei der Reise nach Weißkirchen an. Dort angelangt, sagten die beiden Männer dem Mädchen: sie müssen einen Gang nach Zernodin unternehmen. Dieser Ort war eine Stunde entfernt; der Rückweg führte bei dem „Gevatterloch“ vorüber. Letzteres war von den Unholden bereits

als Grab der Timal

bestimmt Hugo Schenk und Schlossarek, die von Weißkirchen eine Flasche Wein und aus Wien einen Strick mitgenommen hatten, um damit der Timal einen Stein um den Leib zu binden, begaben sich in Zernodin in ein Gasthaus. Sie kehrten aber sehr bald nach Weißkirchen zurück. Hugo Schenk und die Timal ließen sich im Walde in unmittelbarer Nähe des „Gevatterlochs“ an einem Baume nieder. Hugo Schenk gab der Timal Wein, der stark mit Chloralhydrat vermischt war, zu trinken. Das Mädchen wurde sehr bald bewußtlos. Darauf kam Schlossarek hinzu, band dem bewußtlosen Mädchen mit dem Strick einen Stein um den Leib und stürzte es in das Gevatterloch. Die beiden Mörder fuhren darauf nach Wien zurück. Nachdem Hugo Schenk den Befrag des Sparkassenbuches abgehoben und die goldene Uhr des Mädchens verkauft hatte, wurde die Beute unter den beiden Mordbuben geteilt.

Der Vorsitzende stellte fest, daß die Ermordung der Josefine Timal am 21. Mai 1883, also genau einen Monat nach dem Attentat auf den Kutscher Bauer geschehen sei.

Hugo Schenk bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Als er Schlossarek aufgefordert hatte, ihm bei der Ausraubung der Timal behilflich zu sein, habe Schlossarek gesagt: Er lasse sich auf bloße Ausraubungen nicht mehr ein, das sei ihm zu gefahrvoll. Er wolle sich nur beteiligen, wenn die zu beraubende Person ermordet werden solle. Im weiteren äußerte Hugo Schenk: Die Timal sagte mir: sie habe 1500 Gulden im Vermögen. Ich teilte das Schlossarek mit. Wir beschlossen: die Timal nach einem von Wien entfernt liegenden Walde zu führen, sie dort zu ermorden und zu berauben. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Es war also zwischen Ihnen und Schlossarek verabredet, das Mädchen zu ermorden?

Angekl.: Ich bemerkte dem Schlossarek ausdrücklich: Wenn er Hand anlegen wolle, dann habe ich nichts dagegen. Ich ziehe mich aber von jeder Handanlegung zurück. Schlossarek erklärte sich damit einverstanden.

Vors.: Schlossarek hatte also den manuellen Teil übernommen.

Angekl.: Jawohl, es ergab sich aber, daß Josefine Timal nur 200 fl. und nicht 1000 fl. hatte. Das Mädchen hatte bar bei sich 200 fl. und 200 fl. hatte es in der Sparkasse.

Vors.: Josefine Timal schrieb ihrer Tante: Sie habe ihrem Bräutigam (das waren Sie) gesagt: sie habe 500 fl. und nun geniere sie sich, daß sie nur 200 fl. habe. Um die Summe auf 500 fl. zu ergänzen, entlieh sie sich von der Tante 200 fl.

Hugo Schenk bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe der Josefine Timal von vornherein seinen richtigen Namen angegeben.

Vors.: Wie kommt es denn, daß die Timal in ihren Briefen an Verwandte sich Josefine Siegel, geborene Timal genannt hat.

Daraus geht hervor, daß Sie sich dem Mädchen unter dem Namen Siegel vorgestellt haben.

Hugo Schenk: Ich bleibe dabei, daß ich mich der Timal gegenüber Hugo Schenk genannt habe.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bestritt Hugo Schenk, die Gegend des Gevatterloches vorher ausgekundschaftet zu haben; das habe allerdings Schlossarek, aber nicht in seinem Auftrage, getan. Die Timal habe die Nachricht von ihrer Vermählung mit ihm (Hugo Schenk) an ihre Tante von Wien aus geschrieben.

Vors.: Wann geschah das?

Hugo Schenk: Am letzten Tage in Wien.

Vors.: In welcher Sprache?

Hugo Schenk: Nun deutsch.

Vors.: Aber einen Brief schrieb sie böhmisch?

Angekl.: Das kann sein.

Vors.: Und der Inhalt des Briefes war, daß Sie sich in Krakau verehelichen werden, das Datum aber hat das Mädchen weggelassen. Weshalb mag das geschehen sein?

Hugo Schenk: Auf meine Veranlassung, ich wollte es später anfügen.

Vors.: Das heißt, nach dem Tode der Timal.

Hugo Schenk: Ja. (Große, anhaltende Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Die Adressaten sollten also glauben, Josefine sei noch am Leben und glücklich verheiratet. Es ist sehr eigentümlich, daß die Verwandten der Timal den Brief, in welchem Sie nach dem Tode der Timal das Datum „Krakau“ eingefügt haben, nicht bemerkten und auch nicht, daß dieser Krakauer Brief in Wien aufgegeben worden ist.

Auf ferneres Befragen des Vorsitzenden erzählte Hugo Schenk: Die Timal trank soviel Wein, daß sie berauscht war. Wir gingen mit ihr eine Zeitlang. Alsdann ging Schlossarek einen Stein suchen, um ihn dem Mädchen um den Leib zu binden. Ich saß während dieser Zeit mit der Timal auf dem Rasen.

Vors.: Woher wollten Sie wohl den Strick nehmen?

Hugo Schenk: Wir hatten eine Zuckerschnur mitgenommen.

Vors.: Ist Ihnen nicht bekannt, daß ursprünglich die Absicht bestand, einen Aktengurt aus der Bahnkanzlei zu entwenden?

Hugo Schenk: Schlossarek hatte ursprünglich eine solche Absicht, ich war aber dagegen, weil der Gurt leicht erkannt werden konnte.

Vors.: Nun, was geschah weiter?

Hugo Schenk: Wir gingen noch 60 bis 70 Schritte mit der betrunkenen Timal.

Alsdann schritt Schlossarek mit ihr noch fünf bis sechs Schritte beiseite. Dort hat er ihr den Stein um den Leib gebunden und sie in das Gevatterloch gestoßen, so daß das Mädchen ertrinken mußte. Ich habe aber bei dem ganzen Vorgang keine Hand gerührt.

Vors.: Schlossarek behauptet, daß Sie beide das Mädchen in das Gevatterloch gestoßen haben?

Hugo Schenk: Das ist schon deshalb unmöglich, weil auf diesem Platze eine dritte Person nicht stehen konnte.

Im weiteren erzählte Hugo Schenk auf Befragen des Vorsitzenden: Nach der Tat ging ich mit Schlossarek ins Gasthaus zurück. Wir übernachteten dort und fuhren am nächsten Morgen nach Wien. Das geraubte Geld hatten wir geteilt. Meinem Bruder habe ich später 30 Gulden von dem geraubten Gelde gegeben, aber nur als Rückzahlung eines Darlehns.

Staatsanwalt: Sie sagten, Josefine Timal war, als Sie sie zu Schlossarek führten, schon sehr betrunken, wie haben Sie ihr denn den Stein an den Leib gebracht?

Angekl.: Das weiß ich nicht. Stein und Strick waren von Schlossarek schon an eine bestimmte Stelle geschafft worden. Wir haben die Timal bloß hingeführt, so daß ihr Schlossarek sofort den Strick, an dem der Stein befestigt war, um den Leib binden konnte.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Lichtenstein: Sie sagten, Sie wären geflohen, wenn die Timal 1500 Gulden gehabt hätte?

Angekl.: Jawohl. Schlossarek hatte geäußert: Jede Person, mit der ich ein Verhältnis habe, muß den Tod erleiden. Diese Behauptung wollte ich widerlegen.

Staatsanwalt: Wenn also die Timal mehr Geld gehabt hätte, würden Sie sie nicht ermordet haben?

Angekl.: Nein, dann hätte ich lediglich mit dem geraubten Gelde die Flucht ergriffen.

Vors.: Schlossarek, ist es richtig, daß Sie gesagt haben, Sie beteiligen sich nur dann, wenn die ausgeraubten Personen beseitigt werden?

Schlossarek: Das ist frei erfunden. Hugo Schenk sagte mir: Er habe schon einmal ein Mädchen ausgeraubt und sei alsdann von dieser angezeigt worden. Er werde es jetzt so machen, daß er nicht mehr angezeigt werden könne, d.h. er werde die ausgeraubte Person sofort beseitigen. Hugo Schenk spekulierte damals schon auf die Ausraubung der Timal.

Vors.: War das zwischen Ihnen verabredet?

Schlossarek: Jawohl. Deshalb schickte Karl Schenk seine Frau und ich meine Frau weg, weil wir über den Raubmord doch nur unter uns beraten konnten.

Vors.: Haben Sie den Strick, den Sie zur Ermordung der Timal brauchten, gekauft?

Schenk hat mich zwar aufgefordert, einen Strick zu beschaffen, ich kann aber nicht mit Bestimmtheit sagen, wer ihn gekauft hat.

Auf weiteres Befragen erzählte Schlossarek in ausführlicher Weise, wie die Timal in den Wald geführt worden sei: Zuerst wurde das Mädchen in ein Wirtshaus geführt und ihr Wein zugetrunken. Die Timal war, als das Wirtshaus verlassen wurde, sehr aufgeregt. Sie sagte: Sie habe wohl einen „Schwips“, sie sei aber nicht so betrunken, daß sie nicht wisse, was sie tue. Schenk hatte mich inzwischen beauftragt, einen Stein zu holen und alsdann die Timal an Ort und Stelle zu führen. Als ich mit dem Stein zurückkam, lag die Timal besinnungslos am Boden. Ich fragte Schenk: Was hast du mit dem Mädchen gemacht? Er antwortete: Das Mädchen hat es verlangt. Wir hoben nun gemeinschaftlich das Mädchen auf und schleppten es weiter. Unterwegs sagte Schenk: ich solle das Mädchen untersuchen, ob es Pretiosen bei sich habe. Schenk äußerte außerdem die Befürchtung, daß der Stein abreißen könnte. Als er das Mädchen fallen ließ, ist es die Böschung hinuntergerutscht.

Vors.: Schenk hatte also das Mädchen im entscheidenden Moment fallen lassen?

Schlossarek: Er hat es gehalten, damit ich den Stein um den Leib binden konnte.

Vors.: Eines Stoßes hat es nicht bedurft?

Schlossarek: Nein.

Vors.: War Ihnen bekannt, daß der Abhang so steil war?

Schlossarek: Nein, Schenk schien das auch nicht zu wissen, denn er schlug vor, das Hinunterwerfen bis zum folgenden Tage zu verschieben. Ich war aber dagegen. Ich hielt es für gleichgültig, ob der Körper ins Wasser fällt oder nicht, da der Körper doch später aufgefunden würde.

Vors.: Hat Schenk, bevor er den Körper die Böschung hinunterstieß, dem Leichnam den Schmuck abgenommen?

Schlossarek: Das ist mir nicht erinnerlich. Als wir nach Wien zurückfuhren, sind wir im Kupee mit einigen Herren zusammengetroffen, die Schenk für Detektivs hielt. Wir sind deshalb in Florisdorf ausgestiegen.

Auf Befragen des Vorsitzenden äußerte der Angekl. Karl Schenk: Schlossarek erzählte mir, daß ein Mädchen beseitigt werden solle. Schlossarek hatte für die Timal einen Koffer in Verwahrung. Diesem entnahm er ein Kleid und schenkte es seiner Frau.

Vors.: Den Koffer hatten Sie in Ihr Bahnmagazin eingestellt?

Karl Schenk: Das war der Koffer der Ferenczy.

Vors.: Geben Sie zu, 50 Gulden von dem der Timal geraubten Gelde erhalten und gewußt zu haben, daß das Geld der ermordeten Timal geraubt worden war?

Karl Schenk: Ja, aber 30 Gulden schuldete mir mein Bruder Hugo.

Vors.: Das ist eine sehr platonische Abwehr.

Auf weiteres Befragen erzählte Karl Schenk: Schlossarek habe ihm erzählt, er allein habe die Timal hinabgestoßen. Er habe dem Schlossarek eine Gurte zwecks Ermordung der Timal verweigert, weil er befürchtete, er könnte dadurch hineingezogen werden.

Am zweiten Verhandlungstage verlas der Vorsitzende folgenden Brief:

„Liebe Schwester!

„Heute war mein Ehrentag und ich bin so glücklich. Ich bedauere nur, daß ich Dich jetzt lange nicht sehen werde. Ich wünsche Dir von Herzen ein gleiches Los und küsse und grüße Dich Deine Josefine.“ (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors. (mit erhobener Stimme) zu Schenk: Diesen Brief haben Sie, nachdem Sie mit Schlossarek das arme Mädchen ermordet hatten, mit verstellter Hand geschrieben?

Hugo Schenk: Jawohl. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Alsdann wurde Katharina Timal, Schwester der Ermordeten, als Zeugin aufgerufen. Sie betrat, heftig weinend, den Gerichtssaal. Sie bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Hugo Schenk habe sie eines Tages in Böslau besucht und, ohne sich vorzustellen, nach der Adresse der Tante Katharina gefragt. Er sagte: Soviel ihm bekannt sei, habe Josefine eine sehr gute Stellung.

Vors.: Haben Sie nachher von der Josefine noch ein Lebenszeichen erhalten?

Zeugin: Niemals mehr.

Vors.: Wann haben Sie nachher von dem Verschwinden der Josefine Anzeige erstattet?

Zeugin: Noch im Sommer. Es wurde mir aber bedeutet, es sei davon der Behörde nichts bekannt. Im Dezember machte ich wiederum Anzeige.

Die folgende Zeugin war Franziska Timal, eine Schwester der ermordeten Katharina Timal und eine Tante der ermordeten Josefine. Sie sei von der Josefine eingeladen worden, ihr nachzukommen. Ihr Bräutigam (Hugo Schenk) habe ein Gut geerbt, dessen Wirtschaft die ebenfalls ermordete Katharina Timal übernehmen sollte.

Christine Timal, ebenfalls eine Schwester der ermordeten Josefine, bekundete als Zeugin: Sie habe ihre Schwester Josefine zum letzten Male am Pfingstmontag gesehen. Josefine habe ihr erzählt: Sie werde einen Ingenieur heiraten, der Vermögen besitze, sie wolle mit dem Bräutigam nach Bayern fahren. Sie habe den Bräutigam (Hugo Schenk) nicht gesehen.

Vors.: Hat Ihnen Ihre Schwester Josefine erzählt, daß ein uniformierter Diener Schenks ihr öfters Briefe bringt?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Hatte Ihre Schwester Josefine Vermögen?

Zeugin: 500 Gulden.

Vors.: Haben Sie nach dem Verschwinden Ihrer Schwester Nachforschungen angestellt?

Zeugin: Ich habe mich bei einem ehemaligen Freunde der Josefine erkundigt.

Vors.: Die Nachforschungen ergaben, daß Hugo Schenk in Fünfhaus wohnte und als ein sehr ordentlicher Mensch bezeichnet wurde. Was haben Sie von Ihrer ermordeten Tante, Katharina Timal, gehört?

Zeugin: Daß sie Hugo Schenk nachgereist und alsdann ebenfalls verschwunden war. Lange Zeit habe ich von beiden nichts gehört, bis im Dezember nachgeforscht wurde. (Die Zeugin brach hierbei in heftiges Weinen aus.)

Vors.: Ich habe noch zu erwähnen, daß ein Fräulein Therese Schlesinger bekundet hat: Josefine Timal habe ihr erzählt, sie habe die Bekanntschaft eines Ingenieurs, namens Hugo Schenk gemacht, der sie heiraten wolle. Hugo Schenk führe in Ungarn selbständig Bahnbauten aus. Er verlange, daß sie sofort den Dienst kündige, damit sie polizeilich als Private gemeldet werden könne, denn seine Verwandten würden es nicht zugeben, daß er sich mit einem Dienstmädchen chen verheirate. Fräulein Schlesinger hat die Josefine Timal vor Hugo Schenk gewarnt, weil es ihr eigentümlich vorgekommen war, daß Schenk nicht einmal seinen Wohnort angegeben hatte. Die Timal hat ferner dem Fräulein Schlesinger erzählt: Schenk sei ein fescher Mann mit einem schönen dunklen Vollbart. Trugen Sie damals einen Vollbart, Hugo Schenk?

Angekl: Nein.

Vors.: Aber auch bei der Ermordung der Theresia Ketterl wird des Vollbarts erwähnt. Wie kamen Sie auf den Gedanken, auch die Tante der Josefine, die Katharina Timal zu ermorden?

Hugo Schenk: Bald nach der Ermordung der Josefine erzählte ich dem Schlossarek, daß die Katharina Timal von der geplanten Vermählung mit Josefine Kenntnis hatte. Darauf machte mir Schlossarek den Vorschlag, auch die Katharina zu beseitigen.

Vors.: Also Sie behaupten, Schlossarek habe die Ermordung der Katharina Timal zuerst vorgeschlagen?

Hugo Schenk: Jawohl, ich wollte aber anfänglich nicht darauf eingehen.

Vors.: Warum nicht?

Hugo Schenk: Weil ich weitere Morde nicht begehen wollte.

Vors.: Sie haben aber später außerdem noch zwei Personen ermordet?

Hugo Schenk: Wenn ich die Katharina Timal hätte ermorden wollen, dann wäre mir das jeden Augenblick möglich gewesen; ich brauchte nicht noch zwei Monate zu warten.

Vors.: Weshalb Sie die Katharina Timal nicht früher umgebracht haben, kann ich nicht beurteilen. Es ist aber charakteristisch, daß Sie, nachdem Sie der Josefine Timal das Geld geraubt hatten, sofort einen neuen Mord planten?

Hugo Schenk: Das stimmt nicht, Herr Präsident, ich habe nur einen Raub an einem Postboten unternehmen wollen.

Auf Befragen des Vorsitzenden erzählte Hugo Schenk, daß er dem Schlossarek vorgeschlagen hatte, einen Postboten zu berauben. „Ich schlug vor, den Mann auf einsamem Wege einzuladen, ein Glas mit uns zu trinken. In das Glas des Postboten sollte vorher Chloralhydrat geschüttet werden; auf diese Weise sollte er betäubt werden.

Der Vorsitzende teilte mit: Hugo Schenk und Schlossarek haben unter Mißbrauch der Namen des Oberförsters Franz Hauser und des Pfarrers Dorn in Arstetten zwei Wiener Bankfirmen um Übersendung größerer Summen ersucht. Diese Bemühungen hatten auch Erfolg. Allein das geplante Raubattentat auf den Postboten mißglückte, da in Begleitung des Postboten sich ein strammer Bauernbursche befand. Dieses geplante plante Attentat war nicht Gegenstand der Anklage, weil ein Versuch nicht unternommen war. Jedenfalls bestand die Absicht, den Postboten mit Blausäure zu vergiften?

Hugo Schenk: Das gebe ich zu.

Vors.: Sie haben sich, als Schlossarek dem Postboten auflauerte, in ziemlicher Entfernung gehalten?

Hugo Schenk: Jawohl.

Vors.: Weshalb taten Sie das?

Hugo Schenk: Meine Anwesenheit war unnötig.

Vors.: Sie halten sich, soweit als möglich in weiter Entfernung, damit, wenn die Sache schief geht, Sie nicht erwischt werden. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Das geschieht aus kluger Berechnung, nicht aber aus sittlichen Gründen. Sie schickten am liebsten andere ins Feuer.

Hugo Schenk: Allein hätte ich den Überfall nicht ausführen können.

Vors.: Sie hatten wohl nicht Mut genug. Sie haben ferner angegeben: Schlossarek habe nach diesem mißglückten Attentat nicht allein nach Hause gehen wollen. Sie haben deshalb beschlossen, im Postamt selbst einen Einbruch zu verüben. Schlossarek habe sich auch dazu sofort bereit erklärt. Ihr Bruder Karl hatte Stemmeisen und ähnliche Werkzeuge besorgt und die Lage des Postamts einer Prüfung unterworfen. Karl Schenk sagte darauf: Das Postamt sei für einen Einbruch bruch ungeeignet, weil das Familienzimmer des Postbeamten dicht neben dem Amtszimmer liegt, in dem die Postgelder aufbewahrt sind. Ein Einbruch war deshalb nicht gut möglich. Schlossarek geriet aber, wie Sie behaupten, in großen Zorn. Er wollte durchaus auf einem Einbruch beharren.

Hugo Schenk: Das ist richtig. Schlossarek sagte: Er müsse einbrechen und wenn er genötigt wäre, die ganze Postfamilie umzubringen. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Und was geschah?

Hugo Schenk: Ich mußte dem Schlossarek die Sache ausreden und ihn auf die Katharina Timal vertrösten.

Schlossarek: Die Angaben Schenks sind falsch. Nachdem ich ohne Erfolg aus dem Posthause kam, suchte ich nach Schenk. Dieser saß, etwa eine Stunde weit auf einem Felsen und wartete auf mich. Nunmehr überzeugte sich Hugo Schenk selbst von der Unmöglichkeit des Einbruchs.

Hugo Schenk: Ich erkläre wiederholt, Schlossarek wollte den Einbruch begehen und wenn die ganze Familie ermordet werden müßte. Ich wandte jedoch ein: Wir wollen das lassen, ich beabsichtige die Katharina Timal zu ermorden und zu berauben.

Vors.: Also aus Schonung für die Postbeamtenfamilie wurde die Ermordung der Katharina Timal geplant? plant?

Hugo Schenk schwieg.

Hugo Schenk erzählte hierauf auf Befragen des Vorsitzenden: Nachdem ich mit Schlossarek beschlossen hatte, die Katharina Timal zu ermorden, erkundigten wir uns in ihrer Heimat nach ihr. Es wurde uns mitgeteilt: Sie sei nach Wien zu ihrer Schwester gereist. Letztere stand in der Nowarragasse bei einer Schauspielerin in Stellung. Dort erfuhren wir, daß die Herrschaft und auch die beiden Timal in Böslau seien. Wir fuhren dorthin. Schlossarek hatte bei der Polizei die Adresse der Herrschaft erfahren. Er begab sich zum Hausmeister und sagte diesem, der Mann der Josefine Timal möchte gern Fräulein Katharina Timal sprechen.

Vors.: Sagten Sie der Katharina Timal, daß Sie ihr Hab und Gut mitnehmen sollte?

Hugo Schenk: Nein.

Vors.: Da aber diese Leute in ihrem Sparkassenbuch ihren einzigen Schatz besitzen, so konnten Sie hoffen, daß Katharina Timal das Sparkassenbuch mitnehmen werde?

Hugo Schenk: Allerdings. Ich erwartete Katharina Timal am Franz-Josefs-Bahnhof und sagte ihr: Wir werden nach Pöchlara fahren.

Vors.: War Katharina Timal eine so leichtgläubige Person, daß es ihr nicht auffiel, daß Briefe der Josefine ne Timal aus Krakau kamen, während Sie sie nach Pöchlara führten?

Hugo Schenk: Ich sagte ihr, daß wir dort ein kleines Gut gekauft haben. Wir fuhren nun vom Bahnhof nach dem Hotel Fuchs. Schlossarek und mein Bruder Karl waren schon unterrichtet. Es war verabredet, daß diese beiden vorausfahren sollten, um dort auszukundschaften, wo die Katharina Timal unauffällig ins Wasser versenkt werden könne. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Schlossarek und mein Bruder Karl fuhren mit dem Mittagszuge, ich und Katharina Timal abends ab. Mein Bruder sollte links, ich von der rechten Seite aufpassen und Schlossarek sollte Katharina Timal erwürgen. Ich kam nun mit Katharina Timal gegen 12 Uhr nachts in Krummnusbaum an. Schlossarek und mein Bruder kamen uns entgegen; ich gab ihnen sofort ein Zeichen. Als ich und die Timal allein weitergingen, kam uns Schlossarek als Fremder entgegen mit der Frage, ob wir einen Fuhrmann brauchen.

Vors.: War das das verabredete Zeichen?

Hugo Schenk: Jawohl.

Vors.: Welcher Zweck war damit verbunden?

Hugo Schenk: Damit ich ihm folgen konnte, ich kannte den Ort nicht. Mein Bruder war weiter vorn an der Straße. Schlossarek zeigte uns nun den Weg etwa hundert Schritte. Plötzlich hörte ich einen Schlag und den Schlossarek sagen: Ich bin zu schwach. Halten Sie die Hände, geben Sie mir ein Messer! Gesehen habe ich nichts, aber ein Geräusch vernommen, als wenn jemandem die Kehle durchschnitten wird. (Ausrufe des Entsetzens im Zuhörerraum.)

Vors.: Bei Ihrer Vernehmung vor der Polizei haben Sie angegeben, Sie haben 10 bis 15 Schritt von der Stelle gestanden, auf der Schlossarek die Katharina Timal ermordet hat. Später haben Sie sogar gesagt: Sie waren nur fünf Schritt entfernt.

Hugo Schenk: Als Schlossarek die Katharina Timal faßte und zu Boden schleuderte, war ich allerdings nur fünf Schritte entfernt.

Vors.: Sie wollen durchaus den Anschein erwecken, daß Sie an keines Ihrer Opfer Hand angelegt haben?

Hugo Schenk: Das habe ich auch nicht getan.

Vors.: Aus Ihren Briefen geht hervor, daß Sie hierauf sehr viel Gewicht legen, da Sie den angedeuteten Folgen entgehen können, wenn Sie daran festhalten. Ich erkläre Ihnen, daß das ein Irrtum ist.

Hugo Schenk: Ich weiß genau, was mir bevorsteht; angesichts dessen spreche ich.

Vors.: Sie sprechen nicht im Angesichte dessen. Wir können die Leiche der Katharina Timal nicht herbeischaffen, allein, daß Ihre Angaben wahrheitswidrig sind, wird Ihnen bewiesen werden. Es besteht nun die Vermutung, Sie haben dem Schlossarek zur Ermordung der Katharina Timal Ihr Taschenmesser geliehen?

Hugo Schenk: Das bestreite ich ganz entschieden.

Vors.: Ich mute Ihnen sogar zu, daß Sie mit diesem Messer wieder Brot geschnitten haben?

Hugo Schenk: Das ist ausgeschlossen.

Vors.: Weshalb wehren Sie sich denn so dagegen? Sind Sie denn so ekelig?

Hugo Schenk: In dieser Beziehung allerdings.

Auf ferneres Befragen des Vorsitzenden äußerte Hugo Schenk: Ich hörte einen gurgelnden Ton, als wenn jemandem die Kehle durchschnitten wird. Dann sah ich im Dunkeln zwei Personen, die einen Körper zum Wasser schleiften.

Vors. (erregt): Da hört aber alles auf. Tun Sie doch nicht, als ob Sie nicht dabei gewesen wären. Halten Sie den Gerichtshof nicht zum Narren.

Der Angeklagte schwieg.

Vors.: Ist bei dem Leichnam der Katharina Timal nach Geld gesucht worden?

Hugo Schenk: Allerdings.

Vors.: Dann haben Sie aber den Schlossarek schlecht instruiert, denn bei Auffindung des Leichnams der Katharina Timal ist noch ein Geldbetrag gefunden worden.

Hugo Schenk: Schlossarek wußte das, er hat aber in der Eile daran vergessen.

Auf ferneres Befragen des Vorsitzenden äußerte Hugo Schenk: Nach geschehener Tat habe er den Koffer der Katharina Timal versetzen müssen, um eine Fahrkarte kaufen zu können. Sein Bruder und Schlossarek seien durch die Gefälligkeit eines Bahnbediensteten unentgeltlich nach Wien zurückgefahren. Das der Katharina Timal geraubte Sparkassenbuch lautete auf 1200 Gulden, 60 Kreuzer. Es wurde in Wien behoben. Den größeren Teil habe er (Hugo Schenk) erhalten.

Vors.: Das Geschäft war also nicht schlecht. (Heiterkeit.) Warum haben Sie alsdann nicht den lange gehegten Entschluß, nach Amerika zu gehen, ausgeführt? Sie hatten beschlossen, das nächste Mal die Sache allein zu besorgen, um den Raub nicht mit anderen teilen zu müssen?

Hugo Schenk schwieg.

Staatsanwalt: Sie sagten, Schlossarek habe, nachdem er die Katharina Timal zu Boden geworfen und sie nicht mehr halten konnte, Sie gerufen und ein Messer verlangt?

Vors.: Wie kam Schlossarek dazu, von Ihnen ein Messer zu verlangen, da er doch selbst eins hatte?

Hugo Schenk: Ich habe nur den Fall auf den Boden gesehen. Schlossarek erzählte mir nach geschehener Tat, er konnte die Katharina Timal, die sich sehr gesträubt sträubt hat, nicht mehr halten, er verlangte deshalb ein Messer. Da ich ihm aber das meinige nicht geben wollte, hat er sein eigenes herausgenommen.

Staatsanwalt: Das ist ein Widerspruch.

Vors.: Schlossarek, wann ist der Gedanke entstanden, die Katharina Timal zu ermorden?

Schlossarek: Der Gedanke ist von Hugo Schenk ausgegangen, und zwar erst nach dem Mißlingen der Tat an dem Postboten.

Hierauf erzählte Schlossarek in eingehender Weise, wie Hugo Schenk nach dem Aufenthalt der Katharina Timal geforscht habe. Zur Fahrt nach Pöchlara habe er (Schlossarek) sich 25 Gulden geliehen. Auf Veranlassung Schenks wurde ein Stein und eine Stange mitgenommen, um die Katharina Timal ins Wasser zu werfen. Nach der Ankunft auf dem Bahnhof ging Karl Schenk voraus, dann kam Hugo Schenk mit der Timal und etwa 20 Schritt dahinter er (Schlossarek). „Als wir an Ort und Stelle angekommen waren, da fragte Hugo Schenk: Könnten wir mit einem Fährmann hinüberkommen? In demselben Augenblick fiel Karl Schenk von vorne, ich von rückwärts über die Timal her, warfen sie zu Boden und erwürgten sie. Als die Timal auf der Erde lag und sich wehrte, sagte Karl Schenk: Ich halte es nicht mehr aus. Hugo Schenk stand dabei.

Vors.: Was bezweckten Sie, daß Sie die Katharina Timal niederdrückten, damit war sie doch noch nicht unschädlich gemacht?

Schlossarek: Hugo Schenk sagte: Wir sollten sie tüchtig würgen, damit sie ohnmächtig werde, so daß wir sie schnell ins Wasser hineinkriegen. Da sich aber die Timal sehr heftig sträubte, trat Hugo Schenk auf sie zu und schnitt ihr den Hals mit einem großen Schlachtmesser durch. (Große anhaltende Bewegung im Zuhörerraum.) Ich habe ihr dabei die rechte, Karl Schenk die linke Hand gehalten. Alsdann sagte Hugo Schenk: Wir sollen die Kleider untersuchen. Er übergab mir das Schlachtmesser mit dem Auftrage, es ins Wasser zu werfen. Das habe ich auch getan. Das Messer hatte Hugo Schenk, als er sich nach dem Aufenthalt der Katharina Timal erkundigte, für 60 kr. gekauft. Als die Timal tot war – sie zappelte noch lange, nachdem ihr der Hals durchschnitten war – habe ich und Karl Schenk dem Leichnam einen Stein um den Leib gebunden und ihn ins Wasser geworfen.

Vors.: Hugo Schenk behauptete, er habe erst von Ihnen gehört, daß Sie Ihr Messer ins Wasser geworfen haben?

Schlossarek: Ich habe gar kein Messer gehabt.

Vors.: Ihre Angaben und die des Hugo Schenk sind in den Punkten, welche ihn betreffen, in vollem Widerspruch. Hugo Schenk, beharren Sie bei Ihren Angaben?

Hugo Schenk: Jawohl.

Vors.: Sie behaupten also, die Angaben Schlossareks sind unwahr?

Hugo Schenk: Ganz bestimmt.

Schlossarek gab ferner auf Befragen des Vorsitzenden an, sie hatten nach geschehener Tat kein Geld zur Rückreise. Da sie auch kein Geld zur Bezahlung der Zeche hatten, mußte Hugo Schenk seinen kleinen Reisekoffer versetzen. Es wurde alsdann vereinbart, daß das der Katharina Timal geraubte Sparkassenbuch bis auf zehn Gulden behoben werden sollte. Hugo Schenk verlangte bald darauf, daß er (Schlossarek) später nochmals das Sparkassenbuch zur Behebung der ganzen Summe präsentieren solle. Er habe dies abgelehnt, zumal er die Überzeugung hatte, daß Hugo Schenk ihn dadurch nur in die Hände der Polizei liefern wollte.

Im weiteren Verlauf äußerte Schlossarek: Hugo Schenk machte einmal den Vorschlag, daß wir ein Mädchen an einen Baum binden, es mit Petroleum begießen und alsdann in Brand stecken. (Große, langandauernde Bewegung, Ausrufe des Entsetzens im Zuhörerraum.) Das Publikum drohte dem Hugo Schenk mit Fäusten. Hugo Schenk lächelte.

Vors. (in großer Erregung): Lächeln Sie nicht, Hugo Schenk, Sie haben doch hierzu keine Veranlassung. Einem Manne, wie Schlossarek, obwohl er ein schrecklicher Verbrecher ist, glaube ich, Sie aber dürfen nicht lächeln. Wenn ich die Akten durchblättere, dann finde ich geradezu empörende Beweise Ihrer Grausamkeit, ja, Ihrer tierischen Verrohung. Sie haben am 21. Juli Josefine Timal ermordet, am 22. Juli haben Sie das Sparkassenbuch der Ermordeten behoben, sind darauf sofort mit Emilie Höchsmann nach Melk gefahren und abends ins Theater gegangen. Ihre moralische Verworfenheit übersteigt alle Grenzen. Ein Mann, der mit drei anständigen Mädchen gleichzeitig Liebesverhältnisse anknüpft, um sie zu ermorden, der in grausamster Weise ein Mädchen im Walde abschlachtet und beraubt und am folgenden Tage ein anderes Mädchen seiner weiblichen Ehre beraubt und abends mit diesem Mädchen ins Theater geht, beweist eine Gesinnung, der das Ärgste zuzutrauen ist. Ich gestehe, daß ich meine Aufregung kaum noch meistern kann.

Schlossarek: Herr Präsident, dieser verruchte Verbrecher (auf Hugo Schenk weisend) hat Karl Schenk verleiten wollen, meine Frau zu ermorden. Schlossarek brach hierbei in lautes Weinen aus.

Vors. (in großer Erregung, mit heftig zitternder Stimme): Ja, so ein verworfener Mensch dieser Schlossarek ist, ich erkläre, ich muß ihm glauben. Sie aber (zu Hugo Schenk gewendet) lügen. Sie können nicht anders als lügen. Ich muß Sie als einen Lügner bis in das innerste Mark der Knochen bezeichnen. Sie haben monatelang in der furchtbarsten Weise gelogen. Jedes Ihrer bedauernswerten Opfer haben Sie getäuscht, betrogen. Und sobald Ihr Zweck erreicht war, haben Sie sich sofort nach einem neuen Opfer umgesehen. (Große anhaltende Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors. (zu Karl Schenk): Waren Sie ihrem Bruder Hugo behilflich, den Aufenthaltsort der Katharina Timal zu ermitteln?

Karl Schenk: Ja, ich habe auf der Landstraße nachgefragt.

Vors.: Was wissen Sie von den Telegrammen, die Hugo Schenk nach Budweis geschickt hat?

Karl Schenk: Es wurden zwei Telegramme nach Budweis gesandt. Eins war unterschrieben: Josefine Siegel, das andere Josefine Siegel, geborene Timal.

Vors.: Kam aus Budweis eine Nachricht, daß Katharina Timal der Aufforderung nachkommen werde?

Karl Schenk: Aus Budweis kam unter der Adresse: „Hermann Siegel, poste restante Fünfhaus“ ein Brief, in dem die Ankunft der Katharina Timal angezeigt wurde.

Karl Schenk, der über die Ankunft der Katharina Timal und deren Ermordung eine eingehende Schilderung gab, äußerte: Er habe sich die Hände gewaschen.

Vors.: Weshalb taten Sie das?

Karl Schenk: Weil sie von der Erde schmutzig waren.

Vors.: Waren denn Ihre Hände nicht blutig? Sie leisteten doch Ihrem Bruder Hilfe, als er der Katharina Timal den Hals durchschnitt?

Karl Schenk: Ich habe keine blutigen Hände bekommen. Denn als ich in die Nähe der Mordtat kam, fiel ich zur Erde.

Vors. (erregt): Sie sind und bleiben ein Mitmörder der Katharina Timal, wie Sie die Tat auch darstellen mögen.

Karl Schenk: Ich war in keiner Weise an der Ermordung der Katharina Timal beteiligt. Ich habe weder selbst Hand angelegt, noch die Ermordung mit angesehen.

Staatsanwalt Dr. v. Pelser: Sie haben früher zugegeben, daß Sie dabei waren, als der Katharina Timal der Hals durchschnitten wurde?

Karl Schenk (mit leiser Stimme): Schlossarek sagte mir, ich solle das Mädchen halten.

Staatsanwalt: Na also. Und wann haben Sie das Mädchen gehalten?

Karl Schenk: Da hat mein Bruder Hugo schon einen Schnitt gemacht gehabt und hat mich gerufen.

Staatsanwalt: Und was geschah alsdann?

Karl Schenk: Da hat er noch einmal geschnitten, so daß der Hals des Mädchens bis auf die Wirbelsäule durchschnitten war. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Steger gab Karl Schenk an, daß seine Notlage ihn veranlaßt habe, sich an den Mordtaten seines Bruders zu beteiligen.

Vors.: Notlage ist ein Grund, wenn man einen Laib Brot stiehlt, aber nicht ein Grund zu einem Morde. Sie haben jedenfalls mehr gehabt, als mancher ehrliche Kerl, der mit hungrigem Magen herumläuft.

Karl Schenk: Ich habe täglich 30 bis 40 Kreuzer gehabt und mußte mir von 1877 ab monatlich 25 Kreuzer für Dekretstempel abziehen lassen.

Vors. (heftig): Sie wollen uns einen Dunst vormachen. Das empört mich, denn das ist ein Versuch, uns auf listige Weise irrezuführen. Einen Mord begehen, weil man seit 1877 einen Dekretstempel zu zahlen hat, das ist unerhört. Der Vorsitzende verlas alsdann das Telegramm, das Hugo Schenk an die Katharina Timal am 7. Juli 1883 abgesandt hatte. Es lautete: „Ich anzeige Trauung, Josefine Siegel.“

Vors.: Es ist eine Eigentümlichkeit von Ihnen, Hugo Schenk, daß Sie immer: „Ich anzeige, ich mitteile“ schreiben, anstatt: „ich teile mit.“ Das deutet darauf hin, daß Sie der Verlasser der Telegramme sind.

Alsdann wurde ein Kleid der Josefine Timal vorgezeigt, zeigt, das fast vollständig zerweicht war und eigentlich nur noch einen Haufen Lumpen bildete.

Hierauf gelangte der

Raubmord an Therese Ketterl

zur Verhandlung. Therese Ketterl, ein bildschönes, junges Mädchen, war Stubenmädchen bei dem Baron v. Buschmann in Wien. Hugo Schenk, der von den Mädchen in Wien

der schöne Hugo

genannt wurde, eroberte, wie fast immer, das Herz der Therese Ketterl im Sturm. Es war Hugo Schenk bekannt, daß die Herrschaft der Ketterl verreist war. Er schlug deshalb vor, eine Landpartie zu unternehmen. Die Ketterl erklärte sich sogleich mit Freuden damit einverstanden, zumal ihr Hugo Schenk geschworen halte, daß er sie heiraten werde. Sie erklärte, sie werde alle ihre Wertsachen mitnehmen, weil sie sie nicht in der unbewachten Wohnung lassen wolle. Hugo Schenk war über diesen Entschluß selbstverständlich hocherfreut; er hatte bereits den Plan gefaßt, auch dieses liebreizende Mädchen zu beseitigen. Am 4. August 1883 reiste Hugo Schenk mit der Ketterl von Wien ab. Die Ketterl hatte einen Koffer mit Kleidern, Wäsche, Pretiosen, Wertpapieren und Sparkassenbüchern mitgenommen. In einem Hundekoffer wurde das Hündchen das Barons Buschmann, das der Ketterl zur Obhut und Pflege anvertraut war, mitgenommen. nommen. In St. Völten, im Hotel „Kaiserin von Österreich“ übernachteten Hugo Schenk und die Ketterl. Am 5. August fuhren sie nach Lilienfeld und unternahmen alsdann eine Fußpartie über die Klosterebene auf die Riesalpe. Schenk bewog die Ketterl, vom gewöhnlichen Touristenweg abzubiegen. Er führte sie in eine einsame Gebirgsschlucht, die sogenannte „Sternleiter“, um sie dort zu ermorden.

Vors.: Hugo Schenk, wie sind Sie mit Theresia Ketterl bekannt geworden?

Hugo Schenk: Herr Präsident, da Sie mir nichts glauben, sondern mich als einen verlogenen Menschen bezeichnen, so ist es schade, wenn ich etwas spreche.

Vors.: Antworten Sie auf meine Frage. Ich habe für meine Person nichts zu entscheiden, sondern die Herren vom Gerichtshof.

Hugo Schenk gab eine nichtverständliche Antwort, in welcher die Worte: „physisch und moralisch gequält“ vorkamen.

Vors. (mit erhobener Stimme): Spielen Sie hier keine Komödie. Sie werden gesehen haben, daß ich Energie besitze. Ich lasse hier keine Schauspielerei von Ihnen treiben. Es ist nicht wahr, daß man Sie gequält hat. Wenn Sie keine Antwort geben wollen, dann werde ich Ihre Aussage aus der Voruntersuchung verlesen. Ich sehe allerdings ein, daß es eine große Verlegenheit für Sie ist, hier am hellichten Tage, in Gegenwart so vieler Menschen eine von Ihnen begangene verruchte Mordtat zu erzählen. Sie möchten das gern vermeiden, daher die Komödie, daß Sie infolge physischer Mißhandlungen und aus Anlaß meines Vorgehens zu dem Entschlusse gekommen sind, mir nicht zu antworten. Also überlegen Sie sich, was Sie tun wollen.

Hugo Schenk: Ich werde nicht sprechen, Herr Präsident! Verurteilen werden Sie mich ja sowieso. Ich weiß, daß ich mein Leben verwirkt habe. Ich werde weder rekurrieren noch ein Gnadengesuch einreichen. Also verurteilen Sie mich, ich habe mit dem Schicksal abgeschlossen, aber ich lasse mich nicht quälen.

Vors.: Es scheint, daß Sie nicht so sehr durchdrungen sind von Ihrem Schicksal, sonst hätten Sie nicht versucht, der Wahrheit ein Paroli zu bieten. Also, Sie gedenken auf meine Frage keine Antwort zu geben, ich erlaube Ihnen daher, sich niederzusetzen.

Der Vorsitzende begann darauf mit der Verlesung der in der Untersuchung gemachten Aussage des Hugo Schenk, die mit den Worten anfing: „Noch ehe ich mit den beiden Timal zu Ende war, machte Ich infolge einer Annonce die Bekanntschaft mit Theresia Ketterl.“

Vors.: Sie behaupten, daß Sie im Landgericht physisch und moralisch gequält worden sind? Worin bestanden standen diese Qualen?

Hugo Schenk: Schon bei meinem ersten Verhör im Polizeigebäude hat mir Polizeirat Breitenfeld auf Ehrenwort versprochen, daß er mir zwei bescheidene Wünsche erfüllen werde. Er hat mir, wie gesagt, sein Ehrenwort gegeben, es aber schon am folgenden Tage gebrochen. Im Landgericht wiederholte ich diese Bitten, zwei kleine Bitten, die mich so sehr drückten.

Vors.: Was waren das für Bitten?

Hugo Schenk: Die eine war Verzeihung von den Personen zu bitten, die ich geschädigt habe; ich habe deshalb viele Nächte nicht geschlafen. Diese Bitte wurde mir aber nicht erfüllt, nicht einmal eine schriftliche Abbitte durfte ich machen.

Vors.: Und was war die zweite Bitte?

Hugo Schenk: Daß ich meine Biographie zum Besten meiner Frau herausgeben dürfe, damit sie meine Schulden bezahlen kann. Ich habe wochenlang die Nächte durchwacht, und jetzt hat man mir auch verboten, meine Biographie zu Ende zu schreiben. Gestern hat man mich sogar in eine Narrenzelle gesteckt.

Vors.: Wir haben hier keine Narrenzellen.

Hugo Schenk: O ja, die Zelle ist vollständig mit Strohsäcken ausgelegt.

Vors.: Damit die Mitglieder des Gerichtshofes nicht im unklaren bleiben, so erkläre ich: Die Verantwortung für die Qualen, die der Angeklagte erleidet, habe ich. Der Angeklagte hat sich angeblich bestrebt, Verzeihungen von den Personen zu erbitten, welche er geschädigt hat. Damit ist die überlebende Josefine Eder gemeint. Das ist eines derjenigen Mädchen, mit dem er mehrere Monate unter dem Vorgeben, daß er es heiraten wolle, gelebt hat. Dieses Mädchen hat er verleitet, die Dienstherrin zu bestehlen und das Gestohlene ihm zu geben. Josefine Eder wurde deshalb zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt. Hugo Schenk hat mich gebeten, mit dieser Eder verkehren zu dürfen. Ich habe erklärt und wiederhole: Ich gestatte einen Verkehr des Angeklagten mit der Eder unter keiner Bedingung. Hugo Schenk hat alsdann gebeten, der Eder schreiben zu dürfen. Ich habe darauf erwidert, daß eine Korrespondenz zwischen Personen, die sich in Haft befinden, unzulässig ist. Ich bin überzeugt, daß der Beweggrund des Angeklagten, er wollte die Eder um Verzeihung bitten, Heuchelei ist. Ich habe deshalb den Verkehr nicht gestattet. Die zweite Bitte, die Hugo Schenk bei seiner Einlieferung ins Landesgefängnis gestellt hat, war, ihm zu erlauben, seine Memoiren zu schreiben. Diese Erlaubnis ist ihm erteilt worden, und zwar ganz ausnahmsweise, obwohl es sonst Sträflingen nicht gestattet ist, in der Zelle Schreibzeug zu besitzen. Hugo Schenk hat nun längere Zeit an seinen Memoiren gearbeitet und ungefähr vierzehn Bogen einer solchen angeblichen Biographie graphie geschrieben. Bei Erteilung dieser Erlaubnis wurde ihm von mir bzw. dem Chef dieses Hauses die Warnung zuteil, daß ihm, sobald er den geringsten Mißbrauch mit dem Schreibzeug treibe und irgendeinen Unterschleif nach außen begehe, die Begünstigung, Schreibzeug und Papier zu haben, entzogen werden wird. Hugo Schenk erklärte darauf auf Ehrenwort (Große Heiterkeit im Zuhörerraum), daß er von der Erlaubnis des Präsidiums dankbaren Gebrauch mache und sich verpflichte, keinen Versuch zu unternehmen, diese Erlaubnis zu umgehen. Das dauerte einige Wochen. Kurz vor der jetzigen Verhandlung wurde aber festgestellt, daß Hugo Schenk den Versuch unternommen hat, einen sehr langen Brief an die Emilie Höchsmann hinauszuschmuggeln. In diesem Briefe hatte er die Höchsmann gebeten, ihm Gift zu verschaffen, damit er sich dem irdischen Richter entziehen könne. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Hier ist dieser Brief. Es ist unwahr, Angeklagter, daß Sie bestrebt waren, durch Ihre Memoiren Ihrer Frau einen Vorteil zuzuwenden. Diese Ihre Behauptung ist um so kühner, da Sie zu jeder Zeit bestrebt gewesen sind, nicht für Ihre Frau, sondern für Ihre letzte Geliebte, die Höchsmann, zu sorgen. Sie schreiben ausdrücklich, daß ein Teil des vermeintlichen Erlöses aus der Biographie der Höchsmann und ein Bruchteil Ihrer Frau gegeben werden soll.

Hugo Schenk: Die Hälfte meiner Frau, die Hälfte der Höchsmann.

Vors.: Warum geben Sie sich den Anschein, daß Sie in edelmütiger Weise für Ihre Frau sorgen wollen, das ist doch erlogen.

Hugo Schenk: Das steht doch aber hier.

Vors.: Sie haben über Ihre Memoiren disponiert, wie über einen Wertgegenstand, um den sich die Welt reißen wird. Ich erlaube mir mein Urteil über den literarischen Wert solcher Memoiren. Sie bilden sich ein, daß die Menschheit außerordentlich begierig sein wird, Ihre Memoiren zu lesen – sie wird nicht in die Lage kommen, es zu sein, das kann ich Ihnen sagen. In diesem Briefe – ich würde von diesem schändlichen Schriftstück keinen Gebrauch gemacht haben, wenn Sie mich nicht hierzu genötigt hätten – in diesem Briefe schreiben Sie, daß Sie von dem Gift erst unmittelbar vor Ihrer angeblich erwarteten

Hinrichtung

Gebrauch machen werden. Sie fügen hinzu: „Welch ein Nimbus, wenn ich dem Henker entrinne und bis zum letzten Augenblick aushalten würde.“ Also nicht Reue über Ihre Verbrechen, nicht der mindeste Grad von sittlicher Umkehr, sondern Sie sind bestrebt, sich vor der Welt als ein Mensch darzustellen, der von einem Nimbus umgeben ist. Sie sind so schlecht, daß Sie noch heute nichts anderes als Ihre grenzenlose Eitelkeit telkeit im Sinne haben. Noch heute haben Sie keine Spur von Reue über Ihre gräßlichen Verbrechen. Der Schmuggel, der mit diesem Briefe vollzogen wurde, und zwar durch einen Zellengenossen, dieser Mißbrauch der Ihnen erteilten Erlaubnis hatte zur Folge, daß Ihnen die weitere Benützung von Schreibmaterial untersagt und Ihren Memoiren in gründlicher Weise ein Ende gemacht wurde. Wenn Sie das als Grund angeben, um über den Fall Ketterl zu schweigen, so wird sich die Welt schon eine Meinung darüber bilden.

Es wurden alsdann die Angaben des Hugo Schenk, die er über die Ermordung der Ketterl beim Untersuchungsrichter gemacht hatte, verlesen.

Danach hatte Schenk erzählt:

Obwohl er die Ketterl in den Wald gelockt hatte, um sie zu ermorden, hatte er plötzlich den Mut verloren. Er habe daher die Ketterl veranlassen wollen, sich selbst zu erschießen. Er spielte ihr den ungeladenen Revolver in die Hände und veranlaßte sie, diesen gegen ihren Kopf abzudrücken. Das Mädchen überzeugte sich, daß das gefahrlos sei. Darauf entfernte sich Hugo Schenk auf einen Augenblick, lud schnell den Revolver und brachte, zu der Ketterl zurückgekehrt, das Gespräch wieder auf die Schießversuche. Er veranlaßte die Ketterl, den Revolver noch einmal an die Schläfe zu setzen und loszudrücken. Der Schuß ging los und – Theresia Ketterl sank tot nieder. Der verruchte Mörder raubte darauf der Leiche alles, selbst das Hemd, und senkte den vollständig entkleideten Leichnam in einen nahebelegenen Fluß. Schenk hatte bei dem Untersuchungsrichter ferner erzählt: Ehe Theresia Ketterl tot war, geriet ich auf einen einsam gelegenen Weg. Als ich mich umwendete, wurde ich von einem Manne, der eine drohende Haltung gegen mich einnahm und mit einem dicken Stocke bewaffnet war, um Geld angesprochen. Ich sagte dem Mann: „Seien Sie ruhig, ich bin ebenfalls vom Geschäft.“ Ich forderte den Mann auf, mit mir zu gehen“. Wir besprachen uns, gemeinsam ein Unternehmen auszuführen. Dieser Mann, mit Namen Karl oder Richard Wagner, wurde von mir zur Ermordung der Ketterl angeleitet.

Der Vorsitzende bemerkte hierbei: Hugo Schenk hat später auch diese Aussage als unrichtig bezeichnet. Die Erfindung des Namens Wagner sei offenbar dadurch zu erklären, daß Schenk damals in den Zeitungen gelesen hatte, ein Mann namens Wagner sei des Mordes an der Ketterl verdächtig. Der Angeklagte habe bei dem Untersuchungsrichter noch sehr viel von der Tätigkeit des Wagner berichtet, es ist aber nicht ein Wort davon wahr.

Vors.: Nun, Karl Schenk, wann haben Sie von der Ermordung der Ketterl erfahren?

Karl Schenk: Am 22. August.

Vors.: Von wem?

Karl Schenk: Von meinem Bruder.

Vors.: Er hat Ihnen von dem Morde erzählt, früher hatten Sie keinen Verdacht?

Karl Schenk (zögernd): Ja, als ich die Kundmachung gelesen hatte von dem verschwundenen Mädchen, die an den Straßenecken plakatiert war. Als ich aber las, daß der Mann, mit dem das Mädchen gesehen wurde, einen blonden Vollbart hatte, da sagte ich, das kann Hugo nicht gewesen sein.

Vors.: Und was hatte Ihnen Hugo am 22. August erzählt?

Karl Schenk: Ich erinnere mich nicht.

Vors.: Ich will Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen. Bei dem Untersuchungsrichter haben Sie angegeben – nun, wissen Sie es noch nicht –?

Karl Schenk: Nein.

Vors.: Hören Sie, Karl Schenk, Sie sind nicht nur sehr verschmitzt, sondern auch ganz unverständlich. Sie haben bei dem Untersuchungsrichter gesagt: Ihr Bruder Hugo hat Ihnen erzählt: Er habe die Ketterl aufgefordert, mit dem Revolver zu spielen. Er habe alsdann den Revolver im geheimen geladen und darauf habe sie sich selbst erschossen.

Karl Schenk: Jawohl, das hat er mir erzählt.

Auf weiteres Befragen gab Karl Schenk zu, daß ihm sein Bruder Hugo bei diesem Zusammentreffen 30 Gulden, die, wie ihm sein Bruder sagte, er der Ketterl geraubt, gegeben habe.

Vors.: Hugo Schenk, sind Sie vielleicht jetzt geneigt, zu antworten?

Hugo Schenk: Ja.

Vors.: Das ist jedenfalls besser für Sie.

Rosa Keilwerth bekundete darauf als Zeugin: Sie habe die Ketterl oftmals mit einem Mann, der einen Vollbart trug, gesehen.

Vors.: Der Vollbart spielte bereits bei der Ermordung der Josefine Timal eine Rolle. Es ist daher anzunehmen, daß Hugo Schenk einen falschen Bart getragen hat.

Die folgende Zeugin, Frau Nader, bekundete: Sie habe die Ketterl oftmals mit Hugo Schenk zusammen gesehen. Eine innere Stimme sagte ihr, der Mann habe die Absicht, die Ketterl zu ermorden. Sie habe deshalb die Ketterl oftmals vor ihrem Liebhaber gewarnt.

Unter der größten Spannung der zahlreichen Zuhörer wurde alsdann Emilie Höchsmann, ein auffallend hübsches Mädchen, als Zeugin in den Saal gerufen. Hugo Schenk verriet nicht die mindeste Bewegung bei ihrem Eintritt.

Vors.: Wann haben Sie Hugo Schenk kennengelernt?

Zeugin: Am 26. April 1883.

Vors.: Auch durch eine Zeitungsannonce?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Als was hat er sich Ihnen vorgestellt?

Zeugin: Anfänglich als Ingenieur.

Vors.: Hat er sich Hugo Schenk genannt?

Zeugin: Ja.

Vors.: Was geschah dann?

Die Zeugin schwieg.

Vors.: Es ist mir peinlich, daß ich darauf zu sprechen kommen muß, wir werden uns aber wohl in geeigneter Weise verständigen. Nicht wahr, er hat Ihnen schon im Beginn Ihres Verkehrs gewisse Zumutungen gestellt. Er wollte Ihnen sogar einmal in einem Hotelzimmer Gewalt antun. Er hat dabei auch eine Mischung von Flüssigkeiten vorgenommen und gedroht, er werde mit dem Getränk, das er als Gift bezeichnete, sich das Leben nehmen, wenn Sie nicht augenblicklich auf seine Wünsche eingehen?

Zeugin: Das ist richtig.

Vors.: Sie haben ihm trotzdem Widerstand geleistet und sind gegen vier Uhr morgens aus dem Hotel geflohen, ohne daß es Hugo Schenk gelungen war, Ihren Widerstand zu brechen. Sie begaben sich nach Hause. Ihre Eltern haben Ihr nächtliches Ausbleiben sehr auffällig gefunden?

Zeugin: Das ist alles richtig.

Vors.: Einige Tage darauf erhielten Sie einen Brief von einem angeblichen Professor Johann Schenk. In diesem zeigte Ihnen der angebliche Professor an: Sein Bruder Hugo habe sich in seinem Laboratorium durch Einatmen von giftigen Dämpfen verletzt. Dies sei aus Verzweiflung wegen des von Ihnen geleisteten Widerstandes geschehen?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Bald darauf erhielten Sie eine Karte von Hugo Schenk. Auf dieser stand: Ich hätte mir beinahe eine Karte ins Jenseits gelöst. Es ist mir aber gelungen, mich wieder aufzuraffen. Ich werde hoffentlich in kurzer Zeit wieder gesund werden.

Der Vorsitzende zeigte Hugo Schenk einen Brief, der an die Höchsmann gerichtet war und äußerte: Sehen Sie, Hugo Schenk, Sie waren in Weißkirchen, um die Josefine Timal in das Gevatterloch zu werfen. Währenddessen schrieben Sie an die Höchsmann, daß Sie morgen das Vergnügen haben werden, sie wiederzusehen. Am nächsten Tage besuchten Sie mit der Höchsmann das Theater an der Wien und am darauffolgenden Tage fuhren Sie mit der Höchsmann nach Melk. Auf dieser Reise haben sich Ihre Beziehungen zu der Höchsmann inniger gestaltet. Sie haben der Höchsmann erzählt: Sie seien

der Fürst Wilopolski, ein Nihilist,

auf dessen Kopf 20000 Gulden gesetzt seien. Sie haben einen reichen Onkel in Cincinnati, den Sie besuchen müssen, um 20000 Gulden zu beheben. Sie haben alsdann eine Reise unternommen, angeblich zu Ihrem Onkel, tatsächlich aber, um die Katharina Timal, die Tante der Josefine Timal, zu ermorden. (Zur Zeugin): Hat Hugo Schenk damals Geld mitgebracht?

Zeugin: Er brachte 500 Gulden, sagte aber, der Onkel habe nichts gegeben.

Vors.: Haben Sie selbst auch einiges Vermögen besessen?

Zeugin: Nicht ganz 600 Gulden.

Vors.: Davon haben Sie Schenk einmal 200 Gulden gegeben?

Zeugin: Ja.

Vors.: Am Abende des Tages, an dem die Ketterl ermordet wurde, soll Hugo Schenk zurückgekommen sein und gesagt haben: er habe den Tag über schwer gearbeitet und habe großen Hunger. Hugo Schenk hat auch an jenem Abend das Doppelte gegessen, was sonst ein Mensch zu essen pflegt, nämlich zwei Lungenbraten.

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Hugo Schenk packte Juwelen aus, schenkte Ihnen einige und sagte Ihnen: Sie seien vom Prinzen Reuß?

Zeugin: Jawohl.

Auf weiteres Befragen erzählte die Zeugin: Sie sei mit Schenk nach Stettin gefahren. Später sei sie nach Breslau bestellt worden. Dort habe ihr Schenk unter allerlei Vorspiegelungen die Pretiosen der Ketterl weggenommen. Sie (Zeugin) sei alsdann nach Salzburg übergesiedelt, dort habe sie Schenk zweimal besucht.

Vors.: Während Hugo Schenk dieses Fräulein in Salzburg sitzen hatte, saß die Josefine Eder mit ihm in Linz und die Ferenczy ebenfalls irgendwo, er mußte daher jeder Geschäftsreisen vorschwindeln. Nun sagen Sie, Zeugin: Wann sagte Hugo Schenk:

Der Kaiser von Rußland

wäre froh, wenn er das besäße, was er in der Tasche habe? (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Zeugin: Ende Oktober 1883.

Vors.: Er zeigte nämlich auf die Tasche. Da er gesagt hatte, daß er Nihilist sei, so konnte man glauben, er meinte: der Kaiser von Rußland sei froh, die geheimen Papiere zu haben, die in der Tasche sind.

Der Vorsitzende zeigte darauf Schmuckgegenstände, die Hugo Schenk seiner Familie geschenkt hatte. Darunter befanden sich Pretiosen, die der ermordeten Ketterl geraubt waren, vier Dukaten, die er der Josefine Eder gestohlen hatte und ein falscher Trauring, den er der Höchsmann geschenkt hatte.

Der Vorsitzende erklärte darauf, daß die Vernehmung mung der Höchsmann beendet sei und forderte sie auf, den Saal wieder zu verlassen.

Die Höchsmann erhob sich vom Stuhle und wankte auf Hugo Schenk zu, um ihm die Hand zum Abschied zu reichen.

Vors. (mit erhobener Stimme): Treten Sie ihm nicht näher, hüten Sie sich vor der Berührung mit diesem Manne.

Die Höchsmann begann zu weinen, sie stürzte mehr als sie ging aus dem Saale.

Die Zuhörer waren aufs äußerste erregt. Der Vorsitzende unterbrach auf kurze Zeit die Sitzung.

Nach Wiedereröffnung der Verhandlung erbat sich Hugo Schenk das Wort: Herr Präsident, ich muß erklären, daß meine Angabe bezüglich des Selbstmordes der Ketterl falsch ist. Wagner hat die Ketterl ermordet. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: Sie wußten aber, daß Wagner die Ketterl ermorden wollte?

Hugo Schenk: Nein, ich wußte nichts davon.

Der Vorsitzende hielt Hugo Schenk eine Anzahl Widersprüche vor, woraus die Unglaubwürdigkeit dieser veränderten Angabe hervorging.

Es wurde alsdann zur Verhandlung des Falles

Josefine Eder

geschritten. Im Oktober 1883 wurde Hugo Schenk durch eine Zeitungsannonce mit dem Stubenmädchen Josefine Eder und Rosa Ferenczy bekannt. Es gelang ihm, die Eder zur Begehung von Diebstählen anzuhalten. Er spiegelte der Eder vor, er wolle sie heiraten. Er habe eine Fabrik gekauft, er brauche aber zum Betrieb der Fabrik Geld, dies wolle er sich durch Diebstähle beschaffen. Die Eder, ein sehr hübsches Mädchen – sie war Stubenmädchen bei einer sehr reichen, alleinstehenden adligen Dame – war in Hugo Schenk sterblich verliebt. Sie ließ sich sehr bald bewegen, ihre Herrin zu bestehlen und noch mehrere andere Diebstähle auszuführen. Sie wurde geradezu ein willenloses Werkzeug in den Händen Hugo Schenks. Diesem Umstande hatte sie es aber zweifellos zu verdanken, daß sie nicht ebenfalls auf die Proskriptionsliste der zu Ermordenden gesetzt wurde. Eines Tages wurde Josefine Eder bei einem Diebstahl ertappt und zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt.

Unter großer Spannung des Publikums wurde Josefine Eder als Zeugin in den Saal geführt. Der Vorsitzende ließ ihr, mit Rücksicht auf ihren leidenden Zustand, einen Sessel bringen. Sie erzählte auf Befragen des Vorsitzenden, in welcher Weise sie mit Hugo Schenk bekannt geworden sei und wie dieser sie zu den Diebstählen verleitet habe. Der Vorsitzende machte der Zeugin in milden Worten den Vorwurf, daß sie nicht rechtzeitig ein volles Geständnis abgelegt habe.

Die Zeugin erzählte darauf mit weinender Stimme: Sie sei grundehrlich gewesen, ihr Unglück war, daß sie Hugo Schenk kennengelernt hatte, da sie in ihn sterblich verliebt gewesen sei. Hugo Schenk habe ihr die Ehe versprochen und sie bestürmt, ihm Geld zu verschaffen, da er das zur Fortführung einer Fabrik benötige. Deshalb habe sie sich zu den Diebstählen verleiten lassen, wofür sie jetzt drei Jahre schwere Kerkerstrafe verbüßen müsse.

Alsdann wurde die

Ermordung der Rosa Ferenczy

erörtert. Hugo Schenk äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Die Ferenczy habe in der Nibelungengasse in Diensten gestanden, sie sei aber ihm zuliebe aus dem Dienst getreten. Er habe die Ferenczy in Altmannsdorf bei Frau Hotze eingemietet und sie als seine Schwester ausgegeben. Er hatte anfänglich nicht den Plan, die Ferenczy zu ermorden. Schlossarek habe jedoch sehr bald gedroht, er werde Anzeige erstatten, so daß alle drei am Galgen werden sterben müssen, wenn nicht sehr bald wieder etwas unternommen werde. Das „Geschäft“ habe sich aber verzögert, da die Ferenczy ein Dokument, das zur Behebung des Sparkassenbuches notwendig war, verloren hatte und die Amortisation mehrere Monate in Anspruch nahm. Er gelangte erst am 21. Dezember 1883 in den Besitz des Dokuments. Die Empfangsbestätigung beim Notar unterschrieb er mit „Franz Richter“.

Vors.: Wann faßten Sie den Entschluß, die Ferenczy zu ermorden?

Hugo Schenk: Ich hatte der Ferenczy gesagt, daß ich sie im Dezember heiraten werde. Schließlich erklärte sie: Sie wolle nicht mehr länger warten. Ich wußte infolgedessen nicht mehr recht aus, deshalb reifte in mir der Plan, das Mädchen zu ermorden.

Vors.: Hatte Ihr Bruder Karl davon Kenntnis?

Hugo Schenk: Jawohl, wir hatten vorher gemeinschaftlich nach einer geeigneten Mordstätte gesucht.

Wir fuhren zunächst nach Olmütz und Prerau. Karl sagte aber: In Preßburg gibt es Wasser in Hülle und Fülle, deshalb beschlossen wir nach Preßburg zu fahren und dort die Mordtat auszuführen. Ich fuhr nach Wien zurück. Kaufte mir eine Hacke und Draht, veranlaßte die Ferenczy, ihre Koffer zu packen und mit mir zu fahren.

In Preßburg angekommen, begaben wir uns in ein Gasthaus. Sehr bald entfernte ich mich mit meinem Bruder; wir ließen die Ferenczy allein. Nach etwa einer Stunde kamen wir zurück. Ich speiste mit dem Mädchen. Alsdann begaben wir uns alle drei auf den Weg. Es war schon finster. Ich hatte in meiner Tasche einen Revolver und eine kleine Laterne. Inzwischen hatte sich auch Schlossarek uns angeschlossen. Ich ging voraus, die Ferenczy in der Mitte. So kamen wir zu der Stelle, die wir uns als Mordstätte ausgesucht hatten.

Vors.: Am rechten Donauufer?

Hugo Schenk: Jawohl. Der Weg führte weit vom Ufer dahin. Bis zum Wasser hätten wir ohnehin wegen der steilen Böschung nicht gelangen können. Die Sache mußte deshalb auf dem Wege abgemacht werden. Das Gebüsch zog sich bis zum Ufer hin. Ich ging voraus. Plötzlich hörte ich einen Schlag und sah die Ferenczy zur Erde fallen. Schlossarek hatte ihr mit der Hacke einen Schlag auf den Kopf gegeben. Darauf zog ich meinen Revolver aus der Tasche, spannte den Hahn und stellte mich unter einen Baum.

Vors.: Wozu taten Sie das?

Hugo Schenk: Wir mußten auf eine Überraschung gefaßt sein, deshalb bereitete ich mich zur Verteidigung vor. Ich sah, daß Schlossarek dem Mädchen mit Gewalt die Kleider aufriß und die Taschen durchsuchte, denn – ja ich hatte vergessen, zu sagen, ich hatte Schlossarek den Auftrag gegeben, die goldene Uhr und das Geld der Ferenczy zu rauben. Schlossarek versetzte der Ferenczy noch mehrere Schläge auf den Kopf. Alsdann zog er sie über die Böschung. Ich glaube, ich hörte da auch noch Schläge. Darauf brachte mir Schlossarek das Kleid der Ermordeten mit den Worten: Überzeuge dich, in dem Kleide ist keine Uhr. Ich versetzte: Die Uhr muß doch aber da sein. Schlossarek sarek lief hinunter, ich hörte wiederum Schläge, Schlossarek kam jedoch mit leeren Händen zurück. Da Schlossarek die Leiche nicht ins Wasser stoßen konnte, so hieb er einen jungen Baum ab und stieß damit die Leiche ins Wasser. Er hatte der Leiche zuvor noch die goldenen Ohrgehänge abgenommen. Ich hatte ihm gesagt: Die Ohrgehänge mußt du mir zum mindesten bringen. Ich zündete darauf die kleine Laterne an; damit suchten wir hundert Schritt zurück den Weg ab, ob die Ferenczy nicht vielleicht im Gehen etwas verloren habe. Wir fanden aber nichts.

(Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Am dritten Verhandlungstage stierte Hugo Schenk fast unaufhörlich auf einen Punkt der Estrade vor dem Gerichtstisch.

Es wurde nunmehr Schlossarek über die Ermordung der Ferenczy vernommen. Vors.: Ist es richtig, Schlossarek, daß Sie Hugo Schenk von neuem gedrängt haben, Geld zu verschaffen?

Schlossarek: Ich suchte Arbeit und fand keine. Ich brauchte aber Geld, um einen versetzten Koffer auszulösen. Deshalb bat ich Hugo Schenk in einem Briefe, mir Geld zu schicken. Ich habe allerdings Hugo Schenk zunächst ersucht, mir Arbeit zu verschaffen. Ich konnte aber keine Arbeit bekommen, weil mein letztes Zeugnis nicht in Ordnung war. Da schrieb ich an Karl Schenk, ich könne seines Bruders Hugo wegen keine Arbeit bekommen; es wäre deshalb besser gewesen, ich hätte Anzeige bei der Polizei gemacht.

Vors.: Das ist allerdings eine kleine Erpressung, wenn Sie mit der Anzeige drohen.

Schlossarek: Ich wollte nur Arbeit haben.

Im weiteren Verlauf bemerkte Schlossarek: Zwischen Hugo und Karl Schenk habe eine

Geheimschrift

bestanden.

Vors.: Spuren einer solchen Geheimschrift kommen allerdings im Notizbuch Hugo Schenks vor.

Ferner erzählte Schlossarek auf Befragen des Vorsitzenden: Hugo Schenk habe ihm von der Bekanntschaft mit der Rosa Ferenczy Mitteilung gemacht und gesagt: Es sei ein Geschäft zu machen, bei dem 450 Gulden herausschauen. Später habe Hugo Schenk erzählt: Die Ferenczy sei bis über die Ohren in ihn verliebt und dränge ihn zur Heirat. Er müsse das Mädchen deshalb „beseitigen“. Es empfehle sich aber, zu warten, bis das Mädchen ihre Ersparnisse ausgezahlt erhalte, damit sich der Mord wenigstens lohne. (Große Bewegung im Zuhörerraum.)

Im weiteren schilderte Schlossarek die Auskundschaftung der Örtlichkeit, auf der der Mord vorgenommen werden sollte. Sie seien von Preßburg aus am linken Donauufer entlang gegangen, bis sie in die Nähe eines alten Schlosses kamen. Dort ließen sie sich von einem Kahnführer übersetzen. Alsdann seien sie am rechten Donauufer abwärts gegangen bis zu einem Platze, den Hugo Schenk als zur Mordtat geeignet bezeichnete. In derselben Weise hatten sie einige Zeit vorher in Melk einen Platz bestimmt, sie gaben ihn aber schließlich auf, weil Hugo Schenk ihn nicht für geeignet hielt.

Vors.: Ganz richtig. Hugo Schenk hat dem Juwelier Latzinger in Melk einen Diamantring übergeben, damit er für den echten Stein einen unechten einsetze. Das fiel dem Juwelier auf. Er benachrichtigte den Adjunkten Ullrich. Letzterer verlangte von Hugo Schenk einen Ausweis. Da Schenk eine Dauerkarte auf „Ingenieur Schenk“ lautend vorzeigte, so hatte der Adjunkt keine Veranlassung zu einem amtlichen Vorgehen.

Schlossarek erzählte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Wir haben alsdann am folgenden Tage frühzeitig die Ferenczy abgeholt und sind mit ihr gegen Mittag nach Preßburg gefahren.

Vors.: Als was wurden Sie von Hugo Schenk der Ferenczy vorgestellt?

Schlossarek: Als guter Bekannter.

Vors.: Sie trugen die Hacke während der ganzen Fahrt im Sacke?

Schlossarek: Jawohl. Wir kamen gegen fünf Uhr nachmittags im Gemeindeposthaus zu Wolfsthal an. Hugo Schenk rief mich hinaus und gab mir Anweisungen. Er war der Ansicht, er werde mit dem Revolver nicht schießen können, weil ein Jägerhaus in der Nähe war.

Vors.: Man hätte also im Jägerhaus den Schuß hören können?

Schlossarek: Jawohl.

Vors.: Es soll im übrigen in einem nahe belegenen Privathaus zur Zeit des Mordes ein langandauerndes Hilfegeschrei gehört worden sein. Die Hunde bellten, und es war eine große Unruhe. Die Leute trauten sich aber nicht, nachzuschauen.

Schlossarek: Wir brauchten eine volle Stunde, um den Platz zu finden, den wir uns zur Mordtat ausgesucht hatten. Die Ferenczy ging etwa zehn Schritt vor uns. Hugo Schenk fuchtelte mit dem Revolver herum und gab mir alsdann das Zeichen. Ich versetzte dem Mädchen mit der Hacke einen heftigen Schlag auf den Kopf. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Das Mädchen fiel auf seine Hände. Ich warf die Hacke weg, um einen Stein zu suchen. Währenddessen ergriff Hugo Schenk die Hacke und schlug das Mädchen einige Male heftig auf den Kopf.

Vors.: Und als Sie vom Steinsuchen zurückkamen?

Schlossarek: Da war das Mädchen bereits tot. Hugo Schenk und ich untersuchten die Leiche; wir wollten ganz besonders die goldene Uhr haben, wir konnten sie aber nicht finden.

Der Vorsitzende ließ ein Bündel Sachen öffnen und zeigte, unter großer Bewegung des Publikums, das schwarze Kleid der ermordeten Ferenczy mit dem Bemerken vor: Schlossarek, Sie müssen an der Leiche stark gerissen haben, denn es fehlen an diesem Kleide alle Knöpfe und Heftel. Diese Kleider wurden in der Nähe des Tatortes im Wasser gefunden, eigentümlicherweise aber nicht die Leiche.

Schlossarek: Hugo Schenk hat mir sehr zugeredet, die Ohrgehänge der Ferenczy an mich zu nehmen. Er beauftragte mich auch, das Tuch der Ferenczy zu nehmen, und es beim Abhobeln der Blutspuren auszubreiten. Hugo Schenk sagte weiter: Er werde die Ohrgehänge der Ferenczy seiner Frau zum Andenken geben. Morgens gegen drei Uhr fuhren wir nach Wien zurück. Wir stiegen bei der Mariahilfer-Linie ab und begaben uns direkt in die Wohnung des Karl Schenk.

Staatsanwalt: Hat die Ferenczy, als Sie ihr den ersten Schlag versetzten, geschrien?

Schlossarek: Nein, sie gab keinen Laut von sich.

Staatsanwalt: Schrie die Ferenczy, als sie von Hugo Schenk auf den Kopf geschlagen wurde?

Schlossarek: Ich habe nichts gehört.

Staatsanwalt: War die Ferenczy nach dem ersten Schlage tot?

Schlossarek: Sie rührte sich nicht mehr, wahrscheinlich scheinlich hatte der erste Schlag mit der Hacke auf den Kopf bereits tödlich gewirkt.

Staatsanwalt: Hugo Schenk, halten Sie Ihre Behauptung aufrecht, daß Sie die Ferenczy nicht geschlagen haben?

Hugo Schenk: Jawohl, das behaupte ich, ich habe die Ferenczy nicht im geringsten geschlagen.

Staatsanwalt: Wo war die Hacke?

Schlossarek: Ich trug sie in der Rocktasche. Nach der Tat warf ich die Hacke ins Wasser.

Karl Schenk bestritt auf Befragen des Vorsitzenden, daß er an dem Mord der Ferenczy beteiligt gewesen sei, er gab aber schließlich nach längerem Zögern zu, daß er in der Voruntersuchung gesagt, er habe auf Befragen seines Bruders Hugo zu diesem geäußert: Es gibt in Preßburg eine Anzahl geeigneter Plätze und auch viel Wasser. Nachdem ihm sein Bruder mitgeteilt hatte, daß die Ferenczy ermordet worden sei, habe er im Auftrage seines Bruders die Sachen der Ferenczy versetzt.

Darauf wurde Kaufmann Franz Posar als Zeuge vernommen: Die ermordete Rosa Ferenczy sei längere Zeit bei ihm Stubenmädchen gewesen. Eines Tages habe ihm das Mädchen mit freudigem Gesicht erzählt: Sie habe einen Zivilingenieur, namens Hugo Schenk, kennengelernt, dieser wolle sie heiraten. Auf Wunsch des Mädchens habe er über den Ingenieur Erkundigungen gungen eingezogen. Er habe sowohl von einem Auskunftsbureau als auch von privater Seite die beste Auskunft erhalten. Gesehen habe er den Bräutigam nicht. Die Ferenczy habe ihn geschildert als einen Mann mit Augengläsern und rötlich-blondem Bart.

Staatsanwalt: Hugo Schenk, haben Sie Augengläser getragen?

Hugo Schenk: Bisweilen.

Vors.: Sie haben vorzügliche Augen, Sie haben also die Gläser nicht getragen, um Ihre Augen zu schärfen?

Hugo Schenk: Nein.

Dienstmädchen Leopoldine Poporie, die mit der Ferenczy zusammen bei Posar gedient hatte, bekundete: Die Ferenczy war ein sehr melancholisches und leicht aufgeregtes Mädchen. Sie erzählte ihr freudigen Gemüts von ihrem Bräutigam, dem „hübschen Ingenieur“.

Frau Hotze: Hugo Schenk hatte, angeblich für seine Schwester, bei ihr ein Zimmer gemietet und sie ersucht, seine Schwester soviel als möglich zu erheitern, weil sie trauriger Gemütsstimmung sei. Diese angebliche Schwester war die ermordete Ferenczy. Diese erzählte ihr: Schenk sei Direktor einer Eisenbahn und werde sie sehr bald heiraten. Das Mädchen schien Schenk ungemein zu lieben. Als er einmal längere Zeit ausblieb, war das Mädchen ganz verzweifelt. felt. Am 25. Dezember 1883 erhielt das Mädchen von Schenk ein Telegramm aus Urfahr. In diesem teilte Schenk mit, daß er wegen Zugverspätung erst am nächsten Tage nach Wien kommen könne. Am 26. Dezember kam auch Schenk und brachte dem Mädchen ein Armband aus weißen Perlen mit.

Vors.: Hugo Schenk, dies Armband hatte die Eder auf Ihre Veranlassung dem Fräulein Malfatti entwendet?

Hugo Schenk: Jawohl.

Vors.: Vier Tage nach der Ermordung der Ferenczy hatten Passanten an der Mordstelle Blutspuren bemerkt. Es wurde infolgedessen von einer Gerichtskommission ein Augenschein vorgenommen. Es wurden Knöpfe von Frauenkleidern, Korallen, ein Schleier, ein brauner Stoffregenschirm und andere Dinge mehr aufgefunden. Später wurde der Rock und die Tunika der Rosa Ferenczy aus der Donau gefischt. Ich muß noch erwähnen, daß Hugo Schenk noch mit vielen anderen Mädchen in Korrespondenz getreten ist. Es liegen dem Gericht Briefe von acht Mädchen vor. Eine Generalswitwe wollte einem bekannten Mädchen einen Bräutigam verschaffen. Infolge einer Annonce meldete sich Hugo Schenk. Dieser unterschrieb die meisten seiner Liebesbriefe mit „Karl Schlossarek, Ingenieur“. Im September 1883 korrespondierte Hugo Schenk mit einem Fräulein Therese Zimmermann. Dieser hatte er sich als Ingenieur Jenik vorgestellt. Als Chiffre gab Hugo Schenk an: „O.K. 35. Salzburg, poste restante.“

Ich will diese Briefe, die fast alle vom Dezember 1883 datieren, nicht vorlesen, denn das Publikum müßte dabei zuviel lachen. Ein von Hugo Schenk an Maria Spitaler gerichteter Brief beginnt mit den Worten: „Sehr verehrtes Fräulein! Ich anfrage hiermit, ob es Ihnen möglich sei“ usw.

Vors.: Hugo Schenk, ist es richtig, daß Sie am Tage nach der Ermordung der Ferenczy mit Franziska Heider im Hotel Fuchs in Fünfhaus übernachtet haben?

Hugo Schenk: Jawohl.

Vors.: Sie haben oftmals unmittelbar nach vollführten Morden mit Mädchen übernachtet?

Hugo Schenk: Ja. Ich muß hierbei bemerken, ich habe viele Mädchen kennengelernt und hätte noch viele beseitigen können. Franziska Heider hätte ich mit größter Leichtigkeit beseitigen können. Ich habe mich aber zu Ermordungen nur entschlossen auf ausdrückliches Drängen Schlossareks.

Verteidiger R.-A. Dr. Swoboda beantragte, ein Schriftstück zu verlesen, aus dem sich die erbliche Belastung Hugo Schenks ergeben werde.

Der Gerichtshof beschloß nach kurzer Beratung, den Antrag abzulehnen, da es sich lediglich um den Bericht eines Gendarmeriewachtmeisters über von diesem gemachte Wahrnehmungen handle. Das sei aber für die Beurteilung der Sache vollständig gleichgültig.

Der Vorsitzende erklärte darauf die Beweisaufnahme für geschlossen und erteilte das Wort dem Staatsanwalt Dr. v. Pelser: Hoher Gerichtshof! Die Stimme des Gewissens, die ein gütiger Schöpfer in jedes Menschen Brust gelegt, sie soll zugleich der Schutzgeist sein, der ihn begleitet auf allen seinen Lebenswegen von der Wiege bis zum Grabe. Glücklich derjenige, der stets williges Gehör der Stimme des Gewissens geschenkt hat, denn er kann sein Haupt zur Ruhe legen mit dem Bewußtsein, kein Unrecht verübt zu haben. Traurig das Los desjenigen, der die Stimme des Gewissens früher oder später übertäubt, und unaufhaltsam rollt er weiter auf der Bahn des Lasters und Verderbens. Nur selten geschieht es, daß in einer solchen Situation sich eine rettende Hand findet, welche ein derartiges Geschöpf zurückreißt von dem Rande des Abgrundes. Zu diesen selten bevorzugten, ja, ich möchte sagen, begnadeten Menschen zählt der Angeklagte Hugo Schenk. Vor kaum Jahresfrist hat er die Strafhaft verlassen, und als ein zweiter Schutzgeist ist seine Frau hervorgetreten und hat mit einer Großmut, die ihresgleichen sucht, Opfer gebracht, um ihm den Weg zur ehrlichen Existenz zu bieten. Mit dem gröbsten Undank hat der Angeklagte diesen Edelsinn vergolten. In wenigen Stunden wird zweifellos der Gerichtshof es aussprechen, daß die unglückliche Wanda Schenk nicht bloß die Gattin eines Verbrechers, sondern die Gattin eines vierfachen Raubmörders geworden ist. Deshalb aber ist es Pflicht, es an diesem Platze auszusprechen, daß dieses bedauernswerte Weib nicht die mindeste moralische Schuld für die Verkommenheit ihres Mannes trifft, daß ihr Dank und Anerkennung von seiten der menschlichen Gesellschaft dafür gezollt werden sollte, daß sie durch ihre Großmut die Gesellschaft vor einer verbrecherischen Tätigkeit ihres Mannes bewahren wollte. Es schien wie eine Blasphemie, als gestern der Angeklagte erklärte, er habe von dem Erträgnisse seiner Biographie seine Gattin schadlos halten wollen. Er möge seine Hände vom Blut reinigen, wenn es ihm gelingt.

Wanda Schenk verzichtet heute durch meinen Mund auf einen solchen Ersatz. Noch ehe Schenk die Strafanstalt verlassen, hatte er seinen Bruder Karl und Schlossarek von seiner Ankunft signalisiert. Ich glaube, Hugo Schenk ist zur Genüge gekennzeichnet, daß er sich mit Schlossarek zu gemeinsamer Arbeit verband, daß er seine verbrecherischen Unternehmen nach dem Einkommen und den Spesen abschätzte, insbesondere, daß er seine Befriedigung ausdrückte, daß das erste blutige Opfer seiner Tat bei der Abschlachtung nur geringe Spesen verursacht hatte. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Wenn ich nun zur Charakterisierung des Angeklagten Schlossarek übergehe, so muß ich sagen: der ist der Mann, der zu allem fähig ist. Er verließ einen Erwerb mit einem Wochenlohn von 7 Gulden und verband sich mit Hugo Schenk zur Begehung von Raubmorden. Um das Maß des Verschuldens vom moralischen Gesichtspunkte aus noch voller zu machen, streckte er seine blutbefleckte Hand der zukünftigen Lebensgefährtin entgegen. Die menschliche Gesellschaft wird es das arme Weib nicht entgelten lassen, daß es die Frau eines blutbefleckten Mörders ist, zumal sie ihren Gatten auf einen besseren Weg leiten wollte. Da sie ihm deshalb unbequem wurde, faßte dieser herzlose Mensch den ruchlosen Plan, sein Weib mit dem Kinde unter dem Herzen zugleich aus dem Leben zu schaffen. Bezüglich des dritten Angeklagten steht es fest, daß seine ehrliche Existenz, sein redlicher Erwerb ihn nicht abzuhalten vermochten, in so grauenhafter Weise die Bahn des Verbrechens zu betreten. Wir haben wiederholt von der Notlage des Karl Schenk sprechen hören. Dieser Mann hat seinen Unterhalt von dem Gelde bestritten, das von der gräßlichen Ermordung der Katharina Timal herrührte. Die menschliche Gesellschaft kann sich glücklich preisen, daß sie durch rechtzeitige Festnahme der drei Angeklagten bewahrt wurde von der Fortsetzung der verbrecherischen Tätigkeit dieser drei Unholde.

Der Staatsanwalt behandelte alsdann die einzelnen Anklagefälle. Er äußerte sein Bedauern, daß der überfallene Podbera nicht eine Waffe bei sich hatte, mittels deren es ihm vielleicht gelungen wäre, Schlossarek zu töten. Das wäre zweifellos zum Wohle der menschlichen Gesellschaft und zum Wohle des Schlossarek selbst geschehen. Hugo Schenk hatte auf dem Gebiete der Heiratsschwindeleien traurige Erfahrungen gemacht. Er beschloß deshalb, seinen Opfern Geld und Leben zu rauben. Vom Standpunkt der Anklage ist es gleichgültig, ob Hugo Schenk nicht selbst Hand angelegt hat. Es ist doch jedenfalls tätige Mitwirkung, wenn er ein Opfer zur Nachtzeit eskortiert an eine einsame Stelle und dies alsdann auf seine ausdrückliche Veranlassung erwürgt wird. Ohne Hugo Schenk wären derartige Verbrechen überhaupt nicht durchführbar gewesen. Die Hauptrolle in allen diesen Fällen, abgesehen von den direkten brutalen Gewalttaten, hat immer Hugo Schenk gespielt. Ich erachte es als zweifellos festgestellt, daß Hugo Schenk selbst mit einem Messer der Katharina Timal den Hals durchschnitten hat. Karl Schenk hat bei diesem allerschrecklichsten Morde selbst mit Hand angelegt. Während dem bedauernswerten Mädchen der Hals durchschnitten wurde, hat Karl Schenk es an Händen und Füßen festgehalten und es alsdann zum Absturz geschleift. Wenn nicht schon die beiden schrecklichen Morde am Gevatterloch und bei Pöchlara vorausgegangen wären, dann könnte man sagen: es ist vielleicht doch möglich, daß die Ketterl den Revolver auf sich selbst angelegt hat. Allein es entsteht die Frage: Woher kam bei Hugo Schenk plötzlich die Scheu vor eigener Tat? Warum gerade gegenüber der Theresia Ketterl diese Rücksicht? Weshalb an ihr der Mord in Glacéhandschuhen? Nehmen wir an, die Ketterl hat wirklich mit dem Revolver gespielt und Hugo Schenk hat ihr die Anleitung gegeben, wie man sich am besten erschießt, daß er den Revolver heimlich geladen und ihn alsdann wieder der Ketterl übergeben, so daß sie im tödlichen Spiele sich das Leben genommen hat, so ist das doch nichts anderes als ein meuchlerischer Raubmord. Theresia Ketterl war alsdann das unbewußte Werkzeug seines Willens, Hugo Schenk aber war der Täter. Daß ein fremder Mann, namens Karl Wagner, die Ketterl ermordet hat, ist absolut unwahr. Vier Zeugen haben gesehen, daß Hugo Schenk mit der Ketterl auf die „Sternleiter“ ging. Hugo Schenk war bestrebt, sich die Bahnkarte Wörgl – Wien zu verschaffen. Diese Karte sollte in der Tasche des ermordeten Opfers gefunden werden, damit der Anschein erweckt werde, die Ketterl sei aus anderer Gegend gend gekommen und habe einen Selbstmord verübt. Am Tage nach der Ermordung der Ketterl hatte Hugo Schenk alle Habseligkeiten des unglücklichen Opfers im Besitz. Er schmückte damit sein lebendes Opfer, die Emilie Höchsmann. Hugo Schenk wollte alsdann nach Amerika auswandern, um dort ein – schlechteres war nicht möglich – aber vielleicht ein besseres Leben zu beginnen. Wenn er 500 Gulden dem angeblichen Wagner gegeben hätte, dann wären ihm noch 16-1700 Gulden für Gründung einer anderen Existenz geblieben. Das ist jedoch unwahr. Er hat, stolz auf das letzte Gelingen, sofort neue Bekanntschaft mit Josefine Eder und Rosa Ferenczy angeknüpft.

Die Eder hat diese Bekanntschaft mit Freiheit und Ehre, die Ferenczy mit dem Leben gebüßt. Hugo Schenk ist geständig, daß er die Eder verleitet hat, ihre Dienstgeberin. Freiin v. Malfatti, zu bestehlen. Schlossarek behauptet, Hugo Schenk habe die Ferenczy durch Schläge mit der eisernen Hacke auf den Kopf getötet, Hugo Schenk behauptet dagegen, das habe Schlossarek getan. Ich bin der Ansicht, daß diesen Mord beide gemeinsam begangen haben. Der Staatsanwalt schloß: Ich habe alles erwähnt, was zur Beurteilung der Sachlage dienen konnte. Ich habe nicht länger bei den düsteren Bildern verweilt, als notwendig war. Können wir doch die bedauernswerten Opfer nicht wieder zum Leben zurückrufen, die heute aus lichten Himmelshöhen auf uns herabschauen. Wir können auch die lebenden Opfer nicht schadlos halten für die Verluste an Ehre, Freiheit und Vermögen, die sie durch die Verbindung mit den Angeklagten erlitten haben. Wir müssen auch darauf verzichten, die Stimme des Gewissens wachzurufen in der Brust dieser Männer mit Tigerherzen. Aber eins können und müssen wir tun. Wir müssen die Angeklagten richten nach der vollen Größe ihrer Schuld, sie strafen nach der vollen Strenge des Gesetzes. Meine Herrn Richter! Sprechen Sie die Angeklagten in vollem Umfange der Anklage schuldig und sprechen Sie es aus, daß die Angeklagten als Sühne für ihre verbrecherische Tätigkeit das verwirkt, was sie bei ihren Mitmenschen so gering geachtet haben, das Leben.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Swoboda (für Hugo Schenk): Ich bin in der Lage, mich sehr kurz fassen zu können, zumal mein Klient, Hugo Schenk, schon vor Beginn der Verhandlung von der öffentlichen Meinung gerichtet war. Hugo Schenk ist zweifellos ein arger Verbrecher, allein der Beweis, daß er eigenhändig gemordet hat, ist ihm nicht bewiesen worden. Ein so verruchter Verbrecher wie Schlossarek kann unmöglich für glaubwürdig erachtet werden. Hugo Schenk hatte im Alter von zehn Jahren den Vater verloren, die Mutter hatte für neun unerwachsene Kinder zu sorgen. Es fehlte dem Angeklagten wohl nicht an Unterricht, wohl aber an Erziehung. Er ist zweifellos ein psychologisches Rätsel. Heute macht er Gedichte, morgen mordet er. Schon im Kerker träumte er von einem Nimbus, mit dem seine Person umgeben sei. Der Angeklagte ist jedenfalls ein ganz sonderbarer Charakter. Seine verbrecherischen Taten können Kriminalpsychologen Anlaß zu einer Untersuchung geben. Ich bin der Ansicht, so verrucht auch die Taten Hugo Schenks waren, so sind alle mildernden Umstände doch noch nicht ausgeschlossen, denn ich behaupte, ohne Schlossarek hätte es keinen Hugo Schenk gegeben.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Lichtenstein (für Schlossarek: Die Anklageschrift schildert treffend, wie Hugo Schenk seine Opfer, bevor er sie ermordete, zu willenlosen Geschöpfen machte, die ihm zu jeder Tages- und Nachtzeit vertrauensvoll folgten. Zu einem blindgefügigen Werkzeug hat Hugo Schenk auch Schlossarek gemacht, einen Menschen, in dem der Keim zum Bösen schon gelegt war. Diesen Keim hat Hugo Schenk zur blutigen Saat aufgehen lassen. Er hat Schlossarek mit einem Arsenal von mörderischen Waffen versehen, um die zu beraubenden Opfer zu beseitigen. Schlossarek befand sich allerdings schon auf der Verbrecherlaufbahn, bevor er sich mit Hugo Schenk verbunden hatte, er war aber noch kein Raubmörder. Nachdem er im November 1882 aus der Strafhaft entlassen war, hat er vier Monate lang redlich gearbeitet. Im März 1883 wurde Hugo Schenk aus der Strafhaft entlassen. Sehr bald verstand er es, sich Schlossarek dienstbar zu machen. Der Verteidiger erwähnte alsdann der begangenen Verbrechen und fuhr darauf fort: Hoher Gerichtshof! Angesichts der Größe der strafbaren Handlungen, die Schlossarek begangen hat, angesichts der Sühne, welche die hierdurch schwer beleidigte Menschheit erheischt, ist meine Aufgabe, zu der mich meine Pflicht ruft, eine sehr beschränkte. Schlossarek hat ein reumütiges Geständnis abgelegt, das ist der einzige Lichtpunkt in diesem gerichtlichen Drama. Ich muß es dem hohen Gerichtshof überlassen, ob das reuevolle Geständnis und der Umstand, daß Schlossarek von Hugo Schenk angestiftet worden ist, genügt, um nach Fällung eines gerechten Urteils einen Antrag auf Begnadigung zu stellen. Ich sage das in dem Bewußtsein, daß, wenn meine Stimme verhallt ist, es niemanden mehr gibt, der berechtigt ist, für Schlossarek ein fürbittendes Wort einzulegen.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Heinrich Steger (für Karl Schenk): Hoher Gerichtshof! Wenn es sonst dem Verteidiger vergönnt ist, für ein mit Unrecht verfolgtes Glied der menschlichen Gesellschaft rühmlich zu kämpfen, wenn ihm das Bewußtsein, für Tugend und Sittlichkeit zu streiten, heilige Begeisterung verleiht, so empfinde ich es als Verteidiger des Karl Schenk schmerzlich, sagen zu müssen: Mein Klient ist schuldig; er ist mit Blutschuld beladen, keine Macht der Erde vermag ihn zu entlasten. Und trotz alledem: Versöhnend dringt das Wort des Gesetzes zu mir, welches gebietet, daß auch dem schwersten Verbrecher eine Verteidigung zur Seite zu stehen hat. Wie sehr auch dieser Prozeß die Leidenschaften aufgeregt und die öffentliche Meinung mit Entsetzen erfüllt hat, ich werde mit dem Mute freier Überzeugung meines Amtes walten, in der bestimmten Erwartung, daß Einflüsse des Tages, Vorurteile, Strömungen, die mit dem Rechte nichts zu tun haben, Ihre Auffassung, verehrte Herren, nicht erschüttern werden und daß die Gerechtigkeit niemals dem Rachetriebe die Herrschaft abtreten wird. Die Hauptfrage, die sich mir aufdrängt, ist: Wie war es möglich, daß Karl Schenk, der bis zum vorigen Jahre, obwohl stets im bittersten Kampfe um ein erbärmliches Dasein begriffen, niemals um Haaresbreite von dem Wege rechtschaffener Arbeit abgewichen ist, der lieber mit seiner Familie hungerte, als daß er sich an fremdem Eigentum vergriff, der bis vor Jahresfrist vor keinem Ehrenmann zu erröten brauchte, wie war es möglich, daß dieser Karl Schenk plötzlich mit so furchtbaren Mordgesellen gemeinschaftliche Sache machte und zum Raubmörder werden konnte? Tief in das Innere des Angeklagten muß man schauen, um zu begreifen, daß übermächtige Einflüsse ihn auf die Bahn des Verbrechens gedrängt haben. Ist man aber davon überzeugt, dann erscheint Karl Schenk einer mitleidigen, milden, ja gnädigen Beurteilung würdig. Ich kenne, meine Herren Richter, den grausen Spruch, den das strenge Recht Sie anweist, über Karl Schenk zu sprechen. Nichts wäre geschmackloser, als das Gesetz über die Todesstrafe im Augenblick, da es angewendet werden soll, zu kritisieren, oder gar alle theoretischen Gründe anzuführen, aus denen dieses schwerste Strafmittel seit einem Jahrhundert von den edelsten und beredtesten Vorkämpfern für Humanität und Fortschritt bekämpft wird. Allein, ich kenne auch das schöne Recht, das im § 341 des Strafverfahrens begründet ist, zugleich eine Pflicht der Menschenliebe, vermöge welcher Sie nach der Verkündigung des Todesurteils die Frage in Erwägung ziehen werden, ob Karl Schenk der Begnadigung würdig erscheint. Wenn es richtig ist, daß in keinem Menschen der sittliche Wille erstorben, daß niemand absolut schlecht ist, d.h. allen sittlichen Wert verloren hat, wenn die größten Übel und Verbrechen den Glauben an den Genius der Menschheit nicht zu verwirren imstande sind, so darf ich mit vollem Rechte um Gnade für Karl Schenk bitten, zumal eine große Anzahl Milderungsgründe für ihn spricht. Ich erachte es für meine heilige Pflicht, noch auf die schuldlose Familie des Angeklagten hinzuweisen, dessen Verwandte überall geachtete und ehrenvolle Stellungen in der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen. Ich weise auf den namenlosen Schmerz seiner Frau und seiner vier unglücklichen Kinder hin, die für immer dem bittersten Elend preisgegeben sind. Um der unglücklichen Kinder des Angeklagten willen bitte ich Sie ganz besonders, meine Herren Richter, um Ihre Milde. Ich gebe der Überzeugung Ausdruck, daß der bejammernswerte Verirrte, so furchtbar auch seine Taten sind, den die Gesellschaft mit Recht von sich stößt, in den Armen der Gnade noch einst geraten könnte.

Die Angeklagten erklärten auf Befragen des Vorsitzenden, daß sie nichts mehr zu sagen haben.

Nach mehrstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landesgerichtspräsident Graf Lamezan folgendes

Urteil:

Im Namen Sr. Majestät des Kaisers.

Das k.k. Landesgericht in Wien als Strafgericht hat für Recht erkannt: Es sind Hugo Schenk und Karl Schlossarek des Verbrechens des meuchlerischen Raubmordes, des Verbrechens des versuchten meuchlerischen Raubmordes und des Verbrechens des Raubes, Hugo Schenk auch des Verbrechens der Mitschuld am Diebstahl, Karl Schenk des Verbrechens des meuchlerischen Raubmordes, der Mitschuld am Raube und der Teilnahme am meuchlerischen Raubmorde schuldig und werden auf Grund des § 136 des Strafgesetzbuches verurteilt

zum Tode durch den Strang.

Auch hat der Gerichtshof, gemäß der gesetzlichen Bestimmung, folgende Reihenfolge in der Vollstreckung des Urteils angeordnet: 1. Karl Schenk, 2. Karl Schlossarek und zuletzt Hugo Schenk. Die Verurteilten werden, und zwar Hugo Schenk und Schlossarek zu gleichen Teilen zum Ersatz von 77 fl. an Franz Podbera, von 170 fl. an Franz Bauer, von 476 fl. an die Erben der Josefine Timal – alle drei Verurteilte zum Ersatz von 1260 fl., 60 kr. an die Verlassenschaftsinstanz nach Katharina Timal, von 1177 fl., 1189 fl. und 25 fl. an den Kurator der Theresia Ketterl verurteilt. Die Kosten des Verfahrens und des Strafvollzuges haben die Verurteilten zu tragen.

Auf Befragen des Vorsitzenden erklärten die Verurteilten, daß sie keine Rechtsmittel einlegen werden.

Die Verurteilten, die das Urteil sämtlich mit ziemlicher Ruhe angehört hatten, wurden darauf, unter lauten Verwünschungen des Publikums, abgeführt und einige Wochen später hingerichtet.

214 Bearbeiten

Die Ermordung des Justizrats Levy

Die Weltgeschichte berichtet über so viele Mordtaten, daß es fast den Anschein gewinnt, als sei sie mit Blut geschrieben. Selbst die Bibel beginnt mit der Erzählung eines Brudermordes. Mit dem Fortschritt der Kultur haben zweifellos die schwersten Verbrechen, die das Strafgesetzbuch kennt, bei allen Kulturvölkern eine wesentliche Verringerung erfahren. Menschenleben werden im allgemeinen höher geschätzt als in der Vorzeit. Nur Leuten, die auf der Stufe tiefster sittlicher Verworfenheit stehen, ist das Verbrechen des Mordes zuzutrauen. Der Berichterstatter, dessen Beruf es erfordert, jahraus, jahrein in den Gerichtssälen zu verkehren, ist, wie ich schon einige Male ausgesprochen habe, selbst gegen die ärgsten Verbrechen etwas abgestumpft. Ich habe während meiner langjährigen Berufstätigkeit so vielen Mordprozessen beigewohnt, daß mich selbst die

Taten des Raubmörders Sternickel

kaum außer Fassung gebracht haben. Als jedoch am Sonntag, den 18. Oktober 1896 die Welt die Schreckenskunde durcheilte:

Justizrat Levy sei am frühen Morgen in seiner Wohnung ermordet

worden, da durchzuckte selbst den abgestumpftesten Kriminalisten ein panischer Schrecken.

Justizrat Levy war 1833 in Wollstein, Provinz Posen geboren. Er war zunächst Rechtsanwalt in Fraustadt. 1872 siedelte er nach Berlin über und wurde nach einigen Jahren Rechtsanwalt und Notar am Kammergericht. Er gehörte zum Vorstand der Anwaltskammer der Provinz Brandenburg, war Mitglied der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages und Vorsitzender des Berliner Anwaltvereins. Seine Klientel schätzten den sachkundigen und erfolgreichen Mandatar, dessen Praxis eine der glänzendsten Berlins war, ungemein hoch. Auf dem Deutschen Juristenlage nahm Levy durch seine zahlreichen Gutachten und Referate eine hervorragende Stellung ein.

Er beabsichtigte, einen Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch zu schreiben, an dessen Entstehen er den lebendigsten Anteil genommen hatte. Er veröffentlichte eine Anzahl populärer Artikel über diese Materie in der „Nation“, während fachwissenschaftliche Abhandlungen kleineren Umfanges häufig in der „Deutschen Juristenzeitung“ von ihm erschienen.

Justizrat Levy genoß eine außerordentliche persönliche Beliebtheit. Wo der schlanke kleine Herr mit dem geistreichen freundlichen Gesicht erschien, wurde er schnell zum Mittelpunkt der Unterhaltung, und in liebenswürdiger Art liebte er es besonders, mit jüngeren Kollegen, deren Förderung nach jeder Richtung tung er sich besonders angelegen sein ließ, zu scherzen. Seine Passion war das Schachspiel, dem er sich aktiv oder als Zuschauer in dem damaligen Café „Kaiserhof“ häufig widmete. Dort traf er noch am Freitag vor dem Morde, nach der Feierlichkeit zu Ehren des fünfzigjährigen Dienstjubiläums des Kammergerichtspräsidenten Drenkmann, mit einer größeren Zahl von Kollegen zusammen, und seiner Art getreu, hatte er bald ein humoristische Gespräch in Gang gebracht. „In sieben Jahren feiere ich mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum,“ sagte er bei dieser Gelegenheit zu einem jüngeren Anwalt, der ebenso als geistreicher Festredner, wie als erfolgreicher Mandatar bekannt war, „da müssen Sie für eine schöne Rede sorgen.“ Daran knüpfte sich eine ernste Erörterung der Ziele, die sich Justizrat Levy in seiner literarischen Tätigkeit noch gesteckt hatte, und er versprach den anwesenden Freunden, ihnen schon in den nächsten Monaten die erste Lieferung seines beabsichtigten Kommentars zum Bürgerlichen Gesetzbuch zu übersenden. „Denn Montag fange ich wieder einmal tüchtig zu arbeiten an.“

Diese Absicht des trefflichen Mannes, deren Verwirklichung zweifellos sowohl der wissenschaftlich wie der praktisch tätigen Juristenwelt von größtem Nutzen gewesen wäre, war durch ein ruchloses Bubenstück in entsetzlicher Weise vereitelt worden.

Justizrat Levy wohnte in der Mohrenstraße 53, kaum zwei Minuten von der Friedrichstraße, in der das Brausen der Weltstadt auch damals schon zu keiner Tages- oder Nachtzeit verstummte. Am Morgen des 18. Oktober 1896, eines Sonntags, etwa gegen fünf Uhr lag der alte Justizrat und seine Gattin noch im tiefen Schlaf. Da plötzlich drangen zwei Mordbuben in das unverschlossene Schlafzimmer. Einer dieser Mordbuben stieß mit einem Dolchmesser sofort auf den schlafenden Justizrat los und verwundete ihn im Genick, am Kopfe und an der Brust. Der alte Herr fuhr in die Höhe. Das Geräusch, das hierbei entstand, weckte auch seine Frau. Diese sprang, während fast zu gleicher Zeit auch der Mann aus seinem Bette halb herausfiel und halb herausstieg, auf und eilte, um Hilfe schreiend, an dem Bette des Mannes vorbei, nach dem Zimmer zu, in dem das eine Dienstmädchen schlief. Dabei erhielt sie von dem einen Mordgesellen zwei Messerstiche in Schulter und Hand, die glücklicherweise nicht gefährlich waren. Justizrat Levy schleppte sich seiner Frau nach zu dem Schlafzimmer des Dienstmädchens und brach hier zusammen. Das Mädchen, das unterdessen wach geworden war und sich halb angekleidet hatte, brachte, den alten Herrn in das Schlafzimmer zurück und legte ihn in das Bett seiner Frau, weil sein eigenes mit Blut über und über besudelt war. Dann eilte es auf die Straße den Mördern dern nach, die inzwischen geflüchtet waren. Gegenüber dem Levyschen Hause hielten in der Mohrenstraße vier Droschken. Der Kutscher der letzten nahm das halbnackte Dienstmädchen, das bald nach den Mörder auf die Straße kam, wickelte es in Decken, setzte es in seine Droschke und suchte nun von ihm zu erfahren, was vorgefallen sei. Das Mädchen war aber vom Schrecken so gelähmt, daß es eine verständliche Mitteilung nicht machen konnte. So kam es, daß man sich nicht sofort an die Verfolgung der Verbrecher machte, die man sonst mit einer Droschke wohl hätte einholen können. Ehe man recht wußte, um was es sich handelte, waren die Verbrecher entkommen. Vier Ärzte aus der Nachbarschaft wurden herbeigerufen, sie vermochten jedoch das Leben des alten Herrn nicht mehr zu retten. Ein Stich, der von der Achselhöhle aus in die Brust eingedrungen war, war tödlich gewesen; um 8 3/4 Uhr starb der Verwundete, ohne daß er imstande gewesen wäre, über die Mörder und ihre Tat noch etwas mitzuteilen. Die Verletzungen der Frau erwiesen sich als ungefährlich.

Von der Familie Levy wurden 500 Mark, vom Berliner Anwaltverein 5000 Mark Belohnung für Ergreifung der Täter ausgeschrieben. Die Polizei entfaltete eine fieberhafte Tätigkeit. Schon nach wenigen Tagen gelang es, die Mörder, den am 16. Februar 1880 in Berlin geborenen Arbeitsburschen Bruno Werner und den am 6. Juli 1880 in Berlin geborenen Schlosserlehrling Willy Max Grosse, zu verhaften. Die Familien der beiden jugendlichen Mörder, die den Justizrat und dessen Gattin ermorden wollten, um alsdann den Geldschrank aufzubrechen und zu plündern, wohnten in der Georgenkirchstraße 53. Die beiden Unholde waren Schulkameraden und nach ihrer Einsegnung Schreiber bei Berliner Rechtsanwälten.

Werner war vom 15. April 1894 bis 4. Januar 1896 beim Justizrat Levy, dann bis Anfang Mai beim Rechtsanwalt Golde beschäftigt, während Grosse nacheinander bei den Rechtsanwälten Feilchenfeld, Auerbach und Kurnicke beschäftigt war. Anfang Mai gaben beide ihre Stellungen auf. Werner wurde stellvertretender Bureaudiener bei der Firma Naglo, während Grosse Laufbursche wurde. Zuletzt war er als solcher in der Buchdruckerei von Hendebett in der Lindenstraße tätig und Werner in dem ganz in der Nähe belegenen Drogengeschäft von Martin. Während seiner Tätigkeit beim Justizrat Levy hatte Werner einmal dessen Schwiegersohne, Rechtsanwalt Koffka, die Gummischuhe vom Korridor gestohlen und war deshalb entlassen worden. Als er später bei Gebrüder Naglo in der Ausstellung beschäftigt war, führte er in Gemeinschaft mit Grosse einen Diebstahl in folgender Weise aus: Die automatischen Kassetten der elektrischen Rundbahn wurden abends nach Schluß des Betriebes von dazu angestellten Knaben nach einer Zentralstelle und von dort nach der Fabrik gebracht. Werner, der sich zum Mittransport erboten, gelang es, eine der Kassetten verschwinden zu lassen und dem Grosse zuzustecken, der sich mit ihr entfernte. Der Inhalt im Betrage von etwa 100 Mark wurde geteilt.

Hierauf faßte Werner den Plan, den Rechtsanwalt Golde, bei dem er früher beschäftigt war, zu bestehlen. Er wußte, daß dort die Haus- und Korridorschlüssel auf dem Telephonkasten zu liegen pflegten, und der Bureauvorsteher die Einnahmen nur einmal wöchentlich, und zwar des Sonnabends, an Frau Rechtsanwalt Golde ablieferte. Darauf baute er seinen Plan: Sein Freund Grosse sollte die Schlüssel stehlen, und Werner wollte dann mit deren Hilfe sich der Kasse bemächtigen. Am 1. Oktober 1896 klingelte Grosse an der Wohnung des Rechtsanwalts Golde und bat das ihm öffnende Dienstmädchen um die Erlaubnis, das Telephon benutzen zu dürfen. Dies wurde gestattet, Grosse simulierte ein telephonisches Gespräch und entwendete dabei die Schlüssel. Als Frau Rechtsanwalt Golde hinzukam, entfernte er sich schnell und übergab die Schlüssel dem wartenden Werner. Der Schlüsseldiebstahl war aber bemerkt worden. Frau Rechtsanwalt Golde ließ noch an demselben Tage sämtliche Schlösser ändern. Beide Angeklagte begaben ben sich in der Zeit vom 1. bis 9. Oktober zweimal zu der Goldeschen Wohnung; das erstemal mußten sie unverrichteter Sache abziehen, weil die Wohnung bis spät nachts erleuchtet war, das zweitemal brach bei den Versuchen, die Haustür zu öffnen, der Bart des gestohlenen Schlüssels ab.

Am Sonnabend, 10. Oktober, schlich sich Werner in aller Frühe auf den Hof des Goldeschen Hauses, um allein den Diebstahl auszuführen. Unter dem Vorgeben, er sei Glaser und solle die Fenster der Goldeschen Wohnung verkitten, bat er einen Stallmann um eine Leiter. Er erhielt diese auch und gelangte so auf die an der Wohnung entlang führende Galerie und von dort in das Bureau. Hier erbrach er den Tischkasten des Bureauvorstehers, es fielen ihm jedoch nur 2,60 Mark bares Geld und für eine Mark Paketfahrtmarken zur Beute.

Nach diesem Mißerfolge reifte in den beiden Burschen der entsetzliche Plan, einen Diebstahl bei dem Justizrat Levy, Mohrenstraße 53, auszuführen und die Levyschen Eheleute zu töten. Werner wußte, daß der Justizrat sein Geld in einem eisernen Geldschranke verwahrte, die Schlüssel dazu am Tage bei sich trug und nachts in nächster Nähe seines Lagers aufbewahrte. Die Schlüssel waren also nur zu erlangen, wenn dem Justizrat Gewalt angetan wurde. Am 14. Oktober legten beide Angeklagten ihre Arbeit nieder. Werner erhielt 6 Mark Lohn und besaß außerdem noch 1,50 Mark. Von diesem Gelde kauften sie für 5 Mark zwei gleiche schwedische Dolchmesser. Der Plan der Mordbuben ging zunächst dahin, am 16. Oktober in der Frühe an dem vorderen Wohnungseingang der Levyschen Wohnung zu klingeln, das öffnende Dienstmädchen niederzuschlagen, dann in das Schlafzimmer zu dringen und das Levysche Ehepaar zu töten. Am Abend des 15. Oktober wurde die Örtlichkeit rekognosziert, die Ausführung der Tat am 16. wurde aber vereitelt, ebenso am 17. Als sie an diesem Tage an der Levyschen Wohnung klingelten, hörten sie das Geräusch von zuklappenden Türen, sie verloren deshalb den Mut und gingen hinab, um von der Hintertreppe einzudringen. Beim Passieren des Hofes bemerkten sie auf der Galerie, die an der Levyschen Wohnung entlang führte, drei Personen. Sie gaben deshalb den Plan für diesen Tag auf und antworteten auf die an sie gerichtete Frage nach ihrem Begehr, sie brächten Papier, wollten aber des Trinkgeldes wegen wiederkommen, wenn der Justizrat da wäre.

Am 18. Oktober 1896 sind sie in aller Frühe durch das Flurfenster über die Galerie in das Schlafzimmer des Levyschen Ehepaares eingedrungen und haben kalten Blutes die furchtbare Tat begangen, deren Opfer der alte Justizrat wurde, während Frau Justizrat gleichfalls bedenklich verwundet, aber durch ärztliche Kunst wiederhergestellt ward. Durch das Geschrei der Frau Justizrat wurden die beiden Mörder in die Flucht getrieben. Grosse lief nach der Friedrichstraße zu, Werner in der Richtung nach dem Kaiserhof. Da er Grosse hier vergeblich erwartete, kehrte er noch einmal um, um sich nach diesem umzusehen. Werner traf vor dem Levyschen Hause das Dienstmädchen laut um Hilfe rufend; er fragte es, was passiert sei, worauf das Mädchen erklärte, es seien Spitzbuben im Hause gewesen, er möge einen Schutzmann holen. Werner ging darauf zur Friedrichstraße zu und traf nach kurzer Zeit mit Grosse, wie verabredet, an der Löwengruppe im Tiergarten zusammen. Grosse ließ sich in der Sanitätswache in der Steglitzer Straße seine bei der Tat verletzte Hand verbinden, dann gingen beide in den Grunewald, von dort nach Spandau, dann zurück über Wilmersdorf und Potsdam. Hier trennten sie sich. Grosse ging nach Berlin zurück, Werner war über Potsdam, Brandenburg, Genthin, Halberstadt nach Zellerfeld gewandert. Dort wurde er am 29. Oktober verhaftet, während Grosse schon am 22. Oktober in Berlin von seinem Bruder eingeliefert worden war.

Am 1. Dezember 1896 hatten sich beide Mörder vor der neunten Strafkammer des Landgerichts Berlin I wegen Mordes, Mordversuchs und wegen mehrerer, zum Teil schwerer, mittels Einbruchs begangener Diebstähle zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Hoppe. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Müller II. Zu Verteidigern waren vom Gericht bestellt die Rechtsanwälte Dr. Paul Ivers und Hoffstädt. Da die Angeklagten zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren, konnten sie nicht vor die Geschworenen gestellt und weder zum Tode noch zu Zuchthaus verurteilt werden.

Der Andrang des Publikums nach dem kleinen Schwurgerichtssaal des alten Moabiter Gerichtsgebäudes, in dem die Verhandlung stattfand, war enorm. Mehrere Gerichtsdiener und Schutzleute, unter dem Kommando eines Polizeioffiziers, sorgten für Aufrechterhaltung der Ordnung.

Als die beiden Angeklagten von zwei Schutzleuten auf die Anklagebank geführt wurden, ging eine lebhafte Bewegung durch das Publikum. Der Angeklagte Werner war weit kleiner als Grosse. Beide machten den Eindruck ganz unreifer Burschen. Grosse trug noch einen Verband um einen Finger der linken Hand. Er hatte sich bei der Mordtat verletzt. Bei dem Betreten des Anklageraumes bedeckte brennende Röte sein Gesicht, er stierte zu Boden und begann zu weinen. Werner war vollständig ruhig; er verfolgte ganz genau die Vorgänge, die sich vor ihm abspielten, namentlich als die Zeugen aufgerufen wurden. Als Sachverständige waren die Gerichtsphysici Dr. Long und Dr. Störmer mer und die Ärzte Dr. Opfer, Dr. Hadra und Professor Israel zur Stelle. Zwecks Begutachtung des Geisteszustandes des Angeklagten Grosse wohnte Medizinalrat Dr. Menger der Verhandlung bei.

Der Vorsitzende erörterte zunächst die Vergangenheit der beiden Angeklagten, nachdem er sie in eindringlichster Weise zur Wahrheit ermahnt hatte. Werner gab an, daß er der Sohn eines Kürschners sei. Sein Vater sei 1894 gestorben.

Vors.: Waren Sie damals schon eingesegnet?

Angekl.: Nein.

Vors.: Haben Sie die Schule alle Klassen hindurch besucht?

Angekl.: Ich kam bis zur ersten Klasse.

Vors.: Was wurde aus Ihnen nach Ihrer Einsegnung?

Angekl.: Ich kam als Schreiberlehrling zum Justizrat Levy.

Vors.: Wie lange blieben Sie dort?

Angekl.: Bis Anfang 1896.

Vors.: Und warum kamen Sie dort fort?

Angekl.: Weil ich die Gummischuhe gestohlen hatte.

Vors.: Wo fanden Sie dann Stellung?

Angekl.: Beim Rechtsanwalt Golde.

Vors.: Wie lange blieben Sie dort?

Angekl.: Bis Mai dieses Jahres.

Vors.: Wurden Sie dann entlassen?

Angekl.: Nein, ich ging.

Vors.: Warum?

Angekl.: Ich verdiente nur 30 Mark monatlich.

Vors.: Mußten Sie dies Geld Ihrer Mutter abgeben?

Angekl.: Jawohl, ich behielt gar nichts für mich.

Vors.: Sie wurden alsdann Laufbursche in verschiedenen Geschäften, bis Sie anfangs September außer Stellung kamen?

Angekl.: Ja.

Vors.; Angeklagter Grosse, Sie sind der Sohn eines Postschaffners?

Angekl.: Ja.

Vors.: Wann starb Ihr Vater?

Angekl.: Als ich 10 Jahre alt war.

Vors.: Sie haben einen schlechten Gang?

Angekl.: Ja, ich hatte als Kind die englische Krankheit

Vors.: Sie kamen, ebenso wie Werner, nach Ihrer Einsegnung zu einem Rechtsanwalt?

Angekl.: Ja.

Vors.: Sie nahmen alsdann Stellung als Laufbursche?

Angekl.: Jawohl.

Werner gab sodann zu, eines Tages von dem Korridor der Wohnung des Justizrats Levy ein Paar Gummischuhe gestohlen zu haben“.

Auch den Diebstahl gegen die Firma gaben beide Angeklagte zu. Werner hatte gehört, daß einmal ein Diebstahl an einer Kassette der elektrischen Rundbahn vorgekommen war. Beide hatten sich verabredet, auch einen solchen Diebstahl zu begehen und haben ihn ausgeführt, als Werner bei dem Transport der Kassetten nach der Fabrik beschäftigt war. Dabei entwendete Grosse eine Kassette und verschwand damit. Werner behauptete, daß etwa 100 Mark in Zehnpfennigstücken in der Kassette enthalten gewesen seien, und sie sich beide den Raub „nach ungefährem Gewicht“ geteilt hätten.

Die übrigen Diebstähle gaben beide Angeklagte zu. Werner wendete sich gegen die Behauptung der Anklage, daß Grosse sich zu den Diebstählen bei dem Rechtsanwalt Golde erst durch Zureden habe bewegen lassen. Er versicherte, daß Grosse sich ohne weiteres dazu bereit erklärt habe. Grosse behauptete, daß er aus freien Stücken von der Tat Abstand genommen habe.

Vors.: Wir kommen nun zu dem Hauptpunkt, der Ermordung des Justizrats Levy. Wie sind Sie zu diesem furchtbaren Plan gekommen?

Werner: Da wir bei Golde nicht recht etwas gefunden hatten, wollten wir bei Justizrat Levy einen Diebstahl ausführen.

Vors.: Wer ist zuerst auf den Gedanken gekommen? men? Doch wohl Sie, Sie wußten mit den Verhältnissen Bescheid.

Werner: Ich habe einmal leichthin davon gesprochen, durch vieles Hin- und Herreden ist es wirklich dahin gekommen.

Vors.: Grosse, Sie waren einverstanden?

Angekl. Grosse: Jawohl, ich habe mich dazu bereit erklärt

Vors.: Angeklagter Werner, Sie haben früher einmal gesagt, daß Grosse Geld unterschlagen habe und dieses ersetzen mußte. Haben Sie aus diesem Grunde den verbrecherischen Plan gefaßt?

Angekl.: Das hat den Plan beschleunigt.

Vors.: Sie haben früher behauptet, daß, als Sie einmal zusammen die Mohrenstraße entlang gingen, der Plan, bei dem Justizrat Levy zu stehlen, in Ihnen gereift sei.

Angekl. Werner: Das ist richtig.

Vors.: Wie wollten Sie denn den Diebstahl ausführen?

Angekl. Werner: So, wie er ausgeführt wurde, durch Klettern auf die Galerie.

Vors.: Sie haben früher einmal angegeben, daß der Plan zunächst dahin gegangen sei, an der Wohnung des Justizrats Levy zu klingeln, das Mädchen niederzustechen und den Diebstahl auszuführen. Sie wußten, wo der Justizrat sein Geld bewahrte?

Werner: Ich vermutete es wenigstens.

Vors.: Sie behaupteten, daß Sie zunächst nicht die Absicht hatten, zu morden, sondern Ihr Plan ging ursprünglich dahin, die Frau Justizrätin zu knebeln. Sie haben sich sogar für fünf Pfennig Bindfaden dazu gekauft.

Angekl.: Ja.

Vors.: Sie vermuteten, daß im Bette rechts Herr Justizrat Levy und im Bette links die Frau Justizrätin schlief.

Angekl.: Ja.

Vors.: Tatsächlich war es aber umgekehrt. Sie, Werner, sollten als der Schwächere sich auf den schwächlichen Mann, Sie, Grosse, als der Stärkere, sich auf die kräftigere Frau werfen.

Werner: Ja!

Vors.: Ursprünglich war die Mordtat auf den 16. Oktober geplant. Sie hatten sich Dolche gekauft. Sie, Werner, hatten das letzte Geld, was Sie besaßen, dazu verwendet?

Werner: Ja.

Vors.: Einer dieser Dolche liegt vor. Werner hat seinen Dolch im Grunewald vergraben.

Vors.: Nun kommen wir zum 18. Oktober. Werner, Sie wußten, daß man sich durch das Flurfenster auf die Galerie hinaufschwingen konnte. Sie hatten dies schon zweimal getan, um ins Bureau zu gelangen, als Sie den Schlüssel vergessen hatten.

Werner: Jawohl.

Vors.: Am Morgen des 18. Oktober warteten Sie den Zeitpunkt ab, als der Bäckerjunge das Haus verlassen hatte.

Werner: Ja.

Vors.: Dann schwangen Sie sich beide durch das Fenster auf die Galerie und gingen bis zur Tür des Speisezimmers, welche, wie Sie wußten, offenzustehen pflegte. An das Speisezimmer stieß das Schlafzimmer, dessen Tür ebenfalls auf war. Sie öffneten die Tür. War es noch dunkel?

Werner: Ja.

Vors.: Konnten Sie die Personen sehen, die sich im Schlafzimmer befanden?

Werner: Nein, es war zu dunkel.

Vors.: Nun, Werner, erzählen Sie, was Sie taten, als Sie die Tür geöffnet hatten.

Werner: Eine Stimme fragte: Wer ist da?

Vors.: War es die Stimme des Justizrats oder seiner Frau?

Werner: Es war die Stimme der Frau.

Vors.: Lag sie in dem Bette rechts oder links?

Angekl.: Ich hatte geglaubt, daß der Herr Justizrat im Bette rechts lag, aber ich sah, daß wir uns geirrt hatten, im Bette rechts lag die Frau Justizrätin. Ich stürzte sofort mit gehobenem Messer auf sie los und stieß gegen sie. Wohin ich traf, weiß ich nicht. Sie sank ins Bett zurück, ich stieß noch mehrere Male nach ihr, dann ergriff ich die Flucht, da sie um Hilfe rief.

Vors.: Was machte nun Grosse während dieser Zeit?

Angekl.: Das habe ich nicht gesehen.

Vors.: Dem Richter in Zellerfeld gegenüber haben Sie sich aber viel bestimmter ausgedrückt. Sie haben damals gesagt, daß Sie gesehen hätten, wie Grosse auf den Justizrat Levy losgestochen habe.

Angekl.: Nein, so bestimmt habe ich mich nicht ausgedrückt, ich habe nur gesagt, daß ich annehmen müsse, Grosse habe auf den Justizrat eingestochen, während ich mit der Frau Justizrätin zu tun hatte.

Vors.: Haben Sie den Herrn Justizrat nicht auch gestochen?

Werner: Nein, vorsätzlich nicht.

Vors.: Ja, was soll das heißen?

Werner: Als ich den ersten Stich gegen die Frau Justizrat geführt hatte, rief sie um Hilfe, während der Justizrat von seinem Bette sich nach dem Bette seiner Frau beugte, um ihr zu Hilfe zu kommen. Es kann sein, daß ich in die Nähe ihres Kopfes und ihres Oberkörpers gekommen bin, und dabei ist denn auch möglich, daß einige Stiche, welche ich gegen die Frau Justizrat richtete, den Mann trafen. Aber ich bleibe dabei, daß ich es nicht weiß.

Vors.: Nun kommen wir zu Ihrer Tätigkeit, Angeklagter Grosse. Was taten Sie, als die Frage: „Wer ist da?“ aus dem Schlafzimmer ertönte?

Grosse: Wie verabredet war, sollte ich in das linke Bett stechen, in dem wir die Frau Justizrätin vermuteten. Ich stürzte in der Dunkelheit darauf zu, ich weiß nicht, ob ich den Herrn Justizrat gestochen habe, ich bin der Meinung, daß ich auf die Frau Justizrätin gestochen habe. In der Aufregung mag es geschehen sein, aber ich weiß es nicht.

Vors.: Sie sind augenscheinlich bestrebt, die Stiche, die dem Justizrat zugefügt sind, einer dem anderen in die Schuhe zu schieben, aber ich kann Ihnen sagen, daß das für die Strafabmessung ganz gleichgültig ist. Sie haben beide gemeinschaftlich gehandelt, Sie mußten und wollten geplanterweise das Ehepaar ermorden, um in den Besitz der Schlüssel zu gelangen und alsdann den Diebstahl ausführen zu können. Werner, sehen Sie das nicht ein?

Angeklagter Werner: Ja.

Vors.: Und Sie, Grosse, wollen Sie nicht lieber einräumen, daß Sie bewußterweise gegen den Herrn Justizrat die Stiche führten?

Grosse: Ich muß dabei bleiben, daß ich glaubte, die Frau Justizrat vor mir zu haben.

Vors.: Faßten Sie nicht früher den Plan, sich bei der Tat mit Revolvern zu versehen?

Werner: Ja, aber wir wollten sie nur zur Verteidigung benutzen. Erst wollten wir das Dienstmädchen, das uns öffnen sollte, niederstoßen, aber dann kamen wir zu der Ansicht, daß wir uns den Mord des Dienstmädchens ersparen könnten. Wir nahmen dann den Weg durch das Fenster über die Galerie und flohen auf demselben Wege.

Vert. Rechtsanwalt Hoffstädt: Ich frage, ob es richtig ist, daß Werner durch seine Tätigkeit bei Rechtsanwälten ganz genau darüber informiert war, daß beide infolge ihrer Jugend nicht zum Tode verurteilt werden können. Er soll erst nach der Tat den Grosse in dieser Beziehung unterrichtet haben.

Vors.: Werner, Sie haben doch ganz genau gewußt, daß Sie bei Verübung eines Mordes nicht vor die Geschworenen gestellt und nicht zum Tode verurteilt werden können?

Werner: Das war mir bekannt, Grosse wußte es auch ganz genau.

Grosse: Das ist nicht wahr.

Werner: Gewiß. Grosse sagte, geköpft werden wir nicht. Wir sind in jugendlichem Alter, und da wird es heißen, es gibt mildernde Umstände und höchstens 15 Jahre Gefängnis.

Grosse: Das ist nicht wahr.

Vors.: Werner, Sie haben einmal in der Voruntersuchung suchung gesagt, daß Sie den Mord nicht ausgeführt haben würden, wenn für Sie Todesstrafe in Betracht käme.

Werner: Das lasse ich dahingestellt.

Rechtsanwalt Dr. Ivers: Ich möchte den Herrn Vorsitzenden bitten, an den Angekl. Werner die Frage zu richten, ob er selbst irgendein Moment gellend machen will, welches die Schwere der Tat mildern könnte.

Vors.: Sie hören, Werner, Sie waren doch nicht in Not, Sie hatten Ihr Brot, was können Sie zu Ihrer Entschuldigung angeben?

Werner: Grosse war immer in Geldverlegenheit. Er brauchte immer Geld, und ich mußte es anschaffen. Dadurch bin ich zu der Tat gekommen.

Grosse: Ich habe niemals Werner gedrängt, mir Geld anzuschaffen, wenigstens nicht so, daß er zu dieser Tat hätte bestimmt werden können.

Vors.: Das widerspricht einigermaßen Ihrem früheren Zugeständnis, nach welchem Sie bei Hendebett Geld unterschlagen und Werner aufgefordert haben, Ihnen zu helfen.

Grosse: Das habe ich ihm nur einmal gesagt, aber nicht öfter.

Werner blieb dabei, daß Grosse schon bei dem Rechtsanwalt Auerbach Diebstähle ausgeführt und schon in der Schule Bücher gestohlen habe. Dabei habe er ihn auch hineinziehen wollen.

Grosse: Daß ich in der Schule Bücher gestohlen habe, ist richtig; meine Mutter hat damals den Schaden wieder gutgemacht.

Vors.: Es ist von geringem Interesse, ob Grosse sich früher mehrere Veruntreuungen hat zuschulden kommen lassen. Ich will aber Grosse noch fragen: Sind Sie in Ihrer Jugend krank gewesen?

Grosse: Ja, ich habe die Diphtheritis gehabt.

Vors.: Sonst noch etwas?

Grosse: Ich habe Krämpfe gehabt.

Vors.: Was für Krämpfe?

Grosse: Es waren Wutkrämpfe. Ich fiel dabei zu Boden und habe wohl eine Stunde dort gelegen.

Vors.: Wann war das?

Grosse: In meinem zwölften Lebensjahre.

Vors.: Kopfleidend sind Sie doch wohl nie gewesen?

Angekl.: Ich habe öfter Kopfschmerzen gehabt

Das Verhör der Angeklagten war damit beendet. Auf sämtliche Tatzeugen wurde verzichtet und nur die medizinischen Sachverständigen vernommen.

Dr. med. Opfer, der als erster an das Schmerzenslager des Justizrats Levy gerufen worden war, hatte fünf größere Verletzungen gefunden, namentlich eine sehr tiefe Wunde links am Halse und eine tiefe Wunde an der linken Seite des Unterleibs. Nach den Mengen Blutes, die auf den Betten sich zeigten, hatte der Sachverständige den Eindruck, daß die Hauptverletzungen dem Justizrat in dem Augenblick beigebracht worden sein müssen, als er in das Bett seiner Frau hinüberkroch, um dieser zu helfen. Der Justizrat lebte noch, war noch bei Besinnung, verlangte nach seinen Kindern, kannte seine Söhne und bat nur, man solle ihn nicht lange quälen, sondern sterben lassen.

Dr. med. Hadra äußerte sich über die Verletzungen, welche die Frau Justizrat erlitten hatte. Sie war von diesen wiederhergestellt worden.

Vors.: Bei der Frau Justizrätin ist nur eine starke Erschütterung des Nervensystems zurückgeblieben, dies ist auch der Grund gewesen, weshalb die Frau Justizrätin hier nicht als Zeugin erscheinen konnte.

Geh. Sanitätsrat Dr. Israel war erst bei dem Justizrat Levy erschienen, als dieser schon in den letzten Zügen lag.

Medizinalrat Dr. Long schilderte die Ergebnisse der Obduktion. Auf der rechten Seite war eine knopflochartige, in der Längsrichtung des Körpers verlaufende Wunde vorhanden, die den Deltamuskel durchbohrte, an dem inneren Rande des Oberarmknochens hineinging und dort den Gefäß- und Nerven-Plexus scharfrandig durchtrennt hatte. Dann ist von der großen Schlagader eine zwei Millimeter breite Brücke an der Hinterwand stehen geblieben. Links zwischen der fünften und sechsten Rippe ist der Brustkorb durch knopflochartige Trennungen durchbohrt. Ferner ging vom rechten Schlüsselbein ein Kanal in die Tiefe und hat die erste Rippe gesprengt, zu gleicher Zeit auch das an die Rippe angrenzende Rippenfell durchbohrt. Der Tod ist durch Verblutung und Eindringen von Luft in den Brustkorb erfolgt. Gerichtsarzt Dr. Störmer schloß sich diesem Gutachten an und erwähnte noch, die Meinung der Angeklagten, daß der Justizrat der schwächere Teil der beiden Opfer war, sei ein Irrtum. Tatsächlich hatte der Verstorbene eine starke Muskulatur.

Geh. Sanitätsrat Dr. Hildebrandt, der in früheren Jahren den Angeklagten Grosse behandelte, hatte von Krämpfen bei ihm nichts bemerkt. Als Grosse fünf Jahre alt war, hat er an einem entzündlichen Zustand des Gehirns gelitten, der längere Zeit anhielt: Von Neigungen des Grosse zur Epilepsie hatte der Zeuge nichts wahrgenommen. Er habe ihn damals für geistig intakt gehalten.

Rechtsanwalt Hoffstädt: Kann der Herr Zeuge und Sachverständige aber vielleicht sagen, ob Grosse „geistig zurückgeblieben“ ist?

Zeuge: Ich habe keine Veranlassung, dies anzunehmen.

Auf die Vernehmung des Medizinalrats Dr. Menger wurde verzichtet.

Es nahm darauf das Wort Staatsanwalt Müller II: Es ist eine ganz außerordentliche Tat, die heute dem Urteile des Gerichtshofes unterbreitet worden ist. So kurz die Verhandlung gewesen ist, so hat sie doch ein Bild außerordentlicher sittlicher Verkommenheit zweier kaum dem Knabenalter entwachsenen Burschen entrollt. Es ist ein trostloses Bild, zu sehen wie Leute in diesem jugendlichen Alter im Strudel der Großstadt von Fehl zu Fehl getrieben werden, lediglich aus Geldsucht, lediglich in dem Hange, auf jeden Fall sich Geld zu verschaffen. Die beiden Angeklagten sind Menschen, die nirgends bei ehrlicher und ruhiger Arbeit ausharrten, sondern nur die Erwägung mit sich herumschleppten, was und wie sie wohl mehr verdienen könnten. Neben diesem Bild der Verwahrlosung ist es auch tieftraurig, zu sehen, wie diese halbwüchsigen Burschen kalt und gefühllos in ein glückliches Familienleben eingriffen. Die Angeklagten haben wie die Bestien gehandelt. Sie haben einer Frau ihr ganzes Glück geraubt und einen Mann hingeschlachtet, der eine Zierde seines Standes war, auf der höchsten, glänzendsten Höhe der Wissenschaft stand und gerade zur Zeit der Tat wieder eine wissenschaftliche Arbeit vor sich hatte. Die beiden Angeklagten haben die Ruhe und den Frieden des Hauses nutzlos gestört und sind mit höchster Frivolität eingebrochen in das Glück einer ganzen Familie. Die Tat, um die es sich heute handelt, hat in allen Kreisen die ungeheuerste Aufregung verursacht, welche noch bedeutend wachsen mußte, als man sah, daß so jugendliche Leute fähig waren, eine solche entsetzliche Tat kalten Blutes zu begehen. In der Öffentlichkeit ist im Anschluß hieran die Frage diskutiert worden, ob die gesetzliche Sühne der Schwere der Tat entspricht. Wenn man hört, daß diese jungen Burschen sich ganz klar darüber waren und diese Klarheit schon beim Ausbrüten des Planes in die Wagschale warfen, nämlich, daß ihnen höchstens 15 Jahre Gefängnis in Aussicht standen, so kann man sich in der Tat fragen, ob die Sühne genügt und ob solche Burschen nicht eine Strafe verdienen, die täglich und stündlich ihnen fühlbar zum Bewußtsein bringt, was es heißt, einen Menschen zu töten. An Gerichtsstelle dürfen aber solche Erwägungen, so berechtigt sie auch erscheinen mögen, nicht Platz greifen; hier darf nur das Gesetz gelten und die Strafe erkannt werden, welche das Gesetz bestimmt. Die Angeklagten suchen die Hauptschuld sich gegenseitig aufzubürden, aber ohne Erlolg, denn sie sind beide einander würdig! Sie sind von vornherein darin einig gewesen, auf unredliche Weise sich Geld zu verschaffen, und sie haben die Konsequenzen dieser Absicht bis auf die letzte, schreckliche Höhe getrieben. Es ist schließlich ganz gleichgültig, wer den tödlichen Stich gegen den Justizrat geführt hat, es ist ganz gleichgültig, daß keiner der Täter sein will; die Ermordung des Justizrats und die Verwundung der Frau Justizrätin sind als eine Tat zu betrachten für welche beide Angeklagte gleichmäßig verantwortlich sind. Daß sie die erforderliche Einsicht besessen haben, kann gar nicht zweifelhaft sein, ja, diese Einsicht ist sogar eine furchtbare gewesen. Mit vollständig klarer Überlegung aller Konsequenzen haben sie den Plan ausgeführt und mit einer Zähigkeit verfolgt, die erstaunlich ist. Mit welcher Frivolität sie gehandelt haben, ergibt sich daraus, daß, als sie den ersten Plan des Diebstahls aufgegeben und den zweiten gefaßt hatten, Werner mit unglaublichem Zynismus sagte: „Wir können uns das Dienstmädchen sparen!“ Das ist empörend und furchtbar! Mit Rücksicht hierauf gibt es nur eine Strafe: Die höchste, die das Gesetz zur Verfügung hat: 15 Jahre Gefängnis. Für die versuchten und vollendeten Diebstähle beantragte der Staatsanwalt noch gegen Werner Strafen von 14 Tagen, 3 Monaten, 6 Monaten, nochmals 6 Monaten und 1 Jahr Gefängnis, gegen Grosse 3 Monate und zweimal 6 Monate Gefängnis. Da das Gesetz bestimmt, daß eine Gefängnisstrafe nicht über 15 Jahre gehen darf, so beantragte der Staatsanwalt eine Gesamtstrafe von je 15 Jahren Gefängnis und Einziehung des dem Werner gehörenden Messers.

Der Verteidiger des Werner, Rechtsanwalt Dr. Ivers erklärte, daß er den Antrag vorweg nehmen wolle. Anständigerweise könne er sich dem Antrage des Staatsanwalts auf Anwendung des höchsten Strafmaßes nur anschließen. Es sei schwer, selbst für den Verteidiger, einen Milderungsgrund für die grause Tat zu finden, welche die jugendlichen Angeklagten begangen haben. Die Mutter des Werner habe selbst gesagt: „Meinem Jungen ist nicht zu helfen! Ich renne wie wild in den Straßen herum und bitte Gott, daß er mich eine Nacht schlafen läßt.“ Die sämtlichen strafbaren Handlungen, welche dem letzten schwersten Verbrechen vorangingen, geben so recht deutlich das Bild einer Verbrecherlaufbahn und zeigen, wie chronologisch einer Straftat immer eine andere schwerere folgte. Der Verteidiger sei im vorliegenden Falle in der Lage, mit dem Staatsanwalt gegen den Angeklagten das zulässig höchste Strafmaß zu beantragen).

Der Verteidiger Rechtsanwalt Hoffstädt, der den Angeklagten Grosse zu verteidigen hatte, führte aus, daß bald nach Begehung der Tat in Anwaltskreisen die Frage erörtert worden sei, wer werden die unglücklichen Anwälte sein, die diese beiden Mordgesellen zu verteidigen haben werden? Freiwillig würde sich niemand zu der Verteidigung gemeldet haben, und so könne er das Gefühl des Neides nicht unterdrücken, daß der Vertreter der Anklagebehörde sich habe aussprechen können, wie ihm ums Herz war. Er sei Offizialverteidiger und müsse seine Pflicht tun. Übereinstimmend habe sich über die Verwerflichkeit des furchtbaren Verbrechens nur Verdammung geäußert, nur eine Feder habe sich gefunden, welche in Hardens „Zukunft“ die Tat in ein milderes Licht zu stellen versucht und unter anderem angeführt habe, daß Justizrat Levy die Arbeit des Werner nicht genügend gelohnt habe. Dies sei völlig unrichtig, denn Werner habe selbst zugegeben, daß er außer 25 Mark Monatslohn noch täglich Mittagessen erhalten habe. Es habe also zwischen dem Ermordeten und seinem Schreiberlehrling gewissermaßen ein patriarchalisches Verhältnis bestanden. Der Verteidiger suchte sodann auszuführen, daß die Angeklagten keine Berufsverbrecher seien, denn solche würden sich nicht so dumm und töricht benommen haben, wie die Angeklagten es getan. Das Verbrechen könne eigentlich als ein, allerdings von den furchtbarsten Folgen begleiteter „Dummerjungenstreich“ bezeichnet werden. Der Verteidiger meinte sodann, daß Grosse wohl derjenige gewesen sei, der unter dem Einflusse des viel gewitzteren Werner gestanden habe. Über das Strafmaß wolle er nicht sprechen, er wisse, daß er zu Richtern rede, die nicht abweichen würden von dem alten Grundsatz: „Fiat justitia!“

Das Wort wurde alsdann dem Angeklagten Werner erteilt. Mit fester Stimme erklärte er, es sei nicht richtig, tig, daß er den Grosse verführt habe. Umgekehrt sei es wahr. Grosse habe noch verschiedene Diebstähle und Schlechtigkeiten begangen. Schon in der Schule habe er Bücher gestohlen und sie verkauft. Er habe auch ihn zu überreden versucht, mit einer größeren Summe durchzubrennen, sobald ihm eine solche anvertraut werde.

Der Angeklagte Grosse bezeichnete dies als Unwahrheiten. Seine Mutter habe ihn stets vor Werner gewarnt und gesagt, er solle nicht mit ihm umgehen, denn er habe nichts Gutes im Kopfe.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Hoppe folgendes Urteil: Die Angeklagten sind sowohl der ihnen zur Last gelegten Diebstähle als auch des gemeinschaftlichen, teils vollendeten, teils versuchten Mordes für schuldig befunden und deshalb zu der höchsten zulässigen Strafe von je 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das Gericht hat angenommen, daß die Angeklagten nach einem sorgfältig vorbereiteten Plane ihre Mordtat ausgeführt haben. Sie wollten stehlen und wußten, daß sie, um den Diebstahl ausführen zu können, morden mußten. Mit größter Sorgfalt haben sie den Plan bis in die Einzelheiten gemeinsam beraten und die Rollen verteilt. Jeder wollte die Tat des anderen als seine eigene betrachten, beide haben somit im bewußten Zusammenwirken gehandelt delt und deshalb die Folgen des gemeinsamen Handelns zu tragen. Unzweifelhaft hat den beiden Angeklagten die erforderliche Einsicht bei Begehung der Tat innegewohnt. Das geht schon daraus hervor, daß sie sich voll bewußt waren, welche Strafe ihnen im schlimmsten Falle bevorstand. Bei der Strafabmessung ist berücksichtigt worden, daß hier ein Verbrechen mit seltenem Raffinement ausgeführt worden ist, und daß sich der verbrecherische Willen der Angeklagten in einer ausnahmslosen Hartnäckigkeit dokumentiert hat. Von einem „Dummenjungenstreich“ kann man angesichts einer solchen wohlvorbereiteten Tat nicht sprechen. Daß die Angeklagten keine berufsmäßigen Verbrecher sind, soll zugegeben werden; dies fällt aber wenig ins Gewicht, denn die Statistik hat ergeben, daß gerade bei Mördern die Täter selten berufsmäßige Verbrecher sind. Eine schwerere Tat als die vorliegende ist kaum zu denken, es mußte deshalb das höchste Strafmaß zur Anwendung kommen. Dabei hat der Gerichtshof nicht zu fragen und zu prüfen, ob das bestehende Gesetz praktisch ist oder nicht, sondern er hat es anzuwenden. Um aber die Sühne zu erreichen, die nach dem bestehenden Gesetze möglich ist, mußte auf die höchste zulässige Strafe erkannt werden.

Auf die Frage des Vorsitzenden, ob sie sich bei dem Urteil beruhigen wollten, erklärte Werner mit lauter und fester Stimme „Jawohl.“ Grosse, der während der Ausführungen des Staatsanwalts wiederholt geweint hatte, erklärte sich gleichfalls zum Antritt der Strafe bereit. Beide wurden alsdann abgeführt.

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Das Räuberwesen

Der Raubmörder August Sternickel vor den Geschworenen

Die Zeiten der Räuberromantik sind längst vorüber. Die meilenweiten dichten Waldungen sind vielfach dem Spaten anheimgefallen, Eisenbahnen durchbrausen bis in die entlegensten Gegenden das Land. Es ist deshalb den Räuberbanden kaum noch möglich, im Waldesdickicht sich Höhlen zu bauen und dort ihr Lager aufzuschlagen, noch weniger auf verfallenen Burgen sich zu verschanzen. Andererseits dürfte das Räuberhandwerk kaum noch sehr lohnend sein, da die wenigen Fuhrwerke, die die Chausseen befahren, wertvolle Sachen nur selten mit sich führen dürften. Noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hausten in waldreichen Gegenden große Räuberbanden, die die Landleute und auch städtischen Kaufleute, wenn sie ihre Wareneinkäufe von der Leipziger Messe und Jahrmärkten in ihre Heimat transportierten, ausplünderten. Selbst die Postwagen wurden vielfach geplündert. Die Gendarmerie war diesen Raubzügen gegenüber fast machtlos, da die Räuber gewöhnlich bis an die Zähne bewaffnet und, unter dem Befehl eines „Hauptmanns“ und mehrerer anderer Führer, ganz militärisch organisiert waren. Wenn die Raubzüge überhandnahmen und gar Morde verübt waren, da mußte gegen die Bande militärische Hilfe in Anspruch genommen werden. Das Militär hatte gewöhnlich mit den Räubern förmliche Schlachten zu liefern, ehe es gelang, die Banden dingfest zu machen. Im Mittelalter sollen die Räuberbanden, teils aus Lust zur Romantik, hauptsächlich wohl aber aus Anlaß wirtschaftlicher Not, so zahlreich gewesen sein, daß sie eine fast ständige Landplage bildeten. Einer der gefürchtetsten Räuberhauptleute war Louis Dominique Cartouche, geboren 1693 zu Paris als Sohn eines Weinschenken. Cartouche soll ein auffallend schöner und höchst intelligenter Mensch gewesen sein. Er soll aber schon als Schulknabe Hang zu allen möglichen Diebereien gehabt haben. Obwohl er infolge seiner seltenen Schönheit und seines geradezu bestrickend liebenswürdigen Wesens überall gerne gesehen war und man allgemein die größte Nachsicht mit ihm übte, waren die Lehrer doch schließlich genötigt, ihn aus der Schule zu weisen, da eine Anzahl nächtlicher schwerer Einbrüche gegen ihn zur Anzeige kamen. Cartouche war der Sohn sehr braver Eltern. Diese fanden sich aber schließlich auch veranlaßt, ihr ungeratenes Kind, das ihr Stolz und ihre Freude war, und auf das sie die größten Hoffnungen gesetzt hatten, aus dem Hause zu weisen. Cartouche begab sich, obwohl noch ein halbes Kind, in die Normandie und schloß sich dort einer Räuberbande an. Sehr bald kehrte er nach Paris zurück und organisierte hier eine Räuberbande, die lange Jahre der Schrecken von Paris und weiter Umgebung war. Cartouche übte, trotz seiner großen Jugend, die unumschränkteste despotische Gewalt über seine Bande aus. Man erzählt folgendes Gaunerstückchen. Eines Tages begegnete Cartouche einem alten Holzhauer in einem Walde in der Nähe von Paris. Der alte Holzhauer sah ungemein ehrwürdig aus. Cartouche hielt den Alten mit dem Worten: „La bourse ou la vie“ die Pistole entgegen. Der Alte versicherte, daß er arm wie eine Kirchenmaus sei. Das glaube ich Ihnen aufs Wort, versetzte Cartouche. Ich werde Ihnen nicht nur nichts tun, sondern Sie im Gegenteil mit Speise und Trank und auch Geld reichlich versehen, wenn Sie sich als Bischof kleiden lassen und alles tun, was ich Ihnen befehle. Ich werde mit Ihnen und einigen meiner Leute nach Paris fahren. Wir werden in einer Equipage vor dem größten Verkaufsmagazin vorfahren und dort auf Ihren Befehl große Einkäufe machen. Sie dürfen kein Wort sprechen, sondern nur auf alle Fragen antworten: „Oui, monsieur.“ Sobald Sie es wagen sollten, uns durch eine Miene zu verraten, erschieße ich Sie sofort. Der alte Holzhauer versprach, alles zu tun, was Cartouche von ihm verlangt. Der Alte wurde als Bischof gekleidet det und ihm ein goldenes Kruzifix umgehangen. Cartouche und einige seiner Leute legten die Kleidung als Geistliche an und fuhren mit einer eleganten Equipage mit dem alten Holzhauer vor dem größten Pariser Verkaufsmagazin vor. Cartouche gab vor: der Bischof wolle, zwecks Ausstattung seines Palais, große Einkäufe machen. Dem Bischof wurde ein Sessel gebracht, und Cartouche suchte die Waren aus. Bei jedem Stück wurde der Bischof um seine Genehmigung ersucht, er antwortete immer: Oui, monsieur. Endlich fragte Cartouche den Bischof, ob er die gekauften Waren ins Palais fahren und aus der bischöflichen Kasse den Kaufpreis entnehmen solle, um sofort alles zu bezahlen. Der Bischof solle im Magazin verweilen, er werde sofort mit dem Gelde in der Equipage zurückkehren. „Oui, monsieur,“ antwortete, wie immer, „der Bischof“. Cartouche ersuchte, die gekauften Gegenstände in die vor der Tür haltende Equipage zu bringen und fuhr mit seinen Leuten davon.

Es verging Stunde auf Stunde, die Geistlichen kehrten nicht zurück. Der Bischof saß noch stumm und regungslos im Sessel, als bereits längst der Abend hereingedämmert war und das Verkaufsmagazin geschlossen werden sollte. Der Inhaber des Magazins fragte den Alten nach der Ursache des so langen Ausbleibens der Geistlichen, er erhielt aber immer nur zur Antwort: „Oui, monsieur.“ Dem Magazininhaber stiegen schließlich Bedenken auf. Da aus dem alten „Bischof“ mehr als „Oui, monsieur“ nicht herauszubringen war, so benachrichtigte der Besitzer des Verkaufsmagazins schließlich die Polizei. Letztere stellte fest, daß die angeblichen Geistlichen Cartouche mit einem Teil seiner Bande und der „Bischof“ ein armer Holzhauer war.

Die Polizei gab sich jahrelang die erdenklichste Mühe, den kühnen Räuberhauptmann nebst seiner Bande zur Haft zu bringen. Allein Cartouche, von dem ganz Frankreich sprach und für den die Damenwelt, aus Anlaß seiner geradezu blendenden Schönheit, schwärmte, zeigte sich auf öffentlichen Plätzen, besuchte die Schauspiele und vornehme Gesellschaften, seine Festnahme gelang aber nicht. Die Raubzüge der Cartouchebande und auch die von der Bande verübten Mordtaten nahmen schließlich derartig überhand, daß das Parlament und auch der französische Kriegsminister die Verhaftung der Bande, insbesondere ihres Hauptmanns, mit vollstem Nachdruck forderten. Es wurde Militär und Gendarmerie in großer Zahl in die Wälder entsandt, es war aber alles vergebens. Endlich, am 6. Oktober 1721, befand sich Cartouche in einer Dorfschenke. Er wurde von einem seiner Vertrauten verraten und konnte infolgedessen festgenommen werden. Sein Prozeß wurde vom Parlament ment vor die Kammer von Tournelle gezogen. Er legte sowohl im Gefängnis als auch in der Gerichtsverhandlung eine eisige Ruhe an den Tag. Er wurde, den damaligen gesetzlichen Bestimmungen entsprechend, auf die Folter gespannt. Er nannte aber trotzdem weder seinen Namen, noch gab er Mitschuldige noch die von ihm begangenen Verbrechen an. Durch ein Parlamentsurteil wurde er

zum Tode durch das Rad

verurteilt. Als er in Paris auf dem Grèveplatz, wo die Hinrichtung erfolgen sollte, nach allen Seiten spähte und nur Henkersknechte und Soldaten, aber keine Genossen zu seiner Befreiung wahrnahm, erklärte er: er wolle nunmehr ein Geständnis machen. Er wurde sofort ins Stadthaus geführt. Dort gestand er alle seine Verbrechen ein und nannte eine sehr große Zahl Mitschuldiger, darunter viele Damen und bekannte Edelleute, die ihn ebenso umschwärmt haben sollen wie die Damenwelt.

Er wurde auf den Richtplatz zurückgeführt und erlitt hier den Tod durch das Rad. Diese Art der Hinrichtung, die in Preußen noch im dritten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zur Anwendung kam, soll ungemein grausam gewesen sein. Ein mit eisernen Spitzen Versehens Rad, das mit voller Wucht auf den auf einem Brett festgeschnallten Verbrecher niedersauste, zerbrach diesem einzeln die Knochen. Erst allmählich trat der Tod des Gemarterten ein. Dies mittelalterliche Marterwerkzeug wird seit fast einem Jahrhundert in keinem Kulturstaat mehr angewendet.

Noch während des Prozesses brachten Legrand und Riecobini den noch auf dem Schafott von Schönheit und Anmut strahlenden Räuberhauptmann auf die Bühne.

Maler, Kupferstecher und Bänkelsänger wetteiferten, seinen Namen zu verewigen.

Mitte des achtzehnten Jahrhunderts tauchte in Bayern eine Räuberbande unter Führung des

Bayrischen Hiesel

auf, die viele Jahre die Bewohner Bayerns in Angst und Schrecken setzte. Eine unendlich große Zahl Mordtaten und räuberische Überfälle auf den Chausseen und Dörfern hatte diese Bande ausgeführt. Nach unsäglichen Anstrengungen gelang es, den Bayrischen Hiesel, der 1758 in Kissingen geboren war und mit seinem richtigen Namen Mathias Klostermeyer hieß, nebst seiner Bande festzunehmen. Im Jahre 1771 wurde der gefährliche Räuberhauptmann in Dillingen erdrosselt und alsdann gerädert.

Ende des achtzehnten Jahrhunderts hauste am Oberrhein eine Räuberbande unter dem Kommando des berüchtigten

Räuberhauptmanns Schinderhannes.

Dieser Mann, der Johannes Bückler hieß, war 1779 zu Unstädten in der Grafschaft Katzenellenbogen geboren. Auch Schinderhannes und seine Bande, zu der selbst sein leiblicher Vater gehörte, war lange Zeit der Schrecken der Bewohner des Oberrheins. Schinderhannes soll oftmals mit seiner Bande Dörfer und kleine Städte überfallen haben. Die Bewohner verrammelten ihre Haustür. Schinderhannes zog aber mit seiner Bande erst nach Erhalt eines hohen Lösegeldes ab. Eine weitere Spezialität des Schinderhannes war, von Jahrmärkten heimkehrende Leute auszuplündern. Gegen hohe Bezahlung stellte er Sicherheitskarten aus. Die im Besitze solcher Karten waren, durften von seiner zahlreichen Bande nicht behelligt werden. In einem Falle soll dies trotzdem geschehen sein. Schinderhannes übte aber prompte und strenge Justiz. Er schoß dies Mitglied seiner Bande, der es gewagt hatte, seinem Befehl zuwiderzuhandeln, sofort eigenhändig nieder. Endlich, nach langen Anstrengungen gelang es einem starken militärischen Streifkommando, den kühnen Räuberhauptmann nebst seiner Bande festzunehmen. Anfang 1805 fand in Mainz die Gerichtsverhandlung statt, die ungeheures Aufsehen erregte. Schinderhannes und alle seine Mitangeklagten wurden zum Tode verurteilt und sämtlich hingerichtet.

An der Wende des zwanzigsten Jahrhunderts tauchte in Oberbayern der Räuber Mathias Kneißl auf, der ganz in moderner Form, auf einem eleganten Zweirad, mit Dolchen, Gewehren, Revolvern und Patronen ausgerüstet, die Lande durchstreifte. Er war lange Zeit der Schrecken der Landbevölkerung von Oberbayern. (Siehe Band 2.) Es kostete unendliche Mühe, den kühnen Räuber zu verhaften. Sein Oheim, namens Pascolini, war vierzig Jahre vorher ein volles Jahrzehnt einer der gefürchtetsten Räuberhauptleute Oberbayerns. Pascolini ist, ebenso wie Kneißl, auf dem Schafott gestorben.

Im siebenten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts kamen in Berlin einige alleinstehende Frauen in grausamster Weise ums Leben. Nach langen Bemühungen gelang es der Polizei, den Mörder in der Person des Agenten Dyckhoff zu verhaften. Die Verhandlung gegen Dyckhoff, die im November 1883 das Schwurgericht des Landgerichts Berlin I vierzehn Tage lang beschäftigte, förderte ein grauenhaftes Bild aus der

Verbrecherwelt Berlins

zutage.

Alte Verbrecher sinken ins Grab und neue entstehen in fast ununterbrochener Reihenfolge. Im Juni 1905 brannte des Nachts im Dorfe Plagwitz bei Löwenberg in Schlesien eine am Ausgange des Dorfes etwas abseits von der Dorfstraße stehende Windmühle ab. Am folgenden Tage wurde festgestellt, daß das Feuer angelegt war. Unter den Brandtrümmern wurde die entsetzlich zugerichtete Leiche des Mühlenbesitzers zers gefunden. Es war kein Zweifel, daß der Müller zunächst ermordet und beraubt und alsdann die Mühle in Brand gesetzt worden war. Der Müllergeselle

August Sternickel,

der bei dem Mühlenbesitzer in Stellung gewesen, war spurlos verschwunden. Die Polizei, unter Leitung des Berliner Polizeiinspektors Wehn, setzte alle Hebel in Bewegung, um des Verbrechers habhaft zu werden. Es gelang wohl zwei Helfershelfer des Sternickel, die Gebrüder Pietsch, zu verhaften. Diese wurden in Hirschberg, Schlesien, vor das Schwurgericht gestellt. Einer wurde zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt, der zweite wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Allein Sternickel war und blieb verschwunden. Inzwischen tauchte in verschiedenen Gegenden Schlesiens, Posens, Ost- und Westpreußens eine

unheimliche Mordgestalt

auf. Es wurden des Nachts einsam belegene Bauerngehöfte überfallen, die Bewohner ermordet und beraubt und alsdann die Gehöfte in Brand gesteckt. Speziell in Niederschlesien trieb ein angeblicher Heuhändler sein unheimliches Wesen. Ein Mann betrat einsam belegene Gehöfte, gab vor, Heuhändler zu sein und große Mengen Heu kaufen zu wollen. Von diesem Heuhändler wurde die Besitzerin eines einsam belegenen Bauerngehöfts des Nachts erdrosselt, beraubt raubt und das Gehöft alsdann in Brand gesteckt. Ebenso erging es einem alleinstehenden alten Hofbesitzer in einer anderen Gegend Niederschlesiens. Aber auch in Westfalen, am Rhein, in Hessen und Hannover wurden ähnliche Verbrechen verübt. Überall herrschte die Befürchtung: Sternickel durchziehe die Lande, um zu morden und zu rauben. Und wenn auch nicht all die erwähnten Verbrechen von Sternickel begangen worden sind – es herrschte bereits allenthalben der „Sternickel-Schrecken“

so ist doch nachgewiesen, daß der Heuhändler in Schlesien Sternickel war, und daß ein ganzes Teil der erwähnten Verbrechen von diesem unheimlichen Manne begangen worden ist. Sternickel beschränkte seinen Wirkungskreis nicht auf Mord, Raub und Brandstiftung, er war im Nebenberuf auch

Heiratsschwindler.

Es soll ihm vielfach gelungen sein, in anständigen und vermögenden Familien Eingang zu finden und sich mit der Tochter des Hauses zu verloben. Sein nicht unschönes Äußere, seine stattliche Figur, seine Gabe, sich angenehm zu unterhalten und den feinen Mann zu kopieren, dürften ihm dabei wesentlich zugute gekommen sein. Da der zukünftige Schwiegersohn bisweilen „ganz zufällig“ In Geldverlegenheit gekommen war, so wurde ihm gern von den Schwiegereltern ausgeholfen. Bisweilen erhielt er auch große Summen, da er vorgab, Hypothekenzinsen seines sehr wertvollen Gutes bezahlen zu müssen. In der Gegend des Oderbruchs war es Sternickel, der selbstverständlich überall unter falschem Namen auftrat, gelungen, in einer hochanständigen, sehr vermögenden Familie Eingang zu finden und sich mit der Tochter des Hauses zu verloben. Er gab vor: sein Vater sei Besitzer zweier großer Rittergüter. Eins, das in der Nähe von Guben gelegen sei, werde von seinem Bruder bewirtschaftet. Er selbst wolle sich ein Landgut kaufen, und alsdann seine angebetete. Braut als Gattin heimführen. Eines Tages hatte Sternickel an seinen, zukünftigen Schwiegervater ein – Anliegen. Er bat um ein Darlehen von 3000 Mark, zwecks Bezahlung seiner Hypothekenzinsen. In den nächsten Tagen werde er „selbstverständlich“ das Darlehen mit Dank zurückgeben. Der Schwiegervater wurde mißtrauisch. Er bat sich Bedenkzeit aus. Die eingezogenen Erkundigungen über den zukünftigen Schwiegersohn lauteten derartig bedenklich, daß der Schwiegervater dem Manne sein Haus verbot und sofort die Verlobung mit seiner Tochter für aufgelöst erklärte. Inzwischen tauchte mehrfach die Nachricht auf: Sternickel sei gefangen. Bei näherer Prüfung stellte es sich aber immer heraus, daß ein armer Schächer, der vielleicht mit Sternickel eine entfernte Ähnlichkeit hatte, gefangen worden sei. Einmal gelang es einem Gendarm in Schlesien in der Tat, auf einer Wiese den richtigen Sternickel zu ergreifen. Sternickel stieß jedoch den Gendarmen über den Haufen und entkam.

Im Oktober 1912 meldete sich bei dem Bauerngutsbesitzer Franz Kallies in Ortwig, Kreis Lebus, ein Knecht, der sich Otto Schöne nannte. Da es auf dem Lande bekanntlich zumeist an Arbeitskräften fehlt, wurde der Knecht sofort in Arbeit gestellt. Kallies war mit den Leistungen des Schöne sehr zufrieden, es fiel ihm aber auf, daß der Mann keine Papiere hatte. Ferner fiel es dem Kallies auf, daß Schöne mehrfach auf einige Tage verreiste, aber nicht angeben wollte, wohin er fahre. Als Schöne Ende Dezember 1912 wiederum auf einige Tage verreiste, durchsuchte Kallies seine Sachen. Schöne merkte das nach seiner Rückkehr, er beschloß daher, sich an seinem Dienstherrn zu rächen. Da Kallies aber ein sehr großer und starker Mann war, so beschloß Schöne, sich Hilfe zu besorgen. Er begab sich nach Müncheberg und traf dort auf der Herberge drei junge, kräftige Burschen. Diese erklärten sich sofort bereit, dem Mann zu helfen, „ein Ding zu drehen“. Sie begleiteten ihn sogleich nach Ortwig, schliefen mit Schöne in dessen Kammer und halfen alsdann am anderen Morgen, Kallies und Frau sowie das Dienstmädchen zu ermorden und den Geldschrank zu erbrechen. Nach beendeter Tat erhielt jeder der drei jungen Leute etwas über 100 Mark. Die drei jungen Burschen fuhren darauf nach Berlin, kauften sich neue Kleidung und besuchten in Gesellschaft von Prostituierten mehrere Vergnügungslokale. Sie wurden sehr bald verhaftet.

Schöne schaffte die Leichen nach Ringenwalde, legte sie auf eine Strohmiete und setzte letztere in Brand. Alsdann flüchtete er. Es gelang sehr bald, ihn zu verhaften. Dabei stellte es sich heraus, daß der Knecht Otto Schöne der seit Jahren gesuchte

gefürchtete Raubmörder August Sternickel

war. Nach anfänglichem Leugnen gab der Verhaftete auch zu, Sternickel zu sein.

Er hatte sich nebst seinen Komplicen vom 13. bis 15. März 1913 vor dem Schwurgericht des Landgerichts Frankfurt a.d.O. zu verantworten. Die Stadt stand vollständig unter dem Eindruck dieses Raubmordprozesses. Schon in früher Morgenstunde flutete ein ungemein zahlreiches Publikum nach der Logenstraße, in der, von einem Vorgarten umgeben, das Landgerichtsgebäude belegen ist. Der Eingang zum Vorgarten war von einer dichten Kette von Polizeibeamten abgesperrt, die nur Personen, die im Besitz einer Eintrittskarte oder einer gerichtlichen Vorladung waren, passieren ließen. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landrichter Dr. Wrede. Die Anklage vertraten Erster Staatsanwalt Geh. Justizrat Naumann und Staatsanwalt Matthias. Die Verteidigung führten Justizrat stizrat Loeser (Frankfurt a.d.O.) für Sternickel, Justizrat Hauptmann (Frankfurt a.d.O.) für Georg Kersten, Rechtsanwalt Bahn und Rechtsanwalt Dr. Werthauer (Berlin) für Willy Kersten, Rechtsanwalt Dr. Donig (Berlin) für, Schliewenz. Kammergerichtspräsident Geh. Justizrat Dr. Heinroth, General-Staatsanwalt Wirkl. Geh. Oberjustizrat Supper und Kammergerichtsrat Dr. Buresch wohnten der Verhandlung bei.

Gegen 9 1/2 Uhr vormittags rollte der grüne, aus Berlin besorgte Gefangenenwagen durch die Straßen Frankfurts. Eine ungeheure Menschenmenge, zum Teil per Rad, eilte dem Wagen nach. Der Wagen fuhr in den Hof des Gerichtsgebäudes. Es entstiegen dem Wagen, unter starker polizeilicher Bedeckung, die vier Angeklagten, die sämtlich gefesselt waren. Sternickel war ein mittelgroßer, breitschultriger Mann mit halbem Kahlkopf und dunkelblondem Vollbart. Er machte keinen üblen Eindruck. Rechts und links von Sternickel saß ein Gendarm. Die drei anderen Angeklagten, der 1895 geborene Arbeiter Willy Kersten, der 1893 geborene Arbeiter Georg Kersten und der 1894 geborene Arbeiter Franz Schliewenz machten ebenfalls keinen schlechten Eindruck. Alle drei waren vollständig bartlos. Willy Kersten, der zur Zeit der Tat noch nicht 18 Jahre alt war, sah noch knabenhaft aus.

Nach geschehenem Zeugenaufruf bat der Vater des Angeklagten Schliewenz, der Verhandlung als Zuhörer beiwohnen zu dürfen. Der Vorsitzende gestattete das, da der Angeklagte Schliewenz minderjährig sei.

Es wurde alsdann der

Anklagebeschluß

verlesen. Danach wurden die Angeklagten beschuldigt, am 8. Januar 1913 zu Ortwig, Kreis Lebus, den Bauerngutsbesitzer Franz Kallies, dessen Gattin und das Dienstmädchen Anna Philipp vorsätzlich und mit Überlegung getötet zu haben, wobei sie Waffen bei sich führten, Sternickel außerdem, eine Strohmiete in Brand gesetzt zu haben. Sternickel gab darauf auf Befragen des Vorsitzenden an: Er sei am 11. Mai 1866 zu Maschanna, Kreis Rybnick, Oberschlesien, geboren, evangelischer Konfession. Seine Eltern seien, als er noch ein Knabe war, nach Loslau, Oberschlesien, gezogen und haben dort eine Bäckerei betrieben. Er habe das Müllerhandwerk erlernt und als Geselle mehrfach in Schlesien und Brandenburg gearbeitet.

Vors.: Sie sind mehrfach wegen Hausfriedensbruchs, Einbruchsdiebstahls und vorsätzlicher Körperverletzung mit Gefängnis und Zuchthaus bestraft.

Sternickel: Herr Präsident, das wird immer so geschoben, daß einer rein muß.

Vors.: Jedenfalls haben Sie die Strafen erhalten und auch verbüßt?

Sternickel: Jawohl, ich war zumeist unschuldig.

Vors.: Es schwebt gegen Sie noch ein Verfahren wegen Raubmordes und vorsätzlicher Brandstiftung wegen des bekannten Verbrechens im Dorfe Plagwitz bei Löwenberg in Schlesien, das kommt aber hier nicht zur Verhandlung.

Der Angeklagte schwieg.

Willy Kersten gab mit weinerlicher Stimme an: Er sei im Dezember 1895 zu Berlin geboren und unbestraft.

Georg Kersten gab an: Er sei 1893 zu Berlin geboren und bereits wegen Diebstahls bestraft.

Staatsanwalt Matthias: Gegen den Angeklagten Georg Kersten schwebt noch ein Verfahren wegen Diebstahls bei dem Landgericht Berlin I.

Angekl.: Da bin ich aber unschuldig.

Arbeiter Franz Schliewenz, 1894 in Punitz, Provinz Posen, geboren, war ebenfalls bereits wegen Diebstahls bestraft.

Vors.: Nun Sternickel, wollen Sie sich auf das Ihnen zur Last gelegte Verbrechen erklären?

Sternickel: Nein!

Vors.: Wollen Sie überhaupt nicht antworten?

Sternickel: Nein!

Vors.: Geben Sie vielleicht alles, was in der Anklage steht, zu?

Sternickel: Um Gotteswillen nicht!

Vors.: Na, dann wollen wir uns doch darüber unterhalten, halten, inwieweit Sie schuldig sind.

Sternickel nickte zustimmend und erzählte darauf auf Befragen des Vorsitzenden: Ich trat im Oktober 1912 bei Kallies in Dienst. Kallies verlangte Nachweis über meine Vergangenheit. Ich nannte mich Otto Schöne und sagte: Meine Papiere sind mir zumeist gestohlen worden. In den letzten Tagen des Dezember verreiste ich auf einige Tage.

Vors.: Wohin waren Sie gereist?

Angekl.:

Das ist mein Geheimnis, das will ich nicht sagen.

Vors.: Sie blieben drei Tage fort, wollen aber nicht sagen, wo Sie gewesen sind?

Sternickel: Nein, das sage ich nicht.

Vors.: Was geschah, als Sie zurückkamen?

Sternickel: Ich merkte, daß Kallies in der Kammer meine Sachen durchsucht hatte und daß mir eine Schürze fehlte. Ich stellte Kallies deshalb zur Rede und bekam mit ihm Streit. Ich faßte deshalb den Entschluß, mich an Kallies zu rächen.

Vors.: In welcher Weise wollten Sie sich rächen?

Sternickel: Ich wollte den Mann betäuben.

Sternickel erzählte darauf auf Befragen des Vorsitzenden: Da ich befürchtete, ich werde den Kallies, der sehr groß und stark war, nicht überwältigen können, so ging ich nach Müncheberg, um mich nach Helfern umzuschauen. Ich begab mich in Müncheberg in die Wanderherberge. Dort traf ich die drei Mitangeklagten. Ich fragte sie, da ich bemerkte, daß sie aus Berlin waren, ob sie

dufte Berliner

seien. Sie antworteten bejahend. Ich fragte weiter, ob sie mir helfen wollen, „ein Ding drehen?“ Sie erklärten sich sofort alle drei dazu bereit.

Vors.: Was haben Sie den drei jungen Leuten gesagt, was geschehen sollte?

Sternickel: Ich sagte, ich arbeite in Ortwig auf falsche Papiere und will meinen Dienstherrn, einen schwerreichen, aber geizigen Mann berauben.

Vors.: Sie sagten, der Mann hat 50000 Mark geerbt?

Sternickel: Nein, ich sprach nur von 15000 Mark.

Vors.: Sagten Sie den drei jungen Leuten nicht, daß es sich um einen Mord handelt?

Sternickel: Nein, ich sagte, wir wollen nur meinen Dienstherrn betäuben.

Vors.: Sie gingen nun mit den jungen Leuten sofort von Müncheberg nach Ortwig. Die drei jungen Leute schliefen bei Ihnen in der Kammer. Am folgenden Morgen weckten Sie frühzeitig die jungen Leute und erläuterten ihnen genau, was geschehen solle.

Sternickel: Jawohl.

Vors.: Was sagten Sie den jungen Leuten?

Sternickel: Ich gab einem einen Strick, wer das war, weiß ich nicht, und sagte: Ich werde in den Kuhstall gehen und sobald Kallies in den Kuhstall tritt, mit ihm Streit anfangen. Ich werde den Mann zu Fall bringen und ihm eine Schlinge um den Hals werfen. In demselben Augenblick werde ich pfeifen. Sie sollen alsdann alle drei sofort in den Kuhstall eilen und mir behilflich sein, den Mann zu überwältigen.

So geschah es auch. Als Kallies sich nicht mehr rührte, kam die Anna Philipp und begann die Kühe zu melken. Da ich befürchtete, das Mädchen werde uns verraten, warfen wir auch dem Mädchen einen Strick um den Hals. Als das Mädchen still war, gingen wir ins Wohnzimmer und warfen der im Bett liegenden Frau Kallies einen Strick um den Hals, um sie zu betäuben. Alsdann sperrte ich die Kinder des Kallies in einen Schrank, gab ihnen zu essen und zu trinken und forderte die Älteste auf, zu sagen, wo der Schlüssel zum Geldschrank liegt. Ich öffnete alsdann den Geldschrank. In diesem lagen 500 Mark, diese verteilte ich. Die drei jungen Leute zogen alsdann sehr bald fort. Als ich merkte, daß Kallies, die Frau und das Dienstmädchen tot waren, erschrak ich. Ich schaffte den Leichnam des Dienstmädchens in die Wagenremise, lud die Leichen von Kallies und Frau auf einen Wagen und fuhr mit den Leichen nach Ringenwalde. Dort legte ich die Leichen auf eine Strohmiete und setzte diese in Brand. Ich fuhr darauf nach Ortwig zurück. rück.

Vors.: Was taten Sie alsdann?

Sternickel: Ich fütterte das Vieh und gab auch den beiden Kindern der Kalliesschen Eheleute zu essen.

Vors.: Weinten die Kinder nicht?

Sternickel: Jawohl, ich suchte die Kinder zu trösten.

Vors.: Es kamen nun mehrere Leute und fragten nach den Kalliesschen Eheleuten?

Sternickel: Jawohl, ich sagte den Leuten, die Herrschaft ist zu einer Hochzeit gefahren und kommt erst nach einigen Tagen zurück.

Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden sagte Sternickel: Abends gegen sieben Uhr kam der Gendarm und sagte: In Ringenwalde sind die verkohlten Leichen der Kalliesschen Eheleute gefunden worden. Ich ergriff darauf die Flucht und kam am folgenden Morgen in Zellin an.

Vors.: Was haben Sie mit dem geraubten Gelde gemacht?

Sternickel: Ich wollte das Geld nicht haben und habe es deshalb fortgeworfen.

Vors.: Was war es für Geld?

Angekl.: Es war Gold- und Silbergeld.

Vors.: Wieviel Geld hatten Sie bei sich, als Sie in Zellin verhaftet wurden?

Sternickel: Ich hatte mir ein Paar Hosen gekauft und hatte noch 13 Mark bei mir.

Vors.: Woher stammte das Geld?

Sternickel: Ich hatte 8 Mark von Hause mitgebracht. Vors.: Was heißt das „von Hause“?

Sternickel: Das will ich eben nicht sagen.

Vors.: Also über Ihr „zu Hause“ verweigern Sie die Antwort?

Sternickel: Jawohl!

In Zeitungen wird immer viel mehr

geschrieben, als gewesen ist.

Vors.: Wodurch wissen Sie, was in den Zeitungen steht?

Sternickel: Man liest doch auch Zeitungen. Als 3000 Mark auf meine Ergreifung ausgesetzt wurden, haben die Zeitungen lauter Unwahrheiten geschrieben.

Vors.: Weshalb kauften Sie sich eine Hose?

Sternickel: Ich bin auf der Flucht nach Zellin in einen Graben gefallen und machte mir dadurch die Hose schmutzig.

Vors.: Mußten Sie sich denn nicht sagen, daß, wenn Sie den Leuten Schlingen um den Hals werfen und zuziehen, daß die Leute sterben können?

Sternickel: Daran dachte ich nicht; es sollte auch nicht so sehr zugezogen werden.

Vors.: Sie mußten sich aber sagen, daß Ihnen Ihre Flucht nichts nützen werde, da die Kinder sofort alles erzählen werden.

Sternickel: Man kannte mich doch bloß unter dem Namen Otto Schöne.

Vors.: Ach so, Sie glaubten, es werde Ihnen infolge Ihrer falschen Namensnennung wiederum wie nach dem Verbrechen in Plagwitz glücken, fortzukommen. Sie hatten aber das Pech, daß Sie am 9. Januar von einem Gendarmen verhaftet wurden?

Der Angeklagte schwieg.

Es wurde darauf zur

Vernehmung des Willy Kersten

geschritten. Dieser erzählte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich arbeitete noch Ende Dezember 1912 bei einem Bäckermeister in Berlin als Hausdiener. Am 31. Dezember 1912 ging ich meiner Arbeit verlustig. Ich ging darauf mit meinem Bruder Georg und Schliewenz auf die Wanderschaft.

Vors.: Sie hatten enge Beziehungen zu Schliewenz. Sie sind auch in einem Strafverfahren gegen Schliewenz in Berlin als Zeuge geladen?

Angekl. Jawohl.

Vors.: Von was lebten Sie auf der Wanderschaft.

Angekl.: Wir bettelten.

Vors.: Nun kamen Sie am 7. Januar nach Müncheberg und begaben sich dort auf die Herberge?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Am Abend des 7. Januar kam Sternickel auf die Herberge?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Was sagte Sternickel zu Ihnen?

Angekl.: Er fragte, ob wir „dufte Berliner“ sind.

Vors.: Das ist doch gerade keine schöne Anrede. Nun fragte Sternickel, ob Sie mit ihm ein Ding drehen wollen?

Angekl.: Jawohl. Der Angeklagte bemerkte darauf auf Befragen des Vorsitzenden: Sternickel sagte, Ihr seid doch sehr abgerissen. Ich arbeite in Ortwig auf falschen Papieren. Ich bin bei einem sehr reichen Bauerngutsbesitzer in Ortwig, der sehr geizig ist. Er hat jetzt 50000 Mark geerbt, die können wir holen. Wir erklärten uns bereit, mitzugehen. Unterwegs sagte Sternickel: Ich habe schon so manches Ding gedreht und bin immer glücklich fortgekommen. Wenn meine Komplicen gefaßt worden sind, dann hatten sie es ihrer eigenen Dummheit zuzuschreiben.

Vors.: Stiegen Ihnen nicht dabei Bedenken auf, daß Sie auch gefaßt werden können?

Angekl.: Wir dachten daran nicht. Der Angeklagte erzählte im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: Wir kamen spät nachts in Ortwig an und schliefen bei Sternickel in der Kammer. Am folgenden Morgen, als es noch ganz finster war, weckte uns Sternickel und erklärte uns nochmals: wir sollen in den Kuhstall kommen, sobald er pfeifen werde. Er werde im Kuhstall mit Kallies Streit anfangen, ihn zur Erde werfen und ihn alsdann fesseln. Als wir in den Kuhstall kamen, lag Sternickel auf dem Mann. Der Mann suchte sich zu wehren und schrie: Otto, Otto, laß mich doch leben. Sternickel sagte:

Du Aas, dir werde ick wat!

Mein Bruder und Schliewenz hielten den Mann fest und Sternickel warf ihm eine Schlinge um den Hals. Ich machte den Versuch, dem Mann mein Taschentuch in den Mund zu stopfen. Der Mann biß aber so fest die Zähne zusammen, daß ich ihm das Taschentuch nicht in den Mund stopfen konnte. Als der Mann ruhig, das Gesicht zur Erde gesenkt, dalag, kam das Dienstmädchen und wollte die Kühe melken. Das Mädchen fragte, was mit Kallies los sei. In diesem Augenblick warf Sternickel das Mädchen zur Erde und warf ihm ebenfalls eine Schlinge um den Hals. Das Mädchen schrie auch: Otto, Otto, laß mich doch leben. Als das Mädchen auch still war, ging ich in den Pferdestall und

steckte mir eine Zigarette an.

Vors.: Nachdem Sie dem Sternickel geholfen hatten, zwei Menschen niederzuschlagen, hatten Sie noch soviel Kaltblütigkeit, in den Pferdestall zu gehen und sich eine Zigarette anzustecken?

Der Angeklagte schwieg. Er erzählte darauf weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Sehr bald kam Sternickel und forderte mich auf, ins Wohnhaus mitzukommen. kommen. Wir gingen alle vier in das Wohnzimmer. In diesem lag Frau Kallies noch zu Bett und schlief. Sternickel warf der Frau auch eine Schlinge um den Hals, so daß sie nicht mehr schreien konnte. Dann gingen wir in eine Kammer, in der die zwei Töchter der Kalliesschen Eheleute schliefen. Die Kinder erwachten und begannen zu schreien. Sternickel sagte: Seid ruhig, es passiert euch nichts. Mir gab Sternickel einen Revolver mit dem Auftrage,

wenn die Kinder schreien sollten, solle

ich sie totschießen.

(Bewegung im Zuhörerraum.)

Vors.: War der Revolver geladen?

Angekl.: Ich weiß es nicht genau, ich glaube aber, er war geladen. Die Kinder blieben ruhig. Sternickel schloß darauf den Geldschrank auf und nahm 500 Mark heraus. Ich bekam 120 Mark. Darauf fuhren wir nach Berlin. In Berlin kaufte ich mir einen Anzug und Wäsche für 80 Mark und einen Revolver für 4 Mark. Alsdann besuchten wir mit Mädchen mehrere Lokale in der Münzstraße und am Grünen Weg.

Vors.: Sie besuchten auch ein Tanzlokal?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Sie haben dort getanzt?

Angekl.: Nein, ich kann nicht tanzen, ich habe nur zugesehen. Wir haben alsdann mit zwei Mädchen in einem Gasthof in der Koppenstraße übernachtet; ich habe aber allein in einem Zimmer geschlafen.

Vors.: Was zahlten Sie für das Zimmer?

Angekl.: 3 Mark und 1 Mark für Frühstück.

Vors.: Als Sie nun abends in der Gastwirtschaft von Lehmann verhaftet wurden, hatten Sie das ganze Geld ausgegeben?

Angekl.:

Ich hatte noch 15 Pfennig.

Vert. R.-A. Bahn: Wenn Ihnen Sternickel gesagt hätte, es sollen drei Menschen ermordet werden, wären Sie alsdann auch mitgegangen?

Angekl.: Nein, dann wäre ich nicht mitgegangen.

Vors.: Mußten Sie sich denn nicht sagen, daß, wenn man einem Menschen eine Schlinge um den Hals wirft und zuzieht, der Mensch sterben kann?

Angekl.: Daran habe ich nicht gedacht.

Auf eine Frage des Verteidigers R.-A. Bahn bemerkte der Angeklagte: Sein Vater sei Fleischer, die Mutter gehe waschen. Sie seien sechs Geschwister, drei Knaben und drei Mädchen. Seine Eltern und alle seine Verwandten seien sehr anständige Leute.

Vors.: Hatten Sie sich denn um das Schicksal der gefesselten Menschen bekümmert?

Angekl.: Jawohl, Sternickel sagte aber:

Die schnarchen gut!

Der Angeklagte Georg Kersten äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Ich und auch Schliewenz gingen der Arbeit in Berlin verlustig, da wir an einer Geschlechtskrankheit litten. Ich begab mich darauf mit Schliewenz und meinem Bruder Willy auf die Wanderschaft. Wir verschafften uns den Unterhalt durch Betteln. Als Sternickel sich in der Herberge in Müncheberg an unseren Tisch setzte, hielten wir ihn für einen Gutsbesitzer. Er gab sich auch als solcher aus und sagte: Er brauche mehrere Leute. Schließlich machte er uns den Vorschlag, mit ihm

ein Ding zu drehen.

Vors.: Sie verstanden darunter, es sollte ein Verbrechen begangen werden?

Angekl.: Sternickel sagte, es gibt ein großes Stück Geld zu holen, von einem Morde war keine Rede.

Der Angeklagte erzählte darauf, ebenso wie sein Bruder, in welcher Weise das Verbrechen ausgeführt wurde. Nachdem Kallies und das Dienstmädchen still waren, gingen wir alle drei in den Pferdestall und zündeten uns jeder eine Zigarette an. Sternickel kam aber sehr bald und sagte: Hier dürft Ihr nicht bleiben, da könnte die Sache leicht entdeckt werden. Sternickel forderte uns auf, mit in das Wohnzimmer zu kommen, um auch die Frau Kallies zu betäuben. Nachdem dies geschehen war, wollte Sternickel

auch den Kindern eine Schlinge um den Hals werfen,

er hatte die Schlinge bereits in der Hand. Wir hielten ihn aber davon ab. (Allgemeine Bewegung.)

Vors.: Wer von Ihnen hielt Sternickel von der Ermordung der Kinder ab?

Angekl.: Wir alle drei. Ich sagte zu Sternickel: Die Kinder werden schon ruhig bleiben. Ich machte auch den Vorschlag,

die Kinder in den Schrank zu sperren.

Vors.: Da bekamen doch aber die Kinder keine Luft?

Angekl.: Sie wurden bald wieder herausgelassen.

Vors.: Sie haben bereits in der Voruntersuchung gesagt: Sie hatten die Empfindung, daß alle drei Personen getötet werden sollen.

Angekl.: Allerdings, Sternickel sagte aber: er wolle einmal in den Kuhstall gehen und sehen, ob Kallies und das Mädchen schon aufgewacht seien.

Vors.: Sie glaubten aber nicht, daß das Ernst war?

Der Angeklagte zuckte schweigend die Achseln. Er erzählte im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: Sternickel bekam den Geldschrank nicht auf, ich wußte aber Bescheid und schloß auf. Ich bekam 120 Mark. Sternickel machte den Vorschlag, wir sollten noch einen Tag dableiben. Wir zogen es aber vor, so schnell als möglich fortzukommen. Wir tranken auf dem Bahnhof in Sietzing Kaffee und fuhren über Eberswalde nach Berlin. In Berlin kleideten wir uns sämtlich neu ein. Ich kaufte mir einen Anzug, Wäsche, Stiefel und einen Hut. Wir besuchten alsdann mit Mädchen, mehrere Vergnügungslokale und gingen auch nach der Krautstraße in ein Tanzlokal.

Vors.: Dort haben Sie die halbe Nacht getanzt?

Angekl.: Jawohl, wir gingen alsdann mit zwei Mädchen in einen Gasthof in der Koppenstraße.

Vors.: Sie wurden am folgenden Abend mit Schliewenz zusammen in der Gastwirtschaft von Lehmann am Grünen Weg verhaftet. Es war das zu einer Zeit, als Sie die Verhaftung Ihres Bruders Willy bereits in Zeitungen gelesen hatten?

Angekl.: Jawohl, ich wollte mich deshalb auch selbst stellen.

Vors.: Sie wollten sich selbst stellen, da Sie wußten, daß Sie sehr bald verhaltet werden?

Angekl.: Jawohl.

Vors.: Wieviel Geld hatten Sie noch, als Sie verhaftet wurden?

Angekl.: 12 Mark 5 Pfennig.

Angekl.: Schliewenz äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Wir haben mehrfach auf unserer Wanderschaft um Arbeit angefragt, konnten aber nirgends Arbeit erhalten. In Müncheberg bekamen wir für zwei Tage Arbeit, nur Willy Kersten hatte noch länger Arbeit. Als sich Sternickel in Müncheberg in der Herberge an unsern Tisch setzte, glaubten wir, der Mann suche Arbeiter. Er sagte auch, er könne sofort einige Arbeiter brauchen. Schliewenz erzählte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden, daß Sternickel den Vorschlag machte, ein Ding zu drehen. Es handle sich um zwei alte Leute, die sehr reich, aber sehr geizig seien! Er wollte sich zunächst nicht beteiligen, sondern trat zu Fuß den Rückweg nach Berlin an. Auf der Chaussee traf er Sternickel mit den beiden Kersten. Er schloß sich diesen an. Unterwegs blieb ich vor Schwäche liegen, so erzählte Schliewenz weiter, unter heftigem Weinen. Ich hatte schon lange nichts gegessen. Sternickel und die Kersten halfen mir auf und gingen mit mir im nächsten Dorf in eine Gastwirtschaft. Dort aß ich etwas.

Vors.: Wer hat das bezahlt?

Angekl.: Sternickel bezahlte drei Groschen für mich. Alsdann gingen wir weiter. Ich wußte noch nicht, was gemacht werden sollte. Erst später sagte Sternickel: Ich will den alten Leuten eine Schlinge um den Hals werfen und alsdann den Geldschrank ausrauben. Ich schlief die ganze Nacht in der Kammer des Sternickel. Erst am folgenden Morgen sagte Sternickel: Wir wollen die alten Leute fesseln, so daß sie betäubt werden. Sternickel sagte, er sei mit dem Manne wegen Lohn in Streit geraten.

Schliewenz erzählte im weiteren in derselben Weise wie die Angeklagten Kersten. Sehr bald war Kallies still. Sternickel sagte: Das dauert mindestens eine Stunde, ehe der Mann wieder aufwacht!

Vors.: Glaubten Sie denn das?

Schliewenz: Das konnte ich nicht wissen.

Vors.: Mußten Sie sich denn nicht sagen, daß bei dieser Art des Betäubens der Tod des Betäubten eintreten könnte?

Schliewenz: Daran dachte ich nicht.

Im weiteren sagte Schliewenz: Das Dienstmädchen wurde auch bläulich im Gesicht und strampelte mit den Beinen. Sternickel forderte mich deshalb auf, dem Mädchen die Beine zusammenzubinden. Ich glaubte auch, daß das Mädchen nur betäubt sei. Sternickel sagte: Vor einer Stunde wacht das Mädchen nicht auf. Ich wollte mich an der ganzen Sache nicht beteiligen, weil sie mir zuwider war. Georg Kersten sagte auch: „Die werden wohl sterben.“

Vors.: Weshalb gingen Sie nicht ab, wenn Ihnen die Sache zuwider war?

Der Angeklagte schwieg.

Auf ferneres Befragen äußerte der Angeklagte: Er habe gesehen, wie Sternickel die Schlinge um den Hals legte. Er und Georg Kersten, mit dem er zusammen in dem Stalle war, haben sich in keiner Weise beteiligt, sondern nur zugesehen.

Nach einiger Zeit sagte Sternickel: Der Bauer röchelt sehr, er hat gebeten, ihn loszubinden. Als der Geldschrank geöffnet war, waren nur ich und Georg Kersten dabei, Wilhelm Kersten war bei den Kindern und gab diesen zu essen. Es war in dem Geldschrank zumeist Papiergeld. Ich bekam 115 Mark. Sternickel forderte uns auf, noch dazubleiben, er wolle sofort Kaffee kochen und Essen zubereiten. Er wolle alsdann die Leute losbinden und darauf mit einem Zweirad nach Berlin fahren. Sternickel wollte auch die Kinder binden, wir haben ihn aber zurückgehalten. Georg Kersten schlug vor, die Kinder in den Schrank zu sperren. Wir lehnten den uns von Sternickel angebotenen Kaffee ab und gingen nach Sietzing. Wir haben in Sietzing in einem Lokal bis 11 1/2 Uhr gesessen und sind alsdann nach Berlin gefahren. Der Angeklagte erzählte alsdann in gleicher Weise, wie die Angeklagten Kersten: Sie seien in der folgenden Nacht mit der Darsch und einem Mädchen, das in Prostituiertenkreisen

„die Schmalzbacke“

genannt wird, durchgegangen. Gegen Morgen seien sie in einen Gasthof in der Koppenstraße gegangen und haben mit den beiden Mädchen bis nachmittags vier Uhr geschlafen. Am folgenden Tage vormittags gingen wir in die Gastwirtschaft von Lehmann am Grünen Weg und frühstückten. Nachmittags hörten wir, daß Willy Kersten verhaftet worden sei. Wir gingen abends auf die Radrennbahn und blieben dort bis zum andern Morgen. Alsdann begaben wir uns in einen Gasthof in der Gollnowstraße. Dort schliefen wir einige Stunden und gingen darauf zu Lehmann am Grünen Weg. Bei Lehmann wurden wir ebenfalls verhaftet. Ich hatte fast mein ganzes Geld verausgabt gehabt.

Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts sagte Schliewenz: Er wollte schließlich dem Kallies helfen, Sternickel habe ihn aber aufgefordert, ruhig zu sein und ihn mit einem Revolver bedroht.

Im weiteren Verlauf bemerkte der Angeklagte Schliewenz auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Donig: Er sei nicht der Meinung gewesen, daß es sich um einen Mord handle. Er glaubte, Kallies sollte nur betäubt werden.

Vors.: Wenn Sie gewußt hätten, daß es sich um einen Mord handelt, würden Sie alsdann den Kallies auch festgehalten haben?

Der Angeklagte schwieg.

Vert. R.-A. Dr. Donig: Wollte sich der Angeklagte an einem Morde oder nur an einem Diebstahl beteiligen?

Schliewenz: Ich wollte mich nur an einem Diebstahl beteiligen.

Vors.: Nun, Sternickel, die Sache verhält sich doch etwas anders, als Sie angegeben haben.

Sternickel: Das wird sich ja alles noch herausstellen. Ich behaupte wiederholt, daß ich niemandem die Schlinge um den Hals gelegt habe, das hat

der mit dem grauen Anzug

getan.

Vors.: Das soll Georg Kersten gewesen sein. Sie behaupten also, daß allen drei Ermordeten der junge Mann mit dem grauen Anzug die Schlinge um den Hals gelegt hat?

Sternickel: Jawohl.

Vors.: Die Schlinge haben Sie dem Georg Kersten gegeben?

Sternickel: Ich habe ihm nur einen Strick gegeben.

Vors.: Sie bleiben also bei Ihrer Aussage, nur daß Sie jetzt behaupten, nicht Sie, sondern Georg Kersten habe allen drei Personen die Schlinge um den Hals gelegt?

Sternickel: Jawohl.

Willy Kersten versicherte mit weinender Stimme: „Ich bin bei der Betäubung des Dienstmädchens nicht zugegen gewesen. Ich habe draußen gestanden und aufgepaßt, ob jemand kommt.“

Sternickel: Das muß ich allerdings bestätigen.

Georg, Kersten: Ich habe niemandem eine Schlinge um den Hals gelegt, das hat in allen drei Fällen Sternickel getan.

Schliewenz: Das kann ich auch bestätigen. Bei dem Betäuben des Dienstmädchens waren wir alle drei und Sternickel im Stall.

Vors.: Es ist nun festgestellt, daß Frau Kallies zu Lebzeiten einen heftigen Schlag auf den Kopf erhalten hat.

Sternickel: Ich habe der Frau keinen Schlag auf den Kopf gegeben.

Vors.: Wo ist der Hammer, mit dem Sie die Fenster zugenagelt haben?

Sternickel: Ich habe niemals einen Hammer besessen.

Die drei anderen Angeklagten erklärten ebenfalls, daß sie einen Hammer nicht gesehen haben.

Angekl. Schliewenz: Ich habe keinen Hammer, aber einen sehr dicken Stock bei Sternickel gesehen.

Vors.: Wo mag der Stock geblieben sein?

Schliewenz: Das weiß ich nicht.

Der Vorsitzende erklärte darauf die Vernehmung der Angeklagten für geschlossen. Es wurde alsdann in die

Beweisaufnahme

eingetreten. Der erste Zeuge war Gerichtsassessor Dr. Anders (Wriezen). Er gab eine eingehende Schilderung des Kalliesschen Gehöfts in Ortwig. Sodann wurde das Augenscheinsprotokoll verlesen.

Darauf bekundete Gerichtsassessor Dr. Anders über die Vernehmung Sternickels auf dem Kalliesschen Gehöft.

Auf Befragen des Vert. R.-A. Donig bekundete der Zeuge: Er habe Blutspuren nicht gefunden. Im Wohnzimmer zimmer sei

ein Hammer gefunden

worden.

Alsdann wurde Kriminalkommissar Nasse 1 (Berlin) als Zeuge aufgerufen.

Vor dieser Vernehmung gab Sternickel auf Befragen zu: Es sei ihm bekannt gewesen, daß sein Dienstherr Kallies Sparkassenrendant und Steuererheber in Ortwig war. Er nahm daher an, daß Kallies sehr viel Geld im Hause habe. Von einer Erbschaft wußte er nichts, er habe das nur den Jungen Leuten vorgeschwindelt. Kriminalkommissar Nasse 1 schilderte dann in ausführlicher Weise die erste Vernehmung, die er mit Sternickel vorgenommen habe. Sternickel habe behauptet: Er habe lediglich aus Rache gehandelt, er wollte deshalb die Leute nur betäuben, aber nicht ermorden. Trotz eingehendster Untersuchung habe er

Blutspuren nirgends gefunden.

Sternickel habe vom Herbst 1911 bis Oktober 1912 mit einer jungen Dame, namens Hampe, ein Liebesverhältnis unterhalten. Er habe bei Sternickel Säcke mit Getreide im Bett gefunden. Sternickel sagte, er habe die Säcke von der Hampe erhalten. Sternickel gab dies im wesentlichen zu und bemerkte: Er habe an zwei verschiedenen Stellen eine Kaninchenzucht unterhalten.

Vors.: Wo war das?

Sternickel: Eine Kaninchenzucht war in Adlig-Reetz, die andere war bei uns zu Hause.

Vors.: Dieses „zu Hause“ wollen Sie nicht nennen?

Sternickel: Nein, ich will alles sagen, das kann ich aber nicht sagen,

ich kann unmöglich meine Frau blamieren.

Vors.: Sie sind verheiratet?

Sternickel: Jawohl.

Der Kriminalkommissar bekundete im weiteren: Sternickel habe angegeben, daß er 8000 Mark vergraben habe. Als man an der angegebenen Stelle nachgrub, wurde aber nichts gefunden.

Sternickel bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe einige tausend Mark bei dem Mühlenbrand in Plagwitz gefunden. Etwas Geld habe er selbst besessen, im ganzen sind es 8000 Mark.

Vors.: Wo haben Sie die 8000 Mark vergraben?

Sternickel:

Das wird nicht verraten!

(Große Heiterkeit.)

Vors.: Ich muß doch dringend bitten, in einer so ernsten Sache alle Heiterkeit zu unterdrücken. Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Bahn bekundete Kriminalkommissar Nasse: Er habe festgestellt, daß Sternickel das Verbrechen in Plagwitz begangen habe.

Sternickel: Ich bestreite, daß ich das Verbrechen in Plagwitz verübt habe, das haben die beiden Pietsch gemacht!

Kriminalkommissar Nasse gab alsdann an der Hand von Photographien eine Schilderung von der Örtlichkeit der Kalliesschen Besitzung in Ortwig.

In der Dunggrube, so bekundete der Kriminalkommissar, habe er neben dem roten Taschentuch ein weißes Laken gefunden. Er habe deshalb angenommen, daß das Laken auch eine Rolle bei der Ermordung gespielt habe.

Sternickel: Das ist nicht wahr, das Laken ist in keiner Weise benutzt worden.

Im weiteren bekundete der Kommissar, daß er auch in Adlig-Reetz bei Hampe und auch in der Kammer des Sternickel Stricke gefunden habe.

Sternickel: In meiner Kammer sind keine Stricke gefunden worden, das sage ich Ihnen auf den Kopf. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Der Kommissar bekundete ferner: Bei Hampe in Adlig-Reetz habe er noch drei dem Sternickel gehörige Peitschen gefunden.

Sternickel:

Das ist ja Mumpitz,

Peitschen sind nicht gefunden worden. Ich bin allerdings seit März 1912 nicht mehr bei Hampe gewesen.

Vors.: Na also, da können Sie doch auch gar nicht wissen, was bei Hampe gelegen hat.

Es sollten alsdann

die beiden Kinder der ermordeten Kalliesschen Eheleute

vernommen werden.

Vert. R.-A. Bahn beantragte, während der Vernehmung dieser beiden Zeugen den Angeklagten Sternickel abzuführen.

Nach sehr langer Beratung beschloß der Gerichtshof, den Antrag abzulehnen, da eine Befürchtung, daß die Mädchen infolge der Anwesenheit des Sternickel mit der Wahrheit zurückhalten werden, nicht vorliegt.

Darauf wurde die älteste Tochter der Kalliesschen Eheleute, Margarete Kallies, in tiefe Trauer gekleidet, als Zeugin in den Saal gerufen. Es war ein sehr hübsches Mädchen, das am 4. Februar 1913 16 Jahre alt geworden ist. Die Zeugin bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Der Vater hat oftmals auf den Knecht Otto Schöne geschimpft. Weshalb das geschah, weiß ich nicht. Am Morgen des 8. Januar wachte ich, es war noch finster, plötzlich auf. Ich hörte Männer, die mit meiner Mutter sprachen. Plötzlich trat ein junger Mann in mein Zimmer. Ich und auch meine Schwester schrien. Der Mann sagte:

Seid ruhig, sonst werdet ihr erschossen.

Der Mann zeigte einen Revolver und lud ihn. Er griff nach meinem Hals und würgte mich.

Vors.: Welcher war das?

Die Zeugin zeigte auf Willy Kersten.

Bald darauf trat Otto Schöne ins Zimmer zu uns. Er rief die andern, sie sollen reinkommen, damit wir gefesselt werden. Ich bat, uns nicht zu fesseln, wir wollten ganz ruhig sein. Schöne schloß uns in den Schrank ein und sagte: Wenn jetzt jemand kommen sollte, so schieße ich ihn nieder. Nach einiger Zeit ließ uns Schöne aus dem Schrank heraus und gab uns Kaffee und Semmel. Er sagte uns: er habe Vater und Mutter und das Dienstmädchen Anna Philipp gebunden. Vater und das Mädchen liegen im Kuhstall.

Schöne schloß uns alsdann ein, brachte uns aber Essen. Ich sagte zu Schöne: Die Eltern sind wohl tot? Nein, nein, die leben noch, antwortete er. Die Zeugin bekundete im weiteren: Sie habe dem Schöne sagen müssen, wo die Geldschrankschlüssel liegen.

Auf Befragen des Staatsanwalts Matthias bekundete die Zeugin: Willy Kersten habe in ihrer (der Zeugin) Kommode gewühlt. In der Kommode lag ihr Portemonnaie, in dem etwa eine Mark enthalten war. Das Portemonnaie war verschwunden.

Auf Befragen des Verteidigers, Rechtsanwalts Dr. Donig, bekundete die Zeugin: Ihr Vater habe sein Befremden über die Stricke ausgedrückt, die in der Kammer des Knechts gefunden wurden. Es sei allerdings richtig, daß ihr, außer daß sie von Willy Kersten gewürgt würgt worden, nichts geschehen sei. Die jungen Männer haben zu Schöne gesagt: „Ach nicht doch, wir wollen sie einsperren.“ Es habe ihr geschienen, als ob Schöne sie auch fesseln wollte. Einen Schrei habe sie nicht gehört, wohl aber hörte sie einen dumpfen Fall.

Die Zeugin wurde darauf vereidet. Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Angekl. Sternickel: In der Baukammer habe ein Hammer, ein Beil und eine Feile gelegen.

Darauf wurde die jüngste Tochter der Kalliesschen Eheleute, die 11jährige Marie Kallies als Zeugin in den Saal geführt. Sie erinnerte sich genau, daß eines Morgens, als sie noch schliefen, fremde Männer in das Zimmer zur Mutter traten. Die Mutter habe geschrien: Grete, Grete! Es kam alsdann ein Mensch zu ihnen mit einem Revolver und habe die Schwester gewürgt. Ihr habe der Mann nichts getan.

Am zweiten Verhandlungstage nahm nach Eröffnung der Sitzung das Wort Staatsanwalt Matthias: Herr Kriminalkommissar, was erzählten Ihnen die Töchter der Kalliesschen Eheleute, insbesondere die jüngere?

Kriminalkommissar Nasse 1: Die jüngere erzählte mit vollster Bestimmtheit: Als die Männer in die Stube der Mutter getreten waren, schrie die Mutter sehr ängstlich: „Grete, Grete!“

Postaushelfer Pahl: Er habe am 8. Januar nach den Kalliesschen Eheleuten gefragt, da er einen Geldbrief abzuliefern hatte. Der Knecht Schöne sagte ihm: Die Herrschaft ist zu einer Hochzeit gefahren, sie kommt wahrscheinlich erst in einigen Tagen zurück.

Dachdecker Haskey und Amtsdiener Schuster bekundeten dasselbe. Amtsdiener Schuster bekundete noch: Dieselben Wahrnehmungen haben mehrere Leute gemacht. Allen sei von dem Knecht gesagt worden: die Herrschaft sei zu einer Hochzeit gefahren. Als ein Polizeibeamter die Nachricht brachte, es seien in Ringenwalde zwei verkohlte Leichen, eine männliche und eine weibliche, gefunden worden, habe er Verdacht geschöpft. Ehe er zur Verhaftung des Knechts schreiten konnte, war dieser verschwunden.

Amtsvorsteher Schumann: Er sei Amtsvorsteher von Ringenwalde. Am Spätnachmittag des 8. Januar wurde er telephonisch benachrichtigt, daß eine Strohmiete verbrannt sei und auf der Brandstätte zwei verkohlte Leichen gefunden wurden. Gleichzeitig wurde ihm gemeldet, daß die Kalliesschen Eheleute in Ortwig vermißt werden. Er habe sich sofort nach Ortwig begeben. Dort wurde ihm gemeldet, der Knecht habe allen Leuten, die nach den Kalliesschen Eheleuten gefragt haben, gesagt:

Die Herrschaft sei schon seit einigen.

Tagen zu einer Hochzeit gereist.

Er wollte die Verhaftung des Knechts veranlassen, dieser war aber bereits vom Gehöft verschwunden. Er, Zeuge, habe im Wohnzimmer einen Hammer gefunden.

Auf Befragen des Staatsanwalts Matthias bekundete der Zeuge weiter: Kallies war 1,78 Meter groß und sehr kräftig. Die Frau war bedeutend kleiner und schwächlich. Kallies erfreute sich in Ortwig der größten Hochachtung. Er war Mitglied der Steuereinschätzungskommission, Steuer- und Sparkassenrendant. Es war anzunehmen, daß er in den ersten Tagen des Januar größere Summen Geldes hatte. Kallies war auch ein sehr tüchtiger Landwirt und ein sehr fleißiger Mann. Auf Befragen des Vert. J.-R. Loeser bekundete der Zeuge: Kallies habe sein Dienstmädchen sehr gut behandelt.

Gärtner Malchow bekundete im wesentlichen dasselbe wie die vorhergehenden Zeugen. Er habe Verdacht geschöpft, da er sich nicht denken konnte, daß die Kalliesschen Eheleute so lange verreist seien.

Gendarmeriewachtmeister Kluge, der am 10. Januar in Zellin (Kreis Königsberg, Nm.) Sternickel verhaftet hatte, schilderte in sehr ausführlicher Weise, in welcher Art er die Spuren Sternickels verfolgt und schließlich seine Verhaftung bewirkt habe. Er war mehrfach dem Raubmörder dicht auf den Fersen. Endlich gelang es ihm, den Mann in einer Gastwirtschaft festzunehmen. Sternickel sagte, er sei

„der faule Paul“.

Er sei aus Ritz, wo er zuletzt gearbeitet habe.

Ich sagte ihm, so führte Gendarmeriewachtmeister Kluge weiter aus: Sie sind Knecht bei Kallies in Ortwig gewesen und sind ausgerissen, weil Sie die Kalliesschen Eheleute und das Dienstmädchen Philipp ermordet haben!

Sternickel bestritt das. Schließlich gestand er, daß er der gesuchte Knecht aus Ortwig sei, setzte jedoch sogleich hinzu:

Ich bin aber vollständig unschuldig, Herr Wachtmeister, das haben die Berliner gemacht!

Diese wollten sicher das ganze Gehöft in Brand stecken. Sie wollen im übrigen heute abend wiederkommen. Passen Sie in Ortwig auf, damit Sie die Bengels, wenn sie ankommen, sofort festnehmen können.

Sternickel: Der Herr Wachtmeister hat vollständig die Wahrheit gesagt, nur das letzte ist falsch.

Schmiedemeister Pieper (Wriezen): Im November 1912 kam Sternickel zu mir nach Wriezen. Er nannte sich Philipp und sagte, er habe in Ortwig von einem Onkel eine große Wirtschaft geerbt. Diese wolle er verkaufen und nach Wriezen ziehen. Er suche deshalb eine Dreizimmerwohnung mit Stallung und Remise. Er wollte, wenn er nicht alles Vieh verkaufen könnte, den Rest in Wriezen verauktionieren. Sternickel machte auf mich einen verdächtigen Eindruck, obwohl er in Wriezen Mitglied des Radfahrervereins war. Sternickel hatte sich nach dieser Unterredung nicht mehr sehen lassen.

Sternickel: Ich wollte allerdings die Wohnung in Wriezen mieten, meine Frau wollte aber nicht nach Wriezen ziehen.

Gastwirt Krohn (Wriezen): Sternickel hat im vorigen Jahre einige Male in meiner Gastwirtschaft verkehrt. Er erzählte, er habe

von einem reichen Onkel in Ortwig

eine Gastwirtschaft geerbt. Er wolle diese verkaufen und nach Wriezen ziehen. Aus dem Wriezener Radfahrerverein ist Sternickel wegen begangener Unregelmäßigkeiten im August 1912 ausgeschlossen worden. Er nannte sich Philipp.

Gutsbesitzer Saenger: Sternickel war im Jahre 1909 einige Monate auf dem Gute meines Vaters bedienstet. Er war ein ausgezeichneter Arbeiter. Einige Leute sagten, daß der Mann, der sich

Anton Groß

nannte, einen unheimlichen Blick habe. Ich und auch mein Vater haben das nicht wahrgenommen. Wir waren derartig mit den Leistungen des Knechts zufrieden, daß wir darüber hinwegsahen. Ich und auch mein Vater bedauerten, daß der Mann schließlich von uns wegzog.

Vors.: Weshalb ging er denn weg?

Zeuge: Er fühlte sich beleidigt. Mir war sein Weggang um so unangenehmer, da ich gerade auf längere Zeit verreisen wollte.

Kreisausschußassistent Böhmisch: Kallies war Steuer- und Sparkassenrendant und auch Rendant des Ortwiger Gesamtschulverbandes. Er halte stets viel Geld im Geldschrank aufbewahrt.

Meier Herzberg (Ringenwalde), der die verkohlten Leichen zuerst entdeckt hat, schilderte die Beschaffenheit der Leichen. Er habe selbstverständlich sofort Anzeige erstattet. In der Miete waren 6 bis 800 Zentner Stroh enthalten. Ob die Miete versichert war, wisse er nicht. Beide Leichen hatten Stricke um den Hals.

Pferdeknecht Dosdahl (Ringenwalde): Am 8. Januar nachmittags sah er die Miete in Flammen aufgehen. In diesem Augenblicke begegnete er einem Fuhrwerk, das dieser Mann (auf Sternickel deutend) kutschierte. Die Pferde schienen einen weiten Weg in vollem Trabe gemacht zu haben. Die Pferde rauchten vor Schweiß. Die Strohmiete sei von Ortwig zwei starke Meilen entfernt.

Schlosser Henschel, der am 8. Januar nachmittags gegen 6 1/4 Uhr vom Amtsvorsteher Schumann in das Kalliessche Gehöft gerufen wurde, schilderte den Befund der Kalliesschen Wohnung.

Hierauf wurde die 20jährige Elisabeth Klehmer (Berlin), die in Prostituiertenkreisen „die Schmalzbacke“ genannt wird, als Zeugin vernommen: Ich kenne die Angeklagten Kersten und Schliewenz seit vorigem Sommer. Am Abend des 8. Januar kam ich mit meiner Freundin, der Grete Darsch, nach dem Bierlokal Markiel in der Wrangelstraße. Die Angeklagten waren

alle drei betrunken und ungemein lustig.

Sie waren auch alle drei neu gekleidet, hatten neue Hüte und neue Stiefel. Ich fragte, wodurch sie zu der neuen „Kluft“ gekommen sind. Willy Kersten sagte: Wir haben

bei einem Bauer gearbeitet und viel Geld verdient.

Vors.: Glaubten Sie das?

Zeugin: Jawohl.

Vors.: Sie dachten nicht, daß das Geld auf unredliche Art erworben sein könnte?

Zeugin: Nein!

Auf weiteres Befragen bekundete die Zeugin: Von Markiel gingen wir in verschiedene Lokale, sangen und tranken verschiedene Becher. Wir waren auch in der Fehrbelliner Straße in einem Kino. Schließlich gingen wir in einen Gasthof in der Koppenstraße. Dort nächtigten wir in zwei Zimmern bis am anderen Abend um sieben Uhr. Alsdann gingen wir in das Lokal von Lehmann am Grünen Weg. Georg Kersten gab mir und der Darsch je 20 Pf. und sagte, wir sollten ten nach der Fehrbelliner Straße ins Kino gehen, sie würden nachkommen. Sie kamen aber nicht. Am darauffolgenden Abend sah ich Georg Kersten und Schliewenz am Grünen Weg in die Gastwirtschaft von Lehmann gehen. Sie waren beide sehr niedergeschlagen. Das fiel mir um so mehr auf, da sie am Tage vorher sehr lustig waren.

Vors.: Hatten Sie nicht inzwischen gelesen, daß Willy Kersten wegen Mordes verhaftet worden war?

Zeugin: Ich habe das in Zeitungen gelesen, ich weiß aber nicht mehr genau, wann das war.

Schliewenz bestritt, daß er betrunken war; er trinke sehr wenig. Er war auch nicht sehr lustig.

Auch die Angeklagten Kersten bestritten, angetrunken gewesen zu sein. Die Grete Darsch war nicht erschienen; es wurde beschlossen, das Berliner Polizeipräsidium telephonisch zu ersuchen, die Darsch sofort nach Frankfurt a.d.O. zu transportieren.

Der 20jährige Arbeiter Finke (Berlin) bekundete: Er sei mit den Angeklagten Kersten und Schliewenz und zwei Mädchen am 8. Januar abends in verschiedenen Lokalen und auch in einem Kino in Berlin gewesen. Sie seien auch einige Male Autodroschke gefahren. Die Angeklagten, die von Kopf bis Fuß neu gekleidet waren, waren ungemein lustig.

Der 20jährige Arbeiter Weißhaupt (Berlin) schloß sich im wesentlichen den Aussagen des Vorzeugen an. Die Angeklagten haben an dem einen Abend 40-50 Mark ausgegeben:

sie haben verschiedene Leute freigehalten.

Auf Befragen des Verf. R.-A. Dr. Donig bekundete der Zeuge noch: Schliewenz habe im allgemeinen fleißig gearbeitet. Er habe sich mit Weibern nicht weiter umhergetrieben, er habe aber ein

festes Verhältnis

gehabt.

Alsdann wurde Gastwirt Lehmann (Berlin) als Zeuge vernommen: Ich habe eine Gastwirtschaft Am Grünen Weg in Berlin. Die drei jugendlichen Angeklagten kamen eines Tages vollständig neu eingekleidet in mein Lokal. Ich wunderte mich über diese neue Kluft, zumal die Angeklagten bisher ziemlich schlecht gekleidet waren. Die Angeklagten sagten auf meine Frage: Sie haben sich in Hamburg

zur Handelsmarine anwerben lassen

und für das erhaltene Handgeld neu eingekleidet. Die Angeklagten, die mit zwei Mädchen erschienen, waren ungemein lustig. Sie bestellten zunächst Kaffee und Kuchen. Alsdann tranken sie Bier und Wein in großen Mengen und aßen viel. Sie traktierten mehrere Gäste. Als sie weggingen, waren sie angetrunken. Georg Kersten bat mich, ihm 50 Mark aufzuheben,

„im Falle wir alle werden“.

Ich hegte Verdacht und machte der Kriminalpolizei von meinen Wahrnehmungen Anzeige. Am folgenden Tage kam Willy Kersten wieder in mein Lokal. Ich benachrichtigte sofort telephonisch die Kriminalpolizei. Kriminalwachtmeister Buchner erschien sehr bald und verhaftete Willy Kersten. Auf Ersuchen der Kriminalpolizei suchte ich in verschiedenen Lokalen fast die ganze Nacht hindurch in Gemeinschaft mit dem Kriminalwachtmeister Buchner Georg Kersten und Schliewenz. Wir konnten sie aber nicht finden. Am darauffolgenden Nachmittag kamen beide wieder in mein Lokal. Georg Kersten ließ sich die 50 Mark zurückgeben. Nachdem ich das getan hatte, benachrichtigte ich telephonisch die Kriminalpolizei. Kriminalwachtmeister Buchner erschien sehr bald mit einem Schutzmann und verhaftete die beiden jungen Leute.

Kriminalwachtmeister Buchner (Berlin) schilderte in eingehender Weise die von ihm vorgenommenen Verhaftungen der Angeklagten. Als er Willy Kersten für verhaftet erklärte, sagte dieser mit größter Ruhe:

Sie verwechseln mich wohl mit meinem Bruder Georg,

der noch sechs Monate abzumachen hat. Schließlich gestand er, daß er am Ortwiger Mord beteiligt gewesen sei. Georg Kersten und Schliewenz legten ebenfalls nach anfänglichem Leugnen ein Geständnis ab.

Gerichtschemiker Dr. Jeserich (Berlin): Er habe an dem gefundenen Hammer kein Blut entdeckt, wohl aber in den Taschen von Georg und Willy Kersten. Wahrscheinlich haben sich diese mit blutigen Händen in die Tasche gefaßt.

Der Vert. R.-A. Bahn wendete ein, daß Willy Kersten sich einige Monate vorher an der linken Hand verletzt habe.

Dr. Jeserich: Das Alter des Blutes läßt sich schlecht feststellen, ich bin aber doch der Ansicht, daß das in der Tasche des Willy Kersten gefundene Blut frisches Blut war.

Vors.: Willy Kersten, Sie haben doch zugegeben, daß Sie den Kallies gehalten und versucht haben, dem Manne das Taschentuch in den Mund zu stopfen.

Angekl.: Jawohl!

Vors.: Angeklagter Georg Kersten, Sie sollen in einem Lokal im Osten Berlins den Mord in Ortwig aus einer Zeitung vorgelesen und gesagt haben: „Wir haben eine große Sache gemacht. Wenn das rauskommt, dann haben wir starken Tobak abzumachen. Es wird aber nicht rauskommen, denn es ist alles ganz glatt gegangen. Die Hauptsache haben aber nicht wir, sondern der Knecht in Ortwig gemacht.“ Geben Sie das als richtig zu?

Georg Kersten: Das ist nicht wahr!

Vors.: Wenn die Darsch kommt, dann wird sie es Ihnen ins Gesicht sagen.

Georg Kersten: Ich kann mich nicht erinnern.

Vors.: Geben Sie als möglich zu, daß Sie eine solche Äußerung getan haben?

Georg Kersten: Ich kann mich nicht erinnern.

Vors.: Willy Kersten, hat Ihr Bruder eine solche Äußerung getan?

Willy Kersten: Ich erinnere mich nicht.

Vors.: Es ist aber möglich, daß diese Äußerung getan worden ist?

Willy Kersten: Ich habe nichts gehört.

Vors.: Sie wissen aber jedenfalls, daß man nicht morden und auch nicht stehlen darf?

Willy Kersten (in weinerlichem Ton): Ja!

Schliewenz bemerkte ebenfalls auf Befragen des Vorsitzenden, daß er sich auf eine solche Äußerung nicht erinnere.

Es wurden darauf die

medizinischen Sachverständigen

vernommen. Kreisarzt Dr. Schulz-Schulzenstein: Die Verbrennung der Leichen hat den Angeklagten nichts genützt, da es uns trotz der Verbrennung mit vollster Genauigkeit gelungen ist, die Todesursache festzustellen. Es ist bei der weiblichen Leiche festgestellt, daß der Tod nicht durch Strangulation, sondern durch Zerreißen des Schädeldachs eingetreten ist. Das Zerreißen des Schädeldachs ist zweifellos durch Schlagen mit einem scharfen Instrument, etwa einem Hammer, verursacht worden. Die Strangulation ist augenscheinlich lich erst nach dem Schlage mit dem Hammer vorgenommen worden, um den Tod mit Sicherheit herbeizuführen. Der Ehemann Kallies ist dagegen augenscheinlich an Erstickung gestorben. Daß es nicht auf eine bloße Betäubung abgesehen war, hat der Befund der Leiche des Ehemannes Kallies bewiesen. Der Mann wurde

derartig gewürgt,

daß der Tod sehr bald eingetreten ist.

Ein Röcheln war vollständig ausgeschlossen. Daß bei derartigen Strangulationen die Strangulierten nach einer Stunde nicht wieder ins Leben zurückgerufen werden können, weiß jeder Laie. Der Tod des Dienstmädchens Philipp ist ebenfalls durch Erstickung eingetreten. Sowohl bei dem Ehemann Kallies als auch bei der Philipp ist, nach der Blutentleerung zu schließen, mit einem scharfen Instrument auf die Schädeldecke eingewirkt worden. Als ich diesen Befund bei der Obduktion erklärte, sagte Sternickel halblaut:

„Ich habe niemanden ermordet.“

Bei allen drei Personen hat eine Verletzung des Schädels stattgefunden. Es ist nicht mit Sicherheit festzustellen, in welcher Weise diese Verletzungen erfolgt sind. Der Hammer war jedenfalls geeignet, die Verletzungen hervorzurufen.

Auf Befragen des Vorsitzenden sagte Sternickel: Die Frau ist rücklings auf die Erde und

mit dem Hinterkopf an die Türkante gefallen.

Vors.: Das ist ja ganz neu, das haben Sie bisher nicht gesagt.

Sternickel: O ja, das habe ich gesagt.

Dr. Schulz-Schulzenstein erklärte auf Befragen, daß er trotz dieser Erklärung des Sternickel sein Gutachten nicht zu ändern habe.

Vert. R.-A. Dr. Donig: Herr Kreisarzt, mußten die drei jugendlichen Angeklagten annehmen, daß durch das Umlegen der Schlinge der Tod erfolgen werde?

Vors.: Ich kann diese Frage nicht zulassen, da sie über den Rahmen des medizinischen Gutachtens hinausgeht; ich will aber eine Frage stellen, die die Ihrige beantworten dürfte, Herr Verteidiger. Ist Ihnen, Herr Kreisarzt, aus Ihrer Praxis bekannt, ob Laien bei derartigen Strangulationen der Ansicht waren, die Strangulation könne nur eine Betäubung herbeiführen?

Kreisarzt: Ein solches Vorkommnis ist mir unbekannt.

Vert. R.-A. Bahn: Ist es möglich, daß, obwohl nur eine Betäubung beabsichtigt war, angesichts der Körperstärke des Sternickel trotzdem der Tod des Ehemannes Kallies und des Dienstmädchens sehr bald eingetreten ist?

Kreisarzt: Das ist nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich.

Dr. Jahn, der in Gemeinschaft mit dem Kreisarzt Dr. Schulz-Schulzenstein die Obduktion vorgenommen hatte, schloß sich im wesentlichen dem Gutachten des Kreisarztes an.

Sanitätsrat Dr. med. Weinbaum: Es seien Fälle vorgekommen, daß Gehängte, die sofort abgeschnitten wurden, wieder ins Leben zurückgerufen werden konnten. Es steht jedoch mit Sicherheit fest, daß ein Mensch, der an einem andern eine Erdrosselung vornimmt, nicht die Absicht einer bloßen Betäubung hat.

Da auf alle weiteren Zeugen verzichtet wurde, so erklärte der Vorsitzende die Beweisaufnahme für geschlossen. Der Vorsitzende verlas darauf die den Geschworenen vorzulegenden

Schuldfragen.

Diese lauteten bezüglich des Sternickel auf Mord in drei Fällen, auf Raub und auf vorsätzliche Brandstiftung. Bezüglich des Willy Kersten, des Georg Kersten und des Franz Schliewenz lauteten die Schuldfragen auf Mord in drei Fällen und auf Raub. Bei allen Angeklagten wurde die Frage gestellt, ob sie bei Begehung der Verbrechen Waffen bei sich geführt haben.

Betreffs des Willy Kersten, der zur Zeit der Tat noch nicht 18 Jahre alt war, wurde die Frage gestellt, ob er die zur Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen habe.

Vert. R.-A. Bahn beantragte bezüglich des Willy Kersten die Frage auf Beihilfe, auf Totschlag, auf vorsätzliche Körperverletzung und auf mildernde Umstände zu stellen.

J.-R. Hauptmann stellte betreffs Georg Kersten die Schuldfrage wegen Beihilfe zum Mord.

R.-A. Dr. Donig beantragte betreffs Schliewenz dieselben Fragen zu stellen wie R.-A. Bahn betreffs Willy Kersten.

Am dritten Verhandlungstage war der Vater der Angeklagten Kersten, Kutscher Kersten aus Adlershof bei Berlin, im Gerichtssaale erschienen. Mit tränenerstickter Stimme bat er den Vorsitzenden, ihm zu gestatten, der Verhandlung gegen seine Kinder beiwohnen zu dürfen. Der Vorsitzende gestattete dem augenscheinlich gänzlich gebrochenen Manne, im Zuhörerraum Platz zu nehmen. Die Angeklagten Kersten, ganz besonders der Jüngere, Willy Kersten, weinten, als sie des Vaters ansichtig wurden, ganz bitterlich.

Nachdem der Vorsitzende die 41 Schuldfragen, deren Formulierung sehr lange Zeit dauerte, verlesen hatte, nahm das Wort

Staatsanwalt Matthias.

Meine Herren Geschworenen! Bei der Fülle der Schuldfragen kann man zu der Ansicht gelangen, daß es sich um eine außergewöhnlich komplizierte Sache handelt; das ist aber keineswegs der Fall. Es sind alles vollständig landläufige, ganz einfache Dinge. Ich werde deshalb ohne weitere Umschweife auf die Einzelheiten eingehen. Es ist zunächst kein Zweifel, daß der Angeklagte Sternickel sich durch Inbrandsetzung der Strohmiete der vorsätzlichen Brandstiftung schuldig gemacht hat. Ebenso einfach liegt, und zwar bei allen vier Angeklagten, die Schuld wegen Raubes. Alle drei hatten den Vorsatz, einen Raub auszuführen. Sternickel wußte es aus eigener Erfahrung, die drei anderen Angeklagten aus den Mitteilungen des Sternickel, daß Kallies, ein großer, sehr kräftiger Mann, sich heftig zur Wehr setzen würde, und daß seine Ehefrau und das Dienstmädchen dem Kallies zu Hilfe kommen werden. Es ist auch festgestellt, daß die Angeklagten bei Ausführung des Raubes eine Waffe bei sich geführt haben. Nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuches genügt es, daß der oder die Täter eine Waffe bei sich geführt haben. Erschwerend ist, wenn bei Ausübung des Raubes durch Anwendung von Gewalt der Tod des oder der Beraubten eingetreten ist. Daß dies geschehen ist, bedarf keiner weiteren Ausführung. Ob der Täter bei Ausübung des Raubes den Tod des Beraubten gewollt hat, ist gleichgültig. Es kommt dabei nicht auf den Vorsatz, sondern auf den Erfolg an. Bei Willy Kersten wird allerdings zu prüfen sein, ob er bei Begehung der Tat die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen sen hat, weil er zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Tatzeugen sind nicht vorhanden. Sternickel behauptet, die Schlingen haben den drei Getöteten die Berliner umgelegt, während die Berliner behaupten, Sternickel habe dies getan. Ich habe die Überzeugung, daß Sternickel dies in allen drei Fällen getan hat. Jedenfalls ist die Tötung bei allen drei Getöteten mit Vorsatz und Überlegung geschehen. Daß

Sternickel die Mordtaten mehrere Monate vorher geplant hat,

geht aus der Mitteilung hervor, die er in Wriezen gemacht hatte. Er erzählte dort bekanntlich, daß er einen reichen Onkel beerbt habe und sich in Wriezen ansässig machen wolle. Dafür spricht außerdem ganz besonders der Umstand, daß in seinem Besitz eine ganze Anzahl Schlingen, wie sie bei Begehung der drei Mordtaten benützt wurden, gefunden worden sind. Der Angeklagte Sternickel ist ein alter Verbrecher. Es wird ihm daher niemand das Märchen glauben, daß er nur die Absicht hatte, die drei Personen zu betäuben und nach einiger Zeit wieder zu entfesseln. Ein solches Märchen kann einem so erfahrenen Verbrecher wie Sternickel nun und nimmermehr geglaubt werden. Ich meine aber auch, daß die drei anderen Angeklagten nicht glauben konnten, es handle sich nur um eine Fesselung zum Zwecke der Betäubung.

Die drei anderen Angeklagten haben zweifellos gewußt, es handle sich um Mord.

Wenn sie dies wirklich ursprünglich nicht annahmen, so mußte ihnen zum mindesten dieser Gedanke bei Ausübung der Verbrechen kommen. Ganz besonders mußte dies Bewußtsein Willy Kersten haben, der selbst bemüht war, dem Ehemann Kallies sein Taschentuch in den Mund zu stopfen. Sie haben gehört, meine Herren Geschworenen, daß die medizinischen Sachverständigen sagten: Es konnte kein Laie annehmen, die drei Personen können, nachdem ihnen die Schlinge um den Halz zugezogen worden war, wieder ins Leben zurückgerufen werden. Ich ersuche Sie also, meine Herren Geschworenen,

bei allen Angeklagten die Schuldfrage wegen Mordes und schweren Raubes zu bejahen,

bei Sternickel auch wegen vorsätzlicher Brandstiftung. Zu bedauern ist nur, daß Willy Kersten infolge seines jugendlichen Alters nicht die Strafe treffen kann, die alle Angeklagten angesichts des nichtswürdigen Verbrechens treffen muß, die Todesstrafe!

Sodann ergriff

der Verteidiger des Angeklagten Sternickel,

Justizrat Loeser (Frankfurt a.d.O.) das Wort. Meine Herren Geschworenen: Ich bin in meiner Eigenschaft als Rechtsanwalt zum Verteidiger des Sternickel bestellt worden. Ich bin selbstverständlich entfernt davon, im Banne des Mannes zu stehen, den ich hier zu vertreten habe. Sie werden auch gewiß nicht erwarten, daß ich den Antrag stellen werde, Sternickel freizusprechen. Leider sind bei dem ganzen Verbrechen keine Zeugen vorhanden. Das, was die Töchter der Kalliesschen Eheleute bekundet haben, war nur sehr dürftig. Es fällt mir nicht ein, für Sternickel ein Wort der Entschuldigung vorzubringen. Es entsteht nur die Frage: Hat Sternickel den Vorsatz gehabt, die drei Personen zu töten? Ganz besonders aber, wenn er diesen Vorsatz hatte, hat er mit Überlegung gehandelt? Das ist jedenfalls nicht aufgeklärt. Klar ist dagegen, daß Sternickel sich des schweren Raubes und auch der vorsätzlichen Brandstiftung schuldig gemacht hat. Ich schließe daher mit der Bitte, meine Herren Geschworenen, urteilen Sie, wie Sie es vor Ihrem Gewissen verantworten können.

Verteidiger Rechtsanwalt Bahn (Berlin): Meine Herren Geschworenen: Ich bin als Verteidiger des Willy Kersten auch nicht willens, irgend etwas zu beschönigen. Im Gegenteil, ich habe den sehnlichsten Wunsch, daß dies scheußliche Verbrechen in entsprechender Weise gesühnt wird. Allein so einfach, wie der Herr Staatsanwalt ausführte, ist die Sache doch nicht, dafür spricht schon die Fülle der Schuldfragen. Bei Prüfung der Schuldfrage bezüglich des Willy Kersten – die anderen gehen mich nichts an – wird doch zu erwägen sein, daß dieser Angeklagte, abgesehen von seiner großen Jugend, der einzige ist, der noch nicht bestraft ist, und daß er der Sohn anständiger Eltern ist. Es kommt ferner hinzu, daß Sternickel,

wohl der größte Verbrecher aller Zeiten,

die drei grünen Jungen in der Herberge zu Müncheberg kennengelernt hat. Georg Kersten und Schliewenz waren geschlechtskrank. Alle drei waren in ihrer Kleidung vollständig abgerissen, ohne jede Mittel und ohne jede Aussicht auf Verdienst. Es ist daher erklärlich, daß es einem Mann wie Sternickel sehr schnell gelungen ist, diese jungen Leute zu bewegen, ihm bei dem „Ding-Drehen“ behilflich zu sein. Ich habe die Überzeugung, die drei jugendlichen Angeklagten wußten nicht, daß gemordet werden sollte. Sternickel sagte ihnen: Es könnten 50000 Mark von alten Leuten geholt werden. Die drei jungen Leute konnten dadurch zu der Auffassung kommen, es handle sich um alte Leute, die keinen besonderen Widerstand entgegensetzen, sondern leicht zu betäuben sein werden. Jedenfalls ist nicht festgestellt, daß die drei jugendlichen Angeklagten, speziell Willy Kersten, das Bewußtsein hatten bzw. haben mußten, es solle ein Mord begangen werden. Es ist ferner zu erwägen, daß die drei jugendlichen Angeklagten sich nach der Tat

wie dumme Jungen benommen haben.

Sie haben sich sofort, als sie nach Berlin kamen, neue Anzüge, neue Hüte und Lackstiefel gekauft. Sie mußten sich doch sagen, daß, wenn sie mit diesen Sachen in die Gastwirtschaft von Lehmann kommen, dieser, der doch einen kriminalistischen Blick hat, sofort Verdacht schöpfen wird. Zum Überfluß gab Willy Kersten dem Lehmann die Reiseroute. Lehmann las den Ortwiger Mord in Zeitungen und ersah aus der Reiseroute, daß die drei jungen Leute in der Nähe von Ortwig gewesen waren. Dies veranlaßte Herrn Lehmann ganz naturgemäß, Anzeige zu erstatten. Ich habe die Überzeugung, die drei jugendlichen Angeklagten, speziell Willy Kersten, sind der suggestiven Kraft des Sternickel erlegen. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß Willy Kersten von Anfang an ein reumütiges Geständnis abgelegt hat. Der Verteidiger suchte alsdann nachzuweisen, daß Willy Kersten sich lediglich der Beihilfe schuldig gemacht hatte. Meine Herren Geschworenen! Es ist Ihre Pflicht als Richter, bei der Tatfrage, so fuhr Rechtsanwalt Bahn wörtlich fort, die Stimme der öffentlichen Meinung ganz außer acht zu lassen und unbefangen den Tatbestand zu prüfen. Ich bitte Sie außerdem, in Betracht zu ziehen, daß bei einem so jungen Menschen, wie Willy Kersten, die Strafe in erster Linie Besserung bewirken soll. Ich schließe, ebenso wie Herr Justizrat Loeser, urteilen Sie, wie Sie es vor Ihrem Gewissen verantworten können.

Vert. R.-A. Dr. Werthauer (Berlin), zweiter Verteidiger des Willy Kersten, schloß sich den Ausführungen des Rechtsanwalts Bahn an und war alsdann bemüht, den juristischen Nachweis zu führen, daß Willy Kersten sich nur der Beihilfe schuldig gemacht hätte. Der Verteidiger schloß: Wenn die drei jugendlichen Angeklagten nicht das Unglück gehabt hätten, in die Hände des Sternickel zu fallen, dann säßen sie nicht hier auf der Anklagebank. Eltern, die Kinder haben, können sich sagen: Wenn auch ein Kind mißrät, so hat es doch nicht immer das Unglück,

in die Hände eines Sternickel zu fallen.

Sternickel wird noch verschiedener Mordtaten beschuldigt. Er hat jedenfalls die drei Mordtaten begangen und er hat, meiner Überzeugung nach, die Absicht gehabt, auch die Kalliesschen Kinder und gleichzeitig seine drei Helfershelfer, die drei jugendlichen Angeklagten, zu ermorden. Es wird ihm niemand glauben, daß er aus reiner Menschenliebe die drei jugendlichen Angeklagten aufgefordert hat, noch auf dem Kalliesschen Gehöft zu bleiben, er werde ihnen Kaffee kochen und Essen bereiten. Hans Hyan weist in einem Buche nach, daß es auch einen Mord aus Rache gibt. Ich bin der Überzeugung, da es Sternickel nicht geglückt ist, die drei jugendlichen Angeklagten auf dem Kalliesschen Gehöft in Ortwig zu töten, so ist er bemüht, diese jungen Leute hier durch seine Beschuldigungen schuldigungen zu morden. Diesem teuflischen Beginnen stellen wir uns entgegen. Einen solchen Vorsatz zu verhindern, ist Pflicht aller Organe der Rechtspflege. Indem wir das tun, meine Herren Geschworenen, arbeiten wir an dem Ausbau unseres Rechtsgebäudes. Durch das Bemühen, daß auch dem Geringsten im Volke sein Recht werde, leisten wir nicht nur der Gerechtigkeit einen Dienst, sondern ehren uns auch selbst.

Justizrat Hauptmann (Frankfurt a.d.O.), Verteidiger für Georg Kersten, suchte ebenfalls den Nachweis zu führen, daß wohl Sternickel, nicht aber die drei jugendlichen Angeklagten Mord begangen haben. Es liege höchstens Beihilfe vor.

Vert. R.-A. Dr. Donig (Berlin) für Schliewenz, suchte auch den Nachweis zu führen, daß die drei jugendlichen Angeklagten unter dem dämonischen Einfluß

des gräßlichsten aller Verbrecher

gehandelt haben und das Bewußtsein des Mordes nicht haben konnten.

Erster Staatsanwalt Geh. Justizrat Naumann: Ich fühle mich genötigt, den Herren Verteidigern zu erwidern, daß die Handlungsweise der jugendlichen Angeklagten keinen knabenhaften Charakter hatte. Das, was die jungen Leute taten, tun auch ältere. Wenn man aber erwägt, daß Sternickel, als er Kallies die Schlinge um den Hals geworfen hatte und dieser ihn anflehte, ihn doch leben zu lassen, erwiderte:

„Warte du Aas, dir werde ick schon wat!“

und darauf die Schlinge fest zuzog, so unterliegt es doch nicht dem geringsten Zweifel, daß die Angeklagten sämtlich das Bewußtsein hatten, Kallies sollte ermordet werden und daß sie auch den Mord wollten. Es kommt hinzu, daß Willy Kersten auf Auffordern des Sternickel bemüht war, dem Kallies ein Taschentuch in den Mund zu stopfen. In ganz ähnlicher Weise ist bei der Tötung des Dienstmädchens und auch bei der Frau Kallies vorgegangen worden. Schon der Vorgang des Pfeifens mußte den Angeklagten klarmachen, daß ein Mord beabsichtigt sei. Ich habe die Überzeugung,

die Angeklagten haben sämtlich mit Vorsatz und Überlegung die Morde gemeinschaftlich ausgeführt

und ich habe auch keinen Zweifel, daß Sie, meine Herren Geschworenen, die Hauptschuldfragen in vollem Umfange bejahen werden.

Nach einer längeren Erwiderung des R.-A. Bahn führte R.-A. Dr. Werthauer aus, daß das Bewußtsein, es werde ein Mord begangen, noch nicht genüge, um einen Menschen wegen Mordes zu verurteilen. Zur Tötung gehöre der Vorsatz, zum Morde außerdem noch die Überlegung. Das sei aber den jugendlichen Angeklagten nicht nachgewiesen. Die drei jungen Leute seien nicht mitgegangen, um zu morden, sondern nur, um ein Verbrechen gegen das Eigentum zu begehen. Der Verteidiger schloß: Die Verteidiger sind entfernt, die Angeklagten der Strafe zu entziehen, sie sind lediglich bemüht, das Recht zu wahren.

Vert. J.-R. Hauptmann führte noch aus, daß der Nachweis, die jugendlichen Angeklagten haben sich an der Tötung der Ehefrau Kallies beteiligt, nicht geführt sei.

Nach einer längeren Mittagspause eröffnete der Vorsitzende, Landrichter Dr. Wrede, die Sitzung mit den Worten: Nachdem die Herren Vertreter der Staatsanwaltschaft und die Herren Verteidiger gesprochen haben, gebe ich den

Angeklagten das Wort.

Angeklagter Sternickel, haben Sie noch etwas zu sagen?

Angekl. Sternickel: Jawohl! Ich muß zunächst bemerken, daß bei mir keine Peitschenschnur gefunden worden ist. Ich habe bloß zwei Stricke in meiner Kammer gehabt.

Vors.: Aber Sternickel, das haben Sie ja alles schon gesagt.

Sternickel: Ich muß doch die Aussage des Herrn Kriminalkommissars Nasse als unwahr bezeichnen. Ich habe niemals Schlingen aufbewahrt. Ich habe überall fleißig gearbeitet. Die Herrschaften, bei denen ich gewesen bin,

haben mich alle lieb gehabt,

weil sie mit meinen Leistungen sehr zufrieden waren. Das hat doch auch Herr Gutsbesitzer Saenger bekundet. Wenn die Töchter der Kalliesschen Eheleute gesagt haben: Kallies war mit mir unzufrieden und wollte mich entlassen, so ist das unwahr. Ebenso ist es unwahr, daß ich meine Mitangeklagten reinlegen will. Wenn es mir möglich gewesen wäre, dann hätte ich sie entlastet, Es liegt mir fern, jemanden zu verraten oder reinzulegen. Weiter habe ich nichts zu sagen.

Angekl. Willy Kersten (heftig weinend): Wenn ich gewußt hätte, daß es sich um Mord handelt, dann wäre ich nicht mitgegangen.

Angekl. Georg Kersten: Ich kann versichern, daß auch ich nicht mitgegangen wäre, wenn ich gewußt hätte, daß ein Mord begangen werden soll.

Angekl. Schliewenz: Meine Herren! Ich bitte um meine Freisprechung. (Große, allgemeine Heiterkeit.)

Vors.: Vater der Angeklagten Kersten, haben Sie noch etwas anzuführen?

Kutscher Kersten trat, heftig weinend, vor den Richtertisch. Nach längerer Zeit vermochte der Mann weinend die Worte herauszubringen: Was soll ich sagen?

Vors.: Vater des Angeklagten Schliewenz, haben Sie noch etwas zu sagen?

Schliewenz (heftig weinend): Nein.

Der Vorsitzende erteilte alsdann den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung.

Nach 3 1/2 stündiger Beratung der Geschworenen verkündete der Obmann, Magistratsbaurat Morgenschweis (Frankfurt a.d.O.), unter gespanntester Aufmerksamkeit des zahlreichen Publikums: Die Geschworenen haben

Sternickel des Mordes in drei Fällen

und außerdem des schweren Raubes und der vorsätzlichen Brandstiftung,

die drei anderen Angeklagten

wegen Mordes in zwei Fällen,

wegen Totschlags, unter Versagung mildernder Umstände in einem Falle, und wegen schweren Raubes für schuldig erachtet.

Staatsanwalt Matthias beantragte,

Sternickel dreimal zum Tode,

5 Jahren Zuchthaus und dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte,

Willy Kersten zu 15 Jahren Gefängnis,

Georg Kersten und Franz Schliewenz

zweimal zum Tode,

5 Jahren Zuchthaus und dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu verurteilen.

Vert. R.-A. Bahn ersuchte, den Angeklagten Willy Kersten nicht zu der höchsten zulässigen Strafe zu verurteilen.

Die anderen Verteidiger erklärten, daß sie das Urteil dem Gerichtshof anheimstellen. Angekl. Sternickel erklärte auf Befragen des Vorsitzenden mit fester Stimme, daß er nichts weiter zu sagen habe.

Die drei anderen Angeklagten baten mit weinender Stimme um mildernde Umstände.

Nach längerer Beratung des Gerichtshofs verkündete der Vorsitzende, Landrichter Dr. Wrede:

Der Gerichtshof hat, auf Grund des Wahrspruchs der Herren Geschworenen und in Würdigung der Sachlage, im Namen des Königs für Recht erkannt, daß der Angeklagte Sternickel wegen dreifachen Mordes, schweren Raubes und vorsätzlicher Brandstiftung

dreimal zum Tode,

5 Jahren Zuchthaus und dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, Willy Kersten wegen zweifachen Mordes, ferner wegen Totschlags in einem Falle, unter Versagung mildernder Umstände und wegen schweren Raubes zu, 15 Jahren Gefängnis, Georg Kersten und Franz Schliewenz wegen zweifachen Mordes, ferner wegen Totschlags in einem Falle, unter Versagung mildernder Umstände und wegen schweren Raubes beide

zweimal zum Tode,

5 Jahren Zuchthaus und dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu verurteilen seien. Die verwendeten wendeten Mordwerkzeuge werden eingezogen. Die Kosten des Verfahrens fallen den Angeklagten zur Last. Die Angeklagten sind abzuführen, die Sitzung ist geschlossen.

Sternickel nahm das Urteil mit einer staunenswerten Ruhe, die er im übrigen während der ganzen Verhandlung an den Tag gelegt hatte, entgegen. Die drei jugendlichen Angeklagten, ganz besonders Schliewenz, der geradezu einen sympathischen Eindruck machte, waren vollständig gebrochen. Sie hatten augenscheinlich eine so harte Strafe nicht erwartet. Die drei jugendlichen Angeklagten wurden wiederum gefesselt (Sternickel blieb während der ganzen Verhandlung stark gefesselt). Als die Angeklagten im „Grünen Wagen“ nach dem vom Gerichtsgebäude entfernt liegenden Untersuchungsgefängnis fuhren, wurden sie von der zahlreichen Menschenmenge, die trotz später Nachtstunde vor dem Gerichtsgebäude Posto gefaßt hatte, mit lauten Verwünschungen begleitet.

Sternickel hat auf Einlegung der Revision verzichtet. Das Urteil ist infolgedessen gegen ihn längst rechtskräftig. Das Urteil ist bei Drucklegung dieses Bandes noch nicht vollstreckt. Ob Sternickel sich noch wegen der verschiedenen anderen Verbrechen wird verantworten müssen, steht noch nicht fest. Die drei jugendlichen Angeklagten haben, dem Vernehmen nach, Revision eingelegt. Schliewenz soll vollständig ständig gebrochen sein. Er soll nachträglich erklärt haben: Sternickel kam ihm, als er ihn in der Herberge zu Müncheberg sah, sofort unheimlich vor. Deshalb entfernte er sich sogleich, um, trotz seiner großen Schwäche, nach Berlin zurückzuwandern. Hätte Sternickel ihm nicht etwas zu essen geben lassen, so daß er ihn gewissermaßen als seinen Lebensretter betrachten mußte, dann wäre er nun und nimmermehr mitgegangen.

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